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Lord Damien sah sich in der großen Bibliothek um, in der sein Vater immer gesessen hatte.
Im Jahre 1700 hatte man mit ihrem Bau begonnen. Die Deckenbemalung stammte von Verrio. Auf halber Höhe des Raumes verlief ein Balkon, den man über eine Wendeltreppe erreichen konnte. Sein Geländer wie auch die Regale, die bis zur Decke gingen, und der große Schreibtisch waren aus Mahagoni.
Aber all das konnte Lord Damien nicht bewundern, weil er es überhaupt nicht sah. Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit. Er glaubte die Stimme seines Vaters zu hören.
„So geht das nicht weiter, Virgil. Man redet über dich, und du weißt so gut wie ich, daß die Marquise in dieser Grafschaft viel zu einflußreich und vor allem bekannt ist, um es sich leisten zu können, in einen Skandal verwickelt zu werden.“
Lord Damien hatte geschwiegen. Er hatte nichts dazu zu sagen gehabt.
„Du wirst sie nicht mehr sehen“, hatte sein Vater erklärt. „Das ist ein Befehl. Hast du verstanden? Wenn du dich nicht daran hältst, schicke ich dich weg.“
Lord Damien hatte gewußt, daß sein Vater keine leeren Drohungen machte. Und genau in diesem Augenblick hatte er gewußt, was er tun mußte und daß niemand ihn davon abhalten konnte.
Auf seiner Rückreise war es ihm klar geworden, daß alles, was er sah, Erinnerungen wachrufen würde, die überaus schmerzlich waren.
Aber er hatte plötzlich beschlossen, nicht mehr im Ausland zu leben, und hatte in Paris unter Protestgeschrei eine Party verlassen, als diese in vollem Gange war.
Angefangen hatte alles mit einer lächerlichen Bemerkung, die er in den falschen Hals bekommen hatte, weil er miserabler Laune gewesen war.
Er hatte es dem Gesichtsausdruck des Mannes angesehen, mit dem er sich in ein Streitgespräch eingelassen hatte. Noch ein weiteres Wort, und er hatte das nächste Duell auszufechten.
Nach seinem ersten Duell waren unzählige gefolgt, und jedesmal hatte er Todesqualen erlitten.
Wie erwartet war Barons’ Hall voller Erinnerungen an seinen Vater, der ihn herumkommandierte, als sei er ein Kind, das noch nicht alt genug war, um auch nur das geringste zu verstehen, an seine Mutter, an sich selbst.
Dazu kam, daß der Park, der Wald, der Blumenduft, daß ihn alles an Phenice erinnerte.
Gerechter Himmel, welch ein Narr er gewesen war, so leichtgläubig und idealistisch. Aber woher hätte er wissen sollen, daß das Ideal, das er anbetete, Lehm an den Fersen kleben hatte?
Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie er sie zum erstenmal gesehen hatte.
„Ich möchte, daß du mich heute nachmittag begleitest“, hatte sein Vater eben in diesem Raum zu ihm gesagt. „Ich werde der neuen Marquise von Lynmouth meine Aufwartung machen und wünsche, daß du dabei bist. Der Marquis ist einer meiner ältesten Freunde, und es ist geradezu sträflich, daß ich seine Frau noch nicht kennengelernt habe, obwohl er nun schon seit drei Monaten mit ihr verheiratet ist.“
„Aber warum muß ich denn mitkommen?“ fragte Virgil.
Er hatte zum Angeln gehen wollen, und nun sollte er sich statt dessen in steife Kleider zwängen und in einer geschlossenen Kutsche über Land fahren. Ein gräßlicher Gedanke …
„Aus Höflichkeit“, erklärte sein Vater. „Wir brauchen ja nicht lange zu bleiben.“
Wenn seine Mutter damals noch am Leben gewesen wäre, hätte sie natürlich seinen Vater begleitet, aber so mußte er es tun. Und da er wußte, daß weitere Proteste sinnlos waren, ging er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in sein Zimmer hinauf und zog sich um.
Der Besitz des Marquis grenzte an den seines Vaters, und es gab Abkürzungen, wie er später herausfinden sollte, die die Entfernung zwischen den beiden benachbarten Häusern erheblich verringerten.
Doch an diesem Nachmittag waren sie über die zwei Meilen lange Wageneinfahrt von Barons' Hall gefahren. Danach durch das Dorf und dann über die noch längere Wageneinfahrt von Lynmouth House.
Von einem Architekten entworfen, der offenbar mehr Wert auf Maßlosigkeit als auf Stilbewußtsein gelegt hatte, war das Haus unbeschreiblich häßlich. Bei seinem Anblick konnte sich Virgil nicht erwehren, einen Vergleich zwischen dem Haus und seinem Besitzer anzustellen – würdevoll, aber ohne jeglichen Charme.
Der Marquis war verwitwet gewesen. Als Sprecher im Hause of Lords und politische Kapazität wurde er, vor allem in Regierungskreisen, sehr geschätzt und respektiert.
Bei einem Besuch in Paris, wo er den Außenminister vertreten hatte, war er seiner jetzigen Frau begegnet.
All das interessierte Virgil nicht sonderlich.
Er hatte gewußt, daß der Marquis ein gutes Stück älter war als sein Vater, und war überzeugt davon, daß auch seine neue Frau nicht in der Lage sein werde, das Leben hier auf dem Lande, das er mittlerweile recht eintönig fand, interessanter zu machen.
Wohl hatte sich Virgil zu jenem Zeitpunkt nur in Oxford gefühlt, im Kreis seiner Kommilitonen.
Als Mitglied des Bullingdon Clubs, in dem Trinkgelage und Jagdrennen groß geschrieben wurden, war Virgil bereits in eine Anzahl von Streichen verwickelt gewesen, die von der Universität scharf kritisiert und von den Studenten als ‚toll empfunden worden waren.
Als hochintelligenter junger Mann hatte Virgil jedoch die Tatsache nicht übersehen, daß sich jeder glücklich schätzen konnte, der an dieser einmaligen Universität studieren durfte. Was man in Oxford geboten bekam, konnte von keiner anderen Universität der Welt übertroffen werden.
Die Intelligenz hatte Virgil wahrscheinlich von seinen Vorfahren väterlicherseits geerbt, wobei seine poetische Ader, die in merkwürdigem Gegensatz zu seiner Sportlichkeit stand, eindeutig von der Seite seiner Mutter stammte.
Virgils Mutter war eine sehr zartfühlende, liebenswürdige und phantasiebegabte Frau gewesen, die irischer Abstammung war.
Lady Damien war sehr jung gestorben. Ihr einziger Sohn Virgil war damals erst fünf Jahre alt gewesen.
Als Kind und Jüngling hatte sich Virgil der Gefühle, die Musik und Dichtung in ihm erweckten, immer ein wenig geschämt. Erst in Oxford, wo er verwandte Seelen getroffen hatte, konnte er sich ihnen voll Genuß hingeben.
Mit seinen sehr musisch veranlagten Freunden hatte er Gedanken und Theorien ausgetauscht und schon nach kurzer Zeit feststellen müssen, daß sie auf ihrem jeweiligen Gebiet ebenso kundig waren wie seine anderen Freunde, die sich auf Pferde und – wie hätte es anders sein können – auf Frauen konzentrierten.
Die Räume von Lynmouth House waren ebenso düster wie sein Äußeres. Schwere, dunkle Möbelstücke vor dunkler Holzvertäfelung, alles farblos und stumpf, alles ohne Licht und Sonnenschein …
Der Marquis begrüßte sie herzlich. Er hatte seinen Freund Lord Damien schon immer sehr geschätzt, und Virgil kannte er von klein auf.
„Ich wollte Ihnen eben schreiben und Sie zu uns zum Diner bitten“, sagte er zu Virgils Vater. „Nach unserer Rückkehr nach England war meine Frau sehr erschöpft, und wir hatten daher bisher kaum Gäste. Es war ihr nicht danach zumute.“
„Was einzig und allein an den Gästen lag“, bemerkte jemand von der Tür her, und die Marquise betrat den Salon.
Virgil war so erstaunt, daß er sie nur anstarren konnte. Seine guten Manieren waren wie weggewischt, er vergaß alles und wußte nur noch, daß er nie eine schönere und ungewöhnlichere Frau gesehen hatte.
Über ihre Nationalität hatte er nie Genaueres erfahren, nicht einmal, als er mit ihr zusammengelebt hatte. Aufgrund ihrer Ehe mit dem Comte de Castigone, der in einem Duell getötet worden war, besaß sie einen französischen Paß.
Wie gut Virgil in den späteren Jahren diese Duelle und die damit verbundene Gefahr kennenlernen sollte …
Was vor der Ehe mit dem französischen Adeligen geschehen war, blieb im dunkeln. Phenice hatte voll Liebe von ihrer griechischen Mutter gesprochen, aber Virgil hatte irgendwann den Verdacht geschöpft, daß in der langen Linie von Vorfahren maurisches Blut nicht fehlte. Ihr Großvater und ihr Urgroßvater hatten offensichtlich einflußreiche Posten im französischen Algerien innegehabt.
Wie dem auch sei, diese wunderschöne Gestalt mit dem schlanken, geschmeidigen Körper konnte man nur bewundern und anbeten.
Die großen schwarzen Augen schienen das ganze Gesicht zu beherrschen. Und als Virgil in diese Augen blickte, wußte er, daß er verloren war. Verloren wie ein Taucher, der dem Meeresgrund zustrebt, obwohl er weiß, daß er nicht mehr an die Oberfläche zurückkehren kann.
Er war unfähig, ein Wort zu sagen.
Die Marquise wandte sich daraufhin an ihren Mann.
„Warum hast du mir nie erzählt, daß Apoll nebenan wohnt?“ fragte sie. „Du weißt doch, wie groß mein Heimweh nach Griechenland ist. In meiner Verzweiflung tröste ich mich bereits mit den Gedichten von Lord Byron.“
„Lieben – lieben Sie Byron?“ stotterte Virgil.
„Natürlich liebe ich Byron“, erwiderte die Marquise mit sanfter Stimme. „Wir müssen seine Gedichte zusammen lesen.“
Und danach hatte es nur noch Phenice, Phenice, Phenice gegeben.
Wenn sie nicht auf ihn zugekommen wäre, Virgil hätte es nie gewagt. Doch bereits am Tag darauf hatte sie eine formelle Einladung zum Diner gebracht.
Daß sie persönlich kam, war sowohl außergewöhnlich als auch unnötig, denn die Verabredung war bereits getroffen worden, ehe Virgil und sein Vater nach dem ‚Anstandsbesuch’ nach Barons' Hall zurückgefahren waren. Es hätte demnach völlig genügt, wenn ein Diener die schriftliche Einladung abgegeben hätte.
Aber Phenice kam persönlich, in großer Toilette.
Virgil war zufällig allein in der Bibliothek. Sein Vater hatte den Raum einen Augenblick vorher durch eine der großen Glastüren verlassen, um mit einem Gärtner zu sprechen.
Nach dem Tode von Virgils Mutter waren die Salons nicht mehr benutzt worden, und als ein Diener in die Bibliothek kam und die Marquise von Lynmouth abmeldete, sprang Virgil auf und glaubte, sich verhört zu haben.
Doch da kam sie plötzlich auf ihn zu und sah ihm tief in die Augen.
„Sie lesen?“ fragte sie. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“
„Nein, nein! Aber natürlich nicht. Ich – ich bin hocherfreut. Würden Sie bitte Platz nehmen? Mein Vater muß jeden Moment kommen.“
„Er soll sich ruhig Zeit lassen.“
Ihre Stimme – sie hatte damit schon viel erfahrenere Männer verführt als einen Studenten aus Oxford klang sehr einschmeichelnd.
„Ich fange jetzt erst langsam an zu begreifen, wie schön England zu dieser Jahreszeit ist.“ Sie lächelte.
„Kannten Sie England vorher nicht?“
„Nur London, aber jetzt merke ich, daß es so viel zu entdecken, zu erkunden gibt.“
„Würden Sie – würden Sie es mir gestatten, Ihnen den See zu zeigen, die Wälder und den Park?“
Er überlegte krampfhaft, was er sonst noch an Sehenswürdigkeiten anbieten könnte.
Sie hielt seinen Blick gefangen.
„Würden Sie das tun? Glauben Sie nicht, daß es Sie langweilen und zu viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen würde?“
Nichts, wirklich rein gar nichts interessierte ihn mehr. Er wollte nur noch mit dieser wundervollen Frau Zusammensein, mit ihr sprechen und mit ihr Spazierengehen.
Sie trafen sich täglich.
Er hatte Sommerferien, das Wetter war heiß und trocken, und der Marquis war mit einer Landwirtschaftsausstellung in der Grafschaft und politischen Pflichten beschäftigt. Er verbrachte fast mehr Zeit in London als auf dem Lande.
„Sie sind ja so lieb zu mir“, sagte Phenice eines Nachmittags zu Virgil. „Ohne Sie wäre ich einsam und unglücklich, eine Fremde in einem fremden Land.“
„Für mich ist es eine Ehre, mit Ihnen Zusammensein zu dürfen.“
Es war unvermeidlich, daß ihre Schönheit und ihr Charme die poetische Seite seines Wesens anregten.
Sie war für ihn zu Aphrodite geworden, zu Helena, zu Cleopatra und zu allen Frauen, die Lord Byron in seinen Gedichten und Sonetten besungen hatte.
Phenice hatte seine Welt verzaubert, sie hatte sie mit überirdischer Musik erfüllt und seine Träume beherrscht.
Er wollte ihr zu Füßen liegen, große Taten vollbringen, sie retten und beschützen. Er hätte sein Leben für sie gelassen.
Und so, wie er nie auf die Idee gekommen wäre, über etwas zu lachen, was ihm heilig war, so wäre er nicht auf die Idee gekommen, sie zu berühren, geschweige denn zu küssen.
Sie war kein menschliches Wesen für ihn, sondern eine Göttin. Er hatte sie auf ein Podest erhoben und betete sie an.
Als sie in der Stille des Waldes zum erstenmal ihre Hand in die seine legte, konnte er kaum akzeptieren, daß er sich der Gefühle, die ihn durchströmten, dieser aufregenden und wundervollen Gefühle, nicht schämen mußte.
Und in einer mondhellen Nacht – sie hatten die anderen Gäste ihrem Bridgespiel überlassen und waren in den Park hinausgewandert – erfuhr er, daß sie ganz Frau war.
Später hatte er nicht mehr gewußt, ob er die Arme um sie gelegt oder sie ihn an sich gezogen hatte.
Ihr Kopf war auf seine Schulter zurückgefallen, und ihre Lippen hatten so einladend gelächelt.
Während des langen, langen Kusses war ihm alles so unwirklich vorgekommen. Er hatte das Gefühl gehabt, eine Göttin habe den Olymp verlassen und sei zu ihm auf die Erde herabgeschwebt.
Nicht wirklich geliebt, sondern angebetet hatte er sie, und erst sehr viel später hatte er begriffen, daß sie ihn umgarnt, hypnotisiert und verführt hatte.
Nur ein einziges Thema hatte es für sie gegeben – ihre Einsamkeit, ihr unglückliches Dasein, die schlechte Ehe, die sie führte.
Phenice war nicht einmal davor zurückgeschreckt, ihm zu erzählen, wie leicht der Marquis sich habe von ihr einfangen lassen und daß sie ihn lediglich wegen seines Vermögens und seiner gesellschaftlichen Stellung geheiratet hatte.
Es war typisch für Phenice oder vielleicht auch für die widersprüchliche Mischung ihres Blutes, daß etwas, was sie endlich besaß, an Wert verlor.
Sie hatte geglaubt, als englische Marquise, als Mitglied des Hochadels alles erreicht zu haben, was sie vom Leben verlangte.
Ihre Freundinnen in Paris waren blaß vor Neid gewesen, aber Paris war weit weg, und Phenice hatte sich noch nie sonderlich dafür interessiert, was andere Frauen dachten und wie sie reagierten.
Männer waren ihre ganze Welt. Männer, die ihr nicht mehr entweichen konnten, wenn sie erst einmal einen Blick auf sie geworfen hatten. Männer, die sie dazu benutzte, sich selbst zu spüren.
„Nimm mich in die Arme, Virgil“, pflegte sie zu sagen. „Ich will mich spüren. Spüren – ehe ich zu alt bin und nur noch die Langeweile kenne.“
Während der Weihnachtsferien war Virgil der Liebhaber dieser seltsamen Frau geworden.
Ein Diener hatte eine Einladung zu einem Diner in Lynmouth House abgegeben. Natürlich war auch Virgils Vater eingeladen, aber dieser war seit über zwei Wochen gezwungen, das Bett zu hüten.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich allein hingehe, Vater?“ fragte Virgil.
„Überhaupt nicht, mein Junge“, antwortete der kranke Lord Damien, „fahr du nur hin und amüsiere dich gut. Und richte doch dem Marquis bitte aus, daß er mich bald einmal besuchen soll. Ich würde mich gern mit ihm über den Grenzzaun unterhalten.“
„Ich werde es ihm sagen, Vater.“
Virgil versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, daß er es kaum erwarten konnte, die Marquise wiederzusehen.
Während des ersten Trimesters nach den Sommerferien war Virgil völlig unkonzentriert gewesen. Er war immer wieder darauf angesprochen und gefragt worden, wie es denn möglich sei, daß er alle Begeisterung für sein Studium verloren zu haben schien.
Er hatte natürlich nicht antworten können, daß die Buchstaben in den Büchern vor seinen Augen verschwammen und er nur das Gesicht einer wundervollen Frau und deren tiefschwarze Augen sah.
Tagsüber hatte er an sie gedacht, und nachts hatte er von ihr geträumt.
Er hatte ihr geschrieben und seine Ankunft in Barons’ Hall angekündigt. Es war ein höflicher, förmlicher Brief gewesen, etwas steif sogar, aber Virgil hatte ja damit rechnen müssen, daß Phenices Mann ihn las.
Virgil hatte damals noch wenig Ahnung gehabt, wie Mann und Frau miteinander verkehrten.
Er hatte lediglich gewußt, daß seine Mutter seinen Vater glühend geliebt hatte und seine Eltern sehr glücklich zusammengewesen waren. Aber wie hätte er Phenice mit seiner Mutter oder irgendeiner Frau seiner Bekanntschaft vergleichen können?
„Was ist nur mit dir los, Virgil?“ hatten seine Freunde in Oxford immer wieder gefragt. „Kommst du wenigstens auf die Party, zu der wir die Ballettmädchen vom Theater eingeladen haben?“
Virgil war hingegangen, hatte sich aber nicht amüsiert. Seine Gedanken waren woanders gewesen, und seine Freunde hatten ihn schließlich beschuldigt, ihnen mit seiner schlechten Laune allen Spaß zu verderben.
Sind diese leeren Kreaturen, hatte sich Virgil gefragt, mit ihren bemalten Gesichtern und ihren kecken Blicken wirklich Frauen?
Er hatte ihren Anblick als Beleidigung empfunden, denn er hatte geglaubt, daß sie den Begriff ‚Frau’ beschmutzten.
Virgil hatte natürlich erwartet, mehrere Gäste in Lynmouth House vorzufinden. Als er jedoch einem Diener Hut und Mantel gegeben hatte, wurde er zu seinem größten Erstaunen in den ersten Stock hinaufgeführt.
„Lady Lynmouth ist in ihrem Boudoir“, erklärte der Butler.
Mit wild klopfendem Herzen folgte Virgil dem Butler durch einen Gang. Er wurde in einen Raum gebeten, der nach einem merkwürdig schweren, süßlichen Parfüm roch.
Und da lag sie, hingegossen auf einer Chaiselongue, in einem Neglig6, das ihre fabelhafte Figur kaum zu verhüllen vermochte.
Sie hielt ihm die Hand entgegen.
Er wollte sich neben sie knien und ihr sagen, wie sehr er sie vermißt, wie sehr er sich nach ihr gesehnt, wie sehr sie seine Gedanken erfüllt hatte.
Doch erst das Diner.
Es hatte nichts mit einer der wohlzubereiteten, aber langweiligen Mahlzeiten zu tun, die man in Lynmouth House einzunehmen pflegte. Aber in Phenices Beisein wurde jede Speise zu Ambrosia, jeder Wein zu Nektar.
Virgil brachte trotzdem kaum einen Bissen hinunter, doch sein Glas wurde immer wieder gefüllt.
Und dann zogen sich die Bediensteten endlich zurück.
„Phenice!“ Es war wie der Schrei eines Ertrinkenden.
Und dann lag sie in seinen Armen, und er küßte sie drängend und leidenschaftlich.
Später wußte er nicht mehr, wie sie vom Boudoir in das Schlafzimmer mit dem breiten Bett und den parfümierten, Seidenen Laken gekommen waren.
Er sah nur noch Phenices Schönheit im Schein des Kaminfeuers. Eines Feuers, das nicht nur den Raum erwärmte, sondern in ihm brannte, bis sein ganzer Körper zum Vulkan wurde, der jeden Gedanken zerstörte.
Und Phenice wollte er spüren und spüren.
Halb zum Wahnsinn hatte sie ihn getrieben. Während seine Zunge schwer gewesen war, hatte sich sein Körper in den Rhythmus ihres Körpers eingefunden, in den Hunger ihrer Lippen und die anstachelnde Leidenschaft ihrer Worte.
„Phenice! Phenice!“
Die Nacht hatte ihren Namen wiederholt, die Wagenräder hatten ihn aufgenommen und an die Pferdehufe weitergegeben.
Die Fahrt zurück nach Barons1 Hall war wie eine Ode an Phenice gewesen.
Und am nächsten Morgen hatte er es kaum glauben können. Hatte sich diese vollkommene, diese geheiligte Frau wirklich ihm hingegeben?
Er war auf die Knie gesunken und hatte Gott gedankt, daß er dieses Wunder hatte erleben dürfen.
Danach ergaben sich nur wenige Gelegenheiten. Der Marquis war zurückgekehrt, zu Spaziergängen im Wald war es zu kalt, um so mehr, als Pehnice die Kälte haßte.
Die wenigen Male, die sie sich allein sehen konnten, waren, weil emotionell unerfüllt, von unaussprechlicher Spannung geladen.
Und so machte Phenice schließlich den Vorschlag, zusammen zu fliehen.
Virgil begriff kaum, was Phenice da ausgesprochen hatte. Er hätte nie auch nur zu träumen gewagt, daß diese wundervolle Frau ihm allein gehören sollte.
Er hatte sie nur verehren und anbeten wollen, hatte ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen und keinerlei Rechte für sich in Anspruch nehmen wollen.
„Aber – aber das können wir doch nicht tun“, stammelte er.
„Aber ich will dich“, entgegnete Phenice. „Ich will mit dir zusammen sein. Ich hasse dieses Haus, ich hasse die Kälte, und ich hasse – ja, ich hasse meinen Mann.“
Es war ausgesprochen, und Virgil war entsetzt, weil es ausgesprochen war.
Phenice haßte ihren Mann, den Mann, dessen Namen sie trug.
Virgil war so auf seine Anbetung, auf seine Verehrung konzentriert gewesen, daß er nicht einmal auf den Gedanken gekommen war, auf den Mann eifersüchtig zu sein, mit dem Phenice verheiratet war.
„Ich glaube, Edward hat Verdacht geschöpft“, erklärte sie. „Man wird uns verbieten, uns zu sehen, und das kann ich nicht ertragen.“
„Aber wir können doch nicht einfach weglaufen. Wohin sollen wir denn gehen?“
Sie breitete beide Arme aus.
„Die Welt gehört uns. Denk nur an Venedig, ich in deinen Armen auf dem Canale Grande! Zusammensein unter der strahlenden Sonne Roms! Über das Mittelmeer zu fahren! Warum eigentlich nicht? Immer von der Sonne begleitet.“
„Aber wir können doch nicht einfach alles hinter uns lassen. Du kannst doch den Marquis und deine Position, deine gesellschaftliche Stellung nicht einfach aufgeben.“
„Meine gesellschaftliche Stellung!“ hatte Phenice abfällig wiederholt. „Woraus besteht sie denn, diese gesellschaftliche Stellung? Aus Unterhaltungen mit stumpfsinnigen und altmodischen Männern und Frauen. Mit dir will ich Zusammensein, Virgil. Mit dir zusammen spüre ich mich, wie ich mich noch nie in meinem Leben gespürt habe. Ich sehne mich nach dem Feuer, das du in mir entfachst.“
Sie erschauerte.
„Wie finster und kalt hier in England alles ist! Ich will weg von hier! Bring mich weg, Virgil, bitte, bring mich weg!“
Er war völlig verwirrt und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, einen Plan zu schmieden.
Er wollte ihr natürlich gefällig sein und ihr den Wunsch erfüllen, aber wie? Wie?
Und genau an diesem Tag, als er nach Hause gekommen war, hatte sein Vater ihm gesagt, daß er sie nicht mehr sehen durfte.
Jetzt blickte sich Virgil in der Bibliothek um.
Warum hatte er nicht auf seinen Vater gehört? Warum hatte er nicht begriffen, daß sein Vater nur sein Bestes gewollt und seinen gesunden Menschenverstand angesprochen hatte?
Aber er war zu dumm und zu verbohrt gewesen und hatte nichts verstanden.
Plötzlich hielt er es in der Bibliothek nicht mehr aus. Er löschte die Lichter und stieg die Treppe hinauf, um sich in seinem Zimmer zu vergraben.
Als Mrs. Hansell ihm bei seiner Ankunft das Schlafzimmer hergerichtet hatte, in dem schon seit Generationen der Besitzer und Herr von Barons1 Hall schlief, hatte er nicht zu protestieren gewagt.
Hätte er die Dienstboten vor den Kopf stoßen sollen? Woher sollten sie wissen, wie sehr ihn das schlechte Gewissen seinem Vater gegenüber verfolgte und daß er aus diesem Grund viel darum gegeben hätte, nicht auch noch das Zimmer bewohnen zu müssen, in dem dieser gestorben war?
Als er es jetzt betrat, flackerte ein Feuer im Kamin, und Dawkins, sein Kammerdiener, stand daneben und wartete geduldig auf die Anweisungen Seiner Lordschaft.
„Warum haben Sie denn Feuer gemacht, Dawkins?“ fragte Lord Damien erstaunt.
„Weil draußen ein beißender Wind weht, Mylord“, antwortete der Diener. „Diese Maiwinde können sehr trügerisch sein, vor allem, wenn man nicht an dieses Klima gewöhnt ist.“
Nicht daran gewöhnt, dachte Lord Damien. Das stimmt. Wer zu lange in warmen Ländern gelebt hat, ist verweichlicht.
Er hatte alles getan, um bei guter Kondition zu bleiben. Stundenlang geritten war er, bis zu seiner Erschöpfung und der des jeweiligen Pferdes. Geschwommen war er, um seine Muskeln zu stärken, gewandert und in die Berge gestiegen.
Dawkins hatte recht. Er spürte die Kälte mehr als früher. Die Sonne hatte trotz aller Bemühungen einen Teil seiner Widerstandskraft geraubt.
Er zog sich wortlos aus, ging zum Fenster und machte es auf.
Ein unfreundlicher Wind schlug ihm entgegen. Er hüstelte.
„Mylord, das sollten Sie nun wirklich nicht tun“, tadelte der Kammerdiener hinter ihm. „Sie wissen doch, was der Arzt gesagt hat, als Sie im Winter so krank waren, damals in Neapel.“
Nicht wegen des Klimas war er in jenem Winter in Neapel so krank gewesen, sondern weil er wegen Phenice ein Duell ausgefochten hatte und sein Gegner ein besserer Schütze gewesen war als er.
Dawkins zog sich zurück.
Und Lord Damien lag in dem großen Bett mit den vier geschnitzten und vergoldeten Pfosten, die Palmen darstellten – was er früher immer höchst romantisch gefunden hatte.
Diese Form von Romantik war ihm inzwischen gründlich vergangen. Er haßte Palmen, er haßte die kahlen Stämme, an denen die Eingeborenen wie Affen hochkletterten.
Jetzt sehnte er sich nach dem Anblick von jahrhundertealten Eichen, nach Ahornbäumen, nach Fichten und Buchen, nach Mischwäldern, nach allem, was nicht an tropisches Klima erinnerte.
Das Kaminfeuer warf bizarre Schatten an die Decke, und die Schatten wurden zu Bildern.
Er sah den Palazzo, den sie in Venedig bewohnt hatten.
Er hatte geglaubt, des Blicks aus den alten Fenstern auf den Canale Grande nie müde zu werden. Alles war so schön, so romantisch gewesen. Was hatte er in Buchläden gewühlt und nach Gedichtbänden gesucht! Und wie oft hatte er Phenice daraus vorgelesen, und sie hatte nie zugehört.
„Verschwende deine Zeit nicht mit Poesie, Virgil, küsse mich lieber. Sag mir, daß du mich liebst.“
Wie sehr ihn der leidenschaftliche Unterton ihrer Stimme erregt hatte, und wie sehr ihm diese Stimme später auf die Nerven gegangen war …
„Ich langweile mich, Virgil. Laß uns von hier weggehen.“
„Virgil, lade Leute ein – ich langweile mich allein.“
„Virgil, mach, daß ich mich spüre. Mich zu spüren ist das einzige, wofür ich lebe.“
Und es war die Wahrheit. Die nackte Wahrheit. Phenice lebte lediglich für die Gefühle, die nicht nur er, sondern auch andere Männer in ihr erweckten.
Als er zum erstenmal gemerkt hatte, daß er betrogen worden war, hatte er den Nebenbuhler gefordert und niedergeschossen.
Erst, als er das Blut über die schneeweiße Hemdbrust hatte fließen sehen, war ihm klar geworden, daß er einen Menschen getötet hatte.
Er war verzweifelt gewesen, und Phenice hatte geweint, gebettelt und gefleht.
„Ich wollte es nicht tun, es ist einfach – passiert. O Virgil, es ist deine Schuld. Du zwingst mich nicht, dich zu lieben. Du läßt mich nicht mehr mich selbst spüren wie früher.“
Und das hatte sich pausenlos wiederholt. Es hatte immer andere Männer gegeben, andere Betrügereien, anderes Mißtrauen, das an ihm fraß.
Am schlimmsten war es gewesen, als der Verdacht zur Gewißheit geworden war und der degradierende Prozeß des Nichtwissenwollens, des Ignorierens eingesetzt hatte.
Sechs Jahre hatten sie zusammengelebt, und in diesen sechs langen Jahren war Virgil, wie er später dachte, vom idealistischen, ahnungslosen, törichten Jüngling zu einem zynischen, verbitterten alten Mann geworden.
Nach sechs Jahren mit Phenice hatte es nichts mehr gegeben, was er über Frauen nicht gewußt hätte. Nichts, was sie ihm nicht beigebracht hatte. Nichts, was sie nicht besudelt, entwertet und heruntergezogen hatte.
Als sie ihn verlassen hatte, haßte er sich, weil er vor sich nicht zugegeben hatte, daß er heilfroh war.
Sie war nicht weggelaufen, sondern hatte ihm kaltblütig mitgeteilt, daß sie zu einem Mann ziehe, den er schon seit Monaten für ihren Liebhaber hielt.
Er war Ägypter, unbeschreiblich reich, leidenschaftlich, gebieterisch und brutal. Danach hatte sich Phenice mittlerweile gesehnt. Nach Brutalität.
Und er hatte ihr nur Zärtlichkeit entgegengebracht.
Einmal – sie hatte ihn mit ihrer herausfordernden Art anderer Männern gegenüber zur Raserei gebracht – hatte er sie geschlagen.
Er hatte sich noch im selben Augenblick geschämt, wie nie zuvor in seinem Leben.
Erst als er neben der Couch, auf der sie mit hochrotem Gesicht lag, auf die Knie gesunken war und sich entschuldigt und sie angefleht hatte, ihm zu verzeihen, hatte er voll Entsetzen gemerkt, daß sie die Prügel genossen hatte.
Sie war ein Mensch, der von seinem Partner unterjocht werden wollte, und dazu war er nicht in der Lage gewesen. Allein schon sein Charakter, von seiner Erziehung ganz zu schweigen, verbot es ihm, eine Frau wie eine Leibeigene zu behandeln.
Phenice jedoch hatte einen Mann haben wollen, der herzlos, grausam und brutal war und dem sie sich völlig unterwerfen konnte.
Virgil hatte sie eines Tages dabei angetroffen, wie sie ihre beiden Kammerzofen beim Kofferpacken überwachte. Er hatte die beiden Mädchen hinausgeschickt und eine Erklärung von Phenice verlangt.
„Du hättest sie nicht hinauszuschicken brauchen, sie wissen, daß ich zu Salin ziehe.“
„Glaubst du, daß du mit ihm glücklich wirst?“
Phenice zuckte mit den Schultern.
„So glücklich wie mit jedem“, antwortete sie. „Er ist wahnsinnig reich, und ich werde alles haben, solange ich mit ihm zusammen bin.“
„Habe ich dir nicht alles gegeben, was du wolltest?“
Virgil hatte von seiner Mutter ein stattliches Vermögen geerbt und war daher nie in finanziellen Schwierigkeiten gewesen. Auch war es ihm dadurch erspart geblieben, daß ihm der Vater als Druckmittel den Wechsel gesperrt hatte, wie sonst üblich.
„Geld und Schmuck interessieren mich nicht“, entgegnete Phenice lächelnd.
„Ich weiß, was du wirklich willst, Phenice, und ich gebe gern zu, daß ich nicht der Mann bin, der es dir gibt.“
„Du bist zu englisch, um es zu verstehen“, sagte Phenice. „Wenn ich dich jetzt nicht verlasse, bin ich zu alt. Zu alt, um noch einmal zu wechseln.“
Ausnahmsweise hatte sie einmal die Wahrheit gesagt.
In den sechs Jahren Zusammenleben mit Phenice hatte er unter anderem erfahren, daß sie mit ihrem Alter so freimütig gelogen hatte wie mit anderen Dingen.
Scheu wie ein junges Mädchen hatte sie ihm gestanden, sechsundzwanzig zu sein. Sie war mindestens sechs Jahre älter.
Als sie ihn verlassen hatte, war sie achtunddreißig gewesen, und der Gedanke an ihr Alter hatte sie jedesmal überfallen, wenn sie in den Spiegel gesehen hatte.
Und sie hatte pausenlos in den Spiegel gesehen. Sie hatte jedes Fältchen gezählt und jedes graue Haar ausgerissen.
Sie hatte jedes Hilfsmittel benutzt, hatte jedes Sälbchen gekauft, das auf den Markt gekommen war, und sich von Quacksalbern Jugendelexiere für ein Sündgeld pro Flasche auf schwätzen lassen.
Dies war der Drachen, den zu töten sie von ihm verlangte, aber nicht einmal seine Leidenschaftlichkeit und seine Liebe hatten ihr genügt, um die Zeit manchmal ein wenig anzuhalten.
Der Ägypter war knapp fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Auch er würde das in Erfahrung bringen, hatte Virgil gedacht, was er hatte in Erfahrung bringen müssen.
Nach seiner Leidenschaft und seiner Jugend hatte es Phenice verlangt, weil sie ihr die Illusion vermitteln sollte, selbst noch einmal jung zu sein.
Als sie endlich fortgegangen und nur ihr schweres, süßliches Parfüm zurückgeblieben war, fühlte sich Virgil nicht nur erleichtert, sondern vereinsamt.
Der Palazzo, nicht derselbe, in den sie vor sechs Jahren eingezogen waren, sondern ein eleganterer, viel kostspieligerer, war erschreckend leer und still.
Ihre Stimme verfolgte ihn.
„Virgil – ich langweile mich.“
„Virgil – lade Freunde zum Essen ein. Viele Freunde.“
„Virgil – ich will Menschen um mich haben, Musik, Gelächter, Stimmen!“
Und immer wieder: „Virgil – nimm mich in die Arme! Ich will mich spüren! Entfache das Feuer in mir! Ich habe Angst, Angst, mich nicht mehr zu spüren!“
Nun hatte er Partys gegeben, laute, betrunkene Partys, die die Einsamkeit hatten verscheuchen sollen, sie aber nur noch spürbarer gemacht hatten.
Und dann hatte die Zeit begonnen, wo ihn die Erinnerungen an Barons’ Hall heimgesucht hatten.
Statt des schrillen, beschwipsten Gelächters seiner sogenannten Freunde hatte er das Gurren der Wildtauben im Wald gehört, das Schreien der Krähen auf den abgeernteten Feldern, das Röhren der Hirsche im Park und das Wiehern der Pferde in den Stallungen.
Seit er von zu Hause weggegangen war, hatte er zweimal an seinen Vater geschrieben, aber beide Male keine Antwort erhalten.
Von englischen Freunden, die er in Rom und Paris getroffen hatte, wußte er jedoch, welchen Skandal er heraufbeschworen und wie fabelhaft sich der Marquis verhalten hatte.
Er hatte es schließlich in Venedig nicht mehr ausgehalten und sich auf eine Weltreise gemacht. Einmal rund um den Erdball zu fahren, davon hatte er schon immer geträumt, und jetzt hatte er diesen Traum verwirklichen und suchen wollen, was er verloren hatte.
Er hatte es nicht gefunden, aber Erfahrungen gesammelt.
Er hatte viel Unbequemlichkeiten in Kauf genommen, um seine Seele an der atemberaubenden Schönheit des Orients zu erfreuen. Doch sein Herz war oft schwer gewesen, denn die maßlose Armut, die Primitivität und die Grausamkeit dieser Länder hatten ihn sehr belastet.
Er hatte in alten Schiffen Meere überquert, hatte bisher unüberwundene Gebirgszüge bewältigt und sich Gefahren ausgesetzt, die ihn mehrmals fast das Leben gekostet hätten. Doch er hatte sich diese Prüfungen einfach abfordern müssen, weil er die Jahre untätigen Lebens von sich hatte abstreifen wollen.
Doch es war unvermeidlich gewesen. Immer wieder war er Frauen begegnet, und ihretwegen war er bald wieder in den alten Trott verfallen.
Venedig, Rom, Neapel, Paris … Frauen, immer wieder Frauen … Frauen, die ihm die Illusion der Liebe schenkten, die er mit Phenice gekannt und die Phenice getötet hatte …
Langsam und quälend getötet, bis nur noch Wunden an Herz, Seele und Geist zurückgeblieben waren, die nie heilen würden …
Jedesmal hatte er es von neuem erfahren müssen die Schönheit war eine Illusion, und die Lust erstarb so schnell, wie sie aufflammte.
Immer mehr Frauen hatten Einzug in sein Leben gehalten und seine Taschen geleert, aber nicht eine von ihnen hatte sein Innerstes so berührt, wie Phenice es getan hatte.
Manchmal hatte er es fast bedauert, daß er nicht mehr ein Opfer dieses seltsamen Zaubers war, mit dem sie ihn fasziniert und vor Begierde schier rasend gemacht hatte.
Doch als er erfahren hatte, daß sie nicht mehr lebte, hatte er nicht den leisesten Schmerz verspürt. Ihr Selbstmord hatte ihn nicht weiter berührt.
„Und wie ist es dazu gekommen?“ fragte er und war über den Ton seiner Stimme selbst erstaunt.
„Salin hat sie verlassen“, bekam er zur Antwort. „Es hat noch zwei oder drei Nachfolger gegeben, aber so leicht hatte sie es dann mit den Männern auch nicht mehr. Sie hat für das Leben büßen müssen, das sie immer geführt hat. Und dann ist noch der Alkohol dazu gekommen, sie hat immer mehr getrunken, und das war dann schließlich das Ende.“
Virgil konnte es sich genau vorstellen. Allerdings kaum, daß sie inzwischen fünfundvierzig Jahre alt gewesen war. Fünfundvierzig Jahre …
Und da hatte er plötzlich den Entschluß gefaßt, nach Hause zurückzukehren.
Als er von Indien gekommen war, hatte er vom Tod seines Vaters gehört und war fassungslos gewesen. Er hatte geglaubt, nun für immer im Ausland leben zu müssen.
Wie hätte er den Menschen vor die Augen treten können, die ihn fragen würden, warum er allein zurückkam, warum er die Frau nicht mitbrachte, die noch mit dem Marquis verheiratet war und seinetwegen weggelaufen war?
Als er Barons’ Hall betreten hatte, war ihm klar gewesen, daß alles unverändert war.
Phenice mochte tot sein, aber die Türen der Nachbarn waren ihm verschlossen. Das, was er vor zwölf Jahren getan hatte, war nicht vergessen.
Der kurze Aufenthalt in London hatte ihm die letzte Gewißheit gebracht.
„Mein Gott, Virgil! Bist du es wirklich?“
Das war die erste Frage eines ehemaligen Studienkollegen gewesen, dem er in seinem Klub begegnet war.
„Anstruther“, entgegnete er, „wie geht es dir denn, alter Junge?“
„Die Frage sollte man eigentlich dir stellen“, sagte Roger Anstruther. „Aber man sieht es dir ja an – ausgezeichnet geht es dir. Du siehst fast noch besser aus als früher.“
Virgil lachte. „Ich fühle mich geschmeichelt, daß du mich überhaupt noch kennst.“
„Hör mal – dich zu vergessen, das wäre gar nicht möglich gewesen.“
„Wie meinst du das?“
„Na, weil du doch fast zur Legende geworden bist.“
Und was ihm Roger Anstruther dann erzählte, verschlug ihm die Rede.
Er hatte keine Ahnung gehabt, daß alles, von seinen Partys angefangen, über seine Reise bis zu all den Frauen, die nach Phenice gekommen waren, daß rein alles über den Kanal getragen und bis ins Detail geschildert worden war.
Roger Anstruther nahm sich kein Blatt vor den Mund.
„Deine alten Freunde, Virgil, werden begeistert sein, dich wiederzusehen. Aber die Frauen, da lege ich beide Hände ins Feuer, werden dich ablehnen.“
Lord Damien hob die Brauen. „Die Frauen?“
„Na, meine zum Beispiel. Ich kann natürlich darauf bestehen, daß du allein mit uns zu Abend ißt, aber eine Freundin würde sie nie im Leben mit dir zusammen einladen. Du bist tabu, alter Junge. Vergiß nicht, daß du mit der Frau des Marquis von Lynmouth durchgebrannt bist.“
„Aber das ist doch zwölf Jahre her.“
„Eine kurze Zeit für die Erinnerung der älteren Generation. Ganz abgesehen davon ist der alte Marquis einflußreicher denn je. Er ist mittlerweile Führer des Oberhauses, und solange er lebt, hast du meiner Meinung nach nicht die geringste Chance, irgendwo anerkannt zu werden.“
Was es hieß, von der Gesellschaft geschnitten zu werden, wußte Lord Damien nur zu gut. In Italien hatte er es bereits zu spüren bekommen, denn dort hatten er und Phenice zu keiner der guten Familien Zugang gehabt.
Als er London wieder verließ, wußte er also, was ihn erwartete.
Und als er an dem Tor vorbeifuhr, in dessen Steinpfosten das Wappen des Marquis von Lynmouth eingemeißelt war, dachte er, daß die Rache des Marquis weitaus wirkungsvoller und raffinierter war als die Forderung zu einem Duell.
Mit seiner Rückkehr nach Barons’ Hall war Lord Damien in die Vergangenheit zurückgekehrt. In eine Vergangenheit, die so gegenwärtig war, daß sie zur Zukunft werden konnte.
Phenice war tot, aber sie hielt ihn noch gefangen und würde ihn nie freigeben.
Das war seine Strafe. Diese Buße mußte er bezahlen.
Die erste Nacht in Barons' Hall war grauenvoll gewesen. Voll von Schuldgefühlen, vor allem seinem Vater gegenüber, hatte er sich gewünscht, möglichst bald das Zeitliche zu segnen.
Allerdings hatte er nicht einen Augenblick lang versucht, irgendwelche Entschuldigungen für sich anzuführen oder etwa Phenice für das verantwortlich zu machen, was vor zwölf Jahren geschehen war.
Er hatte lediglich auf seine mittlerweile zynische Weise festgestellt, daß er damals ein Übermensch hätte sein müssen, wenn er ihren Gelüsten nach ihm hätte widerstehen sollen.
Am nächsten Morgen war er in die Bibliothek gegangen und hatte das Porträt seines Vaters betrachtet.
„Verzeih mir“, sagte er leise, ging in den Park hinaus und wanderte stundenlang umher.
Am Tag darauf ließ er ein Pferd satteln und nahm sich vor, einen Ritt über den Besitz zu machen.
Doch dann verließ ihn der Mut. Er fürchtete sich vor den vorwurfsvollen Blicken der Farmer und Landarbeiter.
Er ritt den ganzen Tag ziellos über fremdes Land und fiel am Abend wenigstens todmüde ins Bett.
Am dritten Tage versuchte er, zu einer Entscheidung zu kommen. Sollte er bleiben oder sich wieder auf den Weg machen? Sollte er Freunde um sich scharen, die ihn akzeptierten? Sollte er sich wieder in eine Art Gesellschaftsleben stürzen und sich mit Partys betäuben?
Mit Partys und Frauen?
Frauen, Frauen, Frauen … Und alle gleich …
Ehe man auch nur mit ihnen sprach, die Gewißheit, daß man das nicht finden würde, was man suchte …
Und dann, völlig unerwartet und wundervoll wie ein Tautropfen auf einem Blütenblatt, war ihm Gracila begegnet.