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Gracila huschte durch eine Seitentür aus dem Haus. Im Schutz der Hecken lief sie zu dem Bach hinunter, der durch den See floß.
Seit ihrer Ankunft in Barons’ Hall war dies das erstemal, daß sie sich nach draußen gewagt hatte.
Blütenduft erfüllte die Luft. Die Wiesen standen voll Narzissen, der Park war eine einzige Pracht. In den zwei Jahren seit Lord Damiens Tod war er verwildert.
Wie sie von ihrem Vater wußte, hatten die Vermögensverwalter beschlossen, das junge Personal zu entlassen und nur die Dienstboten zu behalten, die schon seit vielen Jahren in Barons’ Hall tätig waren und sowieso in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten sollten.
Während Mrs. Hansell das Haus so sauber und gepflegt hatte halten können wie zu Lebzeiten des Herrn, waren die Gärtner vor lauter Arbeit nicht nachgekommen. Und so wuchs alles zu, keine Hecke war mehr gestutzt und die Überfülle an Wachstum war, zumindest für Gracila, die reinste Augenweide.
Der Goldregen fing gerade an zu blühen, Flieder gab es in Hülle und Fülle, und die Rhododendronsträucher schienen schwer zu tragen an der Last ihrer tief roten Blüten.
Konnte der Mai irgendwo schöner sein als in England? War Lord Damien vielleicht deshalb ausgerechnet jetzt nach Hause zurückgekehrt?
Obwohl Gracila mit ihm unter demselben Dach lebte, erfuhr sie kaum etwas über ihn. Jedesmal, wenn sie Mrs. Hansell oder Mitty eine Frage stellte, bekam sie lediglich knappe Antworten.
„Und was bekommen Seine Lordschaft zum Abendessen, Mitty?“ hatte sie erst am Abend zuvor gefragt, als Millet ihr das Tablett auf ihr Zimmer gebracht hatte.
Sie nahm ihre Mahlzeiten in dem kleinen Salon neben ihrem Schlafzimmer ein. Mrs. Hansell hatte ihn extra für Gracila eingerichtet.
„Also, ich finde es einfach nicht passend“, hatte sie zu Gracila gesagt, und diese hatte sich ein Lächeln nicht verkneifen können, „daß eine junge Dame Ihrer Herkunft in einem Schlafzimmer speist.“
Gracila hatte zu protestieren versucht und gesagt, sie solle sich doch keine Umstände machen, aber Mrs. Hansell hatte sich nicht dreinreden lassen.
„Dasselbe wie Sie, Mylady“, hatte Millet geantwortet.
Er hatte sofort das Thema gewechselt und kein weiteres Wort über Lord Damien gesagt.
Mrs. Hansell und Millet schienen eine solche Angst zu haben, sie könne sich für Lord Damien interessieren, daß Gracila ihnen fast gesagt hätte, sie interessiere sich schon seit vielen Jahren für ihn.
Und irgendwann, das hatte sie längst beschlossen, wollte sie ihn sehen. Wie sie das anstellen sollte, wußte sie allerdings noch nicht.
Lord Damien schlief in der Herrensuite am entgegengesetzten Ende des Hauses, und dort gab es nirgends eine Möglichkeit, sich zu verstecken.
Ich muß eben abwarten, sagte sich Gracila immer wieder.
Eines stand fest – von Mrs. Hansell oder Millet konnte sie keine Hilfe erwarten.
„Ich muß aus den vier Wänden raus“, hatte sie am Tag zuvor zu Mrs. Hansell gesagt. „Ich brauche frische Luft.“
Sie war gezwungen gewesen, den lieben langen Tag in ihrem Schlafzimmer oder dem kleinen Salon zu verbringen, und hatte sich wie in einem Gefängnis gefühlt.
Die Sonne hatte durch die Fenster gelacht, und sie war von Stunde zu Stunde unruhiger geworden.
„Also, das ist völlig unmöglich“, hatte Mrs. Hansell entgegnet. „Ich habe keine Ahnung, wo sich Seine Lordschaft jeweils aufhalten, und Sie wissen so gut wie ich, Mylady, was passiert, wenn Sie ihm begegnen.“
„Was würde denn dann passieren?“ hatte Gracila gefragt.
„Also, dann müßten Sie von hier weg, Mylady, ganz gleich, was Sie ihm als Erklärung sagen würden.“
Gracila wußte, daß Mrs. Hansell recht hatte. Trotzdem hatte sie manchmal den Eindruck, daß alle ihre Gouvernanten im Vergleich zu Mrs. Hansell sanftmütige Menschen gewesen waren, die ihr alles hatten durchgehen lassen – und das war weiß Gott nicht der Fall gewesen.
Doch heute morgen hatte Mrs. Hansell plötzlich vollstes Verständnis für Gracilas Ruhelosigkeit gezeigt.
„Also, ich verstehe ja, daß Sie mal raus wollen, Mylady“, hatte sie gesagt. „Und heute dürfen Sie auch raus.“
„Wirklich?“ hatte Gracila gefragt. „Wie ich mich freue! Aber wieso denn plötzlich?“
„Weil Seine Lordschaft ein Pferd haben satteln lassen“, hatte sie geantwortet. „Seine Lordschaft beabsichtigen, bis an die Ostgrenze des Besitzes zu reiten, und das ist weit.“
„Phantastisch!“ hatte Gracila gerufen.
„Also, bis zur Ostgrenze brauchen Seine Lordschaft schon einige Stunden“, hatte Mrs. Hansell gesagt. „Außerdem hat mir der Kammerdiener Seiner Lordschaft ausgerichtet, daß Lord Damien zum Mittagessen nicht da sein wird.“
„Das heißt, daß ich den ganzen Vormittag draußen bleiben kann. Da gehe ich in den Wald. Zu dieser Jahreszeit ist es im Wald besonders schön.“
Mrs. Hansell lächelte. „Also, schon als Kind war das Ihre ganze Seligkeit, Mylady“, entgegnete sie. „Ich erinnere mich noch ganz genau, sie waren damals höchstens sechs Jahre alt, und ich habe gerade meinen Bruder besucht, und da haben Sie mir aus dem Wald einen großen Strauß Schlüsselblumen mitgebracht.“
Sie schüttelte den Kopf, als sei es ihr immer noch ein Rätsel.
„Also, erst gestern abend habe ich es zu Millet gesagt“, fuhr sie fort. „Sie haben sich nicht verändert.“
„Aber etwas gewachsen bin ich seitdem doch hoffentlich, oder?“ fragte Gracila lachend.
„Also, Ihre Gesichtszüge sind noch ganz genauso“, erklärte Mrs. Hansell. „Bei Ihnen ist es wie bei Ihrer lieben Mama – Gott hab sie selig. Sie hat auch bis zu ihrem Tod wie ein Kind ausgesehen.“
„Sie war eine sehr schöne Frau“, sagte Gracila leise.
Sie erwartete eigentlich von Mrs. Hansell zu hören, daß auch sie sehr schön sei. Statt dessen jedoch nahm die Haushälterin ein Kleid aus dem Schrank und wechselte das Thema.
„Also, Ihr Bad ist gerichtet, Mylady“, sagte sie. „Ich schlage vor, daß Sie heute dieses Kleid anziehen. Es ist zwar auch viel zu elegant für einen Spaziergang im Wald, aber mit den anderen verglichen ist es noch das einfachste. Daß Grasflecken kaum mehr herausgehen, wissen Mylady hoffentlich.“
Gracila lächelte. „Ich passe schon auf.“
Sie hatte gebadet, sich angezogen und in dem kleinen Salon gefrühstückt.
Die Sonne war durch die Fenster geflutet, und Gracila war so aufgeregt und gespannt gewesen wie vor ihrem ersten Ball.
Und so genoß sie jetzt alles um sich herum. Sie hatte keine Eile und blieb immer wieder stehen, um hier eine Magnolienblüte mit vorsichtigen Fingern zu berühren und dort an einer Fliederblüte zu riehen. Die Magnolien waren der ganze Stolz des verstorbenen Lord Damien gewesen.
„Man findet kaum eine Stelle in ganz England“, pflegte er zu sagen, „wo sie so prachtvoll blühen wie hier.“
Für Gracila waren sie typische Pflanzen des Ostens, über den sie schon immer hatte mehr wissen wollen.
Eines Tages, dachte sie, während sie an einer Magnolienblüte roch, kann ich vielleicht doch nach Ägypten reisen oder nach Persien oder Indien.
Sie ging weiter und kam schließlich zu der Stelle, wo der Bach aus dem See sprudelte. Er schlängelte sich durch den Wald und floß unter dichtem Gestrüpp hindurch, bis er schließlich die Grenze des Besitzes erreichte.
Der Bach war voller Forellen. Sein Wasser war kristallklar, und Gracila konnte die anmutigen Fische über die Kieselsteine huschen sehen.
So möchte ich auch schwimmen können, dachte sie voll Neid.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie es als Kind versucht hatte. Damals hatte sie noch im See baden dürfen.
Als sie jedoch zehn geworden war, hatte man ihr gesagt, daß sie jetzt zu alt dazu sei. Es könne sie ja jemand dabei sehen.
„Und was macht das aus?“ hatte sie gefragt.
Eine logische Antwort hatte es nicht gegeben. Es gehörte sich eben nicht. Eine Dame hatte vom Scheitel bis zur Sohle bedeckt zu sein, wenn sie sich im Freien aufhielt. Ob sie von jemandem gesehen wurde oder nicht, spielte keine Rolle.
Erwachsen werden ist langweilig und mühsam, hatte sie damals gedacht und fand es eigentlich immer noch.
Aus welchem zwingenden Grund sollte sie eigentlich jetzt schon ans Heiraten denken, und wieso befand sie sich eigentlich in dieser mißlichen Situation? Sie war zwar weiß Gott nicht daran schuld, aber sie mußte es ausbaden.
Ehe der Herzog um ihre Hand angehalten hatte, war sie glücklich und zufrieden gewesen. Es hatte keine Gouvernante mehr gegeben, die pausenlos an ihr herumgekrittelt hatte, und es hatte ihr gefallen, in London auf Partys gehen zu dürfen.
Die letzten drei Wochen, die sie dort verbracht hatte, um ihre Garderobe zu vervollständigen, waren lediglich wegen ihrer Stiefmutter getrübt gewesen.
Gracila hatte neue Freundschaften geschlossen, hatte mit den jungen Leuten aber nicht zusammen sein dürfen, weil ihre Stiefmutter bereits Gracilas Heirat im Auge gehabt hatte.
„Du kannst nach London zurückkommen, wenn die Saison beginnt“, hatte sie gesagt, als Gracila nicht aufs Land hatte zurückfahren wollen.
„Und wann beginnt die neue Saison?“
„Im April.“
Im April jedoch war sie bereits verlobt gewesen. Obwohl die Dauer einer Verlobung üblicherweise mindestens ein Jahr betrug, hatte man Gracilas Hochzeit für den 31. Mai angesetzt.
„Wieso lange warten?“ fragte ihre Stiefmutter. „Als Herzogin wirst du im Buckingham Palace empfangen, und ich brauche dich nicht erst als Debütantin in die Gesellschaft einzuführen.“
Es klang vernünftig. Trotzdem hatte Gracila das Gefühl gehabt, gedrängt zu werden, was sie aber natürlich nicht ausgesprochen hatte.
Doch jetzt war sie frei. Und am vergangenen Abend hatte sie beschlossen, daß sie sich keine Gedanken über ihre weitere Zukunft machen würde.
Bisher war das Glück auf ihrer Seite gewesen, und das war die Hauptsache.
Als sie vorhin das Haus verlassen hatte, war sie sich wie ein Vogel vorgekommen, der nach langer Gefangenschaft aus dem Käfig hatte fliegen dürfen.
Sie hatte kein Häubchen aufgesetzt und war nach dem Frühstück einfach davongelaufen, ehe Mrs. Hansell ihr noch hatte irgendwelche Instruktionen geben können.
Sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen, war aber gleichzeitig froh, einmal das tun zu können, wozu sie Lust hatte.
Gracila bückte sich, tauchte die Hand ins Wasser und beobachtete, wie die Forellen flohen und sich unter Steinen versteckten.
Veilchen blühten am Rand des Baches, und aus dem Wald kam Tannenduft. Die Luft war voll Frühling.
Gracila wanderte weiter. Sie folgte dem Lauf des Baches, bis das Unterholz so dicht wurde, daß die Sonne nicht mehr durch das Blätterwerk dringen konnte.
Die Szenerie sah geheimnisvoll und romantisch aus, aber gleichzeitig etwas düster, und Gracila sehnte sich nach dem Licht der Sonne.
Sie ging zurück und setzte sich an einer Stelle, die sonnig und warm war, ins Gras. Mrs. Hansells Ermahnung hatte sie vergessen.
Sie pflückte ein paar Veilchen, legte sie in den Schoß und überließ sich ihren Träumereien.
In diesen Träumereien erfand sie Geschichten, die sie sich selbst erzählte und in denen sie die Hauptperson war.
Es waren glückliche Geschichten, voll von den mythischen Göttern, die sie aus Büchern kannte. Diese Götter waren viel aufregender als die Menschen, die sie kannte. Sie waren von Märchengestalten umgeben von Nymphen und Elfen, von Zwergen und Faunen, von Hexen und Riesen.
Die Flucht in dieses Traumland ließ sie alle Sorgen vergessen.
Es mußten gut zwei Stunden vergangen sein, als Gracila plötzlich merkte, daß sich zu dem Summen der Bienen, zum Plätschern des Baches, zum Ruf der Wildtauben und zum gelegentlichen Rascheln in den Blättern ein neues Geräusch gemischt hatte.
Im ersten Augenblick wußte sie nicht, was es sein konnte.
Doch dann merkte sie, daß es Huf schlage waren.
Niemand darf mich hier sehen, dachte sie und sah sich nach einem Versteck um.
Wenn sie in den Wald hineinlief, würde sie vielleicht ihr helles Kleid verraten, aber wohin sollte sie sich sonst wenden?
In ihrer Not sah sie in die Höhe, und da wußte sie es.
Über ihr – die Krone eines Holzapfelbaums …
Gracila konnte gut klettern. Wie oft hatte sie sich als Kind in einem Baum versteckt, wenn sie vor einer Gouvernante oder ihrer Kinderfrau Ruhe haben wollte …
Kurz entschlossen raffte Gracila die Röcke und kletterte auf den knorrigen Baum. Die vielen Äste und Verzweigungen machten es ihr leicht. Sie stieg höher und höher, bis sie schließlich in einer Astgabel sitzen blieb. Wenn der näherkommende Reiter nicht zufällig in die Höhe sah, wurde sie hier keinesfalls entdeckt.
Sie hatte es sich gerade relativ bequem gemacht, als der Reiter auch schon auftauchte.
Ein Blick genügte, und Gracilas Herz schlug ihr bis zum Hals hinauf. Ohne ihr Zutun war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen.
Endlich sah sie Lord Damien.
Wie sie selbst trug er keine Kopfbedeckung. Sein dichtes dunkles Haar war aus der Stirn gekämmt, seine Haut von der Sonne gebräunt.
Erst als er sein Pferd ein paar Meter vor dem Stamm des Baums anhielt, auf dem sie saß, konnte sie sein Profil sehen – eine schmale, aristokratische Nase, energisch geschwungene Lippen, die seinem Gesichtsausdruck etwas Gebieterisches verliehen, arrogant geschwungene Brauen.
Genauso hatte sich Gracila diesen Mann vorgestellt, der die Neugier ihrer Jugend erfüllt hatte.
Die Ähnlichkeit mit Lord Byron war frappant. Trotz der klassischen Züge hatte die Gestalt Lord Damiens etwas unglaublich Romantisches an sich.
Genau wie ich, dachte Gracila, sieht er den Forellen zu.
Von der einen Sekunde zur anderen verstand sie, warum die Frauen, von ihrer Stiefmutter angefangen bis zu den kleinsten Stubenmädchen, über Lord Damien redeten.
Nie in ihrem Leben hatte sie einen so attraktiven Mann gesehen. Kein Wunder, daß sein Name von Skandalgeschichten umwoben war … Kein Wunder, daß die Marquise mit ihm weggelaufen war und sich die Aufregung darüber bis heute nicht gelegt hatte … Kein Wunder, daß dieser Mann in Paris, Venedig, Rom, Neapel und Palermo so große Erfolge erzielt hatte …
Wer konnte diesem Übermaß an Schönheit widerstehen?
Lord Damien ritt weiter.
In wenigen Sekunden mußte er unter dem Ast sein, auf dem sie saß, und sein Kopf würde ihr ganz nahe sein.
Gracila hielt den Atem an. Sie hätte etwas darum gegeben, wenn sie nicht ausgerechnet auf diesen Baum geklettert wäre.
Warum war sie nicht doch in den Wald gelaufen und hatte sich dort irgendwo versteckt?
Unter dem Holzapfelbaum angekommen, mußte er den Kopf beugen, um nicht von den tiefhängenden Zweigen gestreift zu werden.
In dem Bach neben ihm leuchtete plötzlich etwas auf, das ihn veranlaßte, erneut stehenzubleiben.
Ein Königsdorsch hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Er betrachtete den Fisch, den auch Gracila in dem Bach hatte an sich vorbeihuschen sehen, voll Bewunderung.
Gracilas Herz klopfte so stark, daß es ihr die Brust zu sprengen schien. Lord Damien war ihr so nahe, daß sie das dunkle Haar hätte berühren können.
Er trug Reithosen, eine kurzgeschnittene Jacke und ein offenes Hemd, wie es im letzten Jahr Mode geworden war. Gracila erinnerte sich noch genau daran, wie entsetzt ihr Vater über diese Mode gewesen war.
Ihre Stiefmutter hatte ihn damals ausgelacht.
„Du bist viel zu konservativ in deiner Einstellung“, hatte sie gesagt. „Sogar Prinz Albert hat am Tag nach seiner Hochzeit ein solches Hemd getragen – weil er Königin Victoria ärgern wollte.“
„Das glaube ich nicht“, hatte Gracilas Vater entgegnet. „Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Aber mir kann es ja egal sein. Auf alle Fälle betritt kein Gentleman mein Haus, der nicht ordentlich gekleidet ist.“
Gracila wußte, daß der offene Kragen durch Lord Byron in Mode gekommen war, und fand, daß auch Lord Damien wie ein Poet aussah, mußte aber gleichzeitig feststellen, daß etwas dieses Aussehen trübte. Da sie jedoch so aufgeregt war, wußte sie nicht, was es war.
Der Königsdorsch war verschwunden, und Lord Damien hob die Hand, weil er die Zügel straffen und weiterreiten wollte.
Und während er die Hand hob, sah er hoch.
Er mußte die Nähe eines anderen Menschen gespürt haben.
Beim Anblick eines ovalen Gesichtes in den Blättern, eines kleinen Gesichts mit großen blauen Augen, ließ er die Zügel sinken.
Es folgte eine Stille, die Gracila endlos erschien.
Und dann brach Lord Damien das Schweigen.
„Sind Sie Daphne auf der Flucht vor Apoll oder ein flüchtiger Meteor?“ fragte er.
Seine Stimme klang tief und leicht amüsiert.
Gracila war so erschrocken, daß sie kein Wort herausbrachte.
Doch als langsam in ihr Bewußtsein eingesickert war, daß der ›flüchtige Meteor‹ aus einem Gedicht Lord Byrons stammte, das sie erst noch vor kurzem gelesen hatte, löste sich ihre Zunge.
„Ich bin ein flüchtiger Meteor“, antwortete sie. „Aber nicht Byrons flüchtiger Meteor, sondern mein eigener.“
Lord Damien lachte. „Demnach kennen Sie das Gedicht“, sagte er.
Sein Pferd tänzelte nervös auf dem Fleck, und er zügelte es.
„Kommen Sie herunter“, sagte er, „es sei denn, Sie müssen schnellstens in den Himmel zurück, aus dem Sie heruntergefallen sind.“
Gracila zögerte. Wie eindringlich hatte man sie gebeten, ein Zusammentreffen mit Lord Damien zu vermeiden … Da es sich jedoch rein zufällig ergeben hatte, war eigentlich nicht einzusehen, warum sie sich nicht mit ihm unterhalten sollte.
Und in der jetzigen Situation war eine Unterhaltung schlecht möglich – Lord Damien mit nach oben gerecktem Kopf und sie in einer Astgabel.
„Gut“, sagte Gracila schließlich. „Aber erst müssen Sie ein Stück weiterreiten.“
„Warum?“
Gracila lächelte, und er sah die Grübchen in ihren Wangen.
„Weil es nicht sehr vorteilhaft aussieht, wenn man auf einen Baum hinaufklettert“, antwortete sie, „und noch sehr viel weniger vorteilhaft, wenn man wieder herunterklettert.“
Lord Damien lachte. „Sie müssen herunterkommen und mit mir reden“, sagte er. „Sie wollen mich doch hoffentlich nicht hintergehen und wieder in die Himmel verschwinden?“
„Nein, ich komme wirklich hinunter“, versprach Gracila.
Und so ritt Lord Damien ein Stückchen weiter. Nach ein paar Metern blieb er stehen, sprang vom Pferd und wartete.
Gracila kletterte schnell nach unten, wobei sie Angst hatte, er könne sich umdrehen und ihre seidenen Strümpfe sehen.
Sie versuchte, auf ihr Kleid aufzupassen, aber als sie unten war, hatte es doch ein paar Moosflecken abbekommen.
Gracila strich sich die Haare aus der Stirn und ging zu Lord Damien, der am Rand des Baches stand und in das Wasser sah.
Er war viel größer, als sie gedacht hatte, und viel breitschultriger. Trotz des offenen Hemds sah er plötzlich längst nicht mehr so poetisch aus, wie sie sich eingebildet hatte. Er wirkte sehr männlich und älter, als sie erwartet hatte.
Er sah Gracila an und hob erstaunt die Brauen.
„Ich habe Sie für ein Kind gehalten“, sagte er. „Ich sehe, ich habe mich getäuscht.“
„Vielleicht wäre es besser“, sagte sie, „wenn Sie mich weiterhin für ein Kind halten würden. Oder für einen flüchtigen Meteor, wenn Ihnen das lieber ist.“
„Warum?“
„Dafür gibt es verschiedene Gründe.“
„Wobei ich annehme, daß der zwingendste es Ihnen verbietet, mit mir zu sprechen.“
Sein Gesichtsausdruck war plötzlich nüchtern, sein Ton zynisch, fast verbittert.
Gracila sah Lord Damien ernst an. Jetzt wußte sie, warum er nicht poetisch wirkte. Und auch, warum er älter aussah, als er tatsächlich war.
„Aber ich möchte mit Ihnen sprechen“, fuhr Lord Damien fort. „Ich liebe geheimnisvolle Situationen und kann mich nicht besinnen, je einem Meteor begegnet zu sein, der in einem Baum versteckt war.“
„Es wäre wirklich das Beste, Sie würden vergessen, daß Sie mich gesehen haben“, sagte Gracila.
„Das ist ein völlig unsinniger Vorschlag“, erwiderte Lord Damien. „Und da ich nicht gezwungen sein möchte, hinter Ihnen herzugaloppieren, bitte ich Sie, sich ins Gras zu setzen und mit mir zu reden.“
Als müsse sie sich mit dem wohl Unvermeidlichen abfinden, zuckte Gracila mit den Schultern.
„Es bleibt mir offensichtlich keine andere Wahl“, sagte sie.
Lord Damien sah sich nach einer Möglichkeit um, sein Pferd festzumachen.
„Sampson läuft nicht weg“, sagte Gracila. „Und falls er ein Stückchen in den Wald hineinläuft, brauchen Sie nur zu rufen, und schon ist er wieder da.“
„Sie kennen den Namen meines Pferdes?“ fragte Lord Damien erstaunt.
Gracila hätte sich auf die Zunge beißen mögen. Sie hatte unüberlegt losgeplappert.
Sampson war ein ziemlich altes Pferd, und Gracila kannte es seit vielen Jahren. Sie wußte, daß es ein sehr gutmütiges Tier war und nie auf die Idee kommen würde, einfach wegzulaufen.
Lord Damien schien sich ganz auf das zu verlassen, was sie gesagt hatte, denn er legte dem Pferd einfach die Zügel über den Hals und wandte sich wieder ihr zu.
„Sollen wir uns an den Bach setzen?“ fragte er. „Ich habe eben einen Königsdorsch gesehen.“
„Hier nistet jedes Jahr ein Paar.“
„Erzählen Sie mir von den Fischen“, sagte Lord Damien. „Erzählen Sie mir alles, was Sie über meinen Besitz wissen.“
Er wählte eine Stelle, wo das Gras kurz und trocken war. Die Stelle war von Bäumen beschattet, aber auf dem Wasser vor ihnen lag die Sonne.
Gracila setzte sich, den Rücken gerade, die Augen groß und voll unverhohlener Neugier.
Lord Damien streckte sich neben ihr aus. Seine Haltung war geschmeidig und gleichzeitig sehr männlich und athletisch.
Nicht wie ein Poet, dachte sie, oder wie ein Mann, der ein ausschweifendes Leben führte und verweichlicht war.
Lord Damien stützte den Kopf auf eine Hand.
„Erzählen Sie mir von sich“, forderte er Gracila auf.
„Genau das“, entgegnete sie mit einem Lächeln, „kann ich leider nicht tun.“
„Und warum nicht?“
„Aus bestimmten Gründen, die ich Ihnen verheimlichen muß.“
„Wollen Sie mich absichtlich ärgern?“
Gracila schüttelte den Kopf. „Es ist die Wahrheit. Ich glaube, ich muß Sie bitten, mir zu helfen.“
„Ihnen zu helfen? Aber wie denn?“
„Indem Sie mir keine Fragen stellen.“
„Wieso darf ich Ihnen keine Fragen stellen?“
„Weil ich mich vor Ihnen versteckt habe, damit Sie mir keine Fragen stellen können.“
„Aber wieso denn?“
Gracila zögerte.
„Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten“, sagte Lord Damien, ehe Gracila auch nur den Mund hatte aufmachen können. „Ich weiß Bescheid. Sie haben sich vor mir versteckt, weil jedem wohlerzogenen, braven Mädchen angeraten wird, sich vor mir zu verstecken.“
Wieder klang so viel Verbitterung aus seiner Stimme, daß Gracila instinktiv eine Hand ausstreckte und sie Lord Damien beruhigend auf den Arm legen wollte.
In der halben Bewegung jedoch hielt sie inne und ließ die Hand in den Schoß sinken.
„Ich habe mich nicht aus diesem Grund vor Ihnen versteckt“, sagte sie.
„Das hilft mir auch nicht weiter“, meinte Lord Damien.
„Ich weiß, aber es ist alles so schwierig.“
„Sie sind schwierig“, betonte Lord Damien. „Ich sehe Sie in einem Baum sitzen, Sie sagen, daß Sie sich vor mir versteckt haben, aber nicht aus diesem Grund.“
„Es wäre besser gewesen, wenn Sie weitergeritten wären.“
„Aber nicht halb so interessant“, fügte Lord Damien prompt hinzu.
Gracila mußte lachen.
„Ich habe Sie im ersten Moment für ein Kind gehalten“, sagte er. „Aber jetzt, wo ich Sie genau betrachten kann, sehe ich, daß Sie die schönste Frau sind, die mir je begegnet ist und – die vielleicht noch nicht ganz Frau ist.“
Wieder errötete Gracila. Sie riß sich von seinem Blick los und sah ins Wasser.
„Es gibt Hunderte von Fragen, die ich Ihnen stellen möchte“, fuhr Lord Damien fort. „Wer sind Sie? Warum sind Sie hier? Warum sind Sie so geheimnisvoll? Aber erst möchte ich Ihnen sagen, daß ich glücklich bin. Sie ansehen zu dürfen und zu träumen glaube.“
„Zu träumen?“ wiederholte Gracila.
„Ja – zu träumen, daß es hier einen Menschen gibt, der so schön, so lieblich und auf seine Weise so vollkommen ist. Ausgerechnet hier in Barons’ Hall.“
Bei der letzten Bemerkung war die Stimme Lord Damiens wieder hart geworden.
„Sie sprechen von Barons’ Hall wie von einem Schreckensort“, sagte Gracila sofort. „Dabei kann ich mir kein schöneres Fleckchen Erde vorstellen. Besonders zu dieser Jahreszeit. Ich hatte mir schon überlegt, ob Sie gerade jetzt nach Hause gekommen sind, weil Sie den Frühling hier erleben wollten.“
Lord Damien schüttelte den Kopf. „Ich bin zurückgekommen“, sagte er, „weil ich mich nach einem Zufluchtsort gesehnt habe.“
„Nach einem Zufluchtsort?“ fragte Gracila erstaunt.
„Ja, aber das ist ein Thema, über das ich nicht sprechen will. Erzählen Sie mir lieber von sich.“
„Das ist ein Thema, über das ich nicht sprechen will“, entgegnete Gracila.
„Worüber sollen wir denn dann sprechen?“ fragte Lord Damien. „Soll ich vielleicht noch einmal Lord Byron zitieren? Im ersten Gesang von Don Juan sagt er:
Wie schön sie aussieht! Gar nicht schuldbewußt, Obwohl ihr schuldig Herz im Auge blitzt.
Und jetzt frage ich Sie, warum muß sich jemand, der so jung und so schön ist, verstecken?“
Gracila antwortete nicht gleich, sondern überlegte erst einen Augenblick lang.
„Wenn ich Ihnen nur so viel erzähle“, sagte sie schließlich, „daß Ihre Neugierde befriedigt ist, versprechen Sie mir dann etwas?“
„Die meisten Versprechen sind gefährlich.“
„Dieses eine wäre nicht gefährlich für Sie wenn Sie es mir geben würden. Es wäre lediglich für mich gefährlich, wenn Sie es brechen würden.“
„Dann gebe ich es Ihnen.“
„Gut“, sagte Gracila. „Sie dürfen niemandem verraten, daß Sie mich gesehen und mit mir gesprochen haben. Das müssen Sie mir hoch und heilig versprechen.“
Lord Damien hob die Brauen. „Ich kann mit niemandem über Sie sprechen“, sagte er. „Ich lebe allein.“
„Schon, aber …“
„Meinen Sie etwa die Dienstboten?“ fiel er ihr ins Wort.
Gracila nickte.
„Soll das heißen, daß Sie das Privileg besitzen, Dinge zu wissen, die ich nicht wissen darf?“ fragte Lord Damien.
„Nicht ganz“, entgegnete Gracila. „Aber, wenn Sie Millet oder …“
„Sprechen Sie von meinem Butler?“
„Ja. Wenn Sie ihm oder seiner Schwester, Mrs. Hansell, sagen, daß Sie mich gesehen haben, dann schicken mich die beiden weg.“
„Soll das etwa heißen, daß Sie in meinem Haus wohnen? In Barons’ Hall?“
„Barons’ Hall war die einzige Möglichkeit für mich.“
„Ich bin hocherfreut und fühlte mich sehr geehrt, daß Sie mein Gast sind, möchte aber trotzdem fragen, warum Barons’ Hall die einzige Möglichkeit war.“
Während Lord Damien sprach, betrachtete er Gracilas Kleid und war sich offensichtlich sehr wohl bewußt, daß es elegant und teuer war.
Armut war nicht der Grund. Was also dann?
„Ich – ich wurde in eine sehr schwierige und peinliche Situation gebracht“, antwortete Gracila schließlich, „und aus dieser Situation mußte ich fliehen.“
„Heißt das, daß Sie weglaufen mußten?“
„Ja.“
„Kein Wunder, daß ich Sie für einen flüchtigen Meteor gehalten habe!“ sagte Lord Damien lachend. „Hat es Sie erstaunt, daß ich Byron zitiert habe?“
„Nein“, antwortete Gracila ehrlich. „In meiner Vorstellung habe ich Sie schon immer mit Lord Byron verglichen.“
„Schon immer?“ wiederholte Lord Damien. „Dann haben Sie von meiner Existenz gewußt und über mich nachgedacht. Das ist nicht fair.“
„Was ist nicht fair?“ fragte Gracila.
„Daß Sie über mich Bescheid wissen und ich nichts von Ihnen weiß – außer, daß Sie ein kleiner flüchtiger Meteor und auf die Erde herabgekommen sind, um einen völlig ahnungslosen Menschen zu verwirren.“
Gracila lachte, doch das Lachen erstarb ihr auf den Lippen. Wieder hatte Lord Damien den flüchtigen Meteor erwähnt, und wieder mußte sie daran denken, wie sie in dem Erker der Bibliothek gesessen hatte, über den Gedichtband gebeugt, und das Unglaubliche hatte mitanhören müssen.
Lord Damien hatte die Veränderung auf ihrem Gesicht bemerkt und sah sie fragend an.
„Etwas ziemlich Abscheuliches ist Ihnen widerfahren“, sagte er. „Sie haben sich von dem Schlag noch nicht erholt, und ich frage mich, was man Ihnen angetan hat.“
„Woher wissen Sie das?“ Sowohl aus ihren Augen, als auch aus ihrer Stimme sprach großes Erstaunen.
„Ihre Augen sagen alles“, entgegnete Lord Damien. „Obwohl Sie fest entschlossen sind, mir die Wahrheit zu verbergen, sehe ich, was Sie denken.“
„Was Sie eben gesagt haben, stimmt“, sagte Gracila leise. „Mir ist wirklich etwas Schlimmes widerfahren, und deshalb bin ich weggelaufen und nach Barons’ Hall gekommen.“
„Aber warum ausgerechnet nach Barons’ Hall?“
„Weil ich wußte, daß man mich hier weder vermuten noch suchen wird“, antwortete Gracila.
Einen Augenblick lang starrte Lord Damien sie nur an, dann lachte er.
„Welche Ironie des Schicksals!“ sagte er. „So wie ich Zuflucht in meinem eigenen Haus gesucht habe, so sind auch Sie aus demselben Grund hierhergekommen.“
„Zumindest habe auch ich Zuflucht gesucht“, sagte Gracila ernst. „Werden Sie Ihr Versprechen auch jetzt noch halten, wo Sie dies wissen? Wenn Sie es nicht halten, wird Barons’ Hall kein Zufluchtsort mehr für mich sein, und ich werde gehen müssen.“
„Glauben Sie denn, ich könnte etwas tun, was Sie in Schwierigkeiten bringt oder traurig macht?“ fragte Lord Damien. „Ich werde mich doch nicht gegen den Himmel versündigen.“
Gracila war plötzlich scheu. Seine Worte waren so merkwürdig.
„Sie müssen mir vertrauen“, fuhr Lord Damien fort. „Oder glauben Sie, mich dazu besser kennen zu müssen?“
„Aber wir dürfen uns nicht besser kennenlernen“, sagte Gracila voller Angst. „Es wäre falsch.“
„Warum wäre es falsch?“ fragte Lord Damien. „Noch dazu, wo niemand etwas davon erfahren würde?“
„Aber es kann ja herauskommen. Wir könnten zusammen gesehen werden.“
„Dann müssen wir eben aufpassen und dafür sorgen, daß wir nicht zusammen gesehen werden.“
„Das wäre kompliziert“, sagte Gracila. „Es wäre viel einfacher für uns beide, wenn wir unsere Zufluchtsorte getrennt halten und uns nicht treffen würden.“
„Das wäre nicht nur unerträglich, sondern auch äußerst langweilig“, entgegnete Lord Damien. „Ich war bereits auf dem besten Weg, meine eigenen Gedanken eintönig und das ewige Alleinsein deprimierend zu finden.“ Er lächelte. „Ich glaube wirklich, daß Sie mir der Himmel geschickt hat.“
„Ich finde es seltsam, daß Sie von Eintönigkeit und Depression sprechen“, sagte Gracila.
„Wieso finden Sie das seltsam?“ fragte Lord Damien.
„Weil man Sie immer als einen Menschen geschildert hat, der nichts anderes kennt als Lebenslust und Fröhlichkeit, der von schönen Frauen umgeben ist und …“
Sie brach aß, denn sie sah, wie Lord Damiens Miene ernst wurde.
„Verzeihen Sie“, sagte sie schnell. „Ich wollte Sie nicht verletzen.“
„Sie haben ja nur die Wahrheit gesagt.“
„Und warum macht Sie das unglücklich?“
Lord Damien schien nach den richtigen Worten zu suchen.
„Glücklich sein zu wollen“, entgegnete er schließlich, „ist vielleicht zuviel verlangt. Aber einige Menschen, besonders Menschen wie Sie und ich, brauchen Geborgenheit.“
„Das stimmt!“ rief Gracila. „Das stimmt wirklich! Das war der Grund, warum ich hierhergekommen bin. Ich wollte einfach das Gefühl haben, geborgen zu sein.“
„Und ich bin hierhergekommen, weil Barons' Hall mir gehört. Weil dies das einzige Fleckchen Erde ist, zu dem ich wirklich gehöre. Die einzigen Wurzeln, die ich habe, sind hier.“
„Und jetzt, wo Sie wieder zu Hause sind, ist da alles besser als vorher?“ fragte Gracila.
„Wie kann es denn je besser sein?“ Seine Stimme klang plötzlich hart. „Barons’ Hall gehört zwar mir, aber es ist nicht meine Heimat. Ich habe keine Heimat. Ich bin wie ein ewiger Wanderer. Ich bin ein Mensch, der Geborgenheit und Schutz braucht und beides nicht findet.“
„Ich verstehe, was Sie meinen, und vielleicht auch ein wenig von dem, was Sie empfinden“, sagte Gracila nach einer Weile. „Aber wenn Sie aus dem Grund nicht früher zurückgekommen sind, der Sie damals von zu Hause weggetrieben hat, dann sehen Sie die Dinge in reichlich übertriebenem Maße.“
„Meinen Sie?“ fragte Lord Damien leicht spöttisch. „Haben Sie nicht eben selbst gesagt, daß Sie gehen müssen, wenn wir zusammen gesehen werden? Wo ist da denn die Übertreibung?“
„Was mich anbelangt“, sagte sie, „so würde ich mich nicht vor dem fürchten, was in der Vergangenheit geschehen ist, sondern vor dem, was die Zukunft bringen kann.“
„Das glaube ich Ihnen nicht“, erwiderte Lord Damien. „Sie oder zumindest Ihre Familie sorgen sich um Sie, weil ich einen miserablen Ruf habe und meine Vergangenheit mir ewig an den Fersen kleben wird.“
„Ganz gleich, was Sie getan oder nicht getan haben, die Reaktion einer Familie würde immer dieselbe sein“, sagte Gracila. „Schließlich gehört es sich nun einmal nicht, daß ein junges Mädchen mit einem Mann unter demselben Dach lebt, nicht einmal, wenn der Mann blind, taub und einfältig wäre.“
„Gott sei Dank bin ich das alles nicht“, sagte Lord Damien. „Aber ich bin unmoralisch, verkommen und gottlos.“
Die Worte kamen Lord Damien so automatisch über die Lippen, daß Gracila lachen mußte.
„Dann wissen Sie also, wie man über Sie redet? „, fragte sie.
„Natürlich weiß ich das.“
„Und wie sie samt und sonders den Klatsch genossen haben!“ sagte Gracila. „Seit ich denken kann, haben sie mit aufgeregten Stimmen von kaum etwas anderem gesprochen.“ Sie überlegte einen Augenblick lang und lächelte. „Ich weiß nicht so recht, wie ich es ausdrücken soll“, fuhr sie schließlich fort, „aber Sie haben so vielen Menschen Lebensfreude aus zweiter Hand geliefert, daß Ihre Verhaltensweise, wie sie nun auch gewesen sein mag, nicht total verwerflich sein kann.“
Lord Damien sah Gracila an und brach schließlich in schallendes Gelächter aus.
„Haben Sie sich das selbst ausgedacht, oder haben Sie das von jemandem übernommen?“ fragte er schließlich.
„Sie scheinen zu vergessen, daß ich nicht über Sie reden sollte, geschweige denn mit Ihnen.“
Lord Damien schüttelte den Kopf. „Wie hätte ich auch nur ahnen können, daß es jemanden wie Sie in dieser Welt gibt? Wenn ich Ihnen lange genug zuhöre, verfliegen alle Schreckensgespenster, und ich bin überzeugt davon, daß es doch noch Freude im Himmel gibt.“
„Haben Sie Ihre schlechte Tat wenigstens bereut?“ fragte Gracila.
„Es ist nicht so sehr eine Frage der Reue“, entgegnete Lord Damien, „als gähnender Langeweile.“
„O nein!“
„Wieso sind Sie so entsetzt?“ fragte Lord Damien.
„Weil das dann doch verlorene Zeit gewesen wäre. Zwölf lange Jahre! Da müssen Sie das, was Sie getan haben, doch genossen haben.“
Er grinste. „Wollen Sie damit sagen, daß Sünde Spaß macht?“ fragte er. „Gut, ich streite es nicht ab. Ich hatte zeitweise meinen Spaß daran, aber alles, mag es noch so köstlich sein, kann seinen Reiz verlieren. Und wenn dieser Zustand eingetreten ist, wird man kritisch, dann bereut man, und das, was man getan hat, frißt sich einem in die Seele.“
Lord Damien sprach mit einem solchen Abstand von den Dingen, daß Gracila plötzlich verärgert war.
„Wie können Sie so reden?“ fragte sie. „Ich glaube es Ihnen nicht. Das kann nicht Ihr Ernst sein.“
„Bezogen auf was?“
„Auf das Leben“, antwortete Gracila. „Und darüber sprechen wir doch, oder nicht? Über Ihr Leben. Sie beschweren sich, daß alles, was Sie getan haben, schließlich fade und uninteressant geworden ist. Sie trauern der Vergangenheit nach und vergessen dabei, der Zukunft freudig entgegenzusehen.“
„Gibt es vielleicht einen Grund, der Zukunft freudig entgegenzusehen?“
„Allerdings“, sagte Gracila. „Es gibt so vieles zu tun, zu sehen, zu hören und zu genießen. Wie können Sie sich das durch irgend etwas oder irgend jemanden verderben lassen?“
„Sie täuschen sich“, sagte Lord Damien. „Aber daran ist doch wohl Ihre Jugend schuld. Als ich noch so jung war wie Sie, habe ich genauso gedacht, aber jetzt werde ich alt.“
„Mit einunddreißig Jahren?“ fragte Gracila in ihrem Eifer. „Sie sind ja noch nicht einmal in den »Besten Mannesjahren4, wie es so schön heißt. Und Sie halten sich für alt? Dann tun Sie mir leid. So – und jetzt muß ich gehen.“
Gracila wollte aufstehen, aber Lord Damien hielt sie zurück.
„Bitte, bleiben Sie noch“, sagte er. „Ich muß Ihnen noch so viel sagen. Wir müssen über noch so vieles sprechen und vielleicht sogar streiten. Wenn Sie nicht freiwillig bleiben, werde ich Sie zwingen müssen.“
„Das wäre nicht fair“, entgegnete Gracila. „Sie wissen ganz genau, daß ich nicht um Hilfe rufen und mich über Sie beschweren könnte. Nicht einmal bei Millet.“
„Und Sie könnten ihm nicht sagen“, fügte Lord Damien hinzu, „daß ich mich genau benommen habe, wie jeder es von mir erwartet.“
„Das würden Sie nie tun.“
„So? Und warum nicht?“
Gracila sah Lord Damien mit ernstem Gesicht an.
„Weil Sie sich, wie viele Menschen das tun, viel schlimmer geben, als Sie in Wirklichkeit sind. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß ich volles Vertrauen zu Ihnen habe?“
„Ja, ich glaube es“, sagte Lord Damien. „Aber es ist dumm von Ihnen.“
Gracila lächelte. „Meiner Meinung nach nicht. Ich habe mich noch nie in einem Menschen getäuscht, dem ich vertraut habe. Ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann.“
Lord Damiens Lippen wurden schmal. „Sie untergraben das einzige, dessen ich mir sicher war – meine eigene Verderbtheit.“
„Wenn Sie das als schmerzlich empfinden, dann tut es mir leid“, sagte Gracila. „Da ich mich aber gern mit Ihnen unterhalte und dieses Gespräch sehr interessant finde, bin ich lieber ehrlich und betone nochmals, daß Sie mein volles Verstrauen genießen.“
Ihre Blicke trafen sich, und sie sahen sich lange an.
„Ich hatte eben doch recht“, sagte Lord Damien schließlich wie zu sich selbst. „Sie sind nicht von dieser Welt. Einem Menschen wie Ihnen bin ich noch nie begegnet. Sie sind völlig anders.“
„Das sind Sie ebenfalls“, entgegnete Gracila. „Aber das ist noch lange kein Grund, sich zu Schlußfolgerungen hinreißen zu lassen.“
Lord Damien lachte. „Weiß der Teufel, wie Sie erzogen worden sind oder warum Sie bei Ihrem Aussehen auch noch intelligent sein müssen! Aber jetzt erzählen Sie endlich von sich selbst.“
„Sagen Sie mir erst, wie spät es ist“, entgegnete Gracila.
Lord Damien zog eine goldene Uhr aus der Westentasche.
„Zwanzig Minuten vor eins“, sagte er.
Gracila stieß einen kleinen Schrei aus.
„Ich muß gehen“, sagte sie. „Man wird sich fragen, wo ich stecke. Wenn ich zu lange wegbleibe, darf ich nicht mehr Spazierengehen.“
„Wie, bitte?“ fragte Lord Damien. „Das verstehe ich nicht.“
Gracila lächelte. „Dabei ist es doch ganz einfach. Millet und Mrs. Hansell wollen unter allen Umständen vermeiden, daß ich Ihnen begegne. Heute morgen durfte ich zum erstenmal das Haus verlassen, weil man der Meinung war, daß Sie weiter weggeritten sind und zum Mittagessen nicht erscheinen würden.“
„Das hatte ich auch geplant“, sagte Lord Damien, „aber plötzlich fand ich es reichlich schwül und hatte keine Lust, irgendwo in einem Gasthaus zu essen. Ich wollte nach Hause, denn wenigstens an den Mahlzeiten ist in Barons’ Hall nichts auszusetzen.“
„Aber wenn wir fast zur selben Zeit ankommen, dann wird Millet eine solche Angst haben, ich könnte Ihnen begegnet sein, daß ich bestimmt nicht mehr weggehen darf.“
Lord Damien lächelte. „Ich habe begriffen“, sagte er. „Ich muß mich bis in den Nachmittag hinein mit leerem Magen durch die Gegend schleppen, damit Sie Ihre Ruhe haben.“
Gracila lächelte und schlug die Augen nieder.
„Aber“, sagte sie leise, „wenn Sie noch eine Weile hierbleiben, dann könnte ich doch schnell essen und zurückkommen.“
„Würden Sie das tun?“
„Gern – es sei denn, Sie wollen lieber irgendwo etwas zu sich nehmen.“
Lord Damien lächelte. „Fasten ist gut für die Seele“, sagte er.
„Sie scheinen sich viel mit Ihrer Seele zu beschäftigen“, erwiderte Gracila spöttisch. „Oder ist es eher Ihr Herz, das Ihnen Schwierigkeiten macht?“
„Vielleicht sind Sie doch nicht vom Himmel gefallen, wie ich anfangs dachte, sondern Sie sind ein raffinierter kleiner Teufel, der mich quälen soll.“
„In dieser Frage“, sagte Gracila, „überlasse ich Ihnen die Entscheidung und erlaube mir, mich zurückzuziehen.“
Während sie sprach, stand Gracila auf, und auch Lord Damien erhob sich.
Einen Augenblick lang sahen sie sich an, und Gracilas Herz klopfte so heftig wie nie zuvor.
„Schwören Sie, daß Sie hierher zurückkommen?“ fragte Lord Damien schließlich.
Gracila brachte kein Wort heraus.
„Wenn Sie nicht zurückkommen“, fuhr Lord Damien fort, „nehme ich das ganze Haus auseinander, und jeder kommt ins Kreuzverhör.“
„Sie haben mir Ihr Versprechen gegeben“, protestierte Gracila.
„Und ich werde es halten, wenn Sie Ihres halten und sofort nach dem Essen wieder hierherkommen.“
„Ich komme ganz bestimmt“, sagte Gracila. „Aber jetzt muß ich wirklich gehen.“
Sie wandte sich ab.
„Sagen Sie mir noch schnell Ihren Namen!“ rief Lord Damien hinter ihr her. „Ich muß doch wissen, wie Sie heißen, wenn ich an Sie denke.“
„Gracila“, antwortete sie und lief davon.
Später hätte sie sich die Zunge abbeißen mögen. Der Name war sehr außergewöhnlich, und durch ihn konnte sie sich verraten haben.
Doch dann sagte sie sich, daß Lord Damien ihr sein Versprechen gegeben hatte und sich nicht nach einer Gracila erkundigen würde.
Welch ein ungewöhnlicher Mann …
Er war so anders, als sie erwartet hatte, was insofern nicht erstaunlich war, als die Schilderungen, die andere von ihm abgegeben hatten, natürlich völlig falsch waren.
Und unmoralisch, verderbt und gottlos ist er auch nicht, dachte sie. Höchstens enttäuscht.
Das war es auch, was sein Gesicht zeichnete. Die Enttäuschung.