FÜNFUNDZWANZIG

Peter lief vor das Haus, um nach Libby zu suchen. Sie war nirgends zu sehen, aber vor dem Eingang lag etwas. Er trat näher heran. Sie hatte Jacob vor die Tür gestellt.

Er bückte sich und steckte eine Hand unter die Decke. Das Baby war erst seit ein paar Minuten dort. Es konnte noch nicht unterkühlt sein, aber es lag so still. Peter hob Jacob aus dem Korb, legte ihn an die Schulter und klopfte ihm auf den Rücken. Ein leiser Schluckauf. Er stieß die Luft aus, die er unbemerkt angehalten hatte. Jacobs Sachen würde er später hereinholen.

Als er in die Küche trat, traf er auf Ann.

Sie starrte ihn aus tiefliegenden Augen an. Ihr Blick wanderte zu dem Baby auf seinem Arm. Dann wieder zu ihm. «Maddie und Kate», sagte sie mit erstickter Stimme. «Geht bitte nach oben.»

«Du hast Daddy angeschrien.» Maddie hatte Tränen im Gesicht. «Warum habt ihr so geschrien?»

«Darüber reden wir später», sagte Ann. «Ich will, dass ihr beide nach oben geht. Sofort.»

«Schön», sagte Kate. «Sag uns gar nichts. Behandle uns wie kleine Kinder. Wie immer!» Abrupt drehte sie sich um und trampelte die Treppe hinauf.

Maddie folgte ihr, aber sie hängte sich ans Geländer und schaute zu Ann und ihm herunter. «Du kommst doch mit, oder, Mom?»

«Ja, gleich.» Ann sah Peter unverwandt an.

«Ich verstehe dich nicht», sagte Peter. Das Baby strampelte, und er schob es auf den anderen Arm. «Deine Kriterien –»

«Unsere Töchter sind mir das Wichtigste.» Ihre Stimme war tonlos. «Und das sollten sie auch für dich sein.»

«Sie müssen nicht das Einzige sein.»

«Doch. Das sollten sie. Das werden sie immer sein. Auch wenn du das nie verstehen wirst.»

Er sah ihr nach, als sie die Treppe hochging. Sie war eine Fremde für ihn. Er konnte nicht glauben, dass sie je ein gemeinsames Leben geführt, Pläne gemacht, Kinder erzogen hatten.

Shazia fragte: «Ist alles in Ordnung, Peter?»

Sie stand mit einer Decke um die Schultern am Eingang zur Küche, hohläugig und zerbrechlich, verunsichert durch den bösen Ton zwischen ihm und Ann. «Ja, alles klar. Du kannst ruhig wieder ins Bett gehen.»

«Sicher?»

«Natürlich. Es hat keinen Sinn, dass wir beide aufbleiben.»

«Sag Bescheid, falls du mich brauchst.» Sie verschwand im Wohnzimmer.

Gleich darauf hörte er die Decken rascheln, als sie sich auf das Sofa bettete.

Er klopfte dem Baby auf den Rücken und ging mit ihm auf und ab.

Von oben hörte er leise Stimmen. Ann unterhielt sich mit den Mädchen. Maddie sagte etwas. Dann wurde es still.

Im Kamin brach ein Scheit entzwei. Hellrote Funken stoben auf. Es war ihr letztes Holz.

Das Baby entspannte sich. Peter trug es ins Wohnzimmer. Vorsichtig versuchte er sich in einen Sessel zu setzen. Das Baby machte sich steif. Peter stand wieder auf.

Jacob drehte den Kopf und versuchte Peter anzusehen.

«Du weißt, dass ich nicht dein Vater bin, was, Kleiner?»

Jacob war nicht verschleimt, und sein Atem ging ruhig. Peter legte einen Finger auf seine weiche, kühle Wange. Jacob ballte die kleinen Fäuste und zuckte zurück. Er öffnete den Mund zum Schreien. Peter drückte ihn an seine Schulter und klopfte ihm auf dem Rücken. Von oben nach unten und wieder von vorn. Sie liefen im Kreis durch die dunklen Zimmer. Esszimmer, Küche, Eingangsdiele. Esszimmer, Küche, Eingangsdiele. Eine Runde um die andere.

Das Baby wurde schlaff. Peter versuchte sich hinzusetzen. Jacob riss die Augen auf. Mit einem Stöhnen stand Peter wieder auf. Er hatte ganz vergessen, wie das war.

Sie gingen ans Esszimmerfenster und guckten hinaus. Mondlicht beschien die Straße und die Bäume in den Gärten. Jacob hob den Kopf. Suchte er seine Mutter?

«Sie kommt wieder», murmelte Peter in sein weiches Ohr. «Sie kommt wieder», versprach er.

 

Durch die Fenster drang erstes graues Licht. Morgendämmerung. Shazia saß im Wohnzimmer in einem Berg von Decken. Er hatte sie wachgehalten.

«Tut mir leid», sagte er. «Es ist eine Weile her, seit ich versucht habe, mich um ein Baby zu kümmern.»

«Macht nichts. Ich kann dir helfen.»

«Würdest du ihn mal nehmen? Vor der Tür liegen Sachen für ihn. Ich muss sie desinfizieren.»

«Klar.» Sie streckte die Arme aus.

Einfach so. Wie schade, dass Ann das nicht gesehen hatte.

Draußen vor der Tür reinigte er die Gläschen, Löffel und Spielsachen mit einem in Bleiche getauchten Tuch. Erstaunlich, was man für ein kleines Kind alles brauchte. Die Kleidung tauchte er in einen Eimer mit Seifenwasser. Er wollte sie ein paar Stunden einweichen. Mit den Wegwerfwindeln und Wischtüchern war nichts zu machen. Nebenan war alles dunkel. Stand Libby am Fenster? Hatte sie gesehen, dass der Korb weg war?

Er hob die Hand. Wenn sie zuguckte, würde sie wissen, dass Jacob in Sicherheit war.

Als er wieder ins Haus ging, stand Shazia am Kamin und wiegte das Kind.

«Wahrscheinlich müsste er mal gewickelt werden.» Peter nahm das Baby und legte es auf eine verdrehte Decke. Jacob drückte das Kreuz durch und wedelte mit den Armen, drehte den Kopf hin und her. «Halt still, kleiner Mann. Ich mach ganz schnell. Shazia, gibst du mir eine Windel aus einer von den Tüten da?»

«Klar.» Sie kramte in den Tüten und zog dies und das heraus. Schließlich fand sie ein Paket Windeln. «Wie alt ist er denn eigentlich?»

Peter wusste es nicht. Er versuchte sich zu erinnern, wann Jacob zur Welt gekommen war. Bei einem seiner Besuche bei Maddie und Kate hatten nebenan vor dem Haus blaue Heliumballons im Wind getanzt. Um den Briefkasten hatten Tulpen geblüht. Also musste es April oder Mai gewesen sein. «Ungefähr ein halbes Jahr, glaube ich.» Er knöpfte den Schlafsack auf und griff nach den drallen Beinchen. Dann zog er Jacob die nasse Windel aus. Öltuch und Salbe konnte er sich sparen. Peter breitete die neue Windel aus, nahm das Baby an beiden Knöcheln hoch und legte den kleinen Popo auf die richtige Stelle. Schließlich zog er die Klebestreifen an und befestigte sie, stopfte die Beinchen wieder in den Schlafsack und drückte die Druckknöpfe zu. Dann schob er ihm eine Hand unter den Kopf und die andere unter den Po und legte ihn sich wieder an die Schulter. Im Aufrichten sah er, dass Shazia ihn staunend ansah.

Er lächelte. «Ist nicht das erste Mal.»

Eine Stufe knarrte. Ann tauchte am Fuß der Treppe auf. Sie hatte die Arme verschränkt und betrachtete sie mit unbewegter Miene. «Wie geht es ihm?»

«Er hustet nicht und hat kein Fieber.»

«Aber er könnte sie trotzdem haben.» Ihr Blick blieb an dem Baby hängen.

«Das werden wir erst morgen Abend wissen.» Die Inkubationszeit für dieses Virus betrug üblicherweise 48 Stunden. Es sei denn, es wäre mutiert. Jacob nuckelte an seiner Faust. «Libby hat Babynahrung hingestellt und Windeln und noch allerlei sonst.»

Anns Miene verdüsterte sich noch mehr. «Wir werden seine Sachen desinfizieren müssen.»

«Das habe ich schon erledigt. Die Kleidung und die Lätzchen sind eingeweicht. Die spüle ich nachher aus.» Er reichte Shazia das Baby.

«Komm, mein Kleiner», flüsterte sie sanft. «Wir können ein Buch lesen, während wir darauf warten, dass die Mädchen aufwachen.»

«Nein», sagte Ann.

Shazia sah sie an.

«Meine Töchter werden nicht in Jacobs Nähe kommen. Nicht ehe wir wissen, dass er nicht ansteckend ist.»

Shazias Blick wanderte zu Peter.

«Sieh mich an, Shazia», sagte Ann. «Ich habe hier das Sagen. Dies ist mein Haus.»

Peter stand auf. «Wir brauchen Feuerholz.» Er ertrug es nicht, Ann anzusehen.

Sie trat beiseite, damit er seine Jacke vom Haken nehmen konnte. Er machte die Tür hinter sich zu. In der Garage fiel sein Blick auf den Schlitten, der auf den Dachsparren stand. Den wollte er mitnehmen.

Ann hatte ihn schwach genannt, aber damit tat sie ihm Unrecht. Er lief vor Problemen nicht weg. Er akzeptierte sie. Das war ein Unterschied.

Nebenan bei Libby und Smith war die Haustür verschlossen. Hinter den Fenstern war alles still. Soweit er feststellen konnte, war Libby nicht wiedergekommen, um nach ihrem Sohn zu sehen. Und von Smith gab es ohnehin nirgends eine Spur.