Schon am frühen Morgen klingelte Emily telefonisch Vikar Ballard aus dem Bett. Sie hatte ihm zwar gestern hoch und heilig versprochen, niemandem von ihrem Wissen über Mary-Ann Farrows Vergewaltigung zu erzählen, aber jetzt hatte sich die Situation dramatisch geändert. Godfrey Ballard musste sie schnellstens vom hoch und heilig entbinden. Schließlich wollte auch er, dass Debbies Tod schnellstens aufgeklärt wurde.

Emily konnte geradezu durch den Telefonhörer sehen, wie Godfrey sich am anderen Ende der Leitung heftig wand.

»Muss das denn sein, Mrs. Bloom?«, jammerte er. »Debbie wird mir vom Himmel aus zuschauen und sich fragen, ob das Beichtgeheimnis gar nichts mehr gilt.«

»Unsinn, Godfrey! Sie wird sich eher fragen, warum ein Mann der anglikanischen Kirche einen Mörder deckt!«

Schließlich stimmte er zu, allerdings erst, nachdem sie ihm versichert hatte, dass sie ihr Wissen vorerst nicht an die Polizei weitergeben, sondern nur für ihre eigenen Nachforschungen nutzen würde.

Erleichtert legte sie den Hörer auf. Schon eine halbe Stunde später saß sie im Auto und war auf dem Weg nach Sagan Manor.

Der Herrensitz des Seigneur Trevor de Sagan – der Titel Seigneur entsprach dem englischen Lord, hatte jedoch auf Jersey eine ungleich stärkere feudalistische Tradition – befand sich dort, wo die Landschaft noch besonders ursprünglich war, in der Mitte der Insel. Hier ließ sich alles, was man sah, mit nur einer einzigen Farbe beschreiben: sattgrün. In Jerseys mildem Klima hatte die Natur einen weitflächigen großen wilden Park hervorgebracht, über dem auf einer sanft geschwungenen Anhöhe das Anwesen Sagan Manor thronte. Aus der Ferne wirkte das Landgut mit seinen vier weißen glatten Säulen sehr elegant. Man vermutete kaum, dass hier schon seit über hundert Jahren Landwirtschaft betrieben wurde.

Hinter einer Brücke bog Emily von der Hauptstraße ab. Hier begann Trevor de Sagans Privatallee. Sie war schon früher ein paar Mal bei Trevor zu Gast gewesen, zusammen mit ihrem Mann, der mit ihm befreundet gewesen war. Doch jetzt, nach so vielen Jahren, erschien ihr die Zufahrt noch länger als damals. Was sie sofort wiedererkannte, waren die zwei gelben Gutsgebäude, hinter denen das letzte Stück der Auffahrt zum Herrenhaus begann.

Ob es wohl immer noch die große Herde Jerseykühe gab, für die Trevors Familie so berühmt gewesen war? Schon wenig später entdeckte sie die Tiere. Sie hielt den Wagen an, ließ die Scheibe herunter und beobachtete fasziniert, wie sie grasten. Jerseykühe waren etwas ganz Besonderes, es gab sie nur hier auf der Insel. Ihre schmalen braunen Körper und die ausdrucksstarken großen Augen erinnerten Emily jedes Mal an sanfte Hirschkühe. Es war ein friedlicher Anblick, der ihr ein kleines bisschen die Unruhe vor dem Treffen nahm.

Sie fuhr im Schritttempo weiter, bis sie die Anhöhe erreicht hatte. Vor ihr lag das Haupthaus mit seinen weißen Säulen. Der rechte Gebäudeflügel war im Gegensatz zu früher ganz von rotem Weinlaub bewachsen. Auch das turmgroße runde Taubenhaus – in früheren Jahrhunderten ein besonderes Privileg der Seigneurs – hatte sich leicht verändert. Man hatte ihm ein neues Strohdach verpasst. Direkt dahinter stand eine offene Garage für die Traktoren. Alles andere schien sich nicht verändert zu haben. Zum Glück hatte man auch die zwei prachtvollen Zedern im Park nicht angerührt.

Emily war sich immer noch nicht klar darüber, wie sie bei Trevor vorgehen wollte. Sie hatte zwar vorhin kurz mit ihm telefoniert und ihren Besuch angekündigt, aber die Wiederbegegnung würde schwierig werden. Das wusste sie jetzt schon.

Trevor de Sagan war ein Jugendfreund ihres Mannes gewesen. In Emilys Augen trug er ganz erheblich Schuld daran, dass Richard später oft mit seinem Leben als schlichter Teeimporteur gehadert hatte. Er und Trevor kannten sich seit der Kinderzeit. Richards Vater war der Jagdaufseher des alten Seigneur, sodass Richard und Trevor zusammen aufwuchsen, bis Trevor schließlich nach Eton ging. Erstaunlicherweise hatte ihre Freundschaft auch später noch gehalten, wobei der Begriff Freundschaft vielleicht nicht ganz treffend war. Trevor nahm Richard wie einen Hund überall mit hin, und Richard fühlte sich geschmeichelt. Noch als Jugendliche spielten sie in den Ferien regelmäßig zusammen Tennis – auf dem Privatplatz der Sagans –, ritten gemeinsam aus – auf den Vollblütern der Sagans – oder gingen segeln – natürlich auf der teuren französischen Jacht der Sagans. Richard war stets nur ein geduldeter Begleiter des verwöhnten reichen Trevor gewesen. Und es hatte ihm nicht gutgetan.

Noch während Emily aus dem Auto stieg und ihre schwarze Handtasche vom Rücksitz holte, lief ihr laut bellend ein brauner Setter entgegen. Er schnupperte an ihr herum, ließ sie jedoch unbehelligt die breite Treppe zum Eingang hochsteigen.

Aus dem linken Seitengebäude ertönte ein Piff, und der Hund verschwand, während Trevor de Sagan aus der Eingangshalle ins Freie trat. Er war jetzt Ende fünfzig, ein fülliger Herr, braun gebrannt, mit grauem Haar. In seinem dunkelblauen Blazer steckte ein geblümtes Einstecktuch. Emily erschrak ein bisschen, wie selbstgefällig sein Gesicht geworden war. Und wie übertrieben weiß sein Gebiss gegen die Bräune hervorstach.

»Emily!«

Sie umarmten sich. Trevor roch nach einem besonders teuren Aftershave, aber am Hals über dem Kragen war er nur nachlässig rasiert.

Emily schob ihn elegant von sich. »Hallo Trevor! Tut mir leid, dass ich dich hier so überfalle.«

»Ach was! Ich freue mich, dich wieder mal zu sehen. Du siehst fabelhaft aus.«

»Leider nicht so braun wie du.«

»Ich bin gestern erst von den Bermudas zurückgekommen. Wir besitzen dort eine kleine Firma und hatten eine Woche lang Aufsichtsratssitzung.«

Rechts und links von der Treppe standen hohe Terrakottatöpfe mit blühendem Oleander. Trevor ging zu einem der Büsche, knipste mit den Fingern eine große rote Blüte ab und steckte sie Emily galant ans Kleid.

»So, damit du weißt, dass du hier immer willkommen bist.«

Im Stillen bewunderte sie, wie es ihm gelang, in jeder Lebenslage charmant zu sein.

»Vielen Dank, Trevor. Ich muss wirklich sagen, Sagan Manor ist immer noch so schön wie früher. Sogar eure Jerseykühe gibt es noch. Ich habe sie eben bewundert.«

»Oh ja, die Landwirtschaft ist mir nach wie vor sehr wichtig. Sie ist so was wie das Herz der Familie. Ich schlage vor, wir gehen in mein Büro.«

Er schritt voran. Sie durchquerten die große Halle. Ein Bediensteter in dunklem Anzug war gerade damit beschäftigt, eine hohe Bodenvase mit frischen Blumen neben der Tür zu platzieren. Im Vorübergehen rief ihm Trevor zu: »Wenn Sie uns bitte zwei Gläser Champagner bringen, Arnold.«

Der nächste Raum war die Bibliothek. Bewundernd ließ Emily ihren Blick über die endlosen Reihen ledergebundener Bücher und Folianten wandern. Trevor bemerkte es.

»Ja, in diesen Regalen stehen vielleicht unsere größten Schätze«, sagte er stolz. »Heute bin ich froh, dass ich die Bibliothek gelassen habe, wie sie war. Meine Schwester hätte hier damals lieber ein Schwimmbad eingebaut.«

»Oh Gott!«, entfuhr es Emily.

Trevor lachte. »Ja, das habe ich auch gesagt.«

»Was macht deine Schwester jetzt?«

»Sie lebt seit ein paar Jahren in Genf. In einer umgebauten ehemaligen Dorfkirche … Suzanne war ja schon immer ein bisschen exzentrisch, wie du vielleicht noch weißt.«

Emily wusste es nicht, denn sie hatte nur wenig Kontakt gehabt zu den Sagans. Aber sie ließ es sich nicht anmerken und sagte nur höflich: »Ah ja.«

Sie betraten Trevors Büro. Es war das Erkerzimmer mit Blick auf den Park. Zu Emilys Überraschung war es mit modernen Designermöbeln eingerichtet. Nur die verschnörkelte alte Couch aus rotem Samt und der rot gepolsterte Sessel vor dem Schreibtisch stachen daraus hervor.

»Bitte nimm doch Platz.«

Während Emily sich setzte und neugierig ihren Blick durch den eher kühlen Raum wandern ließ, ging Trevor auf die andere Seite des Glasschreibtisches und ließ sich auf den gestylten Lederstuhl fallen. Vor ihm lag ein großes Plakat, auf dem eine Herde brauner Jerseykühe zu sehen war. Er hielt es hoch und zeigte es Emily.

»Wie findest du es? Der zweite Entwurf für das Plakat zu unserer Rinderauktion. Von der Druckerei Morton.«

Sie überlegte. Es sah originell aus, weil die Kühe aus der Tür von Sagan Manor trotteten. »Keine schlechte Idee«, sagte sie anerkennend. »Ich hab für mein Geschäft auch schon mal bei Morton drucken lassen.«

Jetzt erst schien Trevor wieder einzufallen, dass es Richard nicht mehr gab und dass sie allein lebte. Er rollte das Plakat zusammen. »Erzähl mir ein bisschen. Wie kommst du ohne Richard zurecht, Emily? Geht’s dir gut?«

»Ja, danke. Jonathan ist inzwischen Arzt, und ich habe zum Glück genug zu tun.«

»Das freut mich.«

Der Angestellte kam durch die Tür und stellte zwei Gläser perlenden Champagner auf den Schreibtisch. Dann verschwand er lautlos.

Trevor hob sein Glas und prostete Emily zu. »Also dann, auf unser Wiedersehen! Du siehst wirklich großartig aus, Emily. Darf ich das sagen?«

»Ich muss es ja nicht unbedingt glauben«, antwortete sie mit einem kleinen Lächeln. Ihre entgegenkommende Reaktion schien Trevor gut zu gefallen. Doch sie ließ sich nicht täuschen. Sie wusste, wie gut ein Mann wie er höfliches Geplänkel und knallharte Interessen zu verknüpfen verstand.

»Also, was kann ich für dich tun?«, fragte er unvermittelt.

Sie schlug die Beine übereinander und sagte: »Du hast vielleicht gelesen, Trevor, dass ich die Leiche einer jungen Nachbarin aus St. Brelade’s Bay gefunden habe. Debbie Farrow.«

Er wurde ernst. »Ich hatte keine Ahnung, dass du das warst …«

»Es war schlimm. Und das ist jetzt schon der zweite Mord auf Jersey innerhalb einer Woche.«

Trevor blickte sorgenvoll. »Gestern Nachmittag stand beim Empfang des Bailiff zufällig der Chef de Police aus St. Aubin neben mir …«

»Harold Conway …«

»Ja. So ruppig der Bursche sonst auch ist, er hat etwas Vernünftiges gesagt: Kriminalität macht eben auch vor den Inseln nicht halt.«

»Ein schwacher Trost für Debbie, findest du nicht?«

»Oh ja, natürlich …«

Sie glaubte zu spüren, wie er sich bei der erneuten Erwähnung von Debbies Namen in eine Schutzhülle aus Kälte zurückzuziehen begann. Jetzt muss ich angreifen, dachte sie, sonst ist es womöglich zu spät. Und ich muss es erbarmungslos tun, sonst gibt er es nie zu.

Sie schoss ihre Frage wie einen Pfeil ab. »Trevor, ich möchte dich etwas fragen. Hast du Debbie Farrow gekannt?«

Er lachte nervös auf. »Nein. Warum sollte ich?«

»Weil sie einen kleinen Sohn hatte, der Bluter war – wie du. Und weil ihre Mutter vor einunddreißig Jahren auf Sagan Manor ein Black Butter-Fest gefeiert hat, das sie nie wieder vergessen konnte.«

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass gleich ihr erster Schuss treffen würde. Trevor wurde blass. Die Fassade aus Arroganz und Geschmeidigkeit bröckelte schlagartig.

Er setzte sich auf und starrte sie an. Seine Bräune wirkte in diesem Augenblick wie eine traurige Tünche. »Woher weißt du das?«

»Debbie hatte sich jemandem anvertraut. Ich habe es nur durch Zufall erfahren.« Sie versuchte, jegliche Schärfe aus ihrer Stimme zu nehmen, während sie weiterredete. »Trevor, dass ich jetzt hier sitze und dich frage, hat nichts mit der Polizei zu tun. Ich möchte, dass du das weißt.«

»Und das soll ich dir glauben?«

»Es ist so. Debbie und ich haben uns gut gekannt. Es würde mich sehr quälen, wenn ich nicht alles tun würde, um sie nachträglich besser zu verstehen. Bitte sag mir die Wahrheit: War Debbie deine Tochter?«

Trevor stützte sich auf die Ellbogen, legte die Hände zusammen und legte das Kinn darauf. So blickte er einen Augenblick lang nachdenklich auf die beiden Warhol-Lithografien an der Wand. Dann erst schaute er wieder zu Emily und sagte schließlich seufzend: »Also gut … Ja, sie war meine Tochter. Wir haben sogar einen Gentest machen lassen. Er war positiv.« Sein Blick bekam etwas Flehendes. »Glaub mir, Emily, ich hatte wirklich keine Ahnung. Die Geschichte mit ihrer Mutter, damals in der Black Butter-Nacht …«

»Die Geschichte?« Emily musste an sich halten, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Trevor, es war eine Vergewaltigung! Du hast das Leben von Mary-Ann zerstört! Und du hast dich nie mehr um sie gekümmert! Ist dir das eigentlich klar?«

»Danke, dass du mich darauf aufmerksam machst«, antwortete er scharf. »Was denkst du eigentlich? Dass es mir egal war, was ich damals angestellt hatte? Sturzbetrunken bin ich gewesen. Ich habe es mein Leben lang bereut. Aber es war nun mal passiert, und das Leben ging weiter. Warum hat sie sich nicht gemeldet, als sie wusste, dass sie schwanger ist?«

»Das weißt du selbst. Weil sie sich geschämt hat. Aber lass uns damit aufhören, Trevor. Ich glaube, es ist sinnlos, dass wir jetzt darüber diskutieren. Wann war das, als Debbie zum ersten Mal zu dir kam und dir gesagt hat: Ich bin deine Tochter?«

»Vor zehn Monaten. Sie stand eines Morgens vor der Tür und ließ sich nicht mehr abwimmeln. Dann hat sie es mir gesagt. Sie wusste jedes Detail aus der Black Butter-Nacht. Ihre Mutter hatte es ihr erzählt.«

»Ich weiß. Kurz bevor sie starb. Aber das liegt schon vier Jahre zurück. Warum hat Debbie mehr als drei Jahre gewartet, bis sie zu dir gekommen ist? Hat sie dir das erklärt?«

Trevor zuckte mit den Schultern. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke – nein. Aber zu dieser Zeit hat ihr kleiner Sohn noch gelebt. Da hatte sie wahrscheinlich ganz andere Sorgen.«

»Wäre das nicht erst recht ein Grund gewesen, sich bei dir zu melden? Debbie hatte wenig Geld. Du mit deinen finanziellen Mitteln hättest Davids Leben vielleicht sogar retten können. Er war immerhin dein Enkel.«

Trevor fuhr auf. Emily wusste von Richard, dass er schnell jähzornig werden konnte. Trotzdem erschrak sie, als er jetzt mit hochrotem Kopf losbrüllte: »Hör auf, mich zu belehren! Ja, er war mein Enkel! Aber es ist nun mal so, wie es ist, und das Kapitel ist für mich abgeschlossen!« Plötzlich schien er zu bemerken, wie unangemessen seine Reaktion wirkte. Mit zwei Fingern lockerte er seine Krawatte, setzte sich wieder und mäßigte seinen Ton. »Ich hab’s am Anfang selbst nicht glauben wollen, aber … Debbie hatte den Ehrgeiz, alles im Leben aus eigener Kraft zu schaffen, auch nachdem wir uns kennengelernt hatten. Sie wollte gar kein Geld von mir – jedenfalls nicht für sich.«

»Was meinst du damit, nicht für sich?«, fragte Emily irritiert.

Trevor zögerte. »Sie hat mich gebeten, eine Stiftung für kranke Kinder einzurichten, die Trevor de Sagan Foundation. Mit einem Startkapital von einer Million Pfund. Das war alles, was sie wollte.« Er bemerkte ihr ungläubiges Staunen. »Ja, Emily, sieh mich nicht so skeptisch an, genauso war es. Hier …« Er bückte sich zur Seite, zog fast trotzig eine Schublade an seinem Schreibtisch auf, holte ein Dokument hervor und hielt es Emily über die Schreibtischplatte hinweg vor die Nase.

»Was ist das?« Sie sah das große Siegel des State of Jersey. Schnell versuchte sie, auch den Text darunter zu entziffern.

»Die offizielle Gründungsurkunde«, erklärte Trevor, »ausgestellt am 1. Dezember vorigen Jahres. Die Stiftung wird nach Debbies Wunsch Monat für Monat um jeweils zehntausend Pfund aufgestockt, das sind hundertzwanzigtausend Pfund plus Zinsen pro Jahr. Sie hat in diesen Zahlungen einen Ersatz für die ihr entgangenen Alimente gesehen.«

Emily schüttelte verständnislos den Kopf. »Das ist zwar alles typisch Debbie, trotzdem verstehe ich einiges nicht. Noch vor drei Tagen hat sie mir erzählt, dass sie in eine billigere Wohnung umziehen muss, weil sie zu wenig Geld hat. Ich nehme an, du hättest ihr leicht eine schöne Wohnung besorgen können. Warum wollte sie das nicht? Du bist schließlich ihr Vater. Hast du eine Erklärung dafür?«

In Trevors Augen war ein Funken Gram erkennbar. »Sie war ein verschlossener und eigenwilliger Mensch. Ich habe selbst eine Weile gebraucht, bis ich begriffen hatte, wie starrköpfig sie sein konnte. Jedes andere Mädchen hätte alles dafür getan, endlich eine de Sagan zu werden … Nicht aber Debbie.« Er lachte bitter auf. »Aus erster Ehe habe ich zwei undankbare Söhne, die bei meiner Exfrau in London leben und die mich eines Tages beerben werden. Da hätte mir Debbie sogar ganz gutgetan. Doch jedes Mal, wenn sie mich hier besuchte, was vielleicht zehn Mal passiert ist, stand ihre Mutter zwischen uns. Debbie war höflich, aber sie ließ mich nie an ihrem Leben teilnehmen. Es war absolut tabu. Ich weiß weder, wer der Vater ihres Kindes ist, noch, ob sie wieder einen Freund hatte.«

Emily nickte, beinahe gerührt über das realistische Bild, das Trevor von Debbie zeichnete.

»Ja, genauso war sie.«

»Heute ist mir klar, dass das ihre Rache an mir war«, fuhr Trevor nachdenklich fort. »Die Art und Weise, wie sie sich als Mensch vor mir verbarg. Und dass sie niemals eine de Sagan sein wollte. Weil es die Ehre ihrer Mutter zerstört hätte.«

Emily stimmte ihm zu. »Ja, so könnte es gewesen sein. Sie war trotzig und kämpferisch.«

»Wann wird die Beerdigung sein?«, fragte Trevor mit brechender Stimme.

»Das steht noch nicht fest. Solange die Polizei ermittelt, wird sie den Leichnam nicht freigeben.«

»Ja, natürlich … Sie sollen bloß alles tun, um den Mörder schnell zu finden.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als sei es ihm unangenehm, so offen seine Gefühle zu zeigen und zu weinen. »Mein Gott, warum musste es ausgerechnet Debbie treffen?«

Emily war sich nicht ganz sicher, ob seine Trauer um Debbie wirklich so groß war, wie er tat. Immerhin war er damit auch eine finanzielle Last los.

Ihr fiel eine Möglichkeit ein, wie sie Trevors Glaubwürdigkeit testen könnte. Der Schlüssel zur Wahrheit war die Stiftung, zu der Debbie ihn gezwungen hatte.

Trevor stand auf und ging zur Fensterfront. »Darf ich einen Augenblick aufmachen?«, fragte er. »Ich brauche frische Luft.«

»Ja, natürlich.«

Er öffnete beide Flügel des mittleren Sprossenfensters und atmete den frischen Wind ein.

Emily blieb sitzen und tat so, als würde sie in ihrer Handtasche kramen. In Wirklichkeit rief sie sich jedoch die Urkunde in Erinnerung, die Trevor ihr eben hingehalten hatte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie die Fähigkeit besaß, sich in so kurzer Zeit den genauen Wortlaut einzuprägen.

Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen. Jetzt sah sie das Dokument wieder in allen Einzelheiten vor sich. Oben stand der Stiftungszweck, darunter waren ein paar gerichtliche Bestimmungen vermerkt. In der untersten Zeile war Trevor als alleiniger Stiftungsrat genannt, was ungewöhnlich war, weil es nach Willkür roch.

Trevor schloss das Fenster und ging wieder zum Schreibtisch zurück. Kaum hatte er Platz genommen, blickte ihn Emily mit gespielter Bewunderung an und sagte: »Eines hast du immerhin geschafft, Trevor. Du hast Debbie durch deine Stiftung glücklich gemacht.«

»Das will ich hoffen.«

»Deshalb denke ich, jetzt ist es an uns, dafür zu sorgen, dass die Trevor de Sagan Foundation überall bekannt wird. Eine Freundin von mir ist Journalistin. Sie könnte darüber schreiben. Ich finde, es ist allein schon eine Sensation, dass die Stiftung jeden Monat um zehntausend Pfund reicher wird.«

Sie spürte, wie ihm unbehaglich wurde.

»Ich will keine Presse«, sagte er barsch. »Auf keinen Fall.«

Emily ließ nicht locker. »Obwohl niemand erfahren würde, was der wahre Grund für deine Stiftung ist?«

»Ich sagte, ich will nicht.«

Emily bohrte unbeirrt weiter. »Warum nicht? Weil du so öffentlichkeitsscheu bist? Oder weil du die monatlichen Zahlungen sofort nach Debbies Tod eingestellt hast?«

Fassungslos starrte er sie an. Dann erst begriff er, dass sie ihm eine Falle gestellt hatte. »Du verdammte Schlange!«, sagte er heiser. »Verschwinde aus meinem Haus!«

»Also habe ich recht. Du hast die Zahlungen längst gestoppt. Warum, Trevor? Hast du so wenig Respekt vor diesem tapferen Mädchen?«

Er gab sich keine Mühe mehr, sein wahres Gesicht zu verbergen. Sie sah nur noch Wut in seinen Augen. »Respekt?«, höhnte er. »Vor jemandem, der mich erpresst hat, eine Million Pfund auf dieses Konto einzuzahlen? Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie raffiniert Debbie war.« Er lachte auf. »In ihrem dämlichen Stolz hat sie ja schon protestiert, wenn ich ihr mal ein paar Scheine zugesteckt habe, damit sie sich schicke Klamotten kaufen kann.«

Emily platzte der Kragen. Seine Arroganz war unerträglich. Plötzlich schloss sie auch nicht mehr aus, dass er selbst dafür gesorgt hatte, dass Debbie zu Tode kam. Auch wenn er es sicherlich nicht höchstpersönlich getan hatte. Es war ein erschreckender Gedanke, aber sein Jähzorn sprach dafür.

»Es muss eine große Erleichterung für dich gewesen sein, als Debbie endlich tot war«, sagte sie provozierend.

Sein Gesicht wurde dunkelrot. Drohend hob er den Zeigefinger. »Das nimmst du sofort zurück!«, brüllte er sie an. »Ich war acht Tage lang auf den Bermudas, dafür gibt es Zeugen! Vier Aufsichtsratsmitglieder!« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Obwohl dich das alles eigentlich gar nichts angeht.«

»Mich nicht, aber vielleicht die Polizei.«

Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf, ging zur Tür und öffnete sie bis zum Anschlag.

»Geh bitte! Sonst lasse ich dich rauswerfen«, sagte er mit eiskalter Miene.

Sie erhob sich. »Schade, Trevor. Ich hätte mich gern vernünftig mit dir unterhalten. Aber vielleicht bist du dafür doch zu egoistisch.«

»Stammt diese Erkenntnis von dir oder von deinem bigotten Mann?«

Sie ging auf ihn zu. »Hör auf, so über Richard zu reden! Er war dein Freund!«

»Ein guter Freund, ja, aber ein schlechter Ehemann. Hast du das gewusst, Emily?«

»Es wird dir nicht gelingen, meine Erinnerung an Richard zu zerstören.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Wir können es ja auf einen Versuch ankommen lassen …«

»Bitte, Trevor!«, sagte sie fast flehend.

Doch er ließ sich nicht aufhalten. »Weißt du, warum Richard dich damals Hals über Kopf im Stich gelassen hat? Er wollte mit Debbies Mutter nach Frankreich verschwinden. Mary-Ann und er hatten jahrelang ein Verhältnis.«

»Nein!«

»Doch! Aber Mary-Ann, dieses Luder, hat im letzten Moment gekniffen und ihn allein lossegeln lassen. Sie hat es schließlich doch nicht übers Herz gebracht, sich von ihren Töchtern zu trennen. Richard hat mich damals vom Hafen aus angerufen und hat es mir erzählt.«

»Ich will diese Lügen nicht hören!«

»Du hast die Büchse der Pandora geöffnet, Emily, nicht ich«, sagte er höhnisch. »Jetzt musst du dir auch den Rest anhören.«

»Das werde ich nicht tun.«

Doch statt hinauszulaufen, blieb sie wie gelähmt stehen und hörte seinen Worten weiter zu.

Er wusste, wie sehr er sie quälte. Entsprechend genüsslich fuhr er fort. »Auch wenn du die Wahrheit nicht wissen willst – aber dein wunderbarer Mann ist der Vater von Debbies Schwester Constance. Du kennst doch die Kleine, nicht wahr? Er hat sogar regelmäßig für sie bezahlt.«

Emily starrte Trevor ungläubig an. Dann drehte sie sich um, angeekelt von seinem höhnischen Blick, und stürmte in den Flur hinaus. Als sie durch die Halle rannte, warf sie die Bodenvase um, die klirrend auf dem Boden zersprang.

Erst draußen im Hof kam sie wieder zu Atem. Ohne sich noch einmal umzublicken, riss sie die Tür ihres Wagens auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Mit zitternden Händen startete sie den Motor und raste los.

Sie brauchte ein paar Stunden, bis sie den Schock halbwegs verkraftet hatte. Nachdem sie von Sagan Manor zurückgekehrt war, hatte sie sich weinend ins Schlafzimmer zurückgezogen und sich angekleidet aufs Bett geworfen. Doch je mehr sie dort über Trevor de Sagans Behauptungen nachdachte, desto mehr wuchs in ihr die Erkenntnis, dass er vermutlich die Wahrheit gesagt hatte. Plötzlich erschien ihr das ganze Haus, und vor allem das Schlafzimmer, von Richards Lügen vergiftet.

Als sie es nicht mehr aushielt, flüchtete sie in den Garten, der immer ihr Garten gewesen war.

Fast manisch ging sie mit einem kleinen Eimer in der Hand durch die Beete und sammelte Dutzende gefräßiger Nacktschnecken ein. Nun mussten die armen Dinger für Richard Blooms Verfehlungen büßen. Eine nach der anderen wanderten die schleimigen braunen Schädlinge in den Eimer, als wären sie es gewesen, die Emilys Leben durcheinandergebracht hatten.

Erst als nirgendwo mehr eine Schnecke zu finden war, kam sie wieder zur Besinnung. Der Eimer war zur Hälfte gefüllt. Eigentlich, fand sie, hatten die Schnecken den Tod verdient. Aber dann brachte sie es irgendwie doch nicht fertig, sie umzubringen. In letzter Zeit gab es schon genügend Leichen auf der Insel, dachte sie grimmig. Sie begnügte sich damit, die Schnecken schwungvoll über die Gartenmauer nach unten in den Wald zu kippen.

Wie befreit kehrte sie ins Haus zurück.

Jetzt erst entdeckte sie, dass auf dem Küchentisch, beschwert mit der Knoblauchpresse, ein Zettel lag, auf den Constance eine Nachricht für sie gekritzelt hatte: Conway hat angerufen, dass ich jetzt in Debbies Wohnung kann. Ich habe schnell gepackt und bin dann jetzt weg. Noch mal tausend Dank, Constance.

Emily war erleichtert. Schon während der ganzen Fahrt hatte sie sich mit der Frage gequält, wie sie Constance in dieser neuen Situation gegenübertreten sollte. Wenn Richard tatsächlich der Vater des Mädchens war – war es jetzt Emilys Aufgabe, ihr das zu sagen? Für Emily als Ehefrau war es schwer genug, zu akzeptieren, dass ihr untreuer Mann noch ein Kind gezeugt hatte. Doch wie würde Constance in ihrer jetzigen Verfassung damit umgehen?

Je mehr sich Emily in den folgenden Stunden mit Trevor de Sagans Äußerungen befasste, desto mehr brach die sorgsam versiegelte Schutzhülle auf, die ihr Leben mit Richard bisher umgeben hatte.

Zum Vorschein kam die bittere Wahrheit: Trevor hatte recht. Sie hatte es nur nie wahrhaben wollen.

Mary-Ann Farrow … Wie gut sie passte zu Richards Vorstellungen von einer Frau! So wie sie damals in der Black-Butter-Nacht auch Trevor de Sagans Blut in Wallung gebracht hatte, selbstbewusst und widerborstig, wie sie war.

Ich muss endlich aufhören, mich selbst zu belügen, dachte Emily.

Richard war immer ein liebevoller Vater und Ehemann gewesen, trotzdem hatte er einen schlechten Charakterzug nie ganz ablegen können. Als Mitläufer hatte er sich von Trevor abgeschaut, welche Vorteile es brachte, wenn man in kritischen Augenblicken nur an sich selbst dachte. Emily fragte sich, wie lange Richard und Mary-Ann wohl schon ihr Verhältnis gehabt hatten. Sie rechnete nach. Vierzehn Jahre mussten es auf jeden Fall gewesen sein, denn als Richard mit Mary-Ann nach Frankreich verschwinden wollte, war Constance schon älter als dreizehn. Es war genau die Zeit, als das schmale, dunkelhaarige Mädchen fast täglich bei ihnen zu Gast gewesen war, mit Jonathan kichernd auf der Terrasse gesessen hatte, wo sie Karten spielten und Kuchen futterten. Und wie oft hatte Emily abends, wenn sie im Bett neben Richard lag und von den Streichen der Kinder erzählte, davon geschwärmt, dass Constance wie die Tochter war, die sie sich immer gewünscht hatte …

Natürlich hätte Emily sich damit trösten können, dass die beiden längst tot waren, aber das war natürlich Unsinn. Im Gegenteil, der Tod machte alles nur noch schlimmer, weil sie nicht mehr mit Richard darüber sprechen konnte. Er hatte alle Geheimnisse mit ins Meer genommen. Sie hatte ihren Mann verloren und wusste nicht, warum.

Wie immer, wenn Emily unsicher war, suchte sie Rat in ihrem Gedächtnis. Sie wusste, in diesem Archiv konnte sie alles finden. Auch ihre letzten Gespräche mit Richard. Hatte er damals etwas gesagt, das ihr einen Hinweis hätte geben können?

Sie schloss die Augen und ließ sich wieder durch die Zeit fallen.

Am 23. Juni vor zwölf Jahren war Richard verschwunden. Am Tag davor waren sie beide noch gemeinsam auf einem Jazzkonzert in der Burgruine von Mont Orgueil Castle gewesen. Über dem glitzernden Meer hatte die Sonne ihr letztes sanftes Licht ausgesandt. Das alte Gemäuer und die Menschen schienen wie rötlich angestrahlt zu sein. Im Gewühl waren sie vielen Menschen begegnet, die sie kannten. Auf dem unteren Burghof, wo sonst die Vorführungen der Falkner stattfanden, swingten fünf junge Musiker und sorgten für gute Laune.

Emily lehnte sich mit dem Rücken an die Burgmauer, hörte selig zu und fühlte sich wunderbar jung. Wenigstens für ein paar Stunden versuchte sie zu verdrängen, dass ihr am nächsten Morgen dieser Termin bei Professor Riddington in der Klinik bevorstand, wegen ihres schrecklich perfekten Gedächtnisses. Heute wollte sie noch einmal unbeschwert sein.

Spontan streckte sie den Arm aus, zog Richard zu sich heran und versuchte ihn zu küssen. Doch er wich ihr aus, denn in diesem Augenblick entdeckte er Mary-Ann Farrow auf der anderen Seite des Platzes und winkte ihr zu.

»Hast du gesehen?«, rief er gegen die Musik an. »Da drüben ist Mary-Ann!«

»Och, du bist unromantisch«, beschwerte sich Emily. »Siehst du, jetzt kommt sie zu uns rüber.«

Geschickt drängelte Mary-Ann Farrow sich durch die Menschenmenge. Für Anfang vierzig war sie immer noch sehr schlank. Sie trug weiße Jeans, ein weißes Polohemd und weiße Bootsschuhe, sodass sie wie eine Seglerin aussah, obwohl sie es gar nicht war. Emily hatte sie noch nie so gut angezogen gesehen. Auch sonst hatte sie sich stark verändert. Ihre dunklen Haare waren jetzt anders geschnitten, aus den fusseligen Strähnen, über die sie früher immer gejammert hatte, war eine Art Bubikopf geworden.

»Hallo ihr zwei!«, sagte sie fröhlich, dann küsste sie Emily auf beide Wangen. Richard dagegen gab sie keinen Kuss, stattdessen lächelte sie ihm lange und intensiv zu. Er sagte nichts, sondern lächelte nur zurück.

»Bist du allein hier?«, fragte Emily.

»Du weißt doch, ich bin immer allein«, antwortete Mary-Ann seufzend. »Meine Mädels haben mich neulich sogar schon gefragt, ob ich vielleicht gar keine Männer mag.«

»Wie Teenies sich das eben so vorstellen«, sagte Emily amüsiert.

Richard lachte. Als er sah, dass die Musiker ihre Instrumente zur Seite legten, um eine Pause zu machen, zeigte er auf den provisorisch aufgebauten Stand, der als Bar diente.

»Wie wär’s mit einem Drink? Geht ihr mit rüber?«, fragte er.

»Gerne«, sagten beide Frauen gleichzeitig.

Sie schlenderten auf die andere Seite. Die ersten Gäste kamen ihnen mit Gläsern in der Hand entgegen.

»Arbeitest du eigentlich immer noch in diesem Kinderheim?«, fragte Emily.

»Ja. Aber das Heim würdest du gar nicht mehr wiedererkennen. Die Stadt hat es komplett renovieren lassen. Genau genommen leite ich jetzt eine moderne Großküche. Und immer komme ich erst nachts nach Hause. Es ist ziemlich stressig geworden.«

»Zeit, dein Leben zu verändern, meinst du nicht?«, sagte Richard, der zwischen ihnen ging, mit seltsam herausforderndem Blick.

Sie lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht.«

Bestimmt hat sie einen Liebhaber, dachte Emily. Sie würde es ihrer Jugendfreundin wünschen, denn Mary-Ann hatte es immer schwer gehabt im Leben.

Richard schien Vergnügen an diesem Spiel mit Mary-Ann bekommen zu haben. In provozierendem Ton bohrte er weiter:

»Und wie würdest du leben wollen, wenn du dürftest, wie du willst?«, fragte Richard.

»Jetzt hör doch mal damit auf«, meinte Emily etwas genervt. Um sie herum war nur Fröhlichkeit. Doch Mary-Ann schien die Fragerei nichts auszumachen.

»Nein, lass ruhig … Wie würde ich leben wollen …« Sie dachte nach. Dann antwortete sie mit ernstem Gesicht: »So, dass ich es nie bereuen müsste.«

Emily hatte den Eindruck, als würde Richard ein klein wenig erröten. Aber vielleicht hatte sie sich auch getäuscht.

»Na, das wird sich doch machen lassen«, sagte er lächelnd und versuchte, Mary-Anns braunen Augen standzuhalten.

Sie waren an der Bar angekommen. Zwei flinke Studentinnen schenkten Bier, Mineralwasser und Champagner aus. Emily hatte keine Lust mehr, sich den schönen Jazzabend von Richards philosophischem Geplänkel zerreden zu lassen.

»Jetzt sei bitte ein Gentleman und hol etwas zu trinken für uns«, bat sie ihn. »Die Musik geht nämlich gleich weiter.«

»Was wollt ihr? Champagner oder Wasser?«, fragte er.

»Champagner«, antworteten Emily und Mary-Ann wieder wie aus einem Mund.

Mit einem Zwanzig-Pfundschein in der Hand stellte sich Richard in der Schlange an. Ein paar Minuten später kam er fröhlich zurück, drei Gläser in den Händen. Sie stießen an.

Über ihr Glas hinweg fragte Mary-Ann: »So, Richard. Und jetzt möchten wir wissen, was du in einem neuen Leben tun würdest.«

»Das würde mich auch mal interessieren«, sagte Emily. Sie freute sich, dass sie und Mary-Ann sich immer noch so gut verstanden.

Richard hob seine buschigen Augenbrauen. »Ich?«, sagte er, ohne lange nachzudenken. »Ich würde am liebsten in einer Woge aus perlendem Champagner untergehen …«

Alle drei prusteten los.

Emily konnte nicht fassen, wie naiv sie damals gewesen war. Die scheinbar fröhliche Unterhaltung zwischen Richard und Mary-Ann Farrow strotzte in Wirklichkeit vor geheimen Signalen. Ihre Blicke, die Anspielungen auf ein neues Leben, Mary-Anns kryptischer Wunsch, dass sie einen Neuanfang hoffentlich nie bereuen müsse – das ganze Gespräch in dieser lauen Nacht verbarg so viel zwischen den Zeilen, was Emily bisher nicht erkannt hatte.

Plötzlich ergab alles einen ganz neuen Sinn. Auch Richards Witz darüber, dass er am liebsten in einer Woge aus Champagner untergehen würde.

Schon vierundzwanzig Stunden später war er untergegangen. Ein tragischer Zufall. Oder nicht? Denn es könnte auch bedeuten, dass er seinen Tod sorgfältig inszeniert hatte.

Emily hielt den Atem an.

War Richard in Wirklichkeit noch am Leben?

Sein Besuch bei Frank Guiton im Krankenhaus hatte Richter Willingham dazu gebracht, die Pläne für sein künftiges Leben kurzfristig zu ändern. Lange Zeit war er davon ausgegangen, dass er sich nach der Beendigung seiner Tätigkeit am Magistratsgericht ganz aus dem Rechtsgeschäft zurückziehen und nur noch privatisieren würde. Doch jetzt dachte er anders. Dass er aus der Sicht Frank Guitons miterleben durfte, wie man mit einem Verdächtigen umsprang, hatte einen faszinierenden Blickwinkel ergeben, den er zuletzt als junger Verteidiger erlebt hatte.

Er zweifelte nicht daran, dass die Polizei – die Honorary Police unter Harold Conway ebenso wie die Kriminalpolizei in St. Helier – im Prinzip einen guten Job machte. Und doch gab es in ihrem Verhalten gegenüber Guiton etwas, das ihn störte.

Plötzlich reizte Willingham der Gedanke, wie früher wieder als Anwalt zu arbeiten. In den vergangenen Jahren hatte er immer wieder beobachtet, dass unter der sogenannten neuen Elite eine gefährliche Krankheit grassierte. Exzellent ausgebildete junge Leute wie sein Nachfolger Edward Waterhouse, wie die kaltschnäuzigen Banker oder die gerade mal dreißigjährigen Finanzanwälte – sie alle litten unter Selbstüberschätzung. Und Opfer dieser Arroganz waren die einfachen Bürger.

Jersey war immer eine Insel der Zupackenden gewesen. Willingham war stolz darauf, dass ihm seine kleine Insel die Chance auf ein Studium und später auf ein hohes Amt ermöglicht hatte, obwohl er aus kleinen Verhältnissen stammte.

Nein, jetzt durfte er nicht kneifen. Jetzt begann es eigentlich erst, Spaß zu machen.

Noch am selben Nachmittag unternahm er alle notwendigen Schritte, um wieder als Anwalt zugelassen zu werden. Es war leicht. Die Anwaltskammer fühlte sich geehrt, ihn wieder in ihren Reihen begrüßen zu können, denn das traditionsorientierte Rechtssystem auf Jersey – eine komplizierte Mischung aus britischen, französischen und normannischen Rechtselementen – erforderte gewiefte Juristen wie Willingham.

Gleich anschließend suchte er Frank Guiton im Krankenhaus auf.

Er fand ihn im fortgeschrittenen Stadium schrecklicher Langweile. Auf dem weißen Nachttisch und auf seiner Bettdecke stapelten sich die zerlesenen Ausgaben mehrerer Tageszeitungen und Wettzeitschriften. In dem kleinen Fernsehapparat, der an der Wand hing, lief stumm ein Golfturnier.

Überrascht blickte Guiton zur Tür, als Willingham mit einer schwarzen ledernen Aktentasche in der Hand eintrat.

»Richter Willingham!«

»Ich will sie nicht lange stören, Frank. Ich wollte Sie nur kurz über eine Neuigkeit informieren.«

»Bitte nehmen Sie sich doch den Stuhl …«

»Nein, danke, es tut mir ganz tut, zu stehen.« Er kam lächelnd näher, während Guiton mit der Fernbedienung den Fernseher ausschaltete. »Die Neuigkeit betrifft mich selbst.«

Irritiert hob Guiton seinen bandagierten Kopf vom Kissen.

»Inwiefern?«

»Richter Willingham gibt es ab heute nicht mehr.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe beschlossen, wieder als Anwalt zu arbeiten. Und wenn Sie Lust haben, sind Sie mein erster Mandant.«

Guiton hob den Kopf von seinem Kissen. »Das ist ja eine Überraschung!« sagte er strahlend. »Natürlich würde ich mich freuen, wenn Sie meinen Fall übernehmen könnten!« Er ließ sich wieder zurücksinken. »Ich kann’s nicht glauben!«

»Noch heute Abend werde ich mich hinsetzen und unsere nächsten Schritte ausarbeiten«, erklärte Willingham. »Als Erstes müssen wir es schaffen, Ihr Gestüt vor dem Zugriff der Bank zu retten. Danach können wir uns darum kümmern, wie wir den Vorwurf des Versicherungsbetrugs abschmettern.«

»Aber wie soll das alles gehen, solange ich an dieses Bett gefesselt bin?«

»Das sollte kein Problem sein. Dann muss eben ich die Ärmel hochkrempeln. Geben Sie mir eine Vollmacht für Ihre Haushälterin mit und sagen Sie mir, wo ich in Ihrem Gestüt die entsprechenden Unterlagen finde.«

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, weihte ihn Frank Guiton in alles Geschäftliche ein. Er hatte das Gefühl, Willingham blind vertrauen zu können. Innerhalb von Minuten verwandelte sich das Krankenzimmer in ein Büro. Willingham zauberte mehrere Vollmachten, einen teuren Schreibblock, zwei silberne Kugelschreiber und jede Menge Heftklammern aus seiner teuren Aktentasche hervor, dann begannen sie mit der Arbeit.

Als sie fertig waren, packte Willingham alles wieder ein. Er tat es so ruhig und so selbstverständlich, als hätte er nie anders gearbeitet.

»Ausgezeichnet«, sagte er zufrieden, »so können wir es schaffen. Schon morgen Vormittag wird Ihre Bank eine Klage wegen Vertragsverletzung auf dem Tisch haben, die den Jungs Angst machen wird.«

Frank Guiton konnte nur staunen.

In einem entscheidenden Punkt war Harold Conway mit seinen Ermittlungen im Mordfall Debbie Farrow immer noch unzufrieden.

Bis auf Constance Farrow und einen Cousin namens Oliver Farrow – ein arbeitsloser Bursche aus St. Helier – gab es keine Verwandten mehr, die er befragen konnte. Debbies Mutter war vor vier Jahren verstorben, und Väter waren in dieser merkwürdigen Sippe offenbar unerwünscht.

Den Cousin hatte Conway gestern noch einmal am Hafen verhört. Viel war dabei allerdings nicht herausgekommen. Wie auch seine Nachbarn bestätigten, war Oliver Farrow zwar eine haltlose, verlorene Seele, aber im Grunde ein prima Kerl. Früher hatte er sich oft um Debbie Farrows kleinen Sohn gekümmert, ihn sogar gelegentlich mit zu sich nach Hause genommen. Doch seit er nur noch selten Arbeit fand und viel trank, war nicht mehr viel los mit ihm. Für die Tatzeit in Debbies Fall hatte er das zuverlässigste Alibi, das man sich überhaupt nur vorstellen konnte: Eine Polizeistreife hatte ihn gegen neunzehn Uhr auf der Küstenstraße nach St. Clement aufgegriffen, wo er unter dem Einfluss von Ecstasy als Anhalter unterwegs gewesen war. Da er keine Papiere bei sich hatte, hatten die Kollegen ihn sicherheitshalber mit aufs Revier genommen. Von dort war er erst kurz nach Mitternacht zurück nach Hause gebracht worden.

Auch mit dem Mord an Jolanta Nowak ließ sich Oliver Farrow nicht in Verbindung bringen. Es gab keine Fingerabdrücke, die zu ihm passten, und keine Zeugen, die ihn zusammen mit der Polin gesehen hatten. Zur vermuteten Tatzeit entlud er gerade ein Frachtschiff im Hafen.

Blieb aus der Familie also nur Constance Farrow, mit der sich Conway noch einmal näher beschäftigen wollte.

Eigentlich hatte der Chef de Police einen guten Eindruck von ihr gehabt. Was ihn jedoch immer mehr irritierte, war, dass Constance es so eilig damit gehabt hatte, in die Wohnung ihrer ermordeten Schwester einzuziehen. Normalerweise hatten nahe Verwandte allergrößte Probleme damit, die Räume von Verstorbenen überhaupt nur zu betreten.

Ließ sich vielleicht doch ein engerer Kontakt zwischen den beiden Schwestern nachweisen als von Constance zugegeben? Oder was konnte der Grund dafür sein, dass es die kleine Schwester so magisch in diese Wohnung zog?

Conway fuhr zum Hafen und parkte dort, wo er gestern erst Constance von der Fähre abgeholt hatte. Bisher war er automatisch davon ausgegangen, dass sie allein aus England angereist war. Aber das musste ja nicht so sein.

Jetzt, um diese Zeit, war das Fährterminal noch leer. Auf dem Weg zum Eingang war nur ein dünner alter Mann zu sehen, der mit seltsam roboterhaften Bewegungen dabei war, das Pflaster zu fegen. Als Conway auf ihn zuging, unterbrach er seine Arbeit.

»Guten Tag, Mr. Ramsey«, sprach ihn der Chef de Police freundlich an. Er wusste, dass Ramsey seit einem schweren Bootsunfall nicht mehr ganz gesund war, aber sein Kopf war immer noch klar.

»Hallo«, sagte der alte Mann mit krächzender Stimme. »Hab Sie lange nicht mehr gesehen, Mr. Conway.«

»Ich komme ja auch nie von dieser verdammten Insel runter«, antwortete der Chef de Police mit gespieltem Knurren.

Ramsey lachte. »Ich auch nicht. Aber es geht ja auch so, oder?«

Conway nickte. »Das will ich meinen.« Er zog ein Foto von Constance Farrow aus der Tasche. Es war eine Kopie ihres Passfotos. »Ich komme wegen dieser jungen Dame, Mr. Ramsey. Können Sie sich zufällig noch an die erinnern? Sie ist gestern Mittag mit der Fähre aus Weymouth gekommen.«

Ramsey nahm das Foto in die Hand und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen.

»Oh ja! Natürlich erinnere ich mich. War schließlich die Hübscheste an Bord.« Er kicherte. »Was meinen Sie, was hier sonst manchmal von Bord rollt?!«

»Ich wusste, dass Sie ein Frauenkenner sind«, sagte Conway einschmeichelnd. »Und wissen Sie auch noch, ob das Mädchen allein hier ankam oder in Begleitung?«

»Allein. Die Jungs vorne im Hafen haben sich ja fast die Köpfe verrenkt, als sie sie gesehen haben.«

»Es gibt auch keinen Zweifel, dass es die Fähre aus Weymouth war?«

»Es war hundertprozentig Weymouth, Mr. Conway. Sie ist ja beim letzten Mal auch aus Weymouth gekommen.«

Conway stutzte. »Wieso beim letzten Mal?«

»Weil sie vorvorgestern auch schon mal hier war. Ja, genau, das war der Montag. Wie nennt man diese Leute noch schnell, die immer hin und her fahren?«

»Pendler«, antwortete Conway. »Wann ist sie denn gependelt – vorvorgestern?«

»Lassen Sie mich überlegen …« Er kratzte sich an seiner staubbedeckten Oberlippe. »Ich glaube, sie ist am Spätnachmittag angekommen und am nächsten Morgen wieder weggefahren. Zurück nach Weymouth.«

Conway war schlagartig unter Hochspannung. Er hielt Ramsey für einen guten Beobachter, dem nichts entging, das hatte er bereits früher mehrfach festgestellt. Am Montagabend war Debbie Farrow ermordet worden. Wenn Ramsey recht hatte, wäre Constance Farrow zur Tatzeit auf der Insel gewesen – und sie hätte alle angelogen.

»Können Sie mir auch beschreiben, was das Mädchen anhatte?«, fragte er so ruhig wie möglich.

Ramsey dachte nach.

»Hmm … Einen roten Anorak und einen blauen Rucksack, glaube ich.«

Volltreffer. Genauso hatte Constance Farrow bei ihrer Ankunft ausgesehen.

»Haben Sie die junge Dame schon mal früher hier gesehen?«

»Nein«, sagte Ramsey kopfschüttelnd, »aber ich hab ja auch nicht jeden Tag Dienst an der Rampe.«

»Ich weiß. War nur eine Frage. Sie haben mir auch so sehr geholfen, Mr. Ramsey.«

Nachdem er sich eilig von ihm verabschiedet hatte, ging Conway zum Polizeiwagen zurück und rief über Funk Sandra Querée an.

»Wie es aussieht, gibt es eine Wende im Fall Farrow«, begann er ohne Umschweife. In zwei Sätzen erklärte er ihr, worum es sich handelte.

Sandra hörte schweigend zu. Dann sagte sie: »Das passt ja gut. Gerade hat jemand die Liste mit den Verbindungsdaten von Constance Farrows Handy bei uns abgegeben. Die britische Telefongesellschaft hat sie erst jetzt freigegeben.« Es raschelte. »Sekunde, gleich hab ich sie.«

»Gut. Dann schauen Sie schnell nach, mit wem Constance am Montag und am Dienstag telefoniert hat.«

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Sandra Querée das Datum auf der Liste gefunden hatte.

»Hier … Sieht so aus, als wenn heute unser Glückstag wäre … Am Montag um 10 Uhr 21 Uhr ist Constance von ihrer Schwester angerufen worden. Von Debbies Handy aus. Ein ziemlich langes Gespräch, fast vierzig Minuten! Zu dem Zeitpunkt hat Constance sich noch in Weymouth aufgehalten, denn es ist ein Telefonat von Jersey aus ins englische Netz.«

»Weiter.«

»Um 19 Uhr 05 hat Constance Farrow dann schon von Jersey aus telefoniert. Mit einer Nummer in Weymouth. Ich sehe gerade, das ist die Nummer der Firma, in der sie arbeitet.«

»Sonst noch Gespräche?«

»Nein, erst wieder am nächsten Tag und wieder aus dem englischen Netz. Also war sie zu diesem Zeitpunkt schon wieder nach Weymouth zurückgekehrt.«

Der Chef de Police lehnte sich in seinem Autositz zurück und ließ die Scheibe ein Stück herunter. Während ihm frische Luft ins Gesicht wehte, versuchte er, die Uhrzeiten, die Sandra genannt hatte, miteinander in Verbindung zu bringen. Aus seiner Sicht entstand dabei nicht nur ein Bewegungsprofil von Constance Farrow, sondern möglicherweise auch ein Einblick in das nicht immer einfache Verhältnis der beiden Schwestern zueinander.

Draußen, vor seinem Autofenster, schob sich die Fähre aus Southampton in den Hafen, doch Conway nahm sie kaum wahr.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Sandra.

»Ja … Ich denke gerade nach. Es gibt eigentlich nur eine Schlussfolgerung aus diesen Telefonaten: Am Tag ihres Todes hat Debbie bei Constance in England angerufen, weil sie irgendetwas Wichtiges mit ihr zu besprechen hatte. Und zwar etwas, das Constance vor uns verheimlichen will.«

»Klingt nach einem Problem unter Schwestern.«

»Es wird ein Streit gewesen sein. Von mir aus auch ein Hilferuf von Debbie, weil sie in der Patsche steckte. Auf jeden Fall nimmt Constance die nächste Fähre, bezahlt das Ticket bar und kommt her. Sie treffen sich abends, ihre Auseinandersetzung eskaliert, und Constance bringt Debbie um. Am nächsten Morgen kehrt sie nach Weymouth zurück und wartet, bis wir sie über den Tod ihrer Schwester informieren. Dann reist sie wieder an, diesmal ganz offiziell, und lässt sich von mir die Leiche präsentieren.« Wütend drehte er den Schlüssel im Zündschloss um und startete den Wagen. »Sie hat uns reingelegt, dieses Biest! Aber das wird sie mir büßen!«

Sandra Querée versuchte, Conway wieder zu beruhigen, indem sie ihre Hilfe anbot.

»Soll ich irgendwas tun?«

»Informieren Sie sofort alle Kollegen, dass wir nach Constance Farrow suchen. Ich bin in zehn Minuten da.«

Er beendete das Gespräch, stieß rückwärts aus der Parklücke und fuhr auf die Ausfahrt des Parkplatzes zu. Doch gleich darauf musste er abbremsen und sich im Schneckentempo zwischen zwei großen Reisebussen hindurchquetschen, die sich direkt vor der Ausfahrt breitgemacht hatten. In seiner Ungeduld bekam er große Lust, auszusteigen und den Bussen höchstpersönlich Strafzettel zu verpassen. Doch für solche Spielchen hatte er jetzt keine Zeit.

Endlich konnte er den Parkplatz verlassen. Rasant fuhr er nach St. Aubin zurück. Erst unterwegs wurde ihm klar, wie dramatisch die Ermittlungen sich soeben verändert hatten. Wenn Constance Farrow tatsächlich ihre Schwester umgebracht hatte, war sie eine gefährliche Mörderin. Hatte sie vielleicht einen männlichen Komplizen, der auch hinter dem Mord an Jolanta Nowak steckte und bei beiden Mordopfern seine Fingerabdrücke hinterlassen hatte?

Plötzlich war alles denkbar.

In Emily Blooms Teegeschäft war an diesem Vormittag viel mehr los als sonst. Tim und sie hatten alle Hände voll zu tun, um die vielen Kunden in dem kleinen, engen Laden zu bedienen.

Alles musste schnell gehen. Emily wog den Tee ab, Tim verpackte und etikettierte die Teetüten. Draußen nieselte es, während drinnen der wohlige Duft exotischer Teesorten den Raum füllte.

Natürlich wusste jeder, dass Mrs. Bloom eine Leiche gefunden hatte. Einige Kunden hatten Debbie Farrow persönlich gekannt. Emily musste deshalb ununterbrochen Fragen beantworten, was sie zwar geduldig tat, aber auch so ausweichend wie möglich. Mrs. Olivier und Mrs. Hickmott ließen sich von Tim sogar Klappstühlchen aus dem hinteren Teelager holen, angeblich, damit sie sich von ihren Einkäufen ausruhen konnten. In Wirklichkeit wollten sie nur noch ein Weilchen den interessanten Antworten lauschen, die Emily den anderen Kunden gab.

Plötzlich schob sich ein roter Anorak in den Laden. In ihm steckte Constance. Sie zog sich die nasse Kapuze vom Kopf und lächelte Emily schüchtern zu. Auch Tim hatte sie schon gesehen und schaute fragend von seiner Waage zu Emily auf.

»Kannst du mal einen Moment allein bedienen?«, raunte sie ihm zu.

Tim nickte, und Emily gab Constance ein Zeichen. Zusammen verschwanden sie im angrenzenden Büro. Tim blickte hinter Constance her, bis sich die schmale Tür hinter den beiden Frauen schloss.

»Bei Ihnen ist ja die Hölle los«, sagte Constance, während sie in dem winzigen, fensterlosen Hinterzimmer ihren Anorak auszog.

Emily nickte und räumte schnell ein paar Aktenordner von den Stühlen.

»Eigentlich sollte ich mich darüber freuen. Aber du kannst dir ja denken, dass viele Leute nur sensationsgierig sind … Schön, dass du mal vorbeikommst. Du hast den Laden ja ewig nicht gesehen.«

»Er sieht immer noch so aus wie früher.«

»Ja«, sagte Emily und lachte. »Aber nur weil ich kein Geld habe, um zu renovieren. Komm, nimm dir den Stuhl.«

Doch Constance blieb stehen. Sie wirkte unschlüssig und sehr angespannt. »Nein, ich will nicht lange bleiben. Ich wollte nur fragen, wann wir heute noch einmal in Ruhe sprechen könnten … Unter vier Augen. Vielleicht hätten Sie Lust auf einen Spaziergang.«

Etwas in der Stimme von Constance ließ Emily hellhörig werden. Die Kleine war anders als am Tag zuvor. Sie wirkte unkonzentriert und nervös. Irgendetwas stimmte nicht.

»Warum machen wir das nicht gleich?«, schlug Emily deshalb vor. »Man sollte nichts Wichtiges aufschieben.«

»Das möchte ich nicht, Mrs. Bloom, ihr Laden ist voll …«

Doch Emily ließ keinen Widerspruch zu.

»Mach dir keine Sorgen. Tim schafft das auch allein.«

Emily öffnete den Einbauschrank in der Ecke, in dem auf einem Bügel ihr Anorak hing. Sie nahm ihn heraus und zog ihn an. »Ich weiß sogar schon, was wir jetzt machen«, sagte sie, während sie ihre Haare über den Kragen des Anoraks schob. »Wir laufen oben auf den Klippen. Das macht den Kopf wunderbar frei.«

Insgeheim kam Emily diese Gelegenheit, noch einmal mit Constance allein sprechen zu können, gerade recht. Tief in sich verspürte sie den Wunsch, mehr über die Tochter ihres Mannes zu erfahren. Wie lebte sie? Was für Freunde hatte sie? Wie stellte sie sich die Zukunft vor?

Andererseits hatte Sie sich fest vorgenommen, Constance bis auf weiteres nichts davon zu erzählen, dass Richard Bloom ihr Vater war. Zum jetzigen Zeitpunkt würde es sie nur unnötig verstören. Das arme Mädchen hatte in den vergangenen Tagen schon genug durchmachen müssen.

Nachdem Emily kurz Tim Bescheid gesagt hatte, traten sie auf die Straße.

Ihr Wagen parkte direkt vor dem Schaufenster, das hübsch mit alten indischen Teekisten dekoriert war. Es hatte aufgehört zu regnen. Emily öffnete die Autotür und warf ihren kleinen Taschenschirm, der immer im Auto lag, vom Beifahrersitz nach hinten. Dann setzte sie sich hinters Steuer.

»So! Jetzt wollen wir nur noch Sonne haben.«

Constance nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck blickte sie zu Emily hinüber, sagte aber nichts.

Nachdenklich ging Trevor de Sagan in seinem Büro auf und ab. Der Besuch von Emily Bloom hatte ihn stärker aufgewühlt, als er sich eingestehen wollte. Ihr Wissen war nicht nur erschreckend, es war auch gefährlich.

Es ärgerte ihn, dass er sich vor ihren Augen dermaßen hatte gehen lassen. Aber Emily war schon immer eine Frau gewesen, deren Attraktivität einen dazu verleitete, ihren Scharfsinn zu vergessen. Er hatte sie viele Jahre lang nicht gesehen. Vielleicht hatte ihn auch deshalb ihre reife Schönheit, mit der sie ihm heute gegenübergesessen hatte, aus dem Gleichgewicht gebracht.

Als Debbie Farrow damals zum ersten Mal bei ihm aufgetaucht war, hatte er noch geglaubt, er könnte die Probleme mit Geld lösen. Doch Debbie hatte diese Vorstellung mit einer Widerstandskraft zerstört, die ihn so hilflos gemacht hatte wie nie zuvor in seinem Leben. Im Grunde genommen hatte Debbie mit ihm gespielt. Und er hatte es erdulden müssen. Dass er diese Hilflosigkeit ausgerechnet Emily Bloom eingestanden hatte, machte alles nur noch schlimmer.

Trevor beugte sich über den Schreibtisch, pickte mit den Fingern ein paar Erdnüsse aus der silbernen Schale neben dem Telefon und warf sie sich in den Mund. Er liebte diesen Geschmack, der ihn beruhigte. Kauend trat er vor das Fenster und blickte in den Garten.

Die wichtigste Frage war jetzt, ob Emily Bloom die Polizei einschalten würde. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie es nicht tun würde, erst recht nicht, nachdem er ihr die Sache mit Richard erzählt hatte. Am Ende war sein unbedachtes Verhalten vielleicht doch zu etwas gut gewesen.

Trotzdem musste er Alex warnen. Auch bei ihm konnte Emily auftauchen und gefährliche Fragen stellen. Er hatte zwar ein gespaltenes Verhältnis zu Alex Flair und dessen prätentiösem Lebensstil, aber sie mussten unbedingt zusammenhalten in dieser Sache.

Während er zum Schreibtisch ging, zog er sein Jackett aus, hängte es über die Rücklehne seines Lederstuhls und griff zum Telefon. Er hatte die Nummer im Kopf. Alex und er gingen mehrmals im Jahr in Schottland zur Jagd und trafen sich bei Poloturnieren.

Alex Flair war gleich am Telefon.

Trevor nahm nur aus anerzogener Höflichkeit einen kurzen Anlauf, bevor er zum Thema kam.

»Ich weiß, dass ihr heute sehr beschäftigt seid«, begann Trevor. »Hast du trotzdem ein paar Minuten?«

»Aber ja.« Alex klang gelassen wie immer. »Du kennst ja Louise. Seit zwei Tagen ist draußen alles perfekt hergerichtet. Ich muss nur noch die Rechnungen für sieben Gärtner und den teuren Gartenarchitekten bezahlen.«

Trevor wusste, dass Alex und seine Frau ihren prächtigen Privatpark heute zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentierten. Dafür hatten sie einen großen Empfang vorbereitet. Trevor war auch geladen, musste jedoch absagen, weil er einen anderen wichtigen Termin hatte.

»Dann will ich es kurz machen«, sagte Trevor. »Heute war Emily Bloom bei mir. Sie hat eine Menge unangenehmer Fragen gestellt.«

Er berichtete in kurzen Worten, worum es gegangen war. Alex gehörte zu den wenigen, die von der Sache mit Debbie wussten, auch von Trevors Jugendsünde aus der Black Butter-Nacht. Als Achtzehnjähriger war Alex, damals Gast der Familie de Sagan, dabei gewesen. Trevor rechnete ihm hoch an, dass er bis heute nie ein Wort darüber verloren hatte.

Alex Flair schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Typisch Emily. Charmant und nett. Deshalb unterschätzt man sie immer.«

»Ihre Fragen nach Debbies Tod können auch dir Probleme bereiten. Ich denke, das ist dir klar.«

»Natürlich. Ich bin Realist.«

»Und was unternehmen wir jetzt?«, fragte Trevor.

»Ich mache dir ungern einen Vorwurf, Trevor. Aber dass du Richard erwähnen musstest … Das hätte dir nicht passieren dürfen.«

Trevor reagierte ungewollt scharf. »Ich sagte bereits, dass es mir leidtut!«

»Was meinst du? Wird Emily ihr Wissen an die Polizei weitergeben?«

»Ich denke, sie wird, wenn überhaupt, noch eine Weile zögern. Schon aus Stolz wird sie nicht zugeben, dass sie jahrelang von ihrem Mann betrogen worden ist. Es könnte nur sein, dass sie jetzt auch zu dir kommt und Fragen stellt.«

»Gut, ich bin vorbereitet. Hast du Kontakte zur Polizei?«

»Nein, die hatte ich früher. Aber seit es im Hauptquartier personelle Veränderungen gegeben hat, fehlt mir der Draht.«

»Du bringst mich gerade auf eine Idee«, sagte Alex Flair. »Unter den Gästen ist heute auch Detective Inspector Waterhouse. Die Schwester von Edward Waterhouse, dem neuen Richter.«

Trevor de Sagan lachte kurz auf. »Ich wusste, dass dein Garten eine gute Investition ist.«

»Wo kann ich dich heute Abend erreichen?«, fragte Alex.

»Im Club. Etwa ab acht.«

»Dann drück mir die Daumen. Dass mir rechtzeitig einfällt, wie ich bei Jane Waterhouse an Informationen komme.«

»Du bist ein intelligenter Mann, Alex. Ich verlasse mich auf dich.«

Sie wussten beide, dass sie sich die komplizierte Situation schöner geredet hatten, als sie war.

Während der Fahrt hatte Conway sich entschlossen, die Verhaftung von Constance Farrow selbst vorzunehmen, falls sie sich noch in der Wohnung ihrer Schwester aufhielt. Er fuhr direkt nach St. Brelade’s Bay. Doch als er dort ankam, sah er schon Roger Ellwyn aus dem Garten kommen. Neben ihm ging ein Mann in Arbeitskleidung, der einen Kasten mit Handwerkszeug in der Hand trug.

Conway stieg aus und ging den beiden entgegen. »Und? Ist sie nicht da?«

Ellwyn schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist Mr. Ridge vom Schlüsseldienst. Er war sowieso gerade hier, um das Wohnungsschloss auszutauschen. Er hat mich reingelassen.«

»Wie sieht es mit den persönlichen Sachen von Constance Farrow aus – sind sie noch in der Wohnung?«, fragte Conway.

»Soweit ich gesehen habe, ja«, antwortete Ellwyn.

»Gut. Sie bleiben vorerst hier und haben ein Auge auf das Haus. Ich fahre jetzt schnell zurück nach St. Aubin.« Missmutig stieg Conway wieder ins Auto und machte sich auf den Weg zur Polizeistation.

Schon wenige Minuten später hatte er St. Aubin erreicht. Gleich am Ortseingang befand sich Emily Blooms Teegeschäft. Mit einem kurzen Blick zur Seite sah er, dass in ihrem Laden eine Menge los war. Er ärgerte sich darüber, denn er ahnte, warum Emily plötzlich so viel Zulauf hatte.

Emily!

Er trat auf die Bremse.

Eigentlich hätte er viel früher darauf kommen müssen. Seine Ex-Schwägerin war die Einzige, die Constance Farrow näher kannte und die seit gestern ständig Kontakt mit ihr gehabt hatte. Vielleicht erfuhr er von ihr, wo er die Gesuchte finden konnte.

Er parkte am Straßenrand, stieg eilig aus und lief quer über die Straße zum Teeladen. Links neben der Tür, in einer Mauernische zwischen Emilys Geschäft und dem Nachbarhaus, stand ein altes Motorrad mit glänzend polierten Chromteilen. Conway wusste, dass es Tim gehörte, der ständig daran herumbastelte, sodass der Auspuff von Woche zu Woche lauter wurde.

Er riss die Tür auf, marschierte in den Laden und drängelte sich unter gemurmelten Entschuldigungen an den Kunden vorbei bis zur Ladentheke, wo er ungeduldig nach Emily Ausschau hielt. Als er sie nirgendwo entdecken konnte, wandte er sich an Tim, der gerade eine Tüte Assam-Tee auf die Waage stellte.

»Ich muss dringend Mrs. Bloom sprechen. Ist sie hinten im Büro?«, sagte er leise.

»Nein, Sir«, antwortete Tim genauso leise. »Constance Farrow hat sie gerade abgeholt.«

»Wann war das?« Conway war beunruhigt.

»Vor einer halben Stunde. Miss Farrow hatte es wohl eilig, und da ist Mrs. Bloom schnell mitgegangen.«

Der Gedanke, dass Emily mit Constance Farrow allein unterwegs war, gefiel Conway ganz und gar nicht.

»Weißt du, wohin die beiden wollten?«, fragte er.

»Ich glaube, zu den Klippen von La Moye.«

Das hatte gerade noch gefehlt. An dieser Stelle war die Steilküste besonders gefährlich. Conway wollte sich lieber nicht vorstellen, was Emily zustoßen könnte, wenn Constance sie aus irgendeinem Grund aus dem Weg räumen wollte. Von dort oben war die nächste Straße eine Meile weit entfernt und direkt neben dem schmalen Küstenpfad fielen die Klippen senkrecht zum Meer ab.

Er bereute heftig, dass er so lange auf Constance Farrows unschuldiges Gesicht hereingefallen war.

Emily ging auf dem schmalen Küstenpfad voran, Constance folgte ihr. Beide schwiegen.

Wohin sie auch traten, überall wucherten Farne und dornige Sträucher, die sie mit den Händen zur Seite schieben mussten, um überhaupt durchzukommen. Die grauen Wolken über ihnen hatten den Nieselregen endgültig eingestellt und ließen hier und da sogar den blauen Himmel durchscheinen.

Nach einem letzten Stück bergauf hatten sie es endlich geschafft. Schwitzend und keuchend traten sie auf das weit vorspringende Felsplateau hinaus. Vorsichtig schielten sie über den Rand in die beklemmende Tiefe. Gut hundert Fuß unter ihnen brodelte das aufgewühlte Meer. Emily zeigte keinerlei Angst, als sie so dicht am Abgrund stand.

»Für mich der schönste Platz, um nachzudenken«, sagte sie ehrfurchtsvoll, ohne sich umzudrehen. »Findest du nicht auch?«

Constance stand dicht hinter Emily. Der Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen waren so fest auf Emilys Rücken fixiert, als wenn sie sich daran festsaugen würden.

»Ja … Man kommt sich fast vor wie auf einem Schiff«, sagte Constance in den Wind hinein.

Emily spürte, dass Constance seltsam elegisch klang, und blickte sich um. Lächelnd sagte sie: »Ein bisschen sind Inseln ja auch wie Schiffe … Schiffe, die nie ankommen.«

»Ja … vielleicht konnte ich deshalb nicht auf Jersey bleiben. Ich wollte irgendwann angekommen sein.« Der Wind pfiff so laut, dass Constance’ Stimme ganz hell klang.

»Warum beschäftigt dich das eigentlich so? Ich meine, dass du dich damals entschlossen hast, nach England zu gehen …«, fragte Emily.

»Weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Wäre ich geblieben, wüsste ich heute mehr über meine Schwester«, antwortete Constance ausweichend.

Emily hatte das Gefühl, dass irgendetwas Dramatisches in Constance vorging. Doch sie musste geduldig sein und durfte nicht drängen.

Sie zogen ihre Anoraks aus und breiteten sie nebeneinander auf dem nassen Boden aus, um trocken zu sitzen. Ihr Platz war wie ein Adlerhorst, von dem aus sie einen weiten Blick in alle Himmelsrichtungen hatten. Unter ihnen rauschte das Meer, als würde bald die Welt zusammenbrechen.

»Wie war deine erste Nacht in Debbies Wohnung?«, fragte Emily vorsichtig.

»Nicht so schlimm, wie ich dachte. Auch wenn ich viermal aufgewacht bin und ziemlich wirre Träume hatte.«

»Das ist ganz normal. Du musst in diesen Tagen viel verarbeiten.« Emily nahm einen trockenen Zweig in die Hand, der neben ihr auf dem Felsen lag, und spielte damit. »Aber irgendwann wirst du es geschafft haben.«

Constance kaute nervös auf der Unterlippe und nickte nur. Sie machte den Eindruck, als fehlte ihr der Mut, über ihr eigentliches Anliegen zu sprechen.

Emily beschloss, jetzt doch die Initiative zu ergreifen. Leise fragte sie:

»Was beschäftigt dich, Constance? Bitte sag’s mir.«

Constance verzog schuldbewusst den Mund. »Ich hab ein paar Sachen verbockt … Deswegen wollte ich auch mit Ihnen allein reden …«

»Erzähl.«

Plötzlich spürte Emily, wie der Fels unter ihr erzitterte. Gerade noch rechtzeitig warf sie sich zur Seite. In dem großen runden Stein, auf dem sie bis eben gesessen hatte, bildete sich wie in Zeitlupe ein langer Riss. Dann brach er auseinander, und ein Teil stürzte mit lautem Poltern in die Tiefe.

Erschrocken betrachtete sie die schroffe Abbruchstelle. Sie hätte eigentlich wissen müssen, dass so etwas hier oben jederzeit passieren konnte, vor allem, wenn der Boden feucht war. In ihrer Sorge um Constance war sie viel zu leichtsinnig geworden.

Als sie sich umblickte, stellte sie überrascht fest, dass Constance vor dem Ginsterbusch sitzen geblieben war, als wäre nichts geschehen. Gedankenverloren und mit angezogenen Knien saß sie da, als hätte sie den Vorfall gar nicht mitbekommen.

Emily nahm ihren Anorak, legte ihn neben den von Constance und setzte sich wieder. »Also, was ist los?«

»Mrs. Bloom … es gibt da etwas, das ich Ihnen sagen möchte. Ich habe lange überlegt, ob ich es überhaupt tun soll, aber … es betrifft ja uns beide.«

Irritiert fragte Emily: »Wie meinst du das?«

»Es wird ein Schock für Sie sein … Für mich war’s ja auch einer. Aber ich weiß, dass die Sache wahr ist …« Sie schluckte. »Ihr Mann ist mein Vater.«

Ängstlich wartete sie auf Emilys Reaktion.

Emily holte tief Luft, schloss kurz die Augen und sagte dann seufzend: »Man hat es dir also gesagt.«

»Sie wissen Bescheid?«, fragte Constance ungläubig.

Emily nickte. »Ja. Aber erst seit gestern. Ein alter Freund meines Mannes hat mich eingeweiht. Nicht ganz freiwillig, aber das ist jetzt egal … Seit wann weißt du es?«

»Seit ein paar Tagen.«

Emily war klar, was das bedeutete: Debbie hatte es ihr erzählt. »Wann hat deine Schwester es dir gesagt?«

»An dem Tag, an dem sie ermordet wurde.« Constance hatte plötzlich Tränen in den Augen. »Sie wusste es von Mum. Und es gibt wohl auch alte Überweisungen von Ihrem Mann an uns.«

Emily reichte ihr ein Taschentuch. »Ich nehme an, du hast mit der Polizei noch nicht darüber gesprochen.«

Constance schüttelte den Kopf. »Das ist ja mein Problem … Wenn die wüssten, dass Debbie und ich uns an diesem Tag in ihrer Wohnung verabredet hatten, käme ich wahrscheinlich sofort ins Gefängnis.«

»Aber du warst doch noch in Weymouth. Oder etwa nicht?«

»Das habe ich nur behauptet.«

»Oje!« Jetzt war Emily klar, warum Constance so nervös war.

»Debbie hatte mich an diesem Vormittag überraschend in meiner Firma in Weymouth angerufen. Sie klang ziemlich aufgeregt, irgendwie wütend. So war sie immer, wenn irgendwas schieflief und sie es mit Gewalt wieder in Ordnung bringen wollte.«

»Aber den genauen Grund für ihre Aufregung hat sie dir nicht genannt?«

»Zuerst nicht. Sie hat nur lauter verschwommene Andeutungen gemacht. Dass sie jetzt endlich bald Klarheit darüber hätte, warum David gestorben ist. Und dass sie auch sonst keine Familiengeheimnisse mehr mit sich herumtragen will. Ich hab sie gefragt, wie sie das meint. Und da hat sie gesagt: Zum Beispiel, indem ich dir endlich sage, wer dein Vater ist. Dann hat sie’s mir erzählt.«

»Wie hast du reagiert?«

»Ich hab nur noch geheult. Und sie auch. Und dann hat sie gesagt: Nimm die nächste Fähre und komm rüber, bitte! Es gibt noch viel mehr, was ich dir erzählen muss.«

»Und dann bist du nach St. Helier gekommen?«

»Ja, mit der Nachmittagsfähre. Um Viertel vor fünf war ich hier. Mit dem Bus bin ich zu ihr nach Hause gefahren. Aber sie war nicht da, obwohl sie es versprochen hatte. Und sie kam an diesem Abend auch nicht mehr.«

»Woher weißt du das? Hast du vor der Tür gewartet?«

»Fast eine Stunde lang. Ich dachte, sie hat vielleicht den Bus verpasst. Debbie hat ja momentan kein Auto. Als sie nicht kam, bin ich unten auf der Promenade ein Eis essen gegangen, und dann hab ich noch mal bei ihr geklingelt. Da war es vielleicht acht. Wieder nichts. Auch das Handy war ausgeschaltet.«

»Hast du eine Nachricht darauf hinterlassen?«

»Natürlich, immer wieder. Bestimmt fünf, sechs Mal. Dann hatte ich die Nase voll und hab mir in St. Helier ein Hotelzimmer genommen. Im Harbour Inn. Da ist es am billigsten.«

Alles, was Constance sagt, klingt glaubwürdig dachte Emily. Die Bausteine passten perfekt zusammen. Ihr gegenüber hatte Debbie ja ähnliche Andeutungen gemacht. Auch da war es darum gegangen, dass sie neue Erkenntnisse über den Tod ihres Kindes besaß.

»Mein Gott, Constance, wie konntest du das nur so lange für dich behalten?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Jetzt lass uns in Ruhe überlegen, wie du aus diesem Schlamassel wieder rauskommst. Am besten, du gehst gleich anschließend zu Harold Conway, bevor Detective Inspector Waterhouse dich in die Finger bekommt.«

Constance nickte. »Das hatte ich auch vor. Ich wollte nur vorher mit Ihnen reden. Auch wegen der anderen Sache …« Sie zögerte. »Hassen Sie mich jetzt?«

»Aber warum denn? Du kannst doch am allerwenigsten dafür, dass mein Mann und deine Mutter …« Sie wollte sagen mich betrogen haben, unterließ es aber.

Constance schien ihr genau anzusehen, dass an diesem Punkt ihr größter Schmerz saß. Tröstend meinte sie: »Es klingt jetzt vielleicht hart, Mrs. Bloom, aber mir hat nach dem ersten Schock geholfen, dass die beiden längst tot sind. So müssen wir wenigstens nicht mehr mit ihnen darüber reden, was sie Schlimmes angerichtet haben …«

Die erwachsene Art und Weise, wie Constance es sagte, rührte Emily zutiefst. Sie waren zwei Opfer ein und desselben Komplotts. Sie würden viel Zeit miteinander brauchen, um den Schmerz zu überwinden. Mit aufmunterndem Lächeln antwortete sie: »Wenn dir das die Sache leichter macht, Constance, dann darfst du so denken … Aber wenigstens wir beide sollten den Mut haben, offen darüber zu reden.«

Constance nickte tapfer. Emily glaubte, einen Ausdruck ehrlicher Zuneigung in ihrem Gesicht zu erkennen, und zog sie im Sitzen spontan an sich.

»Danke!«, flüsterte Constance mit Tränen in den Augen. Mit einem Mal schien sich die gewaltige Anspannung der vergangenen Tage in ihr zu lösen. Emily musste an sich halten, um nicht mitzuweinen. Sie wollte, dass Constance sie für stark hielt. Plötzlich wusste sie, dass sie von diesem Augenblick an eine ganz besondere Verantwortung für Richards Tochter übernahm.

Allmählich wurde ihnen kalt auf den Steinen. Sie standen auf und schüttelten ihre Anoraks aus. Emily dachte mit Sorge daran, dass Constance nach ihrem Geständnis die neue Hauptverdächtige der Polizei sein würde. Wenn es ihr nicht gelang, ein lückenloses Alibi für die Mordnacht vorzuweisen.

Vorsichtig fragte sie: »Hast du das Hotel neulich Abend noch einmal verlassen?«

»Nein«, antwortete Constance, »ich war so sauer auf Debbie, dass ich mich aufs Bett geworfen und den ganzen Abend nur noch Fernsehen geglotzt habe …« Sie brach ab und korrigierte sich. »Nein, stimmt nicht. Um kurz vor neun war ich noch beim Bankautomaten gegenüber und hab mir Geld geholt.«

Emily schloss die Augen und konzentrierte sich. Schon sah sie das mehrstöckige Bankgebäude mit dem breiten Glaseingang vor sich. Es lag tatsächlich genau gegenüber vom Harbour Inn.

»Und am Vormittag bist du dann wieder mit der Fähre nach Weymouth zurückgefahren?«

»Erst nachdem ich mindestens zehn Mal versucht habe, Debbie zu Hause oder auf dem Handy zu erreichen. Wenn ich gewusst hätte, dass sie da schon längst tot war …«

Plötzlich hörten sie hinter sich lautes Geknatter. Überrascht drehten sie sich um. Auf einem Motorrad kam Harold Conway den gewundenen Küstenpfad heraufgefahren. Er saß auf Tims alter Maschine. Sein Oberkörper ragte gerade so weit über die Büsche, dass man sehen konnte, wie ihm unentwegt Zweige ins Gesicht peitschten. Gegen die gnadenlose Fahrweise des Chef de Police wehrte sich der Motor mit grässlich schrillen Geräuschen.

Auf dem letzten Stück gab Conway noch einmal Gas und machte dann neben den Frauen eine Vollbremsung. Er ließ das Motorrad einfach zu Boden fallen und lief auf die beiden zu. Sein Gesicht war puterrot.

»Vorsicht Emily!«, rief er erregt, »sie ist gefährlich!«

»Harold, was soll das …?«

Ohne darauf einzugehen, packte Conway die überraschte Constance am Arm und zog sie von Emily weg. Constance schrie auf, versuchte aber nicht, sich zu wehren.

»Miss Farrow, Sie stehen unter dem Verdacht, ihre Schwester getötet zu haben!«, sagte Conway laut.

Emily blieb gelassen. Irgendjemand musste ja die Nerven behalten. »Du kannst sie loslassen«, sagte sie seelenruhig. »Constance hat mir alles erzählt. Sie ist nicht die Mörderin.«

»Sei nicht so naiv!«, bellte Conway. »Hat Miss Farrow dir zufällig auch gesagt, wo sie sich aufgehalten hat, als ihre Schwester ermordet wurde? Dafür gibt es bisher nämlich keine Erklärung.«

Constance schwieg. Emily verstand das gut, sie hätte hier draußen in der Wildnis genauso wenig den Mund aufgemacht. Andererseits musste sie Harold irgendwie besänftigen.

»Ich kann dir verraten, wo Constance in dieser Nacht war«, sagte sie, während sie zu Tims Motorrad ging und es mühsam wieder aufrichtete. »Im Harbour Inn. Sie hat es mir gerade erzählt. Übrigens, wenn du wissen willst, ob sie das Hotel wirklich nicht verlassen hat, solltest du dir mal die Filme der Überwachungskamera aus der Bank gegenüber anschauen. Darauf müsste der Hoteleingang eigentlich zu sehen sein.«

Verständnislos blickte Conway sie an. »Was soll das? Führst du hier die Untersuchung oder ich?«

»Du brauchst dich nicht aufzuregen. Constance wollte sich gerade auf den Weg zu dir machen. Sie hat mit dem Mord nichts zu tun …«

»Halt deinen Mund!« Wütend funkelte Conway Emily an.

Sie hatte ihn noch nie so unbeherrscht gesehen. Sein aggressiver Ton bewies, dass er überhaupt nicht begriff, was sie ihm zu erklären versuchte. Doch selbst wenn sie akzeptierte, dass er unter großem Druck stand, hatte er noch lange nicht das Recht, in dieser Art mit ihr zu reden. Trotzig beschloss sie, ihm eine Lehre zu erteilen.

Conway wandte sich wieder an Constance. Mit kräftiger Stimme, die keinen Widerspruch duldete, sagte er: »Miss Farrow, ich hoffe, Sie machen jetzt keine Schwierigkeiten. Ich muss Sie leider …«

In diesem Moment sprang hinter ihnen das Motorrad an.

Erschrocken blickte Conway sich um. Emily saß breitbeinig auf dem braunen Ledersitz und ließ den Motor aufheulen, als hätte sie nie etwas anderes getan.

»Komm sofort da runter!«, rief Conway laut.

Doch Emily schüttelte den Kopf. »Ihr solltet Euch mal in Ruhe aussprechen!«, brüllte sie gegen den Lärm. »Lasst Euch Zeit! Mein Wagen steht unten auf dem Parkplatz!«

Sie warf ihm den Autoschlüssel zu.

Verdutzt fing er ihn auf. »Aber …«

Weiter kam er nicht.

Emily ließ die Kupplung los und drehte auf. Mit einem gewaltigen Satz schoss die Maschine los, und Emily fuhr winkend davon. Da Tim sein Motorrad getunt hatte, steckte so viel Kraft dahinter, dass sie es problemlos quer über die nasse Wiese lenken konnte, um die Abkürzung zur nächsten Straße zu nehmen.

»Emily!«, rief Conway ihr wütend hinterher. »Du bleibst jetzt stehen!«

Doch alles, was er noch zu sehen bekam, waren Emilys fliegende Haare und das Rücklicht der schweren Maschine.

Wie von John Willingham vorausgesagt, zogen die drei Juristen der West Island Bank noch im Laufe des Vormittags den Schwanz ein und erneuerten mit versteinertem Gesicht ihre alte Kreditzusage an Frank Guiton. Ihre Drohung, dem Pferdezüchter den Geldhahn abzudrehen, entschuldigten sie im Nachhinein mit Kommunikationsproblemen innerhalb der Bank.

Doch Willingham sagte ihnen auf den Kopf zu, dass er Willkür in dieser Drohung erkannt hatte. Nur weil sein Mandant für kurze Zeit in Untersuchungshaft gesessen hatte, glaubte man ihn auf diese Weise als Kunden schnell loswerden zu können.

Die Juristen protestierten. Willingham drohte ihnen jedoch so unverhohlen mit einer gerichtlichen Prüfung all ihrer Vertragswerke, dass sie sofort nachgaben. Sie erklärten sich sogar bereit, den mit Mr. Guiton vereinbarten Zinssatz nochmals um einen halben Prozentpunkt zu senken.

Willingham akzeptierte das Friedensangebot. Zwar war ihm klar, dass es innerhalb der Bank jemanden geben musste, der Frank Guiton nicht leiden konnte und der ihm die Sache eingebrockt hatte, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Dafür hatte er den Bankern nicht verraten, was er von Guiton wusste: dass Debbie Farrow damals als Angestellte der Bank die Kreditverträge ihres Geliebten hausintern beschleunigt hatte, obwohl sie dazu eigentlich gar nicht berechtigt gewesen war. Dieser Vorgang war für beide Seiten peinlich, und so fiel er einfach unter den Tisch.

Willingham genoss diesen ersten Sieg als wieder auferstandener Anwalt.

In seiner Rolle als Richter hatte er zur Ehre Jerseys oft genug auf das prickelnde Gefühl von Kampfeslust verzichten müssen, doch jetzt waren die alten Kräfte wieder freigesetzt.

Seit er sich in den Fall Guiton eingearbeitet hatte, kam ihm mehr und mehr der Verdacht, dass auch Detective Inspector Waterhouse zu denen gehörte, die seinen Mandanten vom ersten Tag an vorverurteilt hatten.

Schon die Gründe für Guitons Untersuchungshaft waren aus seiner Sicht nicht ausreichend gewesen. Auch hatte sein Mandant bis heute nicht erfahren, wer die beiden Zeugen waren, die behauptet hatten, er selbst habe sein Pferd heimlich zu dem Versteck transportiert. Sozusagen mit gewetztem Messer machte Willingham sich deshalb auf den Weg zu Detective Inspector Jane Waterhouse.

Er begegnete ihr schon im Erdgeschoss des Polizeigebäudes. Sie trug eine beigefarbene Hose und ein hellblaues Männeroberhemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Ihre grauen Augen musterten ihn kurz, nachdem er erklärt hatte, weshalb er gekommen war.

»Haben Sie eine Vollmacht von Mr. Guiton dabei?«, fragte sie.

»Selbstverständlich.«

Willingham zeigte sie ihr. Äußerlich war ihm nichts anzumerken, aber innerlich begann er zu kochen. Diese Frau war noch emotionsloser, als er vermutet hatte. Er war ihr bisher erst zweimal begegnet, aber er wusste: Es würde reine Zeitverschwendung sein, sich in ihrer Gegenwart um Höflichkeit zu bemühen. Wenn nicht einmal die Tatsache, dass er und ihr Bruder drei Jahre lang am Magistratsgericht Kollegen gewesen waren, für ein entspanntes Klima sorgte, musste er sich gar nicht erst anstrengen.

»Ich werde Sie auch nicht lange aufhalten«, sagte er. »Es geht nur um Verfahrensfragen.«

»Am besten bleiben wir gleich hier unten im Besprechungszimmer«, sagte sie.

Sie zeigte auf eine angelehnte Tür, ließ ihn vorangehen in einen kleinen Sitzungsraum und schloss die Tür hinter sich. Während sie ihm gegenüber Platz nahm, fragte sie: »Wie geht es Ihrem Mandanten?«

»Nicht besonders gut. Er wird wohl noch einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen.«

»Das tut mir leid.«

»Es würde ihm zweifellos erheblich besser gehen, wenn er endlich Klarheit darüber hätte, wer die beiden Zeugen sind, die ihn beschuldigt haben, sein eigenes Pferd entführt zu haben. Schließlich haben damit alle Missverständnisse begonnen.«

Jane Waterhouse lächelte dünn. »Das Wort Missverständnisse klingt mir ein bisschen zu harmlos, wenn ich das sagen darf. Übrigens, Glückwunsch zu Ihrem Neustart als Anwalt. Mein Bruder hat mir davon erzählt.«

Also doch, dachte Willingham erstaunt. Sie will das übliche Geplänkel. Dann soll sie es bekommen.

»Danke«, sagte er. »Er fühlt sich hoffentlich wohl in meinem alten Büro?«

»Sieht ganz so aus. Aber Sie wissen ja, der Appendale-Prozess beginnt in Kürze. Das nimmt ihn sehr in Anspruch.«

»Oh ja!« Willingham nickte. »Betrugsprozesse sind fürchterlich.« Und scherzend fügte er hinzu: »Dagegen ist meine Verteidigung von Frank Guiton wahrscheinlich ein Spaziergang.«

»Meinen Sie? Ich will Sie nicht entmutigen, Mr. Willingham, aber das sehe ich anders.«

»Interessant! Waren Sie es nicht selbst, die Mr. Guiton vom Verdacht des Mordes an Debbie Farrow freigesprochen hat?

»Moment! Wir haben feststellen müssen, dass er ein glaubhaftes Alibi hat. Mehr nicht.«

Willingham runzelte die Stirn. »Mehr nicht? Ist ein glaubwürdiges Alibi in Ihren Augen denn kein Beweis für die Unschuld?«

Jane Waterhouse räusperte sich. »Selbstverständlich ist es das. Trotzdem, Mr. Willingham, ich kann den Pferdediebstahl leider immer noch nicht ganz vom Mordfall Debbie Farrow abtrennen.«

»Nein? Weil Frank Guiton und Debbie Farrow ein Paar waren? Merkwürdig. Aber wie auch immer, Sie könnten uns die Verteidigung erheblich erleichtern, wenn Sie endlich Akteneinsicht gewähren würden.«

»Sie wissen, dass ich das nicht allein entscheiden kann«, versuchte Jane Waterhouse auszuweichen.

Willingham blieb hart. »Aber Sie können zustimmen. Ich brauche vor allem die Namen der beiden Zeugen.«

Er sah, wie es in ihr arbeitete. Sie versuchte wahrscheinlich eine Finte. »Die Zeugen des Pferdediebstahls erscheinen derzeit im Kontext der Mordermittlungen, das ist sehr problematisch … Wir können das nicht einfach voneinander trennen.«

»Können Sie nicht?«

Beinahe traurig erkannte Willingham, dass er einen anderen Weg beschreiten musste. Eigentlich hatte er sich auf ein fachmännisches Scharmützel gefreut, doch dafür war Detective Inspector Waterhouse in ihrer undurchdringlichen Art wohl ungeeignet. Mit dieser Frau machte es einfach keinen Spaß. Also musste er sie nun doch so lange einer Kanonade von Paragrafen aussetzen, bis sie nachgab.

»Juristisch gesehen müssen Sie die beiden Ermittlungsteile sogar voneinander trennen«, belehrte er sie mit geschliffener Eloquenz. »Die Rolle der erwähnten Zeugen lässt sich in diesem Zusammenhang problemlos vereinzeln. Damit später ein Verfahrensfehler Ihrerseits ausgeschlossen werden kann, bedarf es darüber hinaus der Berücksichtigung folgender Paragrafen …«

Mit spielerischer Leichtigkeit begann er mit den Paragrafen zu jonglieren, als seien sie nur für ihn gemacht. Fast eine Viertelstunde lang zwang er Jane Waterhouse, seinen Wortkaskaden stumm zuzuhören. Wie immer, wenn etwas nicht nach ihrem Willen ging, wirkte sie eisig. Aber das störte ihn nicht.

Nachdem er sie endlich aus seinen Klauen gelassen hatte, verzog sie sich kommentarlos in einen Nebenraum, wo sie endlos lange telefonierte.

Als sie zurückkehrte, hatte Willingham auch seine zweite Schlacht gewonnen.

»Die Staatsanwaltschaft hat der Akteneinsicht zugestimmt«, sagte sie seltsam müde. Sie wirkte wie ein Fisch an der Angel, der aufgehört hatte zu kämpfen. »Wenn Sie gleich hier warten wollen, ich lasse Ihnen die Ordner herunterbringen.«

»Vielen Dank.«

»Mich müssen Sie allerdings entschuldigen. Ich habe gleich einen wichtigen Termin.«

»Selbstverständlich. Und grüßen Sie bitte Ihren Bruder, wenn Sie mal wieder mit ihm telefonieren.«

Es war nur ein Waffenstillstand, das wussten beide. Doch Willingham war nicht wählerisch. Solange er ihm half, war ihm selbst ein brüchiger Frieden willkommen.

Schon eine Viertelstunde später wühlte er sich durch den Aktenberg. Die Luft im fensterlosen Raum war so stickig, dass er seine Krawatte lockern musste, um durchatmen zu können. Mit sicherem Blick erkannte er sofort, was wichtig und was unwichtig war. Anerkennend stellte er fest, dass Detective Inspector Waterhouse alles in allem sorgfältig ermittelt hatte.

Im zweiten Ordner fand er schließlich, was er suchte. Die Vernehmungsprotokolle der beiden Zeugen waren aneinandergeheftet.

Als er ihre Namen las, war er mehr als überrascht.

Es war nahezu unglaublich.

Schon vier Stunden nach der hässlichen Szene mit Harold Conway war Constance wieder auf freiem Fuß. Sie meldete sich umgehend bei Emily. Alle ihre Angaben waren überprüft worden. Jedes Detail hatte gestimmt. Jetzt wünschte sie sich nur noch ein heißes Bad und viel Schlaf.

Emily bot ihr wieder das Gästezimmer in ihrem Cottage an, doch Constance wollte in Debbies Wohnung bleiben. Sie hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein und ein bisschen zur Ruhe zu kommen, was Emily gut verstand. Also verabredeten sie sich für den nächsten Abend.

Voller Dankbarkeit darüber, dass ihr Vertrauen in Constance nicht enttäuscht worden war, beschloss Emily, wieder einen Schritt auf Harold zuzugehen. Sie hatten beide falsch reagiert.

Sie schaltete ihren Computer ein, suchte seine E-Mail-Adresse heraus und schrieb ihm:

Lieber Harold,

warum lässt uns der normannische Stursinn bloß so impulsiv sein? Hast Du eine Antwort?

Sorry!

Deine Emily

Schon zehn Minuten später war seine Antwort da.

Liebe Emily,

Dein Glück ist, dass Du wegen Constance Farrow recht hattest. Und über Deine Frage muss ich erst noch nachdenken. Du bist mir zu schnell.

Ebenfalls sorry!

Dein Harold

Emily dachte gerade noch darüber nach, ob diese Zeilen wirklich so friedfertig waren, wie sie sich auf den ersten Blick lasen, da klingelte ihr Telefon.

Es war wieder einmal Helen. Sie klang hochdramatisch. Ihre Stimme schien aus einem hallenden Keller zu kommen. »Emily? Ich weiß einfach nicht mehr weiter! Du musst mir helfen.«

Emily ließ sich nicht nervös machen. »Wo bist du denn?«

»Im Keller.«

Dann wusste sie schon, worum es ging. Helen suchte wieder mal irgendwas. Das hatte jedoch weniger mit dem zunehmenden Alter zu tun, wie Helen immer besorgt meinte, sondern allein mit der Tatsache, dass sie ihren Lavendelpark allein betrieb und sich viel zu viel zumutete.

»Was ist denn los?«

»Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist: Alfred und ich fahren doch nicht nach Sark, sondern nach Paris!«

»Glückwunsch!«, sagte Emily. »Und die schlechte?«

»Ich suche meinen Pass und finde ihn nicht.«

»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte Emily.

»Du musst ihn finden.«

Emily seufzte. Das hätte sie sich denken können. Seit sie ihrer Freundin unvorsichtigerweise verraten hatte, dass es ihr manchmal gelang, mithilfe ihres Gedächtnisses die Wege verschwundener Gegenstände in ihrem Haus zu rekonstruieren, hatte sie das Gleiche schon zweimal bei Helen versuchen müssen.

»Und wieso, bitte, soll ich deinen Pass gesehen haben?«, fragte sie betont unfreundlich.

»Als du am Sonntag bei mir warst, habe ich dir einen kleinen blauen Karton voller Urlaubsfotos gezeigt. Und genau darin war auch mein Pass.«

»Ein toller Platz«, kommentierte Emily sarkastisch. Sie sah die blaue Schachtel wieder vor sich. Sie lag auf Helens Wohnzimmertisch neben einem Reiseprospekt über Spanien.

In ihrem Bedürfnis, Emily mit Stichworten weiterzuhelfen, sprudelte Helen unentwegt weiter. Sie wirkte ungewohnt hektisch.

»Du erinnerst dich? Wir haben erst die kleine Tarte gegessen, dann habe ich dir die Fotos von meiner Reise gezeigt, und du wolltest den Spanien-Prospekt sehen …«

»Könntest du mal die Klappe halten?«, fuhr Emily in strengem Ton dazwischen. Sie schloss die Augen und blätterte in ihrer Erinnerung die einzelnen Szenen durch.

Als Helen den Tisch abgeräumt hatte, war die blaue Schachtel auf dem Sofa gelandet. Danach hatte es geklingelt, und Helen war mit dem Gärtner eines wichtigen Kunden hereingekommen. Er hatte sich für ein paar Minuten auf das Sofa gesetzt und eine Rechnung bezahlt. Mit großen Scheinen.

Die blaue Schachtel lag jetzt auf der Anrichte. Nachdem der Gärtner gegangen war, hatte Helen sie genommen und in einen Korb mit schmutziger Wäsche geworfen, da beides in den Keller sollte …

Emily ließ ihr Gedächtnis wieder anhalten.

»Wenn mich nicht alles täuscht, liegt die Schachtel in einem Wäschekorb mit schmutzigen Overalls«, sagte sie. »Du kannst ja mal nachsehen, wenn du schon im Keller bist.«

»Oh nein!«, rief Helen erschrocken. »Gerade hab ich den Stapel in die Waschmaschine gestopft und wollte sie anstellen! Warte mal!«

Emily hörte ein Durcheinander von Geräuschen, dann folgte ein Jubelschrei. Kurz darauf war Helen wieder am Hörer.

»Du bist ein Schatz! Sie war tatsächlich da drin! Tausend, tausend Dank, Emily! Wie machst du das nur?«

»Kein Kommentar«, sagte Emily. »Und wenn dir wieder mal jemand so viel Geld ins Haus bringt, solltest du dir endlich ein richtiges Fotoalbum leisten.«

»Ich wünschte, Alex Flair würde seinen Gärtner öfter zu mir schicken«, kicherte Helen. »Aber was soll’s – ich hab ja jetzt Alfred!«

Nachdem Emily aufgelegt hatte und wieder Ruhe in ihr Gehirn eingekehrt war, blieb sie noch einen Moment nachdenklich sitzen.

Alex Flair – der Name elektrisierte sie.

Gerade hatte sie in der Zeitung gelesen, dass Alex Flair heute seinen Privatpark der Öffentlichkeit vorstellte. Vermutlich hatte Helen deshalb so viel mit seinem Gärtner zu tun.

Auch Alex war ein Freund Richard Blooms gewesen. Und als wohlhabender Geschäftsmann war er durch seine erstklassigen Verbindungen und durch die Jagd immer eng mit Trevor de Sagan verbunden gewesen.

Emily erinnerte sich, dass es vor vielen Jahren einen Anlass gegeben hatte, bei dem Trevor und Alex etwas Provozierendes gesagt hatten. Es hatte Streit darüber gegeben, auch zwischen ihr und ihrem Mann.

Vergeblich versuchte sie, sich wieder daran zu erinnern. Diesmal versagte ihre Kraft. Sosehr sie es auch versuchte, ihr Gedächtnis streikte.

Trevor, Alex, Richard … Sie kam nicht weiter. Dabei war es etwas sehr Wichtiges, das fühlte sie.

Der Gedankenpfad zu Alex Flair war blockiert. Es war eine Katastrophe.

Wie jedes Jahr erwarteten alle mit Spannung den Beginn des jährlichen Blumenfestivals. Auch die zwei grausigen Morde konnten zum Glück nicht verhindern, dass sich heute die Tore der öffentlichen Parks öffneten, um den staunenden Besuchern farbenprächtige Symphonien aus heimischen und exotischen Pflanzen zu präsentieren. Es waren nur Könner am Werk. Ob im Howard Davies Park, im Millbrook Park, im Jardin de la Mer – überall zeigte sich der Stolz der Gärtner. Und keiner konnte sagen, dass die Blumeninsel Jersey jemals diese Tradition vergessen hätte.

Auch ein paar schöne Privatgärten standen den Besuchern offen, darunter zum ersten Mal ein parkähnliches Anwesen in St. Lawrence. Jeder in der Gegend wusste, wem die goldgelbe Villa und der Garten gehörten. Und niemand wunderte sich, dass die Besitzer es auf die Liste des Blumenfestivals geschafft hatten. Alex und Louise Flair mochten zwar Angeber sein, aber ihr Garten war atemberaubend schön. Selbst wenn die riesigen Phönixpalmen nicht langsam gewachsen, sondern bereits in stattlicher Höhe für viel Geld gekauft worden waren – wen störte das schon? Auch die gefächerte Washingtonia von nie gesehener Größe, die dichten Reihen blühender Büsche und die Hänge voller Wildblumen wogen das leicht wieder auf.

Alex Flair war es egal, was die Leute redeten. Ihm kam es nur darauf an, dass Louise endlich Ruhe gab. Seit Jahren hatte sie ihm wegen des Gartens in den Ohren gelegen, jetzt durfte sie endlich die Pracht ihrer aufwändigen Schöpfung vorzeigen.

Der lange herbeigesehnte Tag der offiziellen Eröffnung war gekommen. Und als gewiefter Unternehmer hatte Alex Flair dafür gesorgt, dass Louise ihn auch opulent beging. Die erlesenen Einladungskarten auf italienischem Büttenpapier wurden nur an wirklich wichtige Leute verschickt: Vertreter der Regierung, befreundete Rotarier, Louises plappernde Ladys aus dem Golfclub, Gartenarchitekten und natürlich die Presse. Bedauerlicherweise konnte Richter Edward Waterhouse, der junge Nachfolger von John Willingham am Gericht und ebenfalls Rotarier, nicht selbst erscheinen. Er wollte sich jedoch durch seine Schwester vertreten lassen.

Von seinem Terrassenplatz aus beobachtete Alex Flair mit zufriedener Miene, wie Louise – die neue Perlenkette um den Hals – ein letztes Mal prüfend durch die Reihen der elegant gedeckten Stehtische ging. Auf dem grünen Rasen wirkten die Tische wie weiße Margaritentupfer. Während Louise ihrem Dienstmädchen ein paar Rosen aus der Hand nahm und die Blumensträuße auf den Tischen damit ergänzte, fiel Alex auf, dass sie schon wieder zugenommen hatte. Selbst das teure malvenfarbene Kostüm aus Mailand konnte ihre hundertsechzig Pfund nicht mehr kaschieren. Ein Rest von wahrer Liebe in ihm weigerte sich, diesen Zustand zu akzeptieren. Er nahm sich fest vor, ihr von seinem Spezialisten wieder einmal einen dieser wirkungsvollen Spezialcocktails zum Abnehmen mixen zu lassen.

Manchmal gönnte er sich in Italien eine Geliebte. Doch momentan stand das kleine Apartment nahe des Mailänder Doms leer. Bei seinen verschwiegenen Freunden im Club klagte er zwar gerne zynisch darüber, dass man leider erst mit fünfzig merke, wie viele herrliche Erektionen man mit zwanzig nutzlos hatte verstreichen lassen, doch das war reine Koketterie. In Wirklichkeit war er mit seinem Leben höchst zufrieden.

Seine Millionen hatte er schon mit Anfang dreißig durch eine geniale Idee gemacht. Mehrmals im Jahr flog er nach Italien und besuchte dort die Schuhmessen. Schon nach wenigen Tagen kehrte er mit prall gefülltem Gepäck nach Jersey zurück. In seinen Koffern befanden sich dann Dutzende neuer Schuhmodelle, wunderschöne italienische Exemplare, vorzüglich gearbeitet, aus feinstem polierten Leder. In Alex Flairs Augen hatten sie nur einen Nachteil: Sie waren zu teuer.

Also schickte er sie per Boten weiter nach Thailand, wo er Vertragspartner hatte, die mit ihm der Meinung waren, dass Schuhe erschwinglich sein müssten. In vier Werken zwischen Phuket und Chiang Mai begann dann die Arbeit des Kopierens. Zugegeben, das Leder aus Thailand war vielleicht nicht ganz so glänzend wie das aus Mailand, aber der Rest war täuschend ähnlich. Und so landete jede neue Schuhkollektion von Alex Flair schon Wochen später in den Kaufhäusern von ganz Europa, für einen unschlagbar niedrigen Preis und mit einem Design, vom dem sich sogar die Italiener eine Scheibe abschneiden konnten.

Die ersten Gäste trafen ein. Louise küsste ihre Freundinnen auf die Wange.

»Elena … und da ist ja auch Colette! Ich dachte, du bist in London!«

»Nein, wir sind gestern zurückgekommen.«

Alex Flair knöpfte seinen dunkelblauen Blazer zu und stellte sich neben seine Frau, um die nächsten Gäste zu begrüßen. Während er Dutzende von Händen schüttelte, wurden die eingetroffenen Besucher großzügig mit Champagner versorgt. Danach schlenderten sie neugierig durch den Park. Unter ihren Schuhen knirschte der feine Kies. Ganz besonders begeistert waren alle von Louises englischen Rosen und dem Seerosenteich. Begleitet von leiser Musik warfen drei runde Springbrunnen ihr Wasser in die Luft. Die Lautsprecher waren oben in den Bäumen angebracht.

Louises Sinn für Effekte ist wirklich phänomenal, dachte Alex bewundernd, das muss man ihr lassen. Vielleicht waren sie beide auch deshalb ein erfolgreiches Paar.

Plötzlich stand eine schmale junge Frau mit kurzen Haaren vor ihm und reichte ihm die Hand.

»Hallo! Ich bin Jane Waterhouse. Danke für die Einladung.«

Zu verblüfft, um charmant zu sein, sagte er lachend: »Was? Sie sind die Schwester von Edward?«

»Ja, ich weiß, man sieht es uns nicht an.«

An ihrer Stimme ließ sich die Verwandtschaft allerdings doch erkennen. Sie klang genauso sachlich wie die ihres Bruders. Der kühle Ton der Verwaltungslaufbahn. Als exzellenter Menschenkenner erkannte Alex Flair sofort, dass man sich in Acht nehmen musste vor ihr.

»Ich würde mich nachher gerne noch ein bisschen in Ruhe mit Ihnen unterhalten, wenn Sie mögen«, sagte Alex.

»Gerne.« Jane Waterhouse nickte. Im Gegensatz zu den anderen Damen trug sie keine Handtasche.

Louise gab Alex vom Rasen her dezent einen Wink. Es war Zeit, dass er seine Begrüßungsrede hielt. Entschlossen griff er sich einen Stuhl, kletterte hinauf, damit ihn alle sahen, und klopfte mit seinem goldenen Feuerzeug ans Champagnerglas.

»Darf ich einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten! Ich werde es auch kurz und schmerzlos machen!«

Die Gäste lachten. Stolz und besitzergreifend trat Louise neben ihren Mann und schaute lächelnd zu ihm hoch.

Alex hielt seine Rede wie immer locker und witzig. Bei jeder Kopfbewegung fielen ihm Haarsträhnen in die Stirn. Mit gewohnter Nonchalance warf er seine Worte wie Taubenfutter in die Runde und wurde dafür belohnt. Immer wieder erntete er Lacher und Zwischenapplaus.

Während der Rede näherte sich hinter ihnen Veronica le Long. Sie war die Besitzerin des Modehauses Création Le Long. Neben ihren langen Beinen, die in dunkelgrünen Stiefeletten unter einem unschuldig-weißen Kleid steckten, trabte ein schwarzer Riesenschnauzer, frei und ohne Leine.

Louise war entsetzt, als sie den Hund entdeckte. Sie wusste, was ihr jetzt bevorstand. Voller Begeisterung würde das schwarze Monster gleich ihren Mittagsblumen-Hügel anpinkeln und überall auf dem neuen Rasen verätzte Stellen hinterlassen. Sie ärgerte sich. Es war ein schwerer Fehler gewesen, dass sie die exzentrische Veronica auf ihre Einladungsliste gesetzt hatte.

Ausgerechnet in diesem Augenblick dankte Alex mit warmherzigen Worten seiner Frau, die diesen Garten Eden gestaltet hatte. Obwohl sie Veronica am liebsten sofort die Leviten gelesen hätte, blieb Louise nichts anderes übrig, als weiterhin brav neben Alex’ Stuhl stehen zu bleiben und gerührt seiner Lobeshymne zu lauschen. Errötend blickte sie in die Runde. Die schönste Stelle hatte sich ihr Mann bis zum Ende seiner Rede aufgehoben, als er einen wundervollen Vergleich zog.

»Und deshalb kann ich nur sagen: Wenn ich der Maulwurf in diesem Garten bin, ist Louise der bunte Schmetterling! Und zwar der schönste und beglückendste, den man sich denken kann! Ich wünsche unserem schönen Jersey viele solcher Schmetterlinge! Cheers!«

Alle stießen auf die Flairs an.

Sobald Louise sich unbeobachtet fühlte, schoss sie an den Stehtischen und Fackeln vorbei auf Veronica le Long zu. »Bist du verrückt?«, zischte sie. »Hier mit deinem Hund aufzutauchen?«

Veronica kraulte dem Schnauzer liebevoll die buschigen Kopfhaare. An ihren Fingern steckten gigantische Ringe.

»Wenn ich mich richtig erinnere, hast du geschrieben mit Begleitung. Oder irre ich mich?«, fragte sie mit bissigem Unterton. »Stell dich gefälligst nicht so an. Bellamie ist ausgezeichnet erzogen.«

»Trotzdem will ich ihn nicht in meinen Beeten haben. Würdest du ihn bitte wenigstens anleinen?«

»Tut mir leid, ich habe keine Leine dabei.« Sie zupfte mit zwei Fingern vertraulich an Louises Bluse. »Also komm, du hast doch früher selbst mal einen Terrier gehabt.«

Louise schob wütend die Finger weg und sagte warnend: »Verdirb mir nicht das Fest, das sag ich dir!«

Sie drehte sich um und ging zur Wiese zurück, um sich um die beiden Journalistinnen zu kümmern.

Im selben Moment hob Bellamie die Nase und schnupperte. Von irgendwoher schien plötzlich ein interessanter Geruch zu kommen.

»Los, mach Platz und erspar mir Ärger!«, befahl Veronica mit ausgestreckter Hand. Mehr pädagogischer Einsatz schien aus ihrer Sicht nicht nötig zu sein. Dann folgte sie Louise zu den anderen Gästen.

Von dem gepflasterten Rondell hinter den Rosen stieg Rauch auf. Dort bereitete der Hausmeister der Flairs den extragroßen Grill für die Fische vor, die es anschließend geben sollte.

Was dann geschah, bekamen zum Glück nur der Hausherr und Jane Waterhouse mit, die zufällig in der Nähe stand. In Gedanken versunken bewunderte sie gerade die Fontänen der Springbrunnen, als Alex Flair sie ansprach.

»Perfekte Technik, finden Sie nicht? Wenn alles im Leben so ein gutes Timing hätte, würde man sich eine Menge Ärger ersparen.«

»Ich fürchte eher, es würde einem etwas fehlen«, sagte Inspector Detective Waterhouse mit schmalem Lächeln.

»Oder so, ja. Sie müssen es schließlich wissen. Ihr Beruf lebt ja bekanntlich davon, dass andere Fehler machen. Das hat mich schon immer fasziniert.«

»Das höre ich oft. Dabei ist es ein Beruf wie jeder andere, glauben Sie mir. Manchmal sogar frustrierender.«

»Wie laufen Ihre Ermittlungen in den beiden Mordfällen?«

»Noch schleppend«, gab Jane Waterhouse zu. »Es gibt leider immer noch keine konkreten Ergebnisse.«

»Darf ich Sie etwas fragen? Ihr Bruder hat mir gestern erzählt, dass bisher nur wenige Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen sind. Ich wäre bereit, fünftausend Pfund auszusetzen. Würde Ihnen das weiterhelfen?«

Jane Waterhouse dachte kurz an Harold Conway, der den Einsatz einer Belohnung gefordert hatte, aber natürlich auf Kosten der Staatskasse. Im Gegensatz dazu erschien ihr Alex Flairs Spende durchaus interessant.

»Wenn Sie das tun möchten – sehr gerne!«, sagte sie. »Ich müsste allerdings noch mit ein paar Leuten besprechen, wie das gehandhabt werden kann.«

Flair beruhigte sie. »Keine Sorge, das bekommen wir schon hin.«

Noch bevor er sich darüber ärgern konnte, dass sie so spröde umging mit seinem Vorschlag, öffnete sich quietschend das seitliche Gartentor. Von der Straße kommend betrat ein etwa vierzigjähriger, gut aussehender Mann in Arbeitskleidung das Gelände. An seinen Gummistiefeln, an der offenen Regenjacke, die er trotz des guten Wetters anhatte, und an seinem kräftigen Körperbau erkannte Jane Waterhouse sofort den typischen Fischer. Er trug eine große Kunststoffbox zum Haus. Sie war bis oben hin gefüllt mit Seezungen.

Alex Flair ging dem Fischer entgegen. Neben dem gemauerten Bogen zur Terrasse fing er ihn ab.

»Sie sind spät, Tony! Wir warten schon seit einer halben Stunde auf Sie!«

Wenig beeindruckt von Flairs Ungeduld, setzte der Mann seelenruhig die Box auf dem Boden ab. Die nassen Hände rieb er an seiner blauen Hose trocken.

»War nicht meine Schuld. Unten auf der Hauptstraße ist ein Anhänger mit Kartoffeln umgekippt.«

Flair sah mit kritischem Blick in den Behälter. »Sind das auch alles Seezungen?«

»Wie bestellt.«

»Gut. Lassen Sie die Box hier stehen. Wir rechnen später ab.«

Bevor er ging, warf der Fischer noch einen Blick auf die feine Gesellschaft im Garten. Er tat es amüsiert. Der leicht spöttische Ausdruck in seinem Gesicht verriet, dass er die Reichen, die hier versammelt waren, nicht unbedingt beneidete.

Jane Waterhouse beobachtete, wie der Mann das Grundstück verließ. Kaum war er durch das Gartentor verschwunden, tauchte plötzlich neben ihr der schwarze Riesenschnauzer auf. Dann ging alles ganz schnell. Dem verlockenden Fischgeruch folgend entdeckte der Hund die Seezungen und stürzte mit einem Satz darauf zu.

»Vorsicht!«, schrie Alex Flair.

Jane Waterhouse reagierte als Erste. Obwohl der Hund sich schon einen der Fische geschnappt hatte, umschlang sie mit beiden Armen seinen Hals und hielt ihn fest. Er knurrte, biss aber nicht zu. Von seinem Frauchen war weit und breit nichts zu sehen.

»Schnell! Machen Sie die Tür zum Wohnzimmer auf!«, rief Jane Waterhouse.

Alex riss den Griff der Schiebetür nach unten und schob sie einen Spaltbreit auf. Mit einem kräftigen Schubs drängte Jane Waterhouse den Hund hinein. Verwundert blieb der Schnauzer auf dem weißen Teppich stehen und beobachtete, wie Alex die Tür hinter ihm wieder zuschob. Dann erst begriff er, dass er jetzt eingesperrt war. Er richtete sich an der Scheibe auf und bellte mit tiefer Stimme, bis das Glas beschlug.

»Danke!«, sagte Alex Flair. »Das hätte ein schönes Gemetzel gegeben.«

»Meinen Sie die Fische oder mich?«, fragte Jane Waterhouse trocken.

»Beides. Sie haben wirklich toll reagiert.«

Jane Waterhouse sah, dass an ihren Händen Hundehaare klebten. Sie zog ein Papiertuch aus der Tasche und wischte sich damit die Finger sauber. »Nach meiner Erfahrung sind Schnauzer meistens gutmütig.«

Alex Flair wollte ihre Bescheidenheit nicht gelten lassen. Er lächelte sie an. »Wissen Sie was? Als kleines Dankeschön verdoppele ich meine Belohnung auf zehntausend Pfund. Was halten Sie davon?«

Detective Inspector Jane Waterhouse konnte nur staunen. »Und warum tun Sie das?«, fragte sie.

»Weil ich ein zufriedener Bürger dieser Insel bin und weil ich es auch bleiben möchte«, antwortete Alex Flair. Humorvoll fügte er hinzu: »Und weil ich gern selbst Detektiv spielen würde.«

»Ich mache Ihnen ein Angebot«, sagte Jane Waterhouse spontan. »Dafür, dass Sie die Belohnung aussetzen, verschaffe ich Ihnen den Kontakt zu unserer Pressesprecherin. Ist das fair?«

Ihr Gastgeber tat höchst erfreut und strahlte. »Danke. Eine solche Gelegenheit werde ich nicht ausschlagen.«

Endlich hatte er, was er wollte.

Es gab neue Informationen aus der Pathologie.

An Jolanta Nowaks Körper hatte man Hämatome gefunden, die bisher Rätsel aufgegeben hatten. Jetzt waren sich die Gerichtsmediziner darüber einig, dass sie sich nur mit dem Transport der Leiche auf hartem Untergrund erklären ließen. Die Hämatome verteilten sich über den ganzen Rücken der Toten. Es konnten Druckstellen sein, wie sie entstanden, wenn ein Körper auf eisernen Bodenbefestigungen oder Schraubenköpfen lag.

Damit kam erneut das Auto ins Spiel, in dem Jolanta Nowak gesehen worden war.

Mittlerweile hatten drei Zeugen angegeben, an verschiedenen Tagen und an verschiedenen Orten beobachtet zu haben, wie die junge Polin in einen dunklen kleinen Lastwagen, vielleicht auch in einen Pick-up gestiegen und weggefahren war. Ein Mann habe am Steuer gesessen. Leider konnte keiner der Zeugen genaue Angaben über dessen Aussehen machen. Mal hatte man die beiden in St. Helier beobachtet, mal in Grouville und mal bei St. Saviour.

In allen zwölf parishes, den Pfarrbezirken der Insel, begannen daraufhin Polizisten, nach weiteren Zeugen zu suchen. Da sie davon ausgingen, dass ein Mann, der einen solchen Wagen fuhr, in der Landwirtschaft, im Handwerk oder als Lieferant arbeitete, konzentrierte man sich zunächst auf die touristischen Gegenden der Insel, wo naturgemäß viele Lebensmittel oder große Mengen anderer Versorgungsgüter benötigt wurden. Dazu gehörten neben den Hotels, dem Flughafen und den Häfen auch die Kaufhäuser in der Hauptstraße von St. Helier, der Durrell Tierpark, die Parks und Gärten der Insel, Mont Orgueil Castle, die Rennbahn und, nicht zu vergessen, das Freilichtmuseum Hamptonne Country Life.

Sandra Querée war in der Nähe von Helen Keatings Lavendelpark im Einsatz. Helen Keating gab ihr einen guten Tipp. Zwei Straßen weiter wohnte ein pensionierter Briefträger, der jeden in der Gegend kannte und viele Geschichten über die Nachbarschaft erzählen konnte. Er hieß François Le Feuvre.

Sandra fand ihn im Garten seines Reihenhäuschens. Mit einem Messer in der Hand stand der alte Mann im Gemüsebeet und schnitt Salatköpfe ab. Der Garten war dekoriert mit Fundstücken aus der Natur, ein Hobby, das Le Feuvre mit vielen Inselbewohnern teilte. Unter den Bäumen lagen Steinfindlinge, an der Hauswand lehnten ungewöhnlich geformte Äste in Tiergestalt, und der Gartenweg war mit Muschelschalen eingefasst.

Le Feuvre musste schon weit über achtzig sein. Durch den ständigen Aufenthalt in frischer Luft hatte er immer noch eine gesunde Gesichtsfarbe. Nur der krumme Rücken und der schleppende Gang verrieten sein wahres Alter.

Als Sandra Querée ihm beschrieb, nach wem die Polizei suchte, kratzte er sich unter seinem grünen Gartenhemd am Bauch und dachte nach. Das Hemd war voller Flecken von schwarzer Erde und rotem Obst.

»Und das soll jetzt erst gewesen sein?«, fragte er.

»Ja. Innerhalb der letzten sieben Tage«, sagte Sandra. »Was ja nicht heißt, dass der Mann nicht schon länger mit diesem Fahrzeug unterwegs ist.«

»Na ja …« Le Feuvre bückte sich, nahm ächzend den Salatkopf, den er geschnitten hatte, vom Boden auf und legte ihn zu den anderen in einen Weidenkorb. »Es gab da einen, der kam bis vor kurzem regelmäßig mit einem amerikanischen Lieferwagen in unsere Straße. Zu Laura Jenkins.«

»Und wer ist das, Laura Jenkins?«, fragte Sandra.

Beleidigt sah der alte Mann sie an. »Die sollten Sie eigentlich kennen, junge Frau. Laura war die Erste, die zweimal hintereinander das Round Island Solo gewonnen hat«, antwortete er.

»Ach, ich erinnere mich wieder«, sagte Sandra. »Das Wettschwimmen rund um die Insel.«

Sie wusste nur, dass diese extravagante Sportveranstaltung schon seit fünfzig Jahren existierte. Sie war typisch für ihre Landsleute. Jedes Jahr im Juli stürzten sich ein paar Verrückte ins Meer und schwammen in zehn Stunden einmal um Jersey.

»Ja, das schönste Wettschwimmen der Welt!«, fuhr Le Feuvre fort. »Leider ist Laura letztes Jahr mit dreiundsiebzig gestorben. Ein großer Verlust für den Schwimmclub.«

Vorsichtig versuchte Sandra, ihn wieder zum Thema zurückzuführen. »Und wer war das, der sie immer besucht hat und der mit einem Lieferwagen kam?«

»Ein junger Mann, so ein sportlicher Bursche. Ich hab ihn ja immer nur aus der Ferne gesehen. Aber fragen Sie mich nicht nach der Automarke. Irgendwas Dunkles mit einer Ladefläche.«

»Was hat er denn so regelmäßig geliefert? Hat Laura Jenkins mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Irgendwann einmal habe ich sie darauf angesprochen. Chinesische Kräutertees und asiatische Wundermittel, meinte sie. Wenn ich Laura richtig verstanden habe, hat sie diese Sachen unter der Hand gekauft. Sie glaubte fest daran, dass sie ihr die Schmerzen nahmen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass sie seit vielen Jahren unter Arthritis und Zucker litt. Oder habe ich das schon gesagt?«

»Nein, aber es ist gut, das zu wissen. Waren es große Pakete?«

»Nein. Eher Päckchen, aber jedes Mal ziemlich viele. Und der junge Mann brachte sie immer gegen Abend.«

»Blieb der Fahrer lange bei ihr?«

»Höchstens ein paar Minuten, dann war er schon wieder draußen.«

»Wurde er dabei hin und wieder von einer Frau begleitet?«

»Nie. Jedenfalls habe ich nie eine gesehen.«

»Könnten Sie mir diesen Mann beschreiben? Wenigstens ungefähr?«

Er bemühte sich, das Bild des Lieferanten wieder vor Augen zu bekommen, doch es fiel ihm offenbar nicht leicht. Mit zusammengekniffenen Augen begann er die Merkmale aufzuzählen.

»Er war kräftig, mit braunen oder schwarzen Haaren … nicht sehr groß … oder doch, er war bestimmt eins achtzig …« Kopfschüttelnd brach er ab. »Es hat keinen Zweck. Es ist zu lange her.«

»Das macht nichts. Sie haben mir trotzdem sehr geholfen. Gibt es irgendwo Hinterbliebene von Mrs. Jenkins, die ich befragen könnte?«

Der alte Gärtner schüttelte traurig den Kopf. »Nein, sie hatte ja niemanden. Und in den letzten Jahren, nach ihrem leichten Schlaganfall, lebte sie ziemlich zurückgezogen.« Er seufzte. »Ein Jammer. So eine begabte Sportlerin, und plötzlich liegt sie tot im Bett … Bis dahin waren wir jeden Morgen zusammen im Meer schwimmen. Von Mai bis in den Oktober.«

»Alle Achtung!«, sagte Sandra voller Bewunderung.

Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich Mr. Le Feuvre mit eisernem Willen bei Wind und Wetter in die kalten Fluten stürzte. Ihr eigener Großvater war auch ein solcher Haudegen der alten Schule gewesen.

»Wo hat Mrs. Jenkins denn gewohnt? Kann man das Haus von hier aus sehen?«

Le Feuvre zeigte auf ein Dach links hinter seinem Garten. »Dort drüben. Die neuen Besitzer haben es gerade umgebaut. Überhaupt – alles fremde Gesichter in unserer Straße …« Er wirkte plötzlich traurig. »Ich fürchte, inzwischen bin ich der Einzige, der die Erinnerung an Laura noch wachhält.«

Sandra bedankte sich bei ihm. Zum Abschied schenkte er ihr einen Salatkopf und zwei Gurken. Er war nicht davon abzubringen.

Als sie mit dem Gemüse in der Hand wieder auf der Straße stand, beschloss sie, trotz seiner Zweifel weiter in der Nachbarschaft herumzufragen.

Doch der alte Briefträger behielt Recht. In der ganzen Nachbarschaft war niemand zu finden, der ihr etwas über Laura Jenkins und den geheimnisvollen Lieferwagen sagen konnte.

Erst mit Verspätung begriff Emily Bloom den vollen Umfang des Dramas, das ihr Leben erfasst hatte. Auf einmal war alles brüchig geworden.

Ihr schrecklicher Verdacht, dass Richard seinen Tod nur vorgetäuscht hatte und in Wirklichkeit noch lebte, gewann immer mehr an Kraft. Gleichzeitig zermürbte sie diese erneute Beschäftigung mit dem Rätsel um sein Verschwinden. Auf den Klippen hatte sie Constance gegenüber so tun müssen, als sei sie stark genug, mit der Wahrheit über ihren Mann umzugehen. Doch in Wirklichkeit brauchte sie jetzt selbst jemanden, der ihr an diesem Abgrund von Lügen zur Seite stand. Ihr Sohn kam dafür nicht in Frage, jedenfalls jetzt noch nicht. Irgendwann einmal würde sie ihm alles erzählen. Es passte ganz gut, dass Jonathan sich gerade auf einem Ärztekongress in Madrid aufhielt und nur schwer erreichbar war.

Der einzige Mensch, dem Emily sich anvertrauen konnte, war Helen Keating. Helen neigte zwar manchmal dazu, nicht den richtigen Ton zu treffen. Aber sie war der ehrlichste Mensch, den Emily kannte.

Um diese Jahreszeit war Helens Park besonders schön. In langen Reihen zogen sich die duftenden Lavendelpflanzen mit den dichten blauen Rispen bis zum Wald, wo das Farmgrundstück an einem hohen Zaun endete. Zwei Pflückerinnen mit Strohhut auf dem Kopf und einem großen Sammelkorb in der Hand zogen in gebückter Haltung langsam durch die Reihen und sammelten die wertvollen Blüten ein. Jetzt, im Juni, begann die Erntezeit.

Am rechten Rand des Geländes stand die schlichte Halle, in der aus dem Lavendel das wertvolle Öl destilliert wurde. Da die hohe Hallentür zur Seite geschoben war, konnte Emily die beiden Männer sehen, die das gewaltige Destilliergerät bedienten. Sie kamen mit ihrer Arbeit kaum nach.

Helen und Emily saßen auf der Terrasse des Wohnhauses und genossen die warme Frühsommersonne. Helen hielt einen Lavendelzweig in der Hand und schnupperte daran. Es war eine neue Sorte, die sie in diesem Jahr zum ersten Mal angebaut hatte.

»Und warum bist du plötzlich so fest davon überzeugt, dass Richard noch lebt?«, fragte sie.

»Weil es genau zu seinem Wesen passen würde«, antwortete Emily nervös. »Er war immer konsequent. Anfangs habe ich das geliebt an ihm, aber in den letzten Jahren unserer Ehe hatte er sich sehr verändert. Das weißt du doch auch. Da war er nur noch mit sich selbst beschäftigt.«

»Ich bitte dich, Emily, niemand kann einfach so verschwinden! Dafür braucht man eine neue Identität, Papiere … Das wäre ja kriminell.«

Emily reagierte trotzig. »Dann ist er das eben – kriminell! Schließlich wollte er mich ja auch mit der Firma und den ganzen Krediten sitzen lassen, nur um mit seiner Geliebten zu verschwinden.«

Helen seufzte und verscheuchte eine Fliege von ihrer Wange. Durch die Arbeit im Freien war ihre Haut so stark gebräunt, dass man sie fast für eine Südländerin halten konnte. Auch ihre schwarzen Haare passten dazu. Sie war etwas älter als Emily, wirkte durch ihre sportliche Figur aber jünger.

»Jetzt pass mal auf«, sagte sie. »Du bist gekränkt und emotional platt wie eine Flunder, das kann ich gut verstehen. Aber dass du jetzt anfängst, die Sache noch weiterzuspinnen, geht einfach zu weit.«

»Ich spinne gar nichts weiter! Aber ich spür’s, Helen, glaub mir! Durch Debbies Tod ist etwas ins Rollen gekommen, und das rast wie eine Lawine auf mich zu. Und es hat viel stärker mit Richard zu tun, als ich gestern noch angenommen habe. Das ist mir heute klar geworden.«

»Dann geh mit deinem Verdacht zur Polizei.«

»Genau das kann ich eben nicht tun! Ich habe Constance und dem Vikar versprochen, niemandem davon zu erzählen. Mir sind die Hände gebunden, wenn ich die beiden nicht enttäuschen will.«

»Herrgott, Emily, es geht um einen Mord! Jersey ist schließlich nicht Rio de Janeiro oder sonst einer dieser scheußlichen Orte, wo man tagtäglich Leute umbringt. Bisher sind wir hier auf Jersey immer gut damit gefahren, auf Ehrlichkeit zu setzen. Was ist zum Beispiel mit Trevor de Sagan? Du hast gesagt, du traust ihm nicht. Trotzdem willst du deinen schlimmen Verdacht für dich behalten. Das ist doch schizophren.«

»Hör bitte auf, alles so einfach darzustellen. Das ist es nicht. Und ich bin schon gar nicht schizophren.«

Helen reagierte schnippisch, wie immer, wenn sie beleidigt war. So war sie auch schon gewesen, als sie noch neben Emily auf der Schulbank gesessen hatte. »Na gut. Dann muss ich mir deine Jammerei ja auch nicht länger anhören.«

Sie tat so, als wollte sie aufstehen und zu den Pflückerinnen hinübergehen.

Emily beugte sich vor und hielt Helen am Zipfel ihrer Jacke fest. »Jetzt bleib schon hier. Entschuldigung!«

Helen setzte sich wieder. »Warum reagierst du eigentlich so empfindlich, wenn ich Trevor de Sagan erwähne? Da ist doch irgendwas. Ich will’s jetzt wissen.«

Zögernd nahm Emily einen vorsichtigen Anlauf. »Ich habe heute verzweifelt versucht, mich an eine wichtige Begegnung mit Trevor und Alex Flair zu erinnern …«

»Alex Flair? Was hat der denn damit zu tun?«

»Wenn ich das nur wüsste! Aber es gab eine merkwürdige Verbindung zwischen Trevor, Alex und Richard, daran erinnere ich mich noch.«

Helen schaute sie ungläubig an. »Ausgerechnet du kannst dich nicht erinnern? Soll das ein Witz sein?«

»Es ist wie eine Blockade. Mein Gehirn macht einfach nicht mit. Ich weiß, dass ich irgendetwas Entscheidendes über Alex und Trevor weiß, aber es fällt mir nicht mehr ein.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Als wenn ich atmen will, und es geht nicht …«

Helen legte ihre Hand auf Emilys Arm. »Ist das wirklich so furchtbar? Eigentlich hast du dich doch immer nach diesem Zustand gesehnt? Dich nie mehr erinnern zu müssen.«

»Aber nicht so. Nicht so quälend, Helen. Und nicht ausgerechnet jetzt.«

Sie schwiegen einen Augenblick.

Schließlich sagte Emily: »Ja … und deshalb werde ich so lange nichts gegen Trevor unternehmen, bis ich weiß, welcher Baustein mir fehlt.«

»Und Constance vertraust du?«

»Absolut.« Sie lächelte. »Du meinst, weil ihre Mutter und ihr Vater Lügner waren, sollte ich vorsichtiger sein?«

Helen beeilte sich, diesen Eindruck nicht entstehen zu lassen.

»Nein, nein, ich dachte nur … dass sie vielleicht nur nett ist zu dir, weil sie etwas erwartet von dir. Zum Beispiel das, was du getan hast. Sie vor Harold Conway in Schutz zu nehmen.«

Emily schüttelte den Kopf. »Du schätzt sie ganz falsch ein. Constance ist eigentlich immer noch ein kleines Mädchen, das verzweifelt nach richtigen Eltern sucht. Die hat sie nie gehabt. Soll ich sie ausgerechnet jetzt allein lassen?«

»Und es macht dir nichts aus, dass du immer Richards Gesicht in ihr siehst?«

»Nein.« Emily biss sich auf die Unterlippe. Dann fuhr sie leise fort: »Weil ich ihn bis zuletzt geliebt habe …«

Helen beugte sich vor und nahm Emily fest in den Arm. »Dumme Frage von mir. Natürlich musst du alles so machen, wie dein Herz es dir befiehlt.« Sie stand auf. »So – und jetzt gönnen wir uns was!«

Sie verschwand im Haus und kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Gläser Pimms standen, dem beliebten Sommercocktail der Insel. Plötzlich wanderte ihr Blick zum Ende des Farmgeländes, wo ein schlanker grauhaariger Mann stand, der ihnen zuwinkte. Sie stutzte. »Wer steht denn da hinter dem Zaun?«

»Der will was von dir«, stellte Emily fest, die insgeheim erleichtert war über diese Unterbrechung.

Der Mann befand sich auf der benachbarten Wiese, die bereits zu den Pferdekoppeln von Frank Guitons Gestüt gehörte. Helen hatte vor ein paar Tagen mehrfach miterleben müssen, wie dort drüben die Kriminalbeamten durch das Gelände gestapft waren, vor allem in der Zeit, als Guiton noch im Gefängnis saß.

»Komm mit«, sagte sie grimmig.

Sie verließen die Terrasse und gingen durch die langen Reihen der Lavendelpflanzen zum Zaun. In diesem Bereich des Parks hing der Duft der blauen Blüten besonders stark in der Luft, denn an der Rückseite der Destillerie lagerten Helens gesamte Vorräte an frischer Ernte.

Emily wusste sofort, wer da vor ihnen stand.

Es war der ehemalige Richter Willingham, der die Leiche in St. Helier gefunden hatte. Er trug eine abgenutzte dunkelblaue Barbourjacke. Sie kannte ihn als Kunden aus ihrem Laden, wo er oft teure Teesorten orderte. Was tat er hier?

»Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe«, rief er über den Zaun hinweg. »Ich wollte mich nur als neuer Nachbar vorstellen. Hallo, Mrs. Bloom!« Er nickte zuerst Emily, dann Helen lächelnd zu. »Und Sie sind Miss Keating, nehme ich an. Mein Name ist Willingham.«

»Angenehm«, sagte Helen kühl. Doch Emily sah genau, mit welch intensiver Neugier Helen den Mann betrachtete. Damit Willingham keinen schlechten Eindruck von ihrer sprachlosen Freundin bekam, mischte sich Emily schnell ein.

»Haben Sie denn das Gestüt übernommen, Richter Willingham?«

»Nein. Aber ich bin jetzt wieder als Anwalt tätig und nehme für eine Weile Mr. Guitons Interessen wahr. Deshalb werde ich auch für die nächsten Tage hier draußen wohnen.« Er wandte sich wieder an Helen. »Ich soll Sie übrigens ganz herzlich von Frank grüßen, Mrs. Keating. Er muss leider noch im Krankenhaus bleiben.«

»Danke«, sagte Helen. »Ich hoffe, Ihnen gelingt, was der Polizei bisher nicht gelungen ist.«

Willingham stutzte. »Und das wäre?«

»Franks Unschuld zu beweisen.«

»Genau darum bin ich gekommen«, antwortete Willingham.

Die beiden maßen sich mit ihren Blicken. Für Emily war sofort klar, dass sich hier zwei Menschen gegenüberstanden, die sich in ihrer Ähnlichkeit erkannten. Beide liebten offene Worte und den direkten Weg.

»Wohnen Sie im Gästetrakt oder in der Wohnung über den Ställen?«, fragte Helen.

»Über den Ställen. Ich möchte so viel Kontakt wie möglich haben zu Franks Leuten.«

Willinghams Antwort schien Helen zu gefallen.

»Dann passen Sie gut auf den alten Stallmeister auf. Fremden gegenüber ist er ein Stinkstiefel«, sagte sie warnend.

»Danke für den Rat. Was ist mit der Haushälterin?«

»Sie ist eine Seele von Mensch. Sie würde alles tun für Frank.«

»Und die jungen Bereiter?«

»Die kenne ich leider nicht gut genug. Schließlich habe ich hier noch einen kleinen Job zu machen und komme nur selten auf das Gestüt.« Helen wies auf ihre Felder. »Wir haben Erntezeit. Da kann es manchmal etwas lauter werden, wenn die Traktoren unterwegs sind.«

Willingham lächelte. »Ich weiß. Ich bin auf dem Land aufgewachsen.«

»Ach ja? Und wo?«

»Bei St. Martin.«

»Dann hätten wir uns eigentlich schon längst begegnet sein müssen. Ich komme aus Trinity, meine Eltern hatten dort einen Tomatenanbau«, sagte Helen.

»Oh, ein Tomatenmädchen!«

Helen lachte. Sie wusste, wie die Jungs früher immer um die Felder herumgeschlichen waren, um ihre Späße mit den jungen Pflückerinnen zu machen. Auch wenn in ihrer Jugend die eigentliche Glanzzeit der berühmten Jersey-Tomaten längst vorbei war.

Willingham wurde wieder ernst und zog zwei große Fotos aus der ausgebeulten Tasche seiner Jacke. Es handelte sich um Seiten, die er ganz offensichtlich aus dem Internet heruntergeladen hatte.

»Darf ich Ihnen noch etwas zeigen, Miss Keating? Wie ich schon sagte, bin ich gerade dabei, Entlastungsmaterial für Mr. Guiton zu sammeln. Werfen Sie doch bitte mal einen Blick auf diese Fotos.«

Er hielt Helen die beiden DIN-A4-Seiten über den Zaun hinweg hin. »Haben Sie diese beiden Männer jemals hier draußen gesehen?«

Aufmerksam studierte Helen die Gesichter. Sie waren sehr unterschiedlich. Der eine hatte einen bulligen Schädel, kleine Schweinsaugen und eine Halbglatze, der andere lange dunkle Haare, ein kantiges Kinn und einen Schnurrbart. Beide lächelten.

»Ja, ich glaube schon, dass ich sie kenne. Ich bin mir sogar ziemlich sicher.«

»Und woher?«

»Sie waren als Besucher hier. Bei einer unserer täglichen Führungen durch das Gelände und durch unsere Destillerie.«

Emily staunte, dass sich Helen noch daran erinnern konnte. Aber wie viele gute Geschäftsleute besaß sie eine vorzügliche Menschenkenntnis. Auch Willingham war sichtlich davon beeindruckt. Plötzlich war er wieder ganz der aufmerksame Jurist. »Interessant. Und die Männer erschienen gemeinsam?«

»Ja.«

»Wissen Sie auch noch, wann das war?«

Sie überlegte. »Es ist noch gar nicht so lange her … Sie kamen am ersten Juni, als wir von morgens bis abends nur japanische Gruppen zu Besuch hatten. Eigentlich wollten wir sie gar nicht reinlassen, aber dann jammerten sie herum, sie kämen aus Oxford und seien nur diesen einen Tag auf Jersey … Na ja, dann wird man eben doch weich. Sie haben sich besonders für die Destillerie interessiert, das weiß ich noch. Und sie waren ständig am Fotografieren.«

Willingham schätzte den Abstand von der Rückseite der Destillerie bis zu Frank Guitons Grundstück. Es waren höchstens hundert Fuß. »Hmm … Das könnte einen Sinn ergeben«, sagte er nachdenklich, während er prüfend in alle Richtungen blickte. »Hier vom Zaun aus kann man zwar das Gestüt nicht sehen, aber einen Teil des dazugehörigen Grundes … Der hat sie offensichtlich interessiert.«

»Und jetzt?«, fragte Helen. »Wer sind diese Männer? Oder dürfen Sie mir das nicht verraten?«

Willingham schaute sie einen Augenblick lang forschend an, als wäre er unsicher, ob er ihr die Wahrheit sagen durfte.

Doch dann schien sein Vertrauen zu siegen.

»Das sind die beiden Männer, die gesehen haben wollen, wie Frank Guiton sein Pferd nachts mit einem Anhänger quer über die Insel transportiert hat. Ein Gemüsehändler und ein Versicherungsagent. Der eine will Frank in der Hauptstraße von St. Ouen beobachtet haben, der andere in St. Peter.« Er zog ein weißes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit die Hände ab, die am Zaun ein bisschen schmutzig geworden waren. »Angeblich sind sich diese Zeugen noch nie begegnet.«

Helen reagierte etwas irritiert. »Das heißt, ich bin jetzt die Einzige, die das widerlegen könnte?«

Mit dem Blick des Siegers hob Willingham seine Augenbrauen an und gönnte sich ein kleines triumphierendes Lächeln. »Nein, Sie sind nicht allein, Miss Keating. Und ein paar alte Gerichtsakten werden das leicht beweisen. Ich selbst habe die zwei nämlich vor zwölf Jahren wegen gemeinschaftlicher Schlägerei zu einer Geldstrafe verdonnert.«

An schönen Sommertagen war an den Stränden von Jersey eine Menge los. Sobald sich die Sonne zeigte, spielten alle ein bisschen Karibik. Das war das Englische an Jersey. Selbst wenn die Luft eigentlich viel zu kühl war für sommerliche Kleidung, zogen Männer ihre Shorts an und Frauen ihre dünnsten Kleider mit Spaghettiträgern. Jeder tat so, als sei eine Hitzewelle ausgebrochen.

Überall vor der Küste sah man Windsurfer und Kiter, vor allem in der langen Bucht von St. Ouen und am Strand zwischen St. Aubin und St. Helier. Erst kurz vor Sonnenuntergang kamen die Jugendlichen mit ihren Surfbrettern unter dem Arm wieder an Land.

Als erfolgreicher Windsurfinglehrer wusste Shaun Flair, dass er die Mädels vor allem dann rumkriegte, wenn sie noch eine Gänsehaut hatten. Er war der Neffe von Alex Flair, und er hatte von seinem Onkel vor allem eines gelernt: Es kam auf den richtigen Augenblick an.

Jetzt, mit dreiunddreißig, kannte er alle Knöpfe, die man bei den Sprachschülerinnen aus Frankreich und Deutschland drücken musste, damit sie auch nachts von ihren Karibikgefühlen hingerissen wurden.

Meistens nannte er die Mädchen zärtlich Jersey Lily. Während seine Finger romantisch über ihre Haut streichelten, erzählte er ihnen mit betörend leiser Stimme die berühmte Geschichte der schönen Lillie Langtry, einer Pfarrerstochter aus St. Saviour, die im 19. Jahrhundert von Jersey aus zur umschwärmten Schönheit der Londoner Gesellschaft aufgestiegen war und bis heute bewundert wurde. Im Museum hing ein Bild von ihr.

In dieser Nacht hatte Shaun die neunzehnjährige Jeanette zu seiner Lily erkoren. Er war so scharf auf sie, dass er den ganzen Nachmittag an nichts anderes hatte denken können, als sie flachzulegen. Sie kam aus Bordeaux und machte auf Jersey ihren Surfschein, gleichzeitig wollte sie Englisch lernen. Sie war dunkelhaarig, hatte lange Beine und war mit einem schlanken Körper gesegnet, der sich auf dem Surfbrett biegen konnte wie ein Zweig im Wind. Auch sonst entsprach sie genau Shauns Vorstellungen von einer Frau. Nur ihr Mund war nach seinem Geschmack etwas zu schmal, aber dieses Manko glich sie aus durch wunderschöne, beinahe mandelförmige dunkle Augen.

Eigentlich hatte er an diesem Abend mit seinem Motorradfreund Tim Sousa etwas vorgehabt. Sie wollten der alten Harley einen neuen Auspuff verpassen. Doch Tim hatte kurzfristig abgesagt. Es hatte wohl damit zu tun, dass Mrs. Bloom in letzter Zeit kaum noch im Laden war und Tim sie andauernd vertreten musste. Das hatte er nun von seiner Gutmütigkeit.

Für die romantische Nacht in den Dünen hatte Shaun Flair wie immer gut vorgesorgt: zwei Flaschen Rotwein, zwei kalte halbe Hummer und eine Dreierpackung Kondome. Er war optimistisch. Jeanette war so weich und nachgiebig, dass er auf eine lange Nacht hoffte. Er wusste, dass er mit seinen dunkelblonden Haaren und seinem muskulösen Körper der geborene Verführer war und dass er leichtes Spiel haben würde. Jeanette himmelte ihn an.

Sie enttäuschte ihn nicht. In der Art, wie sie sein Gesicht hielt, wie sie ihn küsste und ihm ihre Zunge in den Mund drängte, daran konnte er erkennen, dass sie bereit war. Während sie knutschend auf der Decke hin und her rollten, begannen sie sich auszuziehen.

Ungeduldig halfen seine Finger mit, Jeanette den fliederfarbenen Slip von den Füßen zu streifen. Seine Finger suchten den Weg zwischen ihren Beinen, fuhren zart über den schmalen dunklen Streifen Schamhaar und wanderten tiefer. Zu seiner Überraschung wartete Jeanette nicht lange. Sie spreizte ihre Beine und zog ihn leidenschaftlich an sich.

Während er in sie eindrang, bog sie den Kopf nach hinten und keuchte. Dieser Moment machte ihn jedes Mal verrückt. Ungeduldig stieß er zu. Sie klammerte sich an ihn, als gingen sie zusammen auf eine lange Reise, während sie sich lustvoll auf die Unterlippe biss und ihre Augen ihn nicht mehr sahen.

Plötzlich spürte er einen scharf stechenden Schmerz in seinem Hoden, als hätte ihm jemand einen Nagel ins Fleisch getrieben. Es war nicht auszuhalten. Panisch ließ er Jeanette los, sodass sie nach hinten fiel.

Erschrocken hob sie den Kopf.

»Was ist?«

»Scheiße, da ist was unter der Decke!«

Er ließ sich zur Seite rollen. Ohne, dass Jeanette es mitbekam, untersuchte er dabei schnell seinen Hoden, der tatsächlich an einer Stelle blutete. Hektisch tasteten seine Finger unter der Decke durch den Sand, bis er die Ursache der Verletzung fühlte. Mit einem Ruck zog er das Teil hervor. Es sah aus wie eine abgebrochene Fahrradspeiche. Wütend schleuderte er die dünne Stange von sich. »Verdammte Touristen!«

Jeanette saß nackt und mit angezogenen Beinen vor ihm, ihren Blick magisch auf sein Unterteil gerichtet. Sichtlich enttäuscht sah sie zu, wie sich das stolze Segel ihres Surflehrers langsam wieder einrollte. Jedenfalls kam es Shaun so vor. Vielleicht starrte sie aber doch nur auf die blutende Schnittwunde und bedauerte ihn wirklich. »Du Armer! Ist es schlimm?«

»Geht schon … Hey, das tut mir jetzt echt leid«, sagte er entschuldigend.

»Macht doch nichts …« Sie lächelte tröstend. »Wir holen das nach.«

Es war eine liebevolle Lüge, denn er wusste, dass sie morgen früh wieder mit der Fähre nach Frankreich zurückkehren würde.

Schweigend sammelten sie ihre Kleidung ein und zogen sich an. Seine Wunde schmerzte bei jeder Bewegung, er hätte sich krümmen können. Doch er zeigte es nicht. Hand in Hand gingen sie zum Wagen zurück.

Am meisten fürchtete er, dass Jeanette es herumerzählen könnte. Der König der Surfer mit einer Fahrradspeiche in den Eiern – auf dem College hätten die Jungs ihm für diese Leistung ein Denkmal errichtet.

Nachdem er Jeanette wieder vor dem Eingang des Jugendhotels aus dem Auto gelassen hatte, fuhr er nicht gleich wieder los, sondern dachte einen Augenblick mit laufendem Motor nach. Seine Schmerzen nahmen zu. Was ihn besonders beschäftigte, war die Frage, was er jetzt mit der Wunde machen sollte. Wenn ihn nicht alles täuschte, begann der Hoden bereits heftig anzuschwellen. Doch ins Krankenhaus wagte er damit nicht zu gehen, das wäre ihm peinlich gewesen.

Plötzlich erinnerte er sich an die vertrauliche Telefonnummer, die ihm sein Onkel Alex vor einiger Zeit für Notfälle zugesteckt hatte. Angeblich verstand der Mann, dessen Namen Shaun nicht einmal kannte, mehr von Medizin als jeder Arzt. Genau so einen Mann brauchte er jetzt.

Hastig durchsuchte er das Telefonverzeichnis seines Handys und fand die Nummer auch wieder. Nachdem er gewählt hatte, klingelte es lange, ohne dass jemand abnahm. Gerade wollte er enttäuscht den Anruf beenden, als sich am anderen Ende doch noch eine männliche Stimme meldete.

»Hallo …?«

Obwohl der Mann seinen Namen nicht nannte, erkannte ihn Shaun sofort. Es machte ihn so sprachlos, dass er ein paar Sekunden brauchte, bis er sich wieder gefasst hatte und antworten konnte.

Für den nächsten Vormittag hatten Emily und Vikar Ballard sich in der Markthalle von St. Helier verabredet. Das kuppelartige Granitgebäude mit den roten Eingängen aus Eisen präsentierte sich noch im selben viktorianischen Stil, in dem es 1881 errichtet worden war. Nach Art französischer Markthallen wurde hier alles geboten, was Feinschmeckern Freude bereitete.

Es war Godfrey Ballards Wunsch gewesen, dass sie sich hier trafen. Emily kam diese Verabredung sehr gelegen. Nach ihrer gestrigen Krise tat es ihr gut, sich auf diese Weise abzulenken.

Mit ihren Einkaufskörben in den Händen zogen sie plaudernd durch die Markthalle. Beim Fischhändler wurden gerade frische Muscheln auf dem Eis ausgebreitet. Ein französischer Weinhändler pries lautstark seinen Bordeaux an. Aus der Reihe gegenüber duftete es nach frischem Brot.

Godfrey hatte verschiedene Pasteten, eingelegte Oliven, frischen Salbei und einen kleinen halben Hummer in seinem Korb. Jetzt blieb er mit Kennermiene vor dem Käse stehen.

»Kennen Sie den Gaperon aus der Auvergne, Mrs. Bloom?«, fragte er und ließ sich ein Stück zum Probieren geben. »Hmmm! Ich liebe ihn!«

»Mir ist er zu fett«, meine Emily und wandte sich an die Verkäuferin. »Für mich bitte Charolais und Bleu du Jura …«

Sie freute sich auf ihr heutiges Abendessen mit Constance. Dass das Mädchen allein in Debbies Wohnung hauste, wo sie durch jedes Bild an der Wand und jedes Kleidungsstück im Schrank an ihre verstorbene Schwester erinnert wurde, gefiel Emily gar nicht. Da war es schon besser, sie nutzten die Zeit, um sich näher kennenzulernen.

Auch der Vikar freute sich auf sein opulentes Mahl. Liebevoll legte er den verpackten Käse neben den Salbei, während sie weitergingen. »Ich will heute Mittag ein neues Hummer-Rezept ausprobieren«, erklärte er. »Das Ganze wird überbacken und kommt zusammen mit dem Käse auf den Teller.«

»Klingt gut«, sagte Emily. »Aber haben Sie nicht heute um halb zwölf Ihre Sprechstunde?«

Godfrey pickte im Vorbeigehen eine Kostprobe von einem spanischen Schinken auf, die ein junger Mann ihm auf einem Holzbrett hinhielt.

»Nein, heute fällt die Sprechstunde aus. Wir haben den Installateur im Haus.«

Sehnsüchtig schielte er zum Pralinenstand hinüber. Doch in Emilys Beisein wagte er nicht, etwas zu kaufen. Sie bemerkte jedoch seinen hungrigen Blick. Der verlockende Geruch von Schokolade drang auch zu ihr herüber. Ganz plötzlich bekam sie Lust auf Pralinen. Und wie immer, wenn sie dabei war, ihre Prinzipien zu verraten, hatte sie auch schon eine passende Entschuldigung parat. Diesmal lautete sie: Godfrey und ich haben ja erlebt, wie schnell ein Leben zu Ende gehen kann.

Sie stieß den Vikar an. »Na, wie wär’s, Godfrey?«, fragte sie mit verschwörerischem Lächeln. »Wollen wir uns eine kleine Praline genehmigen?«

»Na, da sage ich doch nicht Nein!«, antwortete er erleichtert und eilte zur gegenüberliegenden Seite des Ganges. Mit strahlenden Augen betrachtete er die Türme aus Schokotrüffeln.

Als sie ein paar Minuten später zufrieden weitergingen, schob Godfrey sich genüsslich eine Ingwertrüffelpraline in den Mund und fragte: »Wie geht es eigentlich Constance? Ich habe sie noch gar nicht gesehen, seit sie hier ist.«

»Ach, sie ist ziemlich gefasst«, antwortete Emily. »Und natürlich erleichtert, dass Harold Conway seinen Verdacht gegen sie fallen gelassen hat.«

Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen, aber nun war es zu spät. Eigentlich hatte sie die Sache gegenüber dem Vikar gar nicht erwähnen wollen.

Godfrey horchte auf. »Wieso? Was für ein Verdacht?«, fragte er überrascht, als sei es ein unverzeihlicher Vertrauensbruch, dass Emily ihm nicht längst davon erzählt hatte.

Dabei wollte sie ihn nur schonen. Dass er selbst in den Mordfall verwickelt gewesen war, hatte ihm in den vergangenen Tagen schon genug zu schaffen gemacht. Aus demselben Grund hatte sie bisher auch kein Wort verloren über ihren Besuch bei Trevor de Sagan.

Sie berichtete ihm in Kurzform, wie der Chef de Police sie und Constance an den Klippen aufgestöbert hatte. Zufrieden darüber, dass er jetzt wieder vollständig informiert war, lauschte ihr der Vikar. Als sie fertig war, meinte er amüsiert:

»Das wird Harold Conway Ihnen nie verzeihen, das ist Ihnen hoffentlich klar?«

»Ich weiß. Deswegen habe ich auch gebetet, dass Constance die Wahrheit gesagt hat.«

»Und, hat sie?«

»Ja. Man hat alles nachgeprüft. Es war genau so, wie sie es beschrieben hat.«

Godfrey nahm einen Pfirsich von einem Stapel Obst und roch daran. »Machen die Ermittlungen denn Fortschritte?«

»So richtig nicht. Außer dass man jetzt alle dunklen Pick-ups überprüft, die auf Jersey gemeldet sind. Ich habe gerade vorhin mit Harold Conway telefoniert.«

Süffisant fragte Godfrey: »Ach, Sie sprechen doch noch miteinander?«

»Um ehrlich zu sein, ich habe mich bei ihm entschuldigt. Das wollten Sie doch hören, oder?«

Er lächelte zufrieden wie ein Baby. »Ja. Hätte mir auch leidgetan, wenn Sie und Mr. Conway dermaßen über Kreuz liegen. Unsere Gemeinde ist zu klein für Streitereien, finde ich.«

»Das ist wohl wahr.«

Plötzlich wurde er ernst. »Ja, unsere Gemeinde … Das ist auch das Stichwort, Mrs. Bloom, weswegen ich Sie heute treffen wollte. Ich brauche Ihren Rat.«

»Bitte, Godfrey.«

Sie gingen langsam weiter.

»Wir haben ja neulich über mein … persönliches Problem gesprochen. Mir ist danach klar geworden, wie dringend ich etwas ändern muss. Ich habe ein bisschen im Internet herumgestöbert … Da gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten. Entweder ich melde mich hier auf Jersey bei den Anonymen Alkoholikern an. Oder ich lasse mich für sechs Wochen in eine Klinik in der Nähe von London einweisen.« Er sah Emily unsicher an. »Was ist wohl besser für mich?«

Sie überlegte einen Moment. »Wenn Sie es hier machen wollen, laufen Sie Gefahr, aus Scham gar nicht hinzugehen. Ich kenne Sie, Godfrey.«

»Vielleicht haben Sie recht – also lieber die harte Tour?«

Lächelnd bemühte sie sich, ihn zu lockern. »Als Küchenpsychologin würde ich sagen, ja. Sie nehmen Urlaub und verschwinden.«

»Und was sage ich der Kirchenleitung? Die ganze Wahrheit?«

Sie sah ihn schief an. »Godfrey! Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die Kirchenleitung noch nichts von Ihrem Hang zum Alkohol bemerkt hat …«

Der Vikar wurde rot bis unter seinen dunkelblonden Haaransatz. »Meinen Sie?«

»Na, aber sicher! Das ändert nichts an Ihrer Beliebtheit. Beantragen Sie einfach Sonderurlaub für eine Kur, und ich wette mit Ihnen, die Kirchenleitung wird es verstehen. Weil nämlich jeder hofft, dass Sie endlich das Richtige tun.«

»Klingt so einfach, wenn Sie das sagen«, sagte er bewundernd. »Ich muss es nur noch schaffen.«

»Das werden Sie, Godfrey, da bin ich mir ganz sicher.«

Sie hatten den Ausgang der Markthalle erreicht. Während sie ihm aufmunternd zulächelte, trat er zur Seite, um eine kräftige Frau Mitte vierzig vorbeizulassen, die mit schnellen Schritten hereinstürmte. Sie trug schwarze Leggings und einen weiten grauen Pulli darüber. Abrupt blieb sie stehen.

»Vikar Ballard! Schön, Sie zu sehen! Kennen Sie mich noch? Ich bin Lindsay Newman, Debbies Kollegin.«

Jetzt erkannte er sie endlich. »Oh ja, natürlich! Mrs. Newman! Debbie hatte sie im vorigen Jahr zu unserem Grillfest im Pfarrhaus mitgebracht.« Er zeigte auf Emily, die wartend neben ihm stand. »Darf ich bekannt machen? Mrs. Newman – Mrs. Bloom.«

Lindsay Newmans Stimme wurde augenblicklich leiser. »Die Mrs. Bloom? Die unsere arme Debbie gefunden hat?«

Emily kam nicht umhin, ihr mit ein paar Worten darüber zu berichten. Debbies Tod schien ihr sehr nahe gegangen zu sein.

»Debbie und ich haben im selben Büro gesessen«, sagte Lindsay Newman traurig. »Wir waren wie Freundinnen. Mit ihr konnte man alles bequatschen.«

»Hat sie ab und zu auch was von sich erzählt?«, fragte Emily.

»Debbie?« Lindsay schüttelte den Kopf. »So gut wie nie. Auch dass sie was mit einem Kunden von uns hatte – mit diesem Pferdezüchter –, das habe ich erst gestern zufällig bei uns in der Bank gehört. Ich wollte es erst nicht glauben.«

Vorsichtig mischte Vikar Ballard sich ein: »Darf ich kurz stören? Wenn Sie mir beide nicht böse sind … Ich müsste schnell zurück ins Pfarrhaus …«

»Gehen Sie ruhig. Wir können ja später telefonieren«, sagte Emily. »Ich möchte Mrs. Newman nur noch kurz was fragen.«

Godfrey nickte und verschwand durch das rote Tor nach draußen.

Emily wandte sich wieder an Lindsay Newman. »Ich würde gerne wissen, Mrs. Newman, ob Debbie an ihrem letzten Tag im Büro irgendetwas Ungewöhnliches gesagt oder getan hat? Sie konnte ja so impulsiv sein. Können Sie sich an irgendetwas erinnern?«

»Das hat mich die Polizei natürlich auch schon gefragt, aber mir ist nichts eingefallen. Außer dass Debbie morgens später als sonst ins Büro gekommen ist, erst gegen halb zehn. Weil sie vorher noch ihren Cousin Oliver treffen musste. Es ging wohl um was Familiäres. Sie hat mir aber nicht gesagt, was es war. Überhaupt war sie an diesem Tag ziemlich schweigsam.«

»Wo haben die beiden sich getroffen? Wissen Sie das?«

»Nein. Aber es gibt doch eigentlich nur zwei Plätze, wo Oliver zu finden ist: in Archies Pub oder im Hafen.«

Oliver! Emily ärgerte sich, dass sie nicht selbst darauf gekommen war, sich mit Oliver über Debbie zu unterhalten. Da jedoch auch Constance einen großen Bogen um ihren missratenen Cousin machte, war es eigentlich kein Wunder, dass niemand an ihn dachte.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, Lindsay Newman erklären zu müssen, warum sie sich so ausgiebig nach Debbies Tagesablauf erkundigte. »Damit Sie sich nicht wundern, warum ich so penetrant frage, Mrs. Newman. Ich kümmere mich momentan ein bisschen um Debbies Schwester Constance. Und wir rätseln schon die ganze Zeit, warum Debbie an diesem Abend vom Büro nicht direkt nach Haus gegangen ist, wo sie mit ihrer Schwester verabredet war … Wann hat sie eigentlich das Büro verlassen?«

»Um kurz nach fünf. Wir hatten nachmittags sehr viel zu tun. Sie müssen wissen, unsere Bank hat in den letzten Wochen zwei Filialen geschlossen, und deshalb müssen jetzt viele Verträge auf die Zentrale übertragen werden. Viel Schreibkram, und wir sind eben nur zu zweit in der Abteilung.«

»Und, wie war das, als Debbie gegangen ist? War sie in Eile?«

Lindsay Newman dachte angestrengt nach. »Eigentlich war es wie jeden Abend. Sie hat zuerst ihren Schreibtisch aufgeräumt, dann hat sie wie immer den großen Aktenschrank verschlossen. Sie hat sich nochmal geschminkt … und dann ist sie gegangen.« Sie überlegte kurz. »Nein, vorher war sie noch schnell in der Teeküche, um ihren Becher wegzubringen. Als sie zurückkam, hatte sie zwei Reinigungstücher in der Hand.«

»Wozu das?«

»Keine Ahnung.« Wieder überlegte sie. »Doch, jetzt, wo Sie fragen, fällt mir was ein! Während sie die Reinigungstücher in ihre Handtasche gesteckt hat, hat sie gemurmelt, damit meine Hände morgen nicht so nach Fisch stinken.« Lindsay Newman wirkte plötzlich aufgeregt. »Du liebe Zeit, meinen Sie, dass das irgendeine Bedeutung hat?«

Emily versuchte sie zu beruhigen. »Wahrscheinlich nicht. Debbie war ja ursprünglich mit ihrem Freund auf dessen Schiff verabredet. Da macht es durchaus Sinn, dass sie die Tücher noch schnell mitgenommen hat.«

Erleichtert sagte Lindsay Newman: »Da haben Sie auch wieder recht.« Sie blickte auf die große Uhr in der Halle. »Oh Gott, ich muss ins Büro zurück, sonst kriege ich Ärger! Es fällt mir sowieso schon schwer genug, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ständig geht mir der Mord an Debbie durch den Kopf. Und auch der an dieser armen Polin. Debbie muss es an diesem Morgen genauso gegangen sein. Sie hat den Artikel darüber aus der Zeitung rausgerissen und in ihre Handtasche gesteckt.«

Emily horchte auf. »Gleich als sie von ihrem Cousin kam oder erst später?«

»Als sie kam. Der Mord an der Polin war ja Thema Nummer eins in den Büros. Aber Debbie wollte nichts davon hören. Mir wird übel, wenn ich nur daran denke, hat sie gesagt. Sie war richtig blass.«

»Es ist ja auch furchtbar«, bestätigte Emily.

Lindsay verabschiedete sich eilig. »War schön, sie kennengelernt zu haben«, sagte sie. »Auch wenn ich mir andere Umstände dafür gewünscht hätte. Wir sehen uns dann bei der Beerdigung, nehme ich an. Wann ist die überhaupt? Wissen Sie das?«

»Das wird bestimmt noch dauern«, antwortete Emily ausweichend.

Lindsay Newman verzog das Gesicht. »Oh, natürlich, verstehe. Also, bis dann.« Mit schnellen Schritten ging sie weiter.

Emily blieb nachdenklich am Ausgang zurück.

Was sie soeben erfahren hatte, irritierte sie. Lindsay Newman hatte ihr drei unterschiedliche Informationen gegeben, die auf den ersten Blick nicht zusammengehörten: Debbie hatte an jenem Morgen ihren Cousin getroffen, sie hatte sich intensiv mit dem Zeitungsartikel über den Mord an Jolanta Nowak befasst, und sie rechnete fest damit, dass sie an diesem Abend mit Fisch in Berührung kommen würde.

Hatten auch nur zwei dieser Informationen miteinander zu tun, ergaben sich daraus verschiedene Möglichkeiten.

Variante eins: Debbies Cousin arbeitete am Hafen, wo viel Fisch umgeladen wurde. Hatte ihr morgendliches Treffen mit ihm vielleicht Auswirkungen auf den Abend? Oliver Farrow – das wusste sie von Harold Conway – konnte für die Tatzeit ein bombensicheres Alibi vorweisen, weil er auf dem Polizeirevier festgehalten worden war. Aber vielleicht hatten die beiden sich ursprünglich für den Abend am Hafen verabredet, und Debbie war eher durch Zufall dem Mörder in die Hände geraten, weil Oliver nicht kam?

Variante zwei: Nachdem Debbie morgens den Artikel über den Mord an der Polin gelesen hatte, ahnte sie aus irgendeinem Grund, dass ihr Cousin den Mörder kennen könnte. War sie deshalb nicht gleich ins Büro gefahren, sondern erst zu Oliver?

Gedankenversunken verließ Emily die Markthalle. Sie dachte darüber nach, wann genau sie Debbie auf der Straße getroffen hatte. Dabei stellte sie sich noch einmal intensiv das Ziffernblatt ihrer Armbanduhr vor, auf die sie geschaut hatte, bevor sie in St. Helier geparkt hatte.

Es war exakt um 9 Uhr 04 gewesen. Nur Sekunden später war Debbie ihr entgegengekommen.

Das bedeutete, dass Debbie zu diesem Zeitpunkt schon wieder auf dem Rückweg war von ihrem Treffen mit Oliver. Hatte sie dabei irgendetwas Wichtiges erfahren, weil sie später auf der Straße so hektisch telefoniert hatte?

Mit einem Piepsen meldete sich Emilys Handy. Auf dem Display erschien eine SMS-Nachricht von Tim. Er erinnerte sie daran, dass er heute ausnahmsweise pünktlich um ein Uhr den Laden verlassen musste.

Seufzend steckte Emily ihr Handy wieder ein. Es half nichts, sie musste zurück ins Geschäft. Am liebsten wäre sie jetzt gleich bei Oliver Farrow im Hafen vorbeigefahren, aber das musste leider bis morgen warten.

Ihre Besuche im Krankenhaus machte Sandra Querée so heimlich, dass ihre Kollegen bei der Polizei nichts davon mitbekamen. Sie ging jeden Tag hin, immer wenn sie allein mit dem Streifenwagen unterwegs war und ihr Weg sie durch St. Helier führte. Oft schaute sie nur für einige Minuten bei Frank Guiton vorbei, zweimal huschte sie auch abends zu ihm. Die Krankenschwestern der Tag- und Nachtschicht kannten sie inzwischen und ließen die beiden schmunzelnd allein.

Die private Annäherung zwischen der Polizistin und dem Mann, den sie ursprünglich nur verhören sollte, geschah mit einer Selbstverständlichkeit, die beide überraschte, auch wenn sie immer noch vermieden, sich beim Vornamen zu nennen. Nach wie vor war Frank Guiton nicht in der Lage, sich aus seinem Krankenbett zu erheben. Doch wenigstens hatte man ihm ein paar seiner lästigen Verbände abgenommen. Auch seine Arme waren jetzt frei. Die Haut zwischen Handgelenk und Ellenbogen zeigte hässliche genähte und verfärbte Stellen, die von den Schlägen des brutalen Täters stammten und die ihm große Schmerzen bereiteten, sodass er oft die Zähne zusammenbeißen musste.

Sandra saß geduldig lächelnd neben seinem Bett und machte ihm Mut, schon allein durch ihre Anwesenheit. Instinktiv hatte sie in ihm den Typ Mann erkannt, dem es die Frauen immer leichtmachten, der aber gerade deshalb ein Zweifler blieb. Hinter der Fassade des unkomplizierten, sportlichen Naturburschen entdeckte sie eine interessante Seite an ihm, die geprägt war von Humor, klugen Gedanken und reifer Zärtlichkeit.

Seine Liebe zu Debbie Farrow war offenbar echt und tief gewesen, das hatte er Sandra schon am ersten Abend gestanden. Dass er sie mit diesem Geständnis unausgesprochen um Geduld bat, verstand Sandra. Ihr wäre auch so klar gewesen, dass sie in nächster Zeit nicht zu viel von ihm erwarten durfte. Vorerst genügte es ihr, die markanten Linien seines männlichen Gesichtes auf dem weißen Krankenhauskopfkissen betrachten zu dürfen, während sie sich gegenseitig ihr Leben erzählten.

Als sie an diesem Tag ihre Mittagspause dazu benutzte, schnell noch einmal bei ihm vorbeizuschauen, wurde sie von der kräftigen Oberschwester im Flur abgefangen.

»Nur damit Sie keinen Schreck bekommen: Mr. Guiton kriegt heute seinen Schnabel nicht auf«, sagte sie warnend. »Machen Sie es also kurz.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Sandra irritiert.

»Es hat sich herausgestellt, dass man ihm auch das Kiefergelenk neu richten musste. Das war heute Morgen fällig.«

Noch bevor Sandra etwas sagen konnte, stand plötzlich John Willingham neben ihr.

»Was höre ich da?«, fragte er mit seiner kräftigen Stimme. »Man hat Frank schon wieder malträtiert?«

Die Oberschwester schien von Willinghams Auftreten und von seiner teuer aussehenden Kleidung beeindruckt zu sein. Jedenfalls wurde sie sofort eine Spur höflicher. »Ja, aber es geht ihm gut, und Sie können auch ruhig zu ihm. Er darf nur nicht sprechen.«

Gemeinsam betraten sie das Krankenzimmer.

Zu ihrer Erleichterung sah Frank Guiton nicht so schlecht aus, wie sie es befürchtet hatten. Er schien seine Situation sogar mit Humor zu nehmen, denn noch bevor Sandra und Willingham etwas sagen konnten, zog er einen großen Schreibblock und einen Kugelschreiber aus seinem Nachttisch hervor und kritzelte auf das Papier:

REDEVERBOT! ABER ICH KANN ZUHÖREN.

Sandra schaute ihn mitfühlend an. Auf dem Nachttisch lagen starke Schmerzmittel. »War es sehr schlimm?«

Er nickte. Am liebsten hätte Sandra über seine nackten Arme gestreichelt, die wie wehrlos auf der Bettdecke ruhten. Doch in Willinghams Gegenwart hätte sie sich das nie getraut.

»Bald haben Sie es ja hinter sich, Frank«, sagte Willingham aufmunternd. »Und bis dahin gibt’s hoffentlich noch ein paar gute Nachrichten.« Er blickte zu Sandra, die sich ihm gegenüber auf die andere Seite des Bettes gesetzt hatte. »Soll ich loslegen?«

Sandra nickte. »Wenn Sie mögen.«

Ihnen war beiden klar, dass sie sich in einer problematischen Situation befanden, sie als Polizistin und Willingham als Verteidiger. Doch da Sandra offiziell gar nicht hier war und sie einander vertrauten, setzten sie sich einfach über diese Bedenken hinweg.

Willingham griff in seine Aktentasche und zog die Internetfotos der beiden Männer hervor, die als Zeugen gegen Frank Guiton ausgesagt hatten. »Hier habe ich sie, Ihre beiden Quälgeister«, sagte er und hielt Frank die Fotos hin. »Alan Fonteau, Gemüsehändler aus St. Ouen, und Andrew Poll, Versicherungsvertreter aus St. Peter. Kennen Sie die Jungs?«

Frank Guiton schüttelte den Kopf.

»Das habe ich mir schon gedacht«, meinte Willingham. »Wer auch immer die ganze Sache eingefädelt hat – er hätte nie irgendwelche Männer als bezahlte Zeugen ausgewählt, denen Sie schon einmal begegnet sind.«

Sandra Querée wurde hellhörig. »Wieso als bezahlte Zeugen? Warum sind Sie sich da so sicher?«

»Weil ich inzwischen mehr über die beiden Burschen weiß, als denen lieb sein dürfte.«

Er berichtete Sandra und Frank von seinen bisherigen Recherchen. Da er Fonteau und Poll schon vor zwölf Jahren als gemeinsame Schläger bei Gericht hatte erleben dürfen, hatte er vermutet, dass beide noch mehr Probleme mit der Justiz haben könnten. Und er fand sich bestätigt. Gegen Fonteau lag bei Gericht ein aktueller Pfändungsbeschluss vor, allerdings seit sechs Wochen gegen eine Anzahlung ausgesetzt, und gegen Poll lief ein Insolvenzverfahren.

»Wir haben es also mit zwei Schuldenmachern zu tun«, sagte Willingham scharf, »denen so etwas wie Ehre nicht sonderlich viel bedeutet. Ich weiß, dass Ehre heute für viele ein Fremdwort ist, aber zum Glück ist unsere Insel eine Ausnahme, und so fallen solche Menschen bei uns noch auf. Genau so habe ich die beiden übrigens auch aus dem damaligen Prozess in Erinnerung: rücksichtslos und grob.«

Als Jüngere wusste Sandra nicht, ob sie Willinghams ungebrochenen Einsatz für die Erhaltung der bürgerlichen Moral auf Jersey bewundern oder bemitleiden sollte.

Er verkörperte immer noch den klassischen Vertreter von Recht und Ordnung unter der britischen Krone, wie es in gewisser Weise auch Harold Conway tat. Beide waren im festen Glauben an das alte, halbfeudale Rechtssystem der Kanalinseln aufgewachsen. Und plötzlich war Jersey auch nur wie der Rest der Welt.

Frank Guiton brachte nur einen krächzenden Ton heraus, schrieb etwas auf und hielt den Schreibblock in die Höhe.

WER KANN DIE MÄNNER BEZAHLT HABEN?

Willingham sah ihn mit sorgenvoller Miene an. »Ich vermute, Frank, es ist jemand, der mehr über Sie weiß, als Sie ahnen.«

»Jemand aus dem Umfeld des Gestüts?«, fragte Sandra.

»Das könnte sein. Obwohl ich bisher keinen Anhaltspunkt dafür gefunden habe. Alle Angestellten scheinen große Sympathien für ihren Chef zu hegen. Aber ich wohne ja erst seit einem Tag da und kenne die meisten noch nicht gut genug.«

Wieder schrieb Frank etwas auf seinen Block.

IST DAS FOHLEN VON PRINCESS SCHON DA?

Willingham lächelte stolz, sodass man meinen konnte, er selbst hätte es auf die Welt gebracht.

»Ja, gestern Nacht. Ein Hengst. Ihr fabelhafter Stallmeister hat der Tierärztin geholfen, ihn herauszuziehen.«

Frank strahlte trotz der Schmerzen in seinem Kiefer.

Sandra kam noch einmal auf die Zeugen zurück. Ihr war klar, dass man bei ihnen ansetzen musste, um von dort aus den Pfad der Verschwörung bis zum Gestüt zurückverfolgen zu können. Über das Bett hinweg wandte sie sich an Willingham.

»Sie glauben also auch, dass Fonteau und Poll nur Helfershelfer sind?«

»Absolut. Ihre Aufgabe scheint es gewesen zu sein, Frank mithilfe von Falschaussagen zu Fall zu bringen, damit jemand anderes den Profit macht.«

»In welcher Form?«

Willingham warf ihr ein väterliches Lächeln zu. »Seien Sie nicht so bescheiden, Miss Querée! Sie selbst haben Frank und mich neulich erst darauf gebracht. Jemand will das Gestüt an sich reißen. Das steht für mich so sicher fest wie das Amen in der Kirche! Frank sollte als unseriöser Züchter bloßgestellt werden. Dann würde die Bank ihm keine neuen Kredite mehr gewähren.«

Sandra genoss es, ausgerechnet von einem so erfahrenen Mann wie Willingham gelobt zu werden. Conway hätte ihr nie so geduldig zugehört wie der pensionierte Richter. Das machte ihr Mut, ihre nächste Frage zu stellen.

»Und der Mord an Debbie Farrow? War er von Anfang an geplant, oder geschah er spontan?«

Willingham gab die Frage an sie zurück. »Was glauben Sie?«

»Dass der Mord spontan geschehen ist. Wenn der oder die Hintermänner sogar vor Mord nicht zurückschrecken würden, hätten er oder sie auch gleich Frank umbringen lassen können, um an das Gestüt zu kommen.«

Willingham legte bewundernd den Kopf schief. »Hmm, das hat eine gewisse Logik. An dieser Stelle sollten wir weiterbohren.«

»Ich würde von dem, was Sie über die Zeugen herausgefunden haben, gerne offiziell Gebrauch machen«, bat Sandra. »Können wir das irgendwie lösen?«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Miss Querée. Mir ist Ihre schwierige Situation klar. Ich werde Ihnen heute Nachmittag ganz amtlich meinen Bericht über die Zeugen vorbeibringen.«

»Danke.«

Willingham wusste, dass sie gegenüber dem Chef de Police einen Anlass brauchte, damit die Polizei sich mit dieser neuen Entwicklung im Fall Guiton beschäftigte. Sie konnte Harold Conway ja schlecht sagen, dass sie inzwischen privaten Kontakt zu Frank Guiton und seinem Anwalt unterhielt. Andernfalls würde man ihr weitere Nachforschungen in der Sache sofort untersagen.

Mit gekrauster Stirn sah Frank fragend von einem zum anderen. Sandra begriff, was er wollte. Sie musste lächeln über seine Ungeduld. »Sie wollen wissen, wie es jetzt weitergeht …?«

Frank nickte zustimmend.

»Wir müssen jetzt sehen, dass wir so schnell wie möglich mehr über das Privatleben von Poll und Fonteau herausfinden«, erklärte sie geduldig. »Ich nehme an, Mr. Willingham wird das Gleiche tun.«

»Und ob! Vor allem aber werde ich weiter auf Ihrem Gestüt die Ohren und Augen offen halten«, sagte Willingham und erhob sich vom Bettrand. »Sonst noch Fragen, Frank?«

Vor lauter Wut, dass er nicht reden durfte, kritzelte sein Mandant zwei Wörter auf den Schreibblock. Als er das Geschriebene vor ihnen hoch hielt, lasen sie:

SCHEISS REDEVERBOT!!!

Nach dem Abendessen bei Emily Bloom radelte Constance wieder zurück zu Debbies Wohnung. Der Dynamo der Fahrradlampe summte beruhigend durch die Nacht. Auf der Straße, die fast immer bergab führte, war nur noch wenig Verkehr, und die Nachtluft roch sommerlich nach Heu. Debbies altes Rennrad war noch erstaunlich gut in Schuss, deshalb hatte Constance es nachmittags aus dem Keller geholt und aufgepumpt.

Während des Essens bei Emily war etwas Seltsames mit ihr geschehen. Nicht nur, das Mrs. Bloom ihr das Du angeboten hatte – was beiden ganz selbstverständlich erschien –, es war Emily durch ihre burschikose Art gelungen, in Constance wieder das schöne Gefühl von Familienleben wachzurufen.

Zuerst hatten sie zusammen ein paar Leckereien gekocht, dann gemütlich gegessen und sich danach ausführlich unterhalten. Natürlich hatten sie viel über Debbie geredet, aber auch über Emilys Mann. Constance bewunderte, wie diszipliniert Emily sich dabei verhielt. Selbst als sie aus eigenem Antrieb uralte Fotoalben aus dem Schrank gekramt hatte, um Constance das Leben von Richard Bloom vor Augen zu führen, hatte Emily keine einzige Träne vergossen …

Vor Debbies Wohnung angekommen, stieg Constance vom Rad. Sie überlegte, ob sie es gleich wieder in den Keller tragen sollte, entschied sich aber dann doch, es über Nacht an der Hauswand stehen zu lassen, für den Fall, dass sie morgen noch einmal damit fahren wollte.

Im Haus war es stockdunkel. Constance bereute, dass sie nicht wenigstens im Flur das Licht angelassen hatte. Die Mieter der oberen Etage, ein Ingenieur und seine Frau, lebten für ein halbes Jahr in Dubai, sodass sie die einzige Bewohnerin des Zweifamilienhauses war.

Sie schloss die Wohnungstür auf, ging hinein und machte das Licht an. Dann verriegelte sie die Tür, zog die Vorhänge zu und ging ins Bad. Dort duftete es noch immer nach Debbies Parfüm.

Eine Viertelstunde später lag sie im Bett. Obwohl sie mit ihren Gedanken gerne noch eine Weile bei ihrem Besuch in Emilys Haus geblieben wäre, schlief sie übermüdet ein.

Mitten in der Nacht wurde sie wach. Aus dem Wohnzimmer drangen merkwürdige Geräusche. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach zwei.

Sie lauschte angespannt. Da, ein metallisches Klirren, gefolgt von schweren Schritten auf dem Holzboden.

Jemand war in der Wohnung. Wahrscheinlich ein Mann.

Constance fühlte, wie ihr vor Angst kalt wurde. Ihr Herz schlug schneller. Wie war der Einbrecher in die Wohnung gekommen? Kein Fenster stand offen, das wusste sie genau. Das Schloss an der Eingangstür hatte sie gestern Morgen austauschen lassen, und die Kellertür …

Oh Gott, dachte sie entsetzt, die Kellertür! Über das kleine Zimmer im Souterrain gab es eine Verbindung zum Keller und zum Garten. Und dieses Schloss sollte erst morgen erneuert werden.

Die Schritte näherten sich. Nebenan, im Kinderzimmer, wurde die Tür aufgerissen. Offenbar kontrollierte der Eindringling jeden einzelnen Raum. Wusste er, dass sie hier war?

Vor Angst zitternd stand sie leise auf, strich mit eiligen Handbewegungen die Bettdecke glatt und kniete sich auf den Boden. Unter dem Bett war gerade genug Platz, dass sie sich dort verstecken konnte. Sie raffte noch schnell ihre Kleidungsstücke vom Stuhl zusammen und kroch damit unter das Bettgestell.

Zwischen Lattenrost und Teppich war es enger, als sie gedacht hatte. Bei jedem Atemzug krochen ihr Staubflusen in die Nase. Constance betete inständig, dass sie jetzt nicht niesen musste.

Sie hatte sich gerade rechtzeitig versteckt. Mit einem brutalen Ruck wurde die Tür aufgerissen, dann trat der Eindringling mit schweren Schritten ins Zimmer. Seine großen Turnschuhe drückten sich nur wenige Zentimeter neben ihren zitternden Fingern in den grauen Teppich. Zum Glück machte er kein Licht, sodass nur der Schein der Flurlampe ins Zimmer fiel.

Der Atem des Mannes ging schwer, als käme er aus einem gewaltigen Blasebalg. Constance versuchte verzweifelt, sein Gesicht zu erkennen, doch ihr Blick reichte nur bis zu seiner Hose. Sie war dunkelgrün, gegen Nässe imprägniert, wie sie von Jägern getragen wurde. Entsetzt bemerkte sie, dass am linken Hosenbein getrocknetes Blut klebte. In ihrer Panik glaubte sie sogar, das Blut riechen zu können, aber das bildete sie sich wahrscheinlich nur ein.

Der Mann hatte offenbar genug gesehen, denn er wandte sich um und ging zur Tür. Constance betete, dass er auch ja die Tür wieder zumachte, sonst hätte sie noch länger unter dem Bett ausharren müssen.

Die Tür schloss sich.

Constance atmete auf. Jetzt musste alles schnell gehen.

Sie kroch so leise wie möglich aus ihrem Versteck hervor, stand auf, ging auf Zehenspitzen zur Tür und presste ihr Ohr daran, um zu hören, was der Fremde jetzt tat. Wenn sie die Geräusche richtig interpretierte, war er gerade dabei, im Wohnzimmer die Schubladen der Schränke aufzuziehen. Dann hörte sie Papier rascheln. Er schien irgendetwas zu suchen.

Ihr blieb nicht viel Zeit.

Sie schnappte sich ihren Pulli und ihre Jeans, überprüfte, ob ihr Handy in der Tasche steckte – Gott sei Dank, ja! –, öffnete in Zeitlupe das Fenster, warf ihre Sachen nach draußen ins Gras und kletterte hinterher.

In Windeseile zog sie sich an. Dann wählte sie den Notruf der Polizei und meldete flüsternd den Einbruch.

Sie versteckte sich in der Ecke hinter dem Gartenhaus. Von dort aus hatte sie einen Teil der Straße und den Hauseingang im Blick. Noch war der Mann in der Wohnung, und sie hoffte, dass er dort auch blieb, bis die Polizei eintraf.

Plötzlich hatte Constance das Bedürfnis, auch Emily zu informieren. Sie glaubte fest daran, dass der Einbrecher etwas mit Debbies Tod zu tun hatte. Vielleicht war er sogar ihr Mörder. Warum sonst sollte er in Debbies Sachen herumwühlen?

Angespannt kauerte sie auf dem feuchten, matschigen Boden zwischen Gartenhaus und Ligusterhecke und wählte Emilys Nummer. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Emily sich schlaftrunken meldete.

»Ja?«

»Ich bin’s. Ich kann nur flüstern«, hauchte Constance ins Handy. »Ein Einbrecher ist im Haus, die Polizei ist schon unterwegs …«

»Oh Gott! Bist du noch in der Wohnung?«

»Nein, im Garten.«

Emily erschrak. »Bist du verrückt? Du musst sofort verschwinden!«

»Nein, ich will sehen, wer es ist«, flüsterte Constance. »Emily, er durchsucht Debbies Sachen! Das ist kein gewöhnlicher Einbrecher.«

»Überlass das der Polizei! Bitte verschwinde, Constance, versprich es mir!«

Doch Constance hörte gar nicht mehr richtig hin, denn der Augenblick, auf den sie gewartet hatte, war gekommen. Ein dunkelhaariger, kräftiger Mann entfernte sich mit schnellen Schritten vom Hauseingang, ging über die Straße und verschwand in Richtung der nächsten Kreuzung.

»Er ist gerade aus dem Haus gekommen«, sagte Constance aufgeregt, während sie ihre Deckung neben der Hecke aufgab und losrannte. »Ich hab ihn schon mal gesehen, aber sein Name fällt mir nicht mehr ein! Das Fahrrad … Ich schnappe mir jetzt das Fahrrad und versuche, wenigstens noch die Autonummer zu erkennen …«

»Ich komme zu dir!«, rief Emily noch.

Constance reagierte nicht mehr und beendete das Gespräch. Als sie das Handy wieder in ihre Hosentasche stopfen wollte, rutschte es ihr vor lauter Aufregung aus der Hand und fiel ins Gras. Nein, sie hatte jetzt keine Zeit, danach zu suchen.

Von dem Mann war nichts mehr zu sehen. Sie stieg aufs Fahrrad und fuhr los. Wahrscheinlich hatte er seinen Wagen auf dem kaum beleuchteten kleinen Parkplatz in der Parallelstraße stehen gelassen.

Sie hatte recht. Kaum hatte sie die Straße erreicht, sah sie, wie ein dunkler Pick-up sich vom Parkplatz löste. Die Scheinwerfer leuchteten auf, dann bog er in die schmale Nebenstraße, die den Hügel hinauf nach St. Aubin führte. Obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, den Wagen bergauf zu verfolgen, wollte sie wenigstens versuchen, die Autonummer zu erkennen.

Der Wagen fuhr seltsamerweise nicht sehr schnell. Indem sie geschickt die Gänge des Rennrads nutzte, hatte sie keine Mühe, ihm zu folgen. Ihr eigenes Licht ließ sie ausgeschaltet, damit er sie im Rückspiegel nicht sofort erkennen konnte.

Doch auf einmal, nach den letzten Häusern, dort wo die Felder begannen, verschwanden die roten Rücklichter vor ihr, als hätte ein schwarzes Loch sie verschluckt. War der Wagen irgendwo abgebogen? Auch das Motorengeräusch war nicht mehr zu hören.

Keuchend vor Anstrengung trat sie in die Pedalen. Irgendwo musste er doch sein!

Jetzt machte die Straße eine Kurve. Plötzlich sah sie den Pick-up direkt vor sich am Straßenrand stehen. Sie bremste, um nicht aufzufahren. In Eile warf sie einen Blick auf die Autonummer, prägte sie sich ein und wendete sofort wieder. Sie wollte nicht zu viel riskieren. In der Ferne hörte sie eine Polizeisirene.

Doch es war zu spät.

Aus der Dunkelheit schossen zwei mächtige Hände auf sie zu, rissen sie vom Sattel und schleuderten sie auf die Wiese neben der Straße.

Noch in der Nacht hatte die Polizei auf der ganzen Insel ein Netz von Kontrollpunkten errichtet. Autos waren durchsucht und Taxifahrer befragt worden. Nächtliche Passanten ließen sich um diese Zeit nicht mehr in St. Brelade’s Bay finden. Außer in der Hauptstadt St. Helier ging man früh schlafen auf der Insel.

Wie Harold Conway von Anfang an befürchtet hatte, war die Fahndung ergebnislos. Constance Farrow blieb verschwunden. Nur ihr Fahrrad, das neben der Straße in einem Gebüsch entdeckt wurde, ließ darauf schließen, an welcher Stelle sie entführt worden war.

Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Constance Farrow um eine wichtige Zeugin handelte – seine Zeugin –, hatte man Conway kurz nach Eintreffen des ersten Notrufs geweckt und informiert. Dann war der aufgeregte Anruf von Emily Bloom erfolgt, der schließlich die Großfahndung in Gang gesetzt hatte.

Jetzt war es sieben Uhr morgens.

Übermüdet saßen sich Emily und der Chef de Police in dessen Büro an dem kleinen Teetisch in der Fensterecke gegenüber. Emilys Haare waren zerzaust, im Spiegel der kleinen Damentoilette in der Polizeistation von St. Aubin hatte sie auch die Ränder unter ihren Augen gesehen. Selbst der sonst so eiserne Harold wirkte bleich und mitgenommen. Auf seinen Knien lag eine mit rotem Filzstift markierte Landkarte.

»Im Moment müssen wir davon ausgehen, dass der Entführer über die A 13 entkommen ist«, fasste er zusammen. »Aber auf keinen Fall Richtung St. Helier oder Richtung Flughafen, denn von dort waren schon die ersten beiden Streifenwagen unterwegs. Und denen sind nur drei Taxen begegnet.«

»Hat man denn in Debbies Wohnung irgendwelche Spuren gefunden?«, fragte Emily erschöpft. Mit jeder Stunde des Wartens, die sie hier verbrachte, machte sie sich größere Vorwürfe, dass sie Constance gestern nicht wieder zu sich geholt hatte.

»Vor zehn Minuten hat die Spurensicherung angerufen«, antwortete Conway mit sorgenvoller Stimme. »In dem ganzen Chaos, das der Einbrecher in Debbies Wohnung angerichtet hat, wurden reichlich Fingerabdrücke gefunden …« Er holte tief Luft, als müsste er sich überwinden, Emily die Wahrheit zu sagen. »Sie sind identisch mit den Fingerabdrücken, die man auch bei Debbie und Jolanta Nowak sichern konnte.«

Emily presste die Hände zusammen. Das hatte sie befürchtet, nachdem Constance angedeutet hatte, dass sie dem Mann früher schon einmal begegnet war.

Sie seufzte wie unter Schmerzen. »Ach, Harold! Bitte nicht auch noch Constance!«

Conway schien seine Aversionen gegen Emily vergessen zu haben. Mit tröstender Stimme sagte er: »Davon, dass Constance tot sein könnte, geht im Moment noch niemand aus, Emily. Nicht mal die hartgesottenen Kollegen in St. Helier. Wenn dieser Mann ihr etwas hätte antun wollen, hätte er das gleich machen können. So wie bei den anderen beiden Frauen. Stattdessen nimmt er sie mit und lässt auch noch ihr Rad da.«

»Das heißt aber auch, dass er sie jetzt irgendwo gefangen hält …« Emily schlug ihre Hände vors Gesicht. »Ich darf nicht daran denken … Wer weiß, was er mit ihr vorhat.«

»So schwer es fällt, Emily – wir müssen jetzt sachlich bleiben. Die Entführung gibt uns wenigstens noch die Chance, sie lebend zu finden.« Er legte die Landkarte neben seinem Stuhl auf den Boden. »Und deshalb brauche ich jetzt deine Hilfe.«

»Was soll ich tun?«

»Benutze dein Gedächtnis, Emily. Ich weiß, dass ich oft Witze darüber gemacht habe. Aber im Grunde habe ich dich immer darum beneidet. Und ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir mit dem ganzen Unfug aufhören und dass du uns hilfst.«

Erstaunt hob Emily die Augenbrauen. Solche Töne hatte sie noch nie von ihm gehört. »Und wieso kommst du gerade jetzt darauf? Als Debbie ermordet wurde, wolltest du mich nicht mal in deiner Nähe haben.«

»Ich kann dir genau sagen, warum ich meine Meinung geändert habe. Als ich gestern hier im Büro mit Constance gesprochen habe, hat sie mir berichtet, wie detailliert du alles wiedergeben konntest, was Debbie dir vor Monaten erzählt hat. Und dass du immer noch nach übersehenen Zusammenhängen suchst, weil der Mord dir keine Ruhe lässt.«

»Was ist daran so erstaunlich? Das hättest du dir doch denken können, dass ich das tue.«

Conway suchte nach den richtigen Worten. Er schien seine Ehrlichkeit nicht zu bereuen.

»Vermutlich bin ich zu sehr daran gewöhnt, Ermittlungen nach unserem üblichen Schema durchzuführen. Aber heute Nacht habe ich begriffen, dass das, was momentan auf unserer Insel vor sich geht, alle üblichen Kategorien sprengt.« Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Da ist etwas im Gange, Emily, das einen schrecklicheren Hintergrund hat, als wir uns vorstellen können. Ich fühle das. Die Mordkommission geht von einem Serientäter aus, aber das ist nur die Oberfläche. Es muss dabei um mehr gehen als nur um den Rachefeldzug eines Liebhabers.«

Emily nickte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fiel ihr auf, dass Harold auch zu freundlicheren Tönen fähig war. »Ich denke, du hast recht. Und mir tut es genauso leid, dass wir uns nicht schon früher in Ruhe aussprechen konnten.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Frieden?«

Lächelnd schlug er ein. »Frieden.«

Erleichtert blickte sie ihn an. »Was erwartest du jetzt von mir?«

»Dass du mir alles über Debbie und Constance sagst, was dein Gedächtnis hergibt.«

Sie lächelte, obwohl sie überrascht war, und versuchte, mit einem Scherz Zeit zu gewinnen.

»Du meinst, ich werde deine Geheimwaffe?«

»So könnte man es nennen, ja.«

Emily wurde wieder ernst. »Erwarte nicht zu viel von mir, Harold. Es stimmt zwar, dass mir nach und nach einzelne Gespräche mit Debbie einfallen, aber das meiste davon ist viel zu vage.« Sie wurde nachdenklich. »Bis auf ein paar Äußerungen von Debbie, die mit ihrem Kind zu tun haben.«

Er merkte auf. »Mit dem Tod ihres Kindes?«

»Ja. Wenn du dich erinnerst, wir haben schon mal darüber gesprochen. Gleich nachdem ich Debbie gefunden hatte.«

Es war ihm sichtlich unangenehm, an die Arroganz erinnert zu werden, mit der er sie damals behandelt hatte.

»Da hast du nur gesagt, dass sie immer noch Schwierigkeiten hatte, mit Davids Tod fertig zu werden.«

»Inzwischen bin ich immer mehr davon überzeugt, dass Debbie Zweifel daran hatte, dass David eines natürliches Todes gestorben ist.«

»Wie kommst du darauf?«

»Eigentlich kreisten alle Gespräche mit ihr nur um Davids Tod. Jetzt kannst du sagen, das ist normal für eine Mutter, die ihr Kind verliert. Aber mir sind in den vergangenen Tagen ein paar Sätze eingefallen, in denen Debbie immer wieder von Nachforschungen spricht, die sie angestellt hat.«

»Zum Beispiel?«

»Nimm nur mal mein letztes Treffen mit ihr in der Stadt. Da hat sie gesagt, als es wieder mal um David ging: Aber ich mache Fortschritte. Ich weiß jetzt von Dingen, die ich vorher nicht wusste. In meiner Naivität dachte ich natürlich, sie meint damit, dass sie jetzt besser mit Davids Tod umgehen kann. Aber heute Nacht fiel mir wieder ein, was sie mir gesagt hat, als wir uns vor ein paar Wochen zufällig am Strand getroffen haben. Vor uns rannten ein paar Kinder zum Wasser. Debbie zeigte auf einen kleinen Jungen und meinte traurig: So alt wäre David jetzt auch. Wenn die Ärzte mehr für ihn getan hätten. Und wissen Sie was? Am Ende wussten diese verdammten Götter in Weiß nicht mal, woran er wirklich gestorben ist. Vielleicht hätte ich doch einer Obduktion zustimmen sollen. Aber das konnte ich seinem kleinen Körper doch nicht antun …«

Emily machte eine kleine Pause. Es war ihr nicht leichtgefallen, diese Sätze zu wiederholen.

Geduldig wartete Harold Conway, bis sie sich wieder im Griff hatte.

Sie fuhr fort: »Die dritte Bemerkung über Davids Tod, die mich im Nachhinein skeptisch gemacht hat, stammt von Constance. Wörtlich sagte sie: Aber er bekam plötzlich Lähmungen, von einem Tag auf den anderen. Keiner wusste, warum. Die Ärzte vermuteten, dass es an den vielen Infektionen lag. Und an der seltenen Erbkrankheit, die er hatte. David war Bluter. Er muss es von Debbies Vater geerbt haben.«

Conway stand auf. Jetzt hatte sein Gesicht wieder Farbe. Unruhig fuhr er sich mit der Hand über die kurzen Haare. »Debbies Kind! Emily, das ist genial! Wir haben über alles nachgedacht, aber kein Mensch ist darauf gekommen, dass an diesem Punkt etwas nicht stimmen könnte!«

Emily bremste seine Euphorie sofort wieder.

»Moment, Harold. Debbies Zweifel müssen ja noch lange nicht beweisen, dass es sich hier um einen Ärzteskandal handelt. Ich habe mal im Internet nachgelesen. Ein Kind, das an der Bluterkrankheit leidet, lebt immer gefährlich. Vielleicht haben die Farrows das einfach nicht wahrhaben wollen …«

»Kann ja alles sein. Aber auch ein anderes Szenario lässt sich nicht ausschließen. Einer der Ärzte vertuscht einen tödlichen Fehler. Debbie kriegt es raus, trifft sich mit ihm und droht, dass sie es an die Öffentlichkeit bringt. Das würde übrigens auch erklären, warum heute Nacht jemand ihre Wohnung durchsucht hat.«

»Und wie erklärst du dir dann, dass der Täter auch schon Jolanta Nowak umgebracht hat?«, fragte sie.

»Vergiss nicht, dass auch Jolanta Nowak wegen ihrer Schwangerschaft im Krankenhaus war.«

Emily dachte nach. Es war geradezu beängstigend, wie logisch plötzlich alles klang. Sie erschrak. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie mit ihren Gedächtniszitaten den Ermittlungen einen ganz neuen Weg eröffnen konnte.

Harold war mit seinen Überlegungen bereits einen Schritt weiter. »Als Erstes werde ich eine Exhumierung der Kinderleiche beantragen. Dann verhören wir jeden einzelnen Arzt, der mit der Behandlung zu tun hatte … Du wirst sehen, Emily, jetzt geht es vorwärts! Dank deiner Hilfe!«

Sie sah ihn skeptisch an. »Harold … Vergiss nicht, dass man jetzt erst mal Constance finden muss! Bitte! Versprich mir, dass das Vorrang hat!«

»Keine Sorge, ich habe längst zusätzliche Leute angefordert. Die sollen uns helfen, endlich den Fahrer dieses ominösen Pick-up zu ermitteln. Wir überprüfen jeden Einzelnen auf der Insel, der so einen verdammten Wagen fährt.«

»Gut, das beruhigt mich.«

Emily fand es geradezu rührend, wie sehr ihr Ex-Schwager sich darum bemühte, ein neues Klima zwischen ihnen aufzubauen. Es war ihm sicher nicht leichtgefallen. Und wenn sie ehrlich war – sie hatte früher auch eine ganze Menge dazu beigetragen, ihn in seiner Eitelkeit zu provozieren. Sie beschloss, ab jetzt genauso fair mit ihm umzugehen wie er mit ihr. Sie durfte ihm nichts mehr vorenthalten. Weder die Sache mit Trevor de Sagan noch das Doppelleben ihres Mannes, auch wenn es ihr schwerfiel und sie Vikar Ballard gegenüber zur Verräterin wurde.

Sie stand auf und sagte zaghaft: »Harold … Ich würde gerne noch etwas anderes mit dir besprechen …«

Doch Conway war nicht mehr bei der Sache. Er stand am Fenster und schaute mit kritischem Blick zu, wie draußen auf dem Platz vor dem Haupteingang ein Mannschaftswagen der Polizei aus St. Helier vorfuhr. Kaum hatte der Wagen angehalten, ging die Schiebetür auf, und Chefermittlerin Jane Waterhouse sprang heraus. Mit schnellen Schritten verschwand sie im Gebäude. Jeden Augenblick würde sie hier auftauchen.

»Entschuldigung, Emily … Jane Waterhouse ist gerade im Anmarsch. Können wir später weiterreden?«

»Ja, natürlich. Ich warte draußen. Vielleicht weiß sie ja schon was Neues.«

Sie ging zur Tür, während Harold wieder hinter seinem Schreibtisch Platz nahm. Rasch begann er, seine Unterlagen zu zwei ordentlichen Stapeln zu sortieren. »Oder Emily, machen wir es doch so: Du gehst jetzt nach Hause und ruhst dich aus. Sobald ich etwas höre, rufe ich dich an.«

»Wie du willst.«

In der Tür wäre sie fast mit Jane Waterhouse zusammengestoßen, die gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte.

»Mrs. Bloom! Haben ich Sie jetzt vertrieben?« Jane Waterhouse bemühte sich um ein freundliches Gesicht.

»Schon in Ordnung«, sagte Emily. »Ich glaube, Sie haben jetzt Wichtigeres mit dem Chef de Police zu bereden.«

»Ja, es eilt leider«, meinte Jane Waterhouse knapp und ging ins Zimmer.

Emily nickte nur und schloss die Tür hinter sich.

Harold Conway blickte scheinbar überrascht von einer Vernehmungsakte auf. »Oh, welche Ehre! Bitte nehmen Sie doch Platz!«

Er erhob sich ein paar Zentimeter von seinem Stuhl und wies auf den Besuchersessel auf der anderen Seite des Schreibtisches.

»Guten Morgen, Mr. Conway«, antwortete Jane Waterhouse. Sie blieb seltsam unruhig mitten im Raum stehen. Irgendwie wirkte sie unsicher. »Ich bin gerade auf dem Weg zum Sicherheitschef des Innenministers, wollte aber vorher noch etwas Dringendes mit Ihnen besprechen.«

Conway sah sich durch ihr merkwürdiges Verhalten gezwungen, nun doch aufzustehen.

»Hat die Großfahndung etwas ergeben?«

»Nein, bis jetzt nicht … Und genau das könnte unser Problem werden. Mir gehen die Leute aus.«

»Deshalb habe ich heute Morgen auch den Vorschlag gemacht, zusätzlich zwei Mitarbeiter anzufordern. Die könnten sich ausschließlich um die Suche nach dem Pick-up kümmern. Außerdem sollten wir von Scotland Yard einen Profiler kommen lassen …«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, vergessen Sie’s. Es gibt nämlich ein kleines politisches Problem. Der amerikanische Außenminister will morgen überraschend einen Abstecher von London nach Jersey machen. Er wird gegen Mittag hier eintreffen. Ihnen ist sicher klar, was das bedeutet.« Ihre Stimme klang ausnahmsweise mal ironisch. »Ab jetzt werden unsere Leute gebraucht, um durch die Kanalisation zu kriechen und unter Autos nach Bomben zu suchen. Also machen Sie sich keine Illusionen. Wir behalten den Stab, den es jetzt gibt, bekommen aber keinen einzigen Beamten mehr.«

Conway spürte, wie Zorn in ihm aufstieg.

»Haben Sie vergessen, dass ein Menschenleben auf dem Spiel steht? Sie wissen doch genau, was es heißt, wenn wir Constance Farrow nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden …« Er machte eine kleine Pause und nahm seine erregte Stimme wieder etwas zurück. »Ist das alles schon beschlossene Sache?«

»Ja, mir blieb nichts anderes übrig. Schließlich geht es hier um übergeordnete Staatsinteressen.«

Conway begriff, wie es gelaufen war. Vor lauter Ehrgeiz und aus Sorge, dass sie damit ihren Aufstieg gefährden könnte, hatte sie das Ansinnen des Ministeriums widerspruchslos hingenommen. Ließen sich die Morde dann später nicht aufklären, konnte sie sich jederzeit damit entschuldigen, dass der überraschende Staatsbesuch ihre Ermittlungen leider gebremst hätte. Niemand würde es wagen, ihr einen Vorwurf zu machen.

Doch Conway gab sich so schnell nicht geschlagen. »Warum machen Sie nicht von der Möglichkeit Gebrauch, einen Profiler von Scotland Yard anzufordern? Ich wäre dafür.«

Beide wussten, dass dieser Weg nur in Ausnahmefällen beschritten wurde, denn ein solches Verfahren bedeutete in den meisten Fällen Gesichtsverlust für Jerseys Polizei.

Sie reagierte, wie er erwartet hatte. »Also bitte – dafür gibt es nun wirklich keinen Anlass! Wir kommen auch alleine klar. Machen Sie Ihre Arbeit, Mr. Conway, und ich mache meine. Und es würde mich sehr wundern, wenn wir nicht bald Ergebnisse hätten.«

Zufrieden stellte Conway fest, dass sie ihm mit dieser deutlichen Ablehnung die Möglichkeit gegeben hatte, selbst tätig zu werden. Ob sie sich darüber im Klaren war?

Sie ging zur Tür und warf ihm schnell noch einen versöhnlichen Blick zu. »Wir werden schon einen Weg finden! Also dann, bis zu unserer Sitzung heute Nachmittag!«

Nachdem sie sein Büro verlassen hatte, ließ sich Conway wieder auf seinen Schreibtischstuhl fallen.

Er hatte die Nase voll und wünschte sich, dass wieder alles so wurde, wie es vor dem Auftauchen von Detective Inspector Jane Waterhouse gewesen war: unpolitisch, ohne neumodische Taktiererei, eine Zusammenarbeit der kurzen Wege. Bis heute gab es auf Jersey keine Parteien, sondern nur freie Abgeordnete, die von den Bürgern direkt ins Parlament gewählt wurden. Einigen Leuten passte das nicht, sie hätten lieber politische Netzwerke gefördert, doch noch funktionierte die gute alte Jersey-Methode. Jeder kannte jeden, bis hin zum Bailiff. Und es war das Recht jedes Bürgers, um Hilfe zu bitten, wenn er sich im Unrecht fühlte.

Das war auch sein Recht als Chef de Police. Und es wurde Zeit, dass er Gebrauch davon machte. Er öffnete die Ledermappe mit dem offiziellen Briefpapier der Honorary Police St. Brelade, griff zu seinem schwarzen Füllhalter und begann, dem Bailiff einen sehr persönlichen Brief zu schreiben.

Es ließ Emily keine Ruhe. Sie hatte einen schweren Fehler gemacht.

Oliver Farrow war im Augenblick der Einzige, der ihr Näheres über die Krankheit seines kleinen Neffen David sagen konnte, und sie hatte bisher noch nicht mit ihm gesprochen.

Sie fuhr direkt von Harold Conway weiter zum Hafen von St. Helier.

Im Büro des Hafenmeisters sagte man ihr, an welcher Pier Oliver heute mithalf, ein Schiff aus Holland zu entladen. Emily bedankte sich und nahm gleich den Hinterausgang, der eigentlich nur dem Personal zur Verfügung stand.

Sie kletterte die schmale Metalltreppe zu den Booten hinunter, drängte sich an einem Stapel leerer Holzpaletten vorbei und blickte sich suchend um. Es war viel los um diese Zeit. Da mit der Flut ein halbes Dutzend Schiffe in den Hafen eingelaufen waren, musste das Entladen schnell gehen.

Die Pier, wo Oliver arbeitete, lag am hintersten Hafenbecken. Emily beschloss, einfach quer durch das Gelände dorthin zu laufen.

Schon von Weitem erkannte sie die holländische Flagge. Das Schiff sah ziemlich runtergekommen aus. Auf der Kaimauer davor standen neben einem roten Gabelstapler ein paar Hafenarbeiter zusammen. Zwei von ihnen, wie alle anderen in blauem Overall, beugten sich über etwas, das am Boden lag.

Erst als Emily näher heranging, entdeckte sie, dass ein Mensch auf dem Pflaster lag und sich krümmte. Man hatte ihn auf eine gelbe Plastikfolie gelegt, der Kopf war hochgelagert auf einem der heruntergefahrenen Hebearme des Gabelstaplers.

Es war Oliver Farrow. Emily erkannte ihn sofort wieder, auch wenn sie ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sein wachsbleiches Gesicht glänzte vor Schweiß. Die Augen hatte er geschlossen.

Während Emily auf die Gruppe zueilte, rief einer der Männer: »Sind Sie die Ärztin?«

»Nein. Leider nicht. Aber wenn ich helfen kann …«

Der Mann winkte ab, zog sein Handy aus der Tasche und begann zu telefonieren. Offenbar sprach er mit der Hafenleitung.

Emily wandte sich an den Ältesten in der Runde. »Das ist doch Oliver Farrow, nicht wahr? Was ist passiert?«

Der Mann stand breitbeinig vor ihr, seine Finger spielten mit einer zusammengerollten Schiffsleine.

»Wenn Sie Oliver kennen, können Sie sich’s ja fast denken. Keine Ahnung, was er diesmal wieder geschluckt hat, aber es muss ziemlich heftig gewesen sein. Wir tippen auf Kokain. Jack hat ihn hier draußen gefunden.« Er zeigte auf den Arbeiter, der gerade telefonierte.

Emily kniete sich neben Oliver auf den Boden. Seine Gesichtszüge wirkten verkrampft, und sein Brustkorb hob und senkte sich erschreckend schnell. Sie strich ihm mitfühlend über die Haare. Er schien es gar nicht zu bemerken.

»Ist denn der Notarzt schon verständigt?«, fragte sie besorgt.

»Schon vor eine Viertelstunde.«

Emily stand wieder auf. Mit gedämpfter Stimme wandte sie sich wieder an den Hafenarbeiter.

»Darf ich Sie etwas fragen? Ich bin eine Bekannte der Familie Farrow, und ich war eigentlich gekommen, um mit Oliver über seine Cousine Debbie zu sprechen … Sie haben sicher von diesem Mordfall gehört.«

»Natürlich.«

»Hat Oliver mal darüber gesprochen?«

»Nur ein Mal, allerdings arbeiten wir hier ja nicht ständig im selben Team. Aber uns hat er erzählt, dass sie seine Lieblingscousine war und dass ihr Tod ihn sehr mitgenommen hat. Als wenn eine Schwester stirbt, hat er gesagt. Aber fragen Sie am besten Tony Kinross und Jack Dorey, die waren öfter mit ihm zusammen als ich. Warten Sie mal.«

Er ging zu zwei Männern, die auf der anderen Seite des Gabelstaplers standen, und redete kurz mit ihnen. Der Größere der beiden stach durch sein Äußeres unter den anderen Arbeitern hervor. Dennoch hatte ihn Emily bisher noch gar nicht bemerkt. Er war Ende dreißig, hatte breite Schultern und trug als Einziger keinen Overall, sondern eine rote Wachsjacke, wie auch Segler sie tragen. Er sah interessant aus, mit äußerst wachen blauen Augen und einem intelligenten Gesicht. Emily musste unwillkürlich an einen amerikanischen Schauspieler denken, der in die Rolle eines Arbeiters geschlüpft war.

Im diesem Moment rollte der Krankenwagen auf die Kaimauer. Er fuhr bis kurz vor den Gabelstapler. Zwei Sanitäter und der Notarzt sprangen heraus und knieten sich neben Oliver. Mit erfahrenem Blick stellte der Arzt fest, dass Oliver Farrow so schnell wie möglich entgiftet werden musste. Schnell hatten die Sanitäter den Körper auf der Trage festgeschnallt und im Krankenwagen untergebracht. Mit eingeschalteter Sirene fuhr der Wagen im Rückwärtsgang vom Hafengelände.

Für Emily war es, als würde mit Oliver auch das letzte Mitglied der Familie Farrow vom Schicksal verfolgt. Wehmütig musste sie daran denken, wie die drei Kinder früher lachend mit ihren kleinen Fahrrädern unterwegs gewesen waren.

Olivers Arbeitskollegen standen betroffen da. Erst nachdem der Krankenwagen verschwunden war, machten sie sich langsam wieder an ihre Arbeit.

Nur zwei Männer blieben bei Emily stehen, Jack Dorey, der Vorarbeiter und der junge Mann in der roten Jacke. Er stellte sich als Tony Kinross vor.

Auch Emily nannte ihren Namen. Doch bevor sie ihre Frage nach Oliver wiederholen konnte, sagte Dorey barsch: »Wir wissen Bescheid. Der Kollege hat uns schon gesagt, warum Sie hier sind.«

»Und? Können Sie mir weiterhelfen? Hat Oliver jemals mit Ihnen über Debbie Farrow gesprochen?«

»Mit mir nicht. Nur dass er sauer war, weil die Bullen ihn zweimal wie einen Verdächtigen verhört haben.« Er zog ein schmutziges Taschentuch aus seinem Overall, schnäuzte sich laut und fügte maulend hinzu: »Hören Sie, Ma’m, wir haben gerade ’ne Menge zu tun. Am besten fahren Sie ins Krankenhaus und passen den Moment ab, wenn Ollie mal kurz nüchtern ist. Hier kriegt er bestimmt nie wieder einen Job. Hab ich recht, Tony?«

Kinross, der die ganze Zeit über schweigend zugehört hatte, schürzte nachdenklich die vollen Lippen. Dann sagte er mit überraschend dunkler Stimme: »Geh schon mal rüber zu den Containern, Jack. Ihr müsst in einer Stunde fertig sein. Ich mach das hier allein.«

»Sag ich doch«, meinte Dorey und entfernte sich.

»Entschuldigung«, sagte Tony Kinross zu Emily. »Aber die Jungs werden beim Entladen nach Akkord bezahlt, da zählt jede Minute.«

»Gehören Sie denn nicht dazu?«, fragte Emily überrascht. Sie hatte ihn für einen Vorarbeiter gehalten.

»Nein. Ich bin Fischer. Mir gehört der Kutter dort rechts.« Er zeigte auf ein dunkelgrün gestrichenes Schiff am Ende der Kaimauer. Es hieß Harmony und war für einen Kutter erstaunlich gepflegt.

»Schönes Schiff«, sagte Emily anerkennend. »Sieht ziemlich neu aus.«

»Ist es auch. Erst zwei Jahre alt. Ich fahre weit raus, da ist es wichtig, dass man sich auf den Kahn verlassen kann.«

»Hat Oliver auch bei Ihnen mitgeholfen?«

»Früher schon. Da hab ich ihn gerne was verdienen lassen. Aber in letzter Zeit war nicht mehr viel mit ihm anzufangen. Seit der Idiot nicht nur getrunken, sondern auch Drogen geschluckt hat.« Er knöpfte seine rote Jacke zu. »Und das ist das Letzte, was ich draußen auf See brauchen kann.«

Emily hatte den Eindruck, dass seine Enttäuschung über Olivers Absturz echt war. »Was meinen Sie, warum hat er sich so verändert?«, fragte sie. »Könnte das etwas mit dem Tod seiner Cousine zu tun haben?«

Ganz bewusst sprach sie nur von Debbie, denn sie ging davon aus, dass das Verschwinden von Constance bisher nicht an die Öffentlichkeit gedrungen war. Sie wollte keinen Fehler machen, indem sie der Polizei vorgriff.

Tony Kinross zögerte. »Nein … Oliver hat seine beiden Cousinen nie erwähnt … Jedenfalls bei mir nicht. Er war meistens ziemlich verschlossen. Und erst recht, wenn er was geschluckt hatte.«

»Seit wann war er denn so?«

Kinross überlegte. »Eigentlich seit ich ihn kenne. Seit er hier im Hafen zum ersten Mal aufgetaucht ist. Vor etwa drei Jahren.«

»Hat er Ihnen mal erzählt, dass er manchmal auf das Kind von Debbie aufgepasst hat?«, fragte Emily.

Kinross reagierte überrascht. »Ein Kind? Ach nee! Ich wusste gar nicht, dass Debbie Mutter war! Hat er nie was von gesagt.«

Enttäuscht merkte Emily, dass Kinross wohl kaum dazu geeignet war, ihr neue Erkenntnisse über das Leben von Oliver Farrow zu vermitteln. Vielleicht wollte er es auch gar nicht, weil Oliver ihm egal war. Trotzdem griff sie in ihre Handtasche und zog eine Visitenkarte mit dem grünen Emblem ihres Teeladens heraus. »Hier, das ist meine Karte. Vielleicht können Sie mich kurz anrufen, wenn Sie hören, dass Oliver wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Wäre das möglich?«

»Ja, wenn ich nicht gerade mit dem Kutter draußen bin …«

Emily lächelte ihn an. »Also dann, viel Erfolg heute auf See.«

»Erst morgen wieder. Heute ist mein freier Tag«, sagte Kinross und schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Hinter ihm ließ ein Windstoß vom Meer die gelbe Plastikfolie, auf der Oliver gelegen hatte, durch die Luft fliegen.

»Dann auf Wiedersehen, Mr. Kinross.«

»Auf Wiedersehen.«

Emily drehte sich um und ging zum Hauptgebäude zurück. Ihre Gedanken wanderten sofort wieder zu Constance. Sie hoffte inständig, dass die Polizei in der Zwischenzeit eine Spur des Entführers gefunden hatte. Es war jetzt kurz vor halb neun. Harold hatte ihr versprochen, sich zu melden, wenn es etwas Neues gab. Sie versuchte sich einzureden, dass es nichts Schlimmes bedeuten musste, wenn er sich nicht meldete. Sie hatte ja mitbekommen, in welchem Dilemma er steckte wegen der fehlenden Mitarbeiter.

Als sie das Hafengelände verließ, hörte sie hinter sich einen Wagen vom Parkplatz fahren. Sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Hinter dem Steuer saß der Hafenmeister, den sie vorhin nach Oliver gefragt hatte.

Er bremste und rief ihr durch das offene Autofenster zu: »Tut mir leid, dass Sie das mit Oliver Farrow miterleben mussten. Aber ich hoffe, Tony Kinross hat Ihnen weiterhelfen können.«

Irritiert sah Emily ihn an. »Woher wissen Sie, dass ich mit Kinross geredet habe?«

Er lachte. »Vergessen, dass ich der Chef bin? Mein Büro hat ein schönes Panaromafenster – von da oben sehe ich alles.«

Er wollte schon weiterfahren, doch Emily hob den Arm. »Moment! Ich hätte noch eine Frage. Können Sie mir sagen, wo Oliver Farrow gearbeitet hat, bevor er hier angefangen hat?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Das müsste aber Kinross wissen. Die beiden kennen sich schließlich seit ewigen Zeiten.«

»Aber mir hat Kinross gesagt, er und Oliver hätten sich erst hier kennengelernt …«, wandte Emily ein.

»Das müssen Sie falsch verstanden haben«, sagte der Hafenmeister kopfschüttelnd. »Kinross selbst hat Oliver vor drei Jahren zu mir gebracht und darum gebeten, dass wir ihn beschäftigen.« Er seufzte. »Aber Sie haben ja gerade mitbekommen, was ich von meiner Gutmütigkeit habe. Einen schönen Tag noch, Mrs. …?«

»Bloom«, sagte Emily.

Der Hafenmeister nickte und fuhr weiter.

Nachdenklich blieb Emily stehen und fasste sich an den Kopf. Mein Gott, war sie naiv!

Dass Kinross ein Lügner war, hätte sie spätestens dann erkennen müssen, als sie ihn nach Olivers Reaktion auf Debbies Tod gefragt hatte und er geantwortet hatte, Oliver hat seine beiden Cousinen nie erwähnt. Woher wusste er dann von ihnen?

Und welche Rolle spielte Tony Kinross wirklich in Olivers Leben?

Das Gestüt von Frank Guiton bestand aus einem historischen Farmhaus, zwei unlängst modernisierten Ställen und mehreren Scheunen. Unter uralten Bäumen grasten Dutzende von Pferden. Die Koppeln waren umgeben von gepflegten weißen Zäunen. Es gab zwei sandige Longierplätze, einen Springparcours mit Hindernissen und – weit entfernt hinter den Bäumen – eine gestüteigene kleine Rennbahn.

John Willingham hatte sich als Hausherr auf Zeit eingelebt. Er liebte es, wenn ihm aus der Scheune der herrliche Geruch von frisch eingefahrenem Heu entgegenwehte. Zweimal am Tag ritt er mit seiner eigenen Stute aus und kontrollierte vom Rücken seines Pferdes aus, wie Guitons Leute arbeiteten, vor allem wenn sie sich unbeobachtet fühlten.

Alle wussten, dass ihr Chef noch immer im Krankenhaus lag und dass Willingham ihn nur vertrat. Vielleicht unterschätzten sie ihn deshalb. Sie hielten ihn für einen arroganten pensionierten Richter, der das Glück hatte, sich für ein paar Tage hier einnisten zu dürfen. Willingham genoss diesen Irrtum. Auf diese Weise konnte er wenigstens ungestört tun, was er sich vorgenommen hatte.

Er ging systematisch vor. Als Erstes analysierte er die Buchführung, alle Verträge der vergangenen Jahre und den gesamten Schriftverkehr des Gestüts. Dabei fiel ihm auf, dass sein Mandant ziemlich nachlässig gewesen war. Viele Überweisungen waren geradezu stümperhaft verbucht worden. Aber irgendwie passt diese Schlampigkeit auch zum Sunnyboy Guiton, dachte Willingham seufzend, als er endlich den letzten Ordner durchgeackert hatte.

Der Betrieb schien schon seit Jahren auf der Kippe zu stehen, aber das hatte Guiton ja selbst zugegeben. Der Rennsport war europaweit in der Krise. Die Konkurrenz der Züchter aus Übersee hatte deutlich zugenommen. Jersey war nur ein winzig kleiner und für die großen Rennen nicht besonders interessanter Fleck auf der Landkarte.

Insofern war Guitons Entscheidung, sich künftig auf die Zucht von Springpferden zu konzentrieren, durchaus verständlich. Er hatte eigens einen Spezialisten aus Irland kommen lassen, Patrick O’Leary, einen vierzigjährigen Mann, der kaum den Mund aufbekam, wenn man mit ihm redete, der aber reiten konnte wie der Teufel.

Dann gab es noch den fast fünfundsiebzigjährigen Stallmeister Henry Coland und zwei junge Burschen namens Carlo und Josh, der eine Italiener, der andere ein 18-jähriger Junge aus Guernsey.

Während Willingham am Anfang noch der Meinung war, dass dem unfreundlichen Henry Coland durchaus ein Verrat an Frank Guiton zuzutrauen sei, lernte er schnell, dass Coland in Wirklichkeit die Seele des Gestüts war. Auf krummen Beinen und stets schlecht gelaunt ging der alte Stallmeister jeden Morgen durch die Stallgasse und bellte den verschreckten Nachwuchsbereitern seine Anweisungen zu. Er hatte vor niemandem Respekt.

Erst als Willingham sich in der Sattelkammer mit dem alten Mann auf ein Feierabendbier zusammengesetzt hatte, war ihm klar geworden, was Coland leistete. Er hatte schon unter Frank Guitons Vater gearbeitet, und er bewunderte Frank mehr, als dieser ahnte.

»Was meinen Sie?«, hatte Coland mit knarziger Stimme geknurrt. »Hab schon gedacht, ob ich den Chef einfach mal im Krankenhaus anrufe. Ob ihm das recht ist?«

Überrascht von diesem Gefühlsausbruch, hatte Willingham gesagt: »Tun Sie das. Ich wette, er springt vor Freude aus dem Bett, wenn er Ihre Stimme hört.«

Coland hatte so laut gewiehert, dass die Pferde erschraken.

In der darauffolgenden Nacht war Willingham auf die Idee mit dem Telefon gekommen.

Ihm war bei einer Rechnung aufgefallen, dass Guiton erst vor wenigen Monaten für teures Geld sein veraltetes Telefonsystem erneuert hatte. Aus der Verwaltung im Gericht wusste Willingham, dass die meisten neuen Zentralgeräte mit einer automatischen Nummernspeicherung ausgerüstet waren. Damit konnte man in Betrieben mit vielen Nebenstellen – wie es auf dem Gestüt der Fall war – jederzeit die Kostenkontrolle über Dienstgespräche behalten.

In einer ruhigen Mittagsstunde zog Willingham sich in Guitons Büro zurück, schloss die Tür hinter sich ab und begann damit, die Gebrauchsanleitung für das interne Telefonnetz zu studieren. Er wusste, dass er für die nächste Dreiviertelstunde ungestört bleiben würde, denn die Angestellten saßen unten in der Vorhalle am runden Tisch und ließen sich das schmecken, was die Haushälterin für sie gekocht hatte.

Es half Willingham, dass er trotz seiner akademischen Laufbahn ein Tüftler geblieben war. Im Nu hatte er das Telefonsystem durchschaut. Es war gar nicht schwer, die Liste mit allen Telefongesprächen der letzten Wochen auszudrucken. Noch bevor die offizielle Mittagspause um war, nahm Willingham zufrieden eine fünfseitige Liste aus dem Drucker. Darauf waren sämtliche Telefonate verzeichnet, die im Gestüt von Anfang April bis heute geführt worden waren.

Er war selbst überrascht, wie einfach alles ging. Mit Hilfe von Guitons handgeschriebenem Telefonheft, das auf dem Schreibtisch lag, konnte er die meisten Telefonnummern ziemlich rasch Kunden und Lieferanten zuordnen. Natürlich waren auch viele Gespräche zwischen Debbie Farrow und Frank Guiton dabei, wie er beklommen feststellen musste.

Doch dann kam die Überraschung.

Es gab auf der Liste nur eine einzige Nummer, die nirgendwo verzeichnet war. Ausgerechnet von einem Nebenapparat im Aufenthaltsraum der Bereiter war sie in letzter Zeit zweimal angewählt worden, einmal vor einer Woche, das zweite Mal gestern.

Willingham leckte Blut. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. In kriegerischer Laune griff er zum Telefon und wählte die Nummer. Er würde sofort wieder auflegen, sobald sich jemand mit Namen meldete.

Es lief nur der Anrufbeantworter. Ein gewisser Alan Fonteau bedauerte, dass man ihn zurzeit nicht erreichen könne.

Willingham hätte nicht überraschter sein können. Fonteau war der Gemüsehändler aus St. Ouen, einer der beiden Zeugen, die gegen Frank Guiton ausgesagt hatten. Wer hatte ihn von hier aus angerufen?

Es gab also doch einen Verräter auf dem Gestüt.

Und es konnte nur noch eine Frage von Stunden sein, bis Willingham ihn überführt hatte.

Trotz ihrer großen Sorge um Constance stand Emily an der Seite von Tim im Teeladen, um sich abzulenken. Doch es fiel ihr schwer. Gerade hatte Constable Sandra Querée im Auftrag von Harold Conway angerufen und berichtet, die Polizei hätte noch immer keine Spur von Constance gefunden.

Emily quälte sich zunehmend mit dem Gedanken, dass sie der Polizei seit Tagen etwas verschwieg. Sie musste Harold endlich alles erzählen, was sie über Trevor de Sagan und Debbie in Erfahrung gebracht hatte.

Als nächste Kundin stand Louise Flair vor dem Ladentisch. Normalerweise schickten die Flairs ihr Dienstmädchen, deshalb war Emily überrascht, dass Louise heute ausnahmsweise selbst erschien. Bevor sie ihren reichen Mann geheiratet hatte, war sie Verkäuferin in einem Schmuckgeschäft in St. Helier gewesen. Damals hatten Emily und Louise sich noch geduzt, doch davon wollte Mrs. Flair jetzt nichts mehr wissen.

»Freut mich, dass Sie mal wieder vorbeischauen«, sagte Emily höflich. »Was darf’s denn sein?«

»Ich möchte lieben Freunden im Ausland etwas Typisches mitbringen«, antwortete Louise Flair mit durchdringender Stimme, »vielleicht eine Mischung aus Bisquits und besonderem Tee. Was bietet sich denn da an?«

Emily ahnte, was jetzt kam. Louise blockierte von nun an eine Viertelstunde lang den Laden, um dann mit viel Wind um nichts zwei Tüten Ingwerbisquits zu kaufen. Für dieses Theater hatte sie jetzt keinen Nerv. Unter der Ladentheke zupfte sie einmal kurz an Tims Arm. Er verstand sofort.

»Tim zeigt es Ihnen«, sagte Emily. »Ich muss dringend ein Telefonat erledigen.«

»Schade«, sagte Louise indigniert, fand sich aber schnell damit ab. »Also gut, Tim – dann legen Sie mal los …«

Emily verschwand nach hinten. Sie hörte nur noch, wie Tim sagte: »So, Mrs. Flair, hier hätten wir zunächst mal unsere Geschenkpackung mit ausgewählten japanischen Tees … Dazu gehört diese Dose mit Honigplätzchen.«

Louise schien beim Anblick der Plätzchen versöhnt zu sein. »Darf ich probieren? … Haben Sie schon gehört, Tim? Unser Neffe Shaun hatte einen schweren Surfunfall. So ein mutiger Junge! Ihr macht doch immer zusammen diese gefährlichen Motorradtouren …«

Emily schloss die Tür hinter sich. Länger konnte sie die Stimme von Louise Flair nicht ertragen.

Unruhig wählte sie Harolds Nummer bei der Polizei. Wieder war Sandra Querée am Apparat.

»Hier ist noch mal Emily Bloom. Entschuldigung, aber ich habe ganz vergessen zu fragen, wann Mr. Conway wieder da sein wird.«

»Er sitzt immer noch in der Einsatzbesprechung. Es kann Abend werden, bis er zurück ist. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«

Emily überlegte. Sie kannte Sandra Querée nicht gut genug. Die Informationen über Trevor de Sagan waren brisant. Deshalb erschien es ihr sicherer, nur Harold einzuweihen. »Danke, Miss Querée, das ist nett. Dann versuche ich es später noch mal.«

Erschöpft ließ sie sich auf den winzigen Sessel in der Ecke sinken. Sie fühlte sich, als wäre sie in einer düsteren Sackgasse gelandet.

Plötzlich musste sie wieder daran denken, dass ihre Erinnerung noch immer nicht den Faden zu Ende gesponnen hatte, der seit neulich durch ihr Gedächtnis flatterte. Trevor, Alex Flair, Richard … Was war damals denn nur vorgefallen?

Sie versuchte es noch einmal und schloss die Augen.

Undeutlich sah sie die ersten Szenen vor sich.

Es war ein halbes Jahr vor Richards Verschwinden gewesen, in einer mondänen Penthousewohnung bei Grouville. Am Rande der Party bei gemeinsamen Freunden hatte sich das Gespräch zwischen ihrem Mann und Trevor um etwas Geschäftliches gedreht, so viel wusste sie noch. Sie hatten in kleiner Runde auf der Terrasse zusammengestanden. In seiner undiplomatischen Art hatte sich Richard kritisch über die vielen ausländischen Firmen geäußert, die ihren Sitz aus steuerlichen Gründen auf die Kanalinseln verlegten. Alex Flair war dazugestoßen, wie immer ein Glas mit Gin in der Hand …

Mit quälender Langsamkeit tropften die Bilder jener Nacht durch Emilys Gehirn, jedoch ohne konkrete Form anzunehmen.

Erschöpft öffnete sie wieder die Augen Es war zwecklos. Sie kam einfach nicht weiter. Wahrscheinlich war es auch naiv, zu glauben, dass sie ausgerechnet im Hinterstübchen ihres Teeladens eine neue Gedächtnisspur finden würde. Sie musste es später noch einmal in Ruhe versuchen.

Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke.

Tee!

Richard und Trevor de Sagan hatten über Gesundheitstees gesprochen. Und über etwas, das weit darüber hinausging.

Emily versuchte ein zweites Mal, sich zu konzentrieren.

Plötzlich wusste sie es wieder. Trevor hatte den Anfang gemacht.

Trevor stand lässig an den Rand der Dachterrasse gelehnt. Wie immer zu solchen Anlässen trug er ein weißes Dinnerjackett. Mit einer kleinen eleganten Bewegung der Finger drückte er seine Zigarette auf der Marmorplatte der Terrassenmauer aus und sagte zu Richard:

»Bloß kein Neid! Das Geld der Ausländer macht uns schließlich jeden Tag ein bisschen reicher.«

»Dich vielleicht«, entgegnete Richard Bloom trocken und wandte sich an Alex Flair. »Hab ich recht?«

»Da fragst du den Falschen. Ich bin auch nicht ärmer geworden dadurch.« Er grinste.

Emily sah, wie Richard sich ärgerte. Auch Trevor schien es zu bemerken, denn er lenkte sofort ein. »Mal ehrlich, Richard, was spricht dagegen, dass jemand seine Millionen bei uns anlegt?«

»Im Prinzip gar nichts. Jedenfalls nicht, solange man nicht vergisst, dass auf Jersey auch eine Menge fleißige Leute wohnen, die hart arbeiten müssen für ihr Geld. So wie Emily und ich.«

Trevor de Sagan rollte die Augen und trank sein Weinglas leer. »Also komm, Junge, seit wann interessierst du dich für den Klassenkampf? Denk an die Asiaten, wie viel Geld die mit ihren Tees verdienen!«

»Weiß Gott!«, stimmte Alex Flair ihm zu. »Die wissen, wie man es machen muss.«

Emily sah die beiden irritiert an. Auch Richard schien sofort zu begreifen, was Trevor mit seiner Bemerkung meinte. »Wieso? Die meisten Plantagen gehören doch Europäern.«

Die Männer lachten. Richard legte den rechten Arm liebevoll um Emily und erklärte:

»Schatz, Trevor meint nicht die Plantagen. Wir reden über das Zeug, dass die Schlitzaugen als Gesundheitstees und Pülverchen verhökern. Potenzmittel zum Beispiel …«

Emily schwieg. Was sollte sie auch dazu sagen?

»Im Ernst«, fuhr Trevor fort. »In diesen Sachen steckt eine Menge Geld. Auch bei uns. Die Asiaten verstehen was von Medizin, das ist unbestritten. Das müsste man viel stärker nutzen.«

»Dann investier doch«, meinte Richard provozierend, »du kannst es dir ja leisten.«

Trevor schüttelte den Kopf. »Nein, kein Interesse. Aber wie wär’s mit dir? Kein Mensch verlangt von dir, dass du nur immer brav Early Morning Tea importierst. Langweilt dich das nicht auf Dauer?«

Noch bevor Richard antworten konnte, mischte Emily sich ein. Die Arroganz, mit der Trevor de Sagan daherredete, war widerlich. Er wusste genau, wie stolz Richard und sie darauf waren, ihren Teehandel über all die Jahre aufgebaut zu haben. Es war ihr Lebenswerk.

Zornig funkelte sie ihn an. »Es ist unfair von dir, Trevor, uns als geschäftliche Versager hinzustellen. Wir wissen selbst, dass wir nicht in deiner Liga spielen. Aber deswegen hast du noch lange nicht das Recht, Richard für seine Arbeit hochzunehmen!«

Trevor reagierte mit einem verblüfften Gesichtsausdruck. Ohne seine Antwort abzuwarten, ließ Emily ihn einfach stehen und ging demonstrativ zur anderen Seite der Terrasse, wo sie sich mit dem Rücken an die Balustrade lehnte und zu den drei Männern hinüberschaute. Es ärgerte sie, dass Richard ihr nach einer solchen Beleidigung nicht solidarisch gefolgt war. Stattdessen hörte sie, wie ihr Mann zu Trevor sagte: »Wenn ich so darüber nachdenke, finde ich die Idee verdammt gut, weißt du das? Und niemand auf Jersey vertreibt das Zeug.«

»Tja, nur schade, dass du nicht in unserer Liga spielst«, antwortete Trevor de Sagan zynisch. Alex Flair lachte und zwinkerte Richard zu.

Richard drehte schweigend das Weinglas in seinen Händen und starrte über die Terrassenmauer hinweg in die Nacht hinein.

Entsetzt fuhr Emily hoch. Auch wenn dieses Gespräch damals nicht mehr als ein kurzes Geplänkel gewesen zu sein schien – jetzt bekam es eine ganz neue Bedeutung. Denn schlagartig erinnerte Emily sich an etwas, das Harold Conway ihr heute Morgen erzählt hatte.

Der Fahrer des gesuchten Pick-up – der Mann, den die Polizei als Doppelmörder in Verdacht hatte – verkaufte angeblich chinesische Kräutertees und andere asiatische Wundermittel. Das jedenfalls hatte ein Zeuge ausgesagt.

Aus ihren Fachzeitschriften wusste Emily, dass der Schwarzhandel mit solchen Tees und angeblichen Wundermitteln überall auf der Welt florierte. Darunter waren auch viele pflanzliche Medikamente, deren Einfuhr strikt verboten war, die aber gerade deshalb viel Geld einbrachten. Was, wenn aus der damaligen Diskussion während der Party tatsächlich eine Geschäftsidee entstanden war?

Sie schob den Gedanken schnell beiseite. Im Nachhinein traute sie Richard zwar vieles zu, aber jetzt ging ihre Fantasie mit ihr durch.

Sie wünschte sich, sie hätte sich nie an dieses Gespräch erinnert. Doch jetzt musste sie das Mosaik auch fertig zusammensetzen, ob sie wollte oder nicht. Das war sie ihrer Erinnerung schuldig.

Langsam stand sie auf. Erst jetzt spürte sie, wie zerschlagen sie sich fühlte.

Es klopfte. Tim kam herein. »Ich wollte nur sagen, Sie können sich wieder zeigen. Mrs. Flair ist gerade zufrieden abgezogen …« Erschrocken blickte er Emily an. »Was ist? Sie sehen aber blass aus! Alles in Ordnung?«

Emily versuchte gar nicht erst, ihn zu täuschen. Tim war ein zu guter Beobachter. »Geht schon wieder, danke. Ich glaube, es war doch keine gute Idee, das Mittagessen ausfallen zu lassen.«

»Bleiben Sie ruhig noch ein bisschen sitzen. Im Augenblick ist sowieso nicht viel los im Laden.«

»Danke. Tut mir leid, Tim, dass ich dich in letzter Zeit so strapazieren muss.«

»Nicht der Rede wert, Mrs. Bloom. Ich hab ja bald Urlaub.«

Er wollte gerade wieder in den Laden zurückgehen, als Emily plötzlich eine Idee hatte. »Tim! Du kennst doch so viele Leute … Hast du mal von jemandem gehört, der auf der Insel asiatische Wundermittel vertreibt? Du weißt schon, Tees, Salben und was es da sonst noch so gibt.«

Sie hatte nicht viel Hoffnung, schließlich war er jung und sportlich, er brauchte garantiert noch keine chinesischen Salben. Doch zu ihrer Überraschung grinste er.

»Witzig, dass Sie das fragen. Gerade heute Morgen hat mir Shaun von so einem Typen erzählt.«

»Welcher Shaun?«

»Na, Shaun Flair, mit dem ich mein Motorrad umgebaut habe! Der Neffe von Mrs. Flair.«

»Und der weiß, wer mit solchen Sachen handelt?«

»Ja – ist wohl so was wie ein Geheimtipp. Die Adresse hat er von seinem Onkel.«

»Von Alex Flair? – Was weißt du noch?«

Tim überlegte. »Shaun hatte gestern beim Windsurfen einen kleinen Unfall. Er wollte damit nicht zum Arzt gehen. Da hat er diesen Typen angerufen. Der vertreibt ein Mittel, mit dem Wunden nach zwei Tagen wieder verheilt sind. Aber weil es bei uns verboten ist, darf er es nur heimlich verkaufen. Deswegen soll man auch nicht groß drüber reden.«

»Hat Shaun dir zufällig gesagt, wie der Mann heißt?«

Tim schüttelte den Kopf.

»Nein … Aber Shaun kennt ihn wohl vom Windsurfen.« Plötzlich fiel ihm doch noch etwas ein. »Warten Sie … Einmal hat er den Vornamen erwähnt … Tony, glaube ich … Und dass er sich mit ihm am Hafen getroffen hat, weil die Sachen von einem Schiff kommen … Mrs. Bloom, bringen Sie Shaun bloß nicht in Schwierigkeiten!«

Emily bemühte sich, ruhig zu bleiben.

»Keine Angst, mich interessiert nur, was da so alles aus Asien zu uns kommt.«

»Ach so …«, meinte Tim erleichtert.

Im Laden klingelte die Türglocke.

»Ich gehe schon«, sagte Tim und ging hinaus. Durch die Tür konnte Emily hören, wie er den Kunden freundlich begrüßte. Sie war unendlich dankbar dafür, Tim bei sich haben zu dürfen.

Kaum war sie wieder allein, hämmerte intensiv der Name Tony durch ihr Gehirn.

Tony Kinross … Der Mann aus dem Hafen. Er hatte sie heute Morgen dreist belogen. Auch seiner Beziehung zu Oliver Farrow haftete etwas Rätselhaftes an. Konnte es sein, dass Tony Kinross der geheimnisvolle Lieferant mit dem Pick-up war?

Sie musste unbedingt mit Harold sprechen.

Doch auch diesmal versuchte sie vergeblich, ihn telefonisch zu erreichen. Die Einsatzbesprechung war immer noch nicht zu Ende. Sie beschloss, die Zeit zu nutzen und sich bis dahin selbst ein bisschen im Hafen umzuschauen. Das war sie Debbie und Constance schuldig.

Sie blickte auf die Uhr. Es war jetzt kurz vor fünf. Tony Kinross hatte davon gesprochen, dass er heute nicht mehr mit seinem Schiff hinausfahren würde, weil er einen freien Tag hatte. Auch die Hafenarbeiter hatten bald Feierabend. Das bedeutete, dass die Pier, wo der Kutter Harmony lag, ziemlich leer sein würde.

Mit einem Mal wich ihre Aufregung dem befriedigenden Gefühl, nach den Tagen der Ungewissheit endlich etwas Konkretes zu den Ermittlungen beitragen zu können.

Harold würde stolz auf sie sein.

Unruhig wartete Harold Conway während des ganzen Nachmittags – auch während der Sitzung im Polizeihauptquartier Rouge Bouillon – auf einen Anruf oder irgendein anderes Zeichen vom Bailiff. Doch nichts kam. Dabei hatte er in seinem Brandbrief ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Zeit drängte und dass es nicht zuletzt um das Leben von Constance Farrow ging. Er war enttäuscht.

In großer Runde, im Beisein aller Entscheidungsträger des Hauptquartiers, wurde die weitere Strategie bei der Suche nach Constance Farrow festgelegt. Es ging hoch her, weil jeder Spezialist einen anderen Ansatz vorschlug.

Jane Waterhouse glättete die Wogen so gut es ging, doch Conway hatte den Eindruck, als sei sie diesmal nervöser als sonst. Selbst als er darauf drängte, die Leiche von Debbies Kind exhumieren zu lassen, um die Gerichtsmedizin nach Spuren eines Verbrechens suchen zu lassen, wirkte sie seltsam fahrig und blickte ständig auf die Uhr. Aber immerhin half sie ihm, seinen Vorschlag durchzusetzen. Noch vom Sitzungszimmer aus wurde die Pathologie über die Entscheidung informiert.

Der Einzige, der fehlte, war Edgar MacDonald. Er stieß erst mit Verspätung zu ihnen, dafür brachte er aber auch entscheidende Neuigkeiten mit. Die Liste der Zulassungsstelle mit allen dunklen Pick-ups war endlich überprüft worden. Jeden einzelnen Fahrzeugbesitzer hatte man befragt. Und MacDonald hatte sogar aus jedem Wageninneren Fingerabdrücke und Faserproben entnommen. Leider passten keine der Abdrücke zu denen, die man vom Doppelmörder besaß.

Wieder ein Rückschlag.

MacDonald sah, dass seine Kollegen ein langes Gesicht machten. »Moment, Freunde! In einem Punkt ist die Messe noch lange nicht gelesen«, sagte er. »Unsere Befragungen mussten sehr schnell gehen, viel zu schnell. Kein Alibi konnte richtig überprüft werden. Auch wenn wir keine verräterischen Fingerabdrücke gefunden haben, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht weiterkommen. Ich würde eher sagen, jetzt geht es sogar erst richtig los!«

Jane Waterhouse nickte. »Das sehe ich genauso. Mich würde mal interessieren, was das für Leute sind, die einen Pick-up fahren.«

»Nun, wir waren selbst ziemlich überrascht«, antwortete MacDonald. »Es sind erheblich weniger Bauern, Fischer und Handwerker, als wir dachten, und viel mehr Privatleute, als man vermuten könnte. Unter den Fischern gibt es erstaunlicherweise sogar nur einen einzigen, der einen solchen Wagen fährt.« Er grinste. »Und das ist der alte Jeremias, mein Nachbar, mit seiner Rostlaube.«

»Jemand Bekanntes unter den Landwirten?«, fragte Conway.

MacDonald warf einen kurzen Blick auf seine Liste. »Im bäuerlichen Umfeld sind insgesamt fünf Pick-ups gemeldet. Vier davon gehören kleinen Nebenerwerbsbauern. Nur ein einziger Name fällt in diesem Zusammenhang auf.« Er schaute fast genüsslich in die Runde. »Seigneur Trevor de Sagan.«

»Ach, du Scheiße!«, murmelte Pommy Pomfield, ein bebrillter junger Mitarbeiter von Jane Waterhouse, der bis gestern mit einem anderen Fall befasst gewesen war. Strafend blickte seine Chefin ihn an. Betreten malte er Kringel auf sein Papier.

Sie wandte sich an MacDonald.

»Was sagt Mr. de Sagan zu dem Wagen?«

»Angeblich wird dieses Auto nur von seinem Jagdverwalter gefahren. Die Spuren im Wageninneren haben wir gesichert – negativ. Vorhandene Blutspuren auf der Ladefläche stammen laut de Sagan von der Jagd. Das prüfen wir gerade nach.«

»Was ist mit Alibis?«

»Trevor de Sagan selbst war bis vor ein paar Tagen auf den Bermudas, sein Jagdverwalter war in beiden Tatnächten mit Jagdgästen unterwegs. Aber der Wagen könnte natürlich jederzeit von anderen Mitarbeitern auf dem Landsitz gefahren worden sein. Wird auch gerade übergeprüft.«

»Gut. Sie halten uns bitte auf dem Laufenden …«