Innerlich vor Eifersucht brennend, kehrte Jonathan zurück zu seinem Vater, der verborgen im Schatten an der Stelle wartete, die sie mit dem Informanten vereinbart hatten.
Der Sinnesrausch, den ihm die Energie des Blutes bescherte, hatte dazu geführt, dass er Sophie Lacoste über mehrere Hundert Meter hinweg gespürt und gerochen hatte und dieser Verlockung in den Park gefolgt war, bis er sie in den Armen des fremden Mannes gesehen hatte. Zuerst wollte er sich auf den Kerl stürzen, doch als er bemerkte, dass es ein Vampir war, hatte ihn der Funken Verstand, der ihm im Strudel der aufkochenden Eifersucht verblieben war, davor bewahrt, diese Dummheit zu begehen. Nun fragte er sich, was in Gottes Namen Sophie dort getan hatte, in den Armen einer Bestie. Für Jonathan war Sophie wertvoller als jeder Diamant und er wollte diese Frau, wollte sie für sich. Sobald er diesen Vampir aus ihrem Kerker entführt und nach Venedig gebracht hatte, musste er einen Plan schmieden, sie dorthin zu locken. Die Versammlung, die er einberufen würde, sobald er das Serum in seinen Händen hielt, würde ihm dabei helfen. Sie konnte diese Einladung nicht abschlagen und um sicherzugehen, würde er ihren Gefangenen als Lockmittel benutzen.
Nahende Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken. Der alte Mann, mit dem er sich treffen wollte, kam die Straße entlang. Er war in einen langen Mantel gehüllt. Sein Gesicht verdeckte ein Hut und er wirkte nervös.
„Wir sollten uns beeilen. Sophie ist noch nicht zurückgekehrt.“
Das war ihm nun schon bekannt. Aber wenigstens kehrte sie nicht so schnell ins Hauptquartier zurück, solange sie ihn mit diesem Vampir hinterging.
Sophie spürte Geralds Nachdenklichkeit und Traurigkeit. Sie standen auf dem Parkplatz vor ihrer Wohnung und hatten seit einer Weile nicht mehr gesprochen. Er hatte im Park irgendetwas gesehen das hatte etwas Schlimmes in ihm heraufbeschworen. Er würde es ihr nicht erzählen. Er war zu stolz; der starke, unberührbare Jäger, der niemals vor einer Frau Verletzlichkeit zeigen würde. Vielleicht vertraute er ihr noch nicht genug. Ihn so zu sehen, von inneren Schmerzen zerrissen, quälte sie nicht weniger. Sie strich über sein Gesicht, über die rauen Stellen seines Bartschattens. Es war nur ein kurzer Moment, in dem er sich ihrem Mitgefühl hingab, aber genug, um ihr die Hoffnung zu schenken, dass mehr zwischen ihnen lag als Biochemie, eine viel tiefere Verbindung.
Gerald nahm ihre Hand, strich über ihre Finger, verschränkte seine darin und versuchte, zu lächeln.
„Komm.“
Er zögerte, dann nickte er und stieg aus dem Wagen. Als sie kurz darauf aus dem Lift traten und Sophie die Haustür aufschloss, umarmte er sie von hinten, schmiegte sich an sie, küsste zärtlich ihren Hals. Sein Atem, der heiß über ihre Haut strich, weckte die Erinnerung an ihre Nacht und Sophie spürte, wie Erregung in ihr erwachte. Sie öffnete die Tür, wandte sich ihm zu. „Warte.“
Er hielt inne, musterte sie mit fragendem Blick, der keinen Funken Selbstzweifel mehr ausstrahlte, sondern Begehren.
„Nein, keine Sorge, du entkommst mir heute Nacht nicht.“ Sophie legte die Arme um seinen Hals küsste ihn auf die Lippen. „Ich wollte dir sagen, dass ich heute die Gebende sein möchte.“
„Sophie, ich …“
Rückwärtsgehend zog sie ihn in die Wohnung, schob mit dem Fuß die Tür ins Schloss. Dabei öffnete sie sein Hemd Knopf für Knopf, liebkoste seinen Hals, glitt mit den Fingerspitzen über seine Haut, fuhr die Hügel und Täler seiner Muskelpartien nach. Dies waren nicht die Muskeln eines aufgeblasenen Bodybuilders, sondern vom Kampf gestählt.
„Sophie, ich muss jetzt wirklich …“
„Mich küssen?“, neckte sie ihn. Dass er vorgab, sich zu sträuben, gab ihrer Erregung einen Turboantrieb.
Sophie krallte sich in seine Haut. Sie wollte ihn ganz für sich. Zärtlich und fordernd biss sie in seinen Hals, saugte daran, um seinen einzigartigen Geschmack zu kosten, der an ein exotisches Gewürz erinnerte. Sie wanderte zu seinen Brustwarzen, um sie mit ihrer Zunge zu liebkosen und ihn mit Bissen zu necken. Ein kehliges Knurren von ihm war die Belohnung. An seiner Gürtelschnalle zog sie ihn ins Schlafzimmer und setzte sich auf das Bett.
Er stand vor ihr, wie eine in Stein gehauene Statue. Sein Blick zeigte süße Verzweiflung.
„Ich muss gehen. Ich kann heute nicht bleiben.“
Sie ignorierte sein Flehen, küsste seinen Bauch und Nabel. Ihre Finger öffneten den Gürtel und die Hose aus schwerem Leder. Ihre Lippen erkundeten den Weg nach unten, den ihre Hände freilegten. Seine Erregung füllte jeden Zentimeter der schwarzen Boxershorts aus und schien noch zu wachsen, als sie mit den Fingerkuppen der Erhebung folgte und sie schließlich umschloss. Sie glaubte nicht, was sie da tat, denn so forsch war sie noch nie vorgegangen. Aber seine Augen und seine sanft ihren Kopf streichelnden Hände spornten sie an, Dinge zu tun, die sie nie zuvor mit anderen Männern tun wollte. Mit der Zunge zog sie zarte Linien über seine Haut, ihre Hände strichen über seinen wohlgeformten Hintern und seine Schenkel. Irgendwann dachte sie nicht mehr nach. Sie wollte alles von ihm spüren. Als ihre Zunge seine Spitze erreichte, öffnete sie ihre Lippen.
Gerald machte ein Geräusch, dass fast wie Schmerz klang, doch er schob sich ihr sacht entgegen, also verwöhnte sie ihn weiter. Nach einer Weile entzog er sich ihr und hob sie hoch. Einen Moment sahen sie sich schwer atmend in die Augen.
„Ach, zum Teufel noch mal.“ Er küsste sie wie ein Verhungernder und zog sie über sich auf das Bett.
Sie erinnerte sich nicht, wann sie ihre Hose ausgezogen hatte, plötzlich war diese verschwunden. Die Hauptsache war der Mann unter ihr, der seine Leidenschaft nun nicht mehr verbarg. Sie stieg über ihn, umfasste seine Männlichkeit und geleitete ihn zu ihrer Mitte, nahm sie in sich auf. Mit langsamen Kreisen ihrer Hüften begann sie, sich zu bewegen. Er setzte sich auf, küsste sie, erwiderte ihren Takt mit kräftigen Stößen, die ihr Becken zum Beben brachten. Wie flüssiges Feuer strömte die Hitze durch ihren Körper. Alles um sie herum schien zu verschwimmen, sie sah nur noch ihren Krieger. Immer fester schlossen sich ihre Muskeln um ihn, bis sie spürte, wie er unter ihr erzitterte.
In dem Moment, als sich ihre Körper in Lust aufbäumten und Sophie sich an ihn presste, als würden sie zu einem Leib verschmelzen, schien sich sein Geist mit ihrem zu verbinden, eins zu werden und sich mit jeder Faser seines Nervensystems zu einem Geflecht zu verstricken. Sein Blick verschwamm. Er vernahm nur noch ihren Atem, ihren Pulsschlag, und ohne, dass er es wollte, liefen ihre Erinnerungen der vergangenen Tage vor seinem inneren Auge ab. Er erlebte den Kampf mit der Vampirin auf dem Friedhof, ihre Gefühle, als sie ihren Vater tot am Boden liegen sah und plötzlich wusste er, was mit Clement geschehen war.
Die Erkenntnis über den Verbleib seines Bruders traf ihn so heftig, dass das unsichtbare Band der Verbindung jäh abriss. Gerald öffnete die Augen und hielt inne. An Sophies fragendem Blick erkannte er, dass die Verbindung ihm mehr offenbart hatte als ihr.
Sein Herz schlug schnell und hart. Er konnte nicht länger in ihr bleiben. Er schob sie sanft von sich, stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Er war noch immer hart, doch sein Körper und seine Gefühle waren zwei verschiedene Dinge.
„Wie konntest du nur?“, brach es aus ihm hinaus.
Sein Verstand schrie ihn an, dass sie keine Schuld traf. Sie konnte nicht wissen, dass er sein Bruder war und wie viel er ihm bedeutete. Doch im Moment waren seine Emotionen bloß gelegt und er hatte keine Kontrolle über sie.
„Was ist geschehen?“, fragte sie verständnislos. „Was hab ich falsch gemacht?“
Er sog scharf die Luft ein, kämpfte gegen die Wut an. Er war zu verwirrt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Sophie war eine Jägerin, wie hatte er das nur je vergessen können?
„Verdammt noch mal, rede mit mir, Gerald!“ Sie wischte den Schweiß von ihrer Stirn, wirkte hilflos.
Sein Herz schrie danach, sie in die Arme zu nehmen, ihr alles in Ruhe zu erklären, doch er konnte nicht.
„Ich … ich kann nicht.“ Er sammelte seine Kleider auf und begann, sich anzuziehen.
„Herrgott, was ist los?“
Er wandte sich ihr ein letztes Mal zu. „Ist der Kerker der Dank dafür, dein Leben zu retten?“
Er musste weg, raus von hier, alles hinter sich lassen, was nach ihr duftete, an sie erinnerte. Nur so konnte er zur Vernunft kommen. Nie hätte er dem nachgeben dürfen, selbst dann nicht, als ihn André zu dieser Entscheidung bestärkt hatte.
Er rannte die Treppe hinunter. Sie folgte ihm, schaute über das Geländer und er sah ihr blasses Gesicht über sich.
„Er ist mein Bruder! Mein Bruder, Sophie.“
Damit verließ er den Wohnblock und stieg in den Wagen.
„Dein was?“, rief sie ihm nach, lief ihm hinterher. Doch er war längst verschwunden. Kaum war die Tür zugefallen, röhrte der Motor auf. Erschöpft sank sie gegen die Wand. „Scheißkerl“, fluchte sie, ohne es wirklich so zu meinen.
Sein Bruder, hallte es in ihrem Kopf. Wie konnte der Typ in ihrem Kerker sein Bruder sein? Er war ein Vampir, eine Bestie. Das alles hatte sie nicht bei Gerald gesehen. Oder wollte es nur nie sehen? Hatte sie einen Vampir im Bett gehabt?
Aber es war doch Gerald, der Mann der ihr schon dreimal das Leben gerettet, der sie liebevoll und leidenschaftlich geliebt hatte. Bis er wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett sprang und wirres Zeug redete.
Vielleicht war Geralds Bruder ein Vampir, er aber nicht? Aber Wilhelm hatte bei dem Mann im Kerker doch eindeutig von einem Reinblütigen gesprochen.
Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Gerald Vampire gejagt hatte. Das alles ergab keinen Sinn.
Sie stieg unter die Dusche, um ihren Kopf klar zu bekommen und auch, um die Demütigung abzuwaschen. Wovon hatte Gerald nur gesprochen? Und vor allem, wieso kam ihm diese Erkenntnis mitten im Liebesakt?
Sie würde diese Fragen nicht allein beantworten können. Im Kerker des Ordens aber war jemand, der es ihr sagen konnte, sofern sie ihn dazu bringen konnte.
Siedend heiß fielen ihr Meike und Dora ein. Hatte er sie wirklich nach Ungarn gebracht in dieses spezielle Krankenhaus? Oder etwa ausgesaugt und irgendwo verscharrt? Daran konnte und wollte sie nicht glauben.
Nach dem Duschen zog sie ihre Jägerkleidung an. Das Outfit verlieh ihr einmal mehr ein Gefühl von Sicherheit.
Sie rief sich ein Taxi und fuhr zum Hauptquartier.
„Wach auf, Blutsauger“, schrie Jonathan den Vampir an, der mit geschlossenen Augen gefesselt auf der Liege im Kerker ruhte. Er ohrfeigte ihn, bis die glatzköpfige Bestie die Augen öffnete.
„Was willst du?“, fragte der Vampir mit emotionsloser Stimme.
„Nur deine Augen sehen. Mein Vater hatte recht. Du bist der Bruder meines Mörders.“
Jonathan lachte, winkte mit der Hand den Mann aus dem Orden des silbernen Harlekins herbei, der ihm all das ermöglicht hatte. Er würde seiner Bitte stattgeben, den Orden zu wechseln, um ein Teil des Firenze Ordens zu werden. Jonathan brauchte Männer wie ihn. Männer, die noch an den Sieg über ihre ewigen Feinde glaubten, und ihm halfen, aufzubauen, was längst als verloren galt. Aber am dringendsten brauchte er Testkaninchen, die das Serum für ihn erprobten.
Der Mann reichte ihm eine Spritze, die ein starkes Betäubungsmittel enthielt. Eine Entwicklung von Richter, hatte sich Jonathan sagen lassen. Er hatte seinen neuen Diener bereits beauftragt, etwas von dem Betäubungsmittel nach Venedig mitzubringen, damit er es analysieren und nachbrauen konnte.
Die Augen des Vampirs folgten seiner Bewegung.
„Du wirst gleich wieder schlafen“, sagte Jonathan. „Und dann bringe ich dich hier raus, bevor das Mädchen zurückkommt.“
Der Vampir knurrte, stemmte sich gegen die Fesseln.
„Wir müssen das tun. Sie ist schwach. Möglicherweise gibt sie ihren Gefühlen für Vampire nach und lässt dich frei. Das muss ich verhindern. Du bist zu wertvoll, Vermont.“
„Welchen Gefühlen? Sie hält mich für den Mörder ihres Vaters.“ Wieder stemmte er sich dagegen, krümmte sich und schlug wild um sich.
„Das sah vorhin anders aus, als sie Arm in Arm mit deinem Bruder durch den Park spaziert ist.“
Sein Gesicht verzerrte sich und die Reißzähne traten hervor.
„Glaub mir, ich wäre froh, wenn dem nicht so wäre. Aber vielleicht kann ich so auch ihn nach Venedig locken“, meinte Jonathan, setzte die Spritze an und pumpte die gesamte Ladung in den Körper des Vampirs. Dessen Kopf kippte sofort zur Seite.
„Dieses Mädchen gehört mir“, zischte er und seufzte zufrieden. „Wie lange hält es an?“
„Einige Stunden.“ Der Atem des alten Jägers stank nach Alkohol.
„Also werden wir auf ihn achtgeben müssen.“ Jonathan betastete seinen Puls. Das Herz des Vampirs schlug schwach, aber er lebte.
Die Tür des Quartiers fiel ins Schloss. Nicht nur er, sondern auch sein Gehilfe schreckte hoch. Er fürchtete bereits, dass Sophie zurückgekehrt war. Nicht, dass es ihn an seinen Plänen gehindert hätte, aber er wollte ihr alles in Ruhe erklären. Während der Jägerversammlung und nicht hier. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Es war sein Vater, der wesentlich lauter als sonst erschien. Die Hand des Jägers schnellte zur Waffe an seinem Gürtel.
„Nicht doch“, beruhigte ihn Jonathan. „Der hier gehört zu uns.“
„Ein Assassine?“
„Richters Tochter ist im Anmarsch“, erklang seines Vaters Stimme in seinem Kopf.
„Dann müssen wir uns beeilen. Gibt es einen anderen Ausgang als durch das Haus?“
Der Mann neben ihm nickte. „Durch das Tunnelsystem.“
Gemeinsam hoben sie den Körper von der Liege, legten ihn in einen Metallsarg, den sie mit Schlössern verriegelten, und karrten ihn aus dem Raum.
„Ich werde sie aufhalten“, sagte der Assassine.
„Töte sie aber nicht.“
„Keine Sorge, mein Sohn. Ich spiele nur mit ihr, und wenn ich fertig bin, wird sie den großen Bruder unseres Freundes hier mehr hassen als alles andere auf dieser Welt.“ Im nächsten Augenblick war der Assassine verschwunden.
Erst als Gerald die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatte und die Gegend in eine dunkle Wiesenlandschaft überging, hielt er an. Er stieg aus dem Wagen, legte seine Hände auf das Autodach, sah auf den Boden und ließ seiner Frustration Luft. Er brüllte sich die Seele aus dem Leib, bis seine Lungen brannten.
Er trat gegen den Wagen und schlug mit den Fäusten dagegen. All das half jedoch nicht, den Schmerz und die Bestie zu besänftigen, die danach schrie, Sophie zu zwingen, ihm zu verraten, wo Clement war, wo sie ihn versteckt hatte.
Auch wenn er gewollt hätte, er konnte es nicht, weil er sie trotz allem liebte. Aber er liebte auch seinen Bruder. Seufzend sank er auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Wagen.
Was war nur los mit ihm? Wo war der kaltblütige Krieger, der jede Aufgabe mit Präzision ausführte?
Seit er Sophie begegnet war, hatte er sich von einem Löwen in einem Stubenkater verwandelt, der nur noch seinem Kätzchen hinterherschnurrte und dabei die einzige Aufgabe vergaß, die wichtig in seinem Leben war.
Auch wenn André Barov ihm das Vertrauen ausgesprochen hatte, er sah sich als Gefahr für den Rat und für die Sicherheit aller, besonders in dieser Zeit des Wandels, die ihnen bevorstand und die keine Unzulänglichkeiten verzeihen würde.
Seit Tagen verfolgte er nur noch den Gedanken, Sophie zu beschützen, anstatt sich um seine Aufgaben zu kümmern. Nicht Alexandre, sondern er sollte in der Zentrale sitzen, sollte sich um die Probleme kümmern.
Er löste die Körperspannung, ließ sich noch weiter fallen. Sein Kopf sank in seine Hände. Sie hatte mit ihm gespielt, ihn verführt. Und er hatte es zugelassen und genossen. Bei Gott, und wie er es genossen hatte.
Das einzig Gute an seiner nicht vorhandenen Widerstandskraft war, dass er nun die Wahrheit wusste. Aber was sollte er mit diesem Wissen anfangen? Höchstwahrscheinlich hatte er bei Sophie endgültig so viel Porzellan zerschlagen, dass sie ihn nicht mehr an sich heranlassen würde. Sie würde Clement bewachen wie die Amerikaner das Weiße Haus.
Er hob den Kopf und starrte in die Nacht. Der nächste Gedanke fraß sich durch seine Eingeweide: Wenn sie eins und eins zusammenzählte, wusste sie jetzt, dass er ein Vampir war.
Die nächste Patrone aus ihrer Säurewaffe trug seinen Namen.
Sophie zahlte das Taxi. Jetzt, wo sie dank ihres Vaters über ein Vermögen verfügte, war es an der Zeit, sich ein neues Auto anzuschaffen. Sie lief um das Gebäude des Burgtheaters, als plötzlich wie aus dem Nichts eine in schwarze Lumpen gehüllte Kreatur vor ihr auftauchte.
Erschreckt zuckte Sophie zusammen und hielt inne. Da war die Erscheinung schon wieder verschwunden als wäre sie niemals da gewesen. Sie schüttelte den Kopf und ging mit weichen Knien weiter. Jetzt fing sie schon an, zu halluzinieren. Es musste an der Müdigkeit liegen.
Die Kreatur tauchte in diesem Moment des Zweifeins wieder auf und verharrte.
„Hallo Sophie“, hallte eine Stimme in ihren Kopf.
Nun hörte sie auch noch Stimmen. „Du bist nicht wirklich da.“ Sie zwang sich, weiterzugehen.
„Bist du dir so sicher?“
Die Kreatur schlug ihre Kapuze zurück. Ein Kopf kam zum Vorschein, wie der eines Hundes, dem man das Fell abgezogen hat. Sie schluckte den Schrei hinunter. Nur ein Hirngespinst, beschwor sie sich. Das Haus des Ordens lag bereits vor ihr. Nur noch wenige Schritte, dann war sie in Sicherheit.
„Denkst du, diese Mauern halten mich auf?“
Die Bestie lachte grausam und verschwand erneut. Sophie rannte los. Als sie das Haus erreichte, schaute sie kurz über die Schulter. Nichts zu sehen. Sie warf die Tür ins Schloss und eilte ans Ende des Korridors. Der Schreck steckte noch in ihren Beinen. Die Geheimtür war geöffnet. War es ein Spiel? Oder war der Assassine längst an ihr vorbei? Sophie stieg die Treppe hinunter in das Tunnelsystem. Immer wieder hielt sie an, in der Erwartung, der Assassine tauche jeden Augenblick wieder auf. Doch nichts geschah. Ihr Atem und ihre Schritte begleiteten sie, während sie durch den Tunnel zur Tür des Hauptquartiers eilte.
Auch die massive Holztür stand weit offen. Im Saal herrschte Chaos. Himmel, was war hier geschehen? Die Tische und Bänke waren beiseitegeschoben und von der Tür bis zur Stahltür des Kerkers zog sich eine Spur, als hätte jemand einen schweren Gegenstand über den Boden geschleift.
Der Vampir.
Sophie eilte zur Kerkertür. Sie war nur angelehnt, wohingegen die Verbindungstür durch die Glaswand in den eigentlichen Zellenbereich offen stand. Verdammt, die Liege war leer.
„Suchst du etwas?“
Sophie wandte sich um. Ein Schatten stürzte auf sie zu. Sie stolperte zurück, fiel auf die Liege. Knochige Finger legten sich um ihr Gesicht.
„Schließ die Augen“, befahl die Stimme in ihrem Kopf. Sie kämpfte vergeblich gegen die Schwere ihrer Lider. „Ich löse die Blockade, offenbare dir die Wahrheit, die dir genommen wurde.“ Wie stählerne Klammern umschlossen die Klauen ihr Gesicht. „Schlaf.“
Sophie fand sich wieder in dem Traum, den sie oft träumte. Sie stand vor dem Hintereingang zum Theater. Eine gewöhnliche Metalltür aus geschweißten und weiß lackierten Blechen. Sie hob ihre Hand, griff nach der Türklinke. Obwohl sie wusste, dass sich diese Tür nicht öffnen ließ, versuchte sie es jedes Mal aufs Neue und plötzlich klappte es. Die Tür öffnete sich wie von selbst. Warme Luft strömte in ihr Gesicht. Es roch nach Lack und alten Möbeln. Sie betrat einen langen Gang, in dem Requisiten und alte Bühnenbilder lagerten. An einem mit spinnennetzartigen Rissen überzogenen Spiegel im goldfarbenen Rahmen blieb sie stehen. Sie blickte in das Gesicht eines Mädchen an der Grenze zur Frau. Ihre kastanienfarbenen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie trug einen schwarzen Jogginganzug und einen roten Rucksack. So wie an der Tür vorhin, hatte sie das Gefühl, als beginne der Widerstand in ihrem Unterbewusstsein, der sie vor dieser Erinnerung bewahrt hatte, zu bröckeln. Sie erinnerte sich wieder, dass es ein Sonntagabend war. Sie kam von einem Kampfsportturnier und wollte ihre Mutter vom Theater abholen. Die Vorstellung im Burgtheater war ausgefallen und ihre Mutter war noch hier, um zu proben. Sie folgte dem Gang, der zu den Garderoben der Schauspieler führte, blickte durch die Tür in den Umkleideraum ihrer Mutter. Es war dunkel, roch nach Mutters Parfüm. Sie knipste das Licht an und blickte sich in dem penibel aufgeräumten Raum um. Alles hatte hier seinen Platz, vom Blumenstrauß, dem Spiegel bis hin zu der Wand, an der zahlreiche Zeitungsausschnitte und Bilder hingen. Ihre Mutter hatte diese Ordnung gebraucht, um sich vorzubereiten. Da sie nicht hier war, bedeutete dass, sie stand allein auf der Bühne und probte.
Als sie wieder auf den Gang trat, stieß jemand einen schrillen Schrei aus. Er kam von der Tür am Ende des Korridors, hinter der der Bühnenbereich lag. Wieder begann ein Stück der Blockade in ihrem Kopf, zu bröckeln.
Die Vergangenheit vermischte sich mit der Gegenwart. Für einen Moment sah sie den Friedhof und den Grabstein ihrer Mutter. Etwas Furchtbares war hinter dieser Tür geschehen.
Alles in ihr sträubte sich, diesen Augenblick noch einmal zu erleben. Ihr würde nicht gefallen, was sie hinter dieser Tür erwartete. Nicht umsonst hatte etwas sie so lange vor dieser Erinnerung bewahrt. Was es war, wusste sie nicht, aber es verlor an Kraft. Kurz bevor sie die Tür erreichte, verschwamm der Traum erneut. Wie ein Blitzlichtgewitter drangen Eindrücke und Geräusche auf sie ein. Wimmern und Schmatzen, Blut, Gelächter. Geralds Gesicht tauchte auf, genauso wie das ihres schreienden Vaters.
Ihre Hand wog schwer, als sie nach der Türklinke griff. Die unsichtbare Blockade versuchte noch immer, gegen ihren Drang nach der Wahrheit anzukämpfen. Mit letzter Kraft fasste sie nach dem Türgriff, stemmte sich gegen die Tür und stolperte in das Bühnenhaus.
Zahlreiche Scheinwerfer an Decke und Wänden erhellten die weitläufige Halle hinter der Bühne. Requisite, Stell- und Dekorationsstücke lagerten hier. Über ihrem Kopf erstreckte sich ein Dschungel aus Seilen und Ketten. Ein Bühnenhimmel verdeckte die Bühne.
Schmatzen und Grunzen drangen an ihre Ohren. Erneut vermischte sich der Traum mit heraufblitzenden Bildern. Sie starrte in das Gesicht ihres gebrochenen Vaters, sah Gerald, der sich ihr entgegenbeugte, mit ausgestreckter Hand. Das Bild verschwand wieder. Unruhe erwachte. Ihr Herz schlug heftig, als sie sich der Bühne näherte. Heiß und kalt lief es durch ihre Venen. Ein süßlicher Gestank lag in der Luft und etwas metallisches, wie Wasser auf rostigem Stahl.
Dann erblickte sie ihn. Wie eine riesige Bestie mit zottigen Haaren und mächtigen Reißzähnen stand der Vampir über den zierlichen Körper ihrer Mutter gebeugt, der leblos in dessen Armen hing. Blut tropfte von seinen Lippen. Schmatzend trank er aus der Wunde. Immer wieder schlug er die Fänge in die tiefe Wunde, als könne er nicht genug bekommen vom Geschmack des Blutes. Der Körper in seinen Armen zuckte und ein leises Wimmern war zu hören.
Ihr Magen revoltierte bei diesem Anblick und ihre Knie wurden weich. Sie wollte ihrer Mutter zu Hilfe eilen. Etwas in ihr sagte aber, dass es zu spät war. Die Bestie blickte auf, starrte sie an. Plötzlich veränderte sich das Gesicht des Vampirs und sie blickte in Geralds. Er lächelte und doch klebte überall in seinem Gesicht Blut. Aber das konnte nicht sein. War er es? Hatte er ihre Mutter ermordet?
Etwas an dieser Version kam ihr nicht richtig vor. Doch gleichzeitig erschien es ihr einwandfrei. Wieder brach ein Blitzgewitter über sie nieder. Sie spürte Geralds Hände, hörte seine Stimme, sie solle alles vergessen. Er hatte ihr die Erinnerung genommen.
Vergebenes versuchte sie, nach einem Gedanken zu greifen, der ihr immer wieder entschlüpfte und dann entglitt ihr der Traum und sie versank in Dunkelheit.
Gerald läutete und klopfte an Sophies Tür, rief ihren Namen, und als sie nicht öffnete, betätigte er das Schloss mithilfe seiner Telekinese.
Obwohl er sie weder roch noch fühlte, blickte er in jeden Raum. Sie musste ihm gefolgt sein. Er hätte nicht seinen Gefühlen nachgeben dürfen und abhauen.
Wieder ein Fehler. Langsam ließ er nach und sollte sich pensionieren lassen. Sophie war der Schlüssel zu seinem Bruder, und wenn ihr etwas zustieß, würde womöglich auch Clement verloren sein.
Das kurze Eintauchen in ihre Gedanken hatte ihm nicht gezeigt, wo der Raum lag. Er war mit Sicherheit in einem Quartier des Jägerordens. Gerald wusste jedoch nicht, wo es sich verbarg. Die Jäger hielten diese Orte geheim und schützten das Wissen, indem sie es durch Hypnose blockierten. Eine Finte, welche sie bereits seit Jahrhunderten einsetzten, um sich gegen die Fähigkeiten des Gedankenlesens zu wehren. Wie konnte er diese Finte umgehen?
Eine vage Idee kam ihm. Sophie hatte nach dem Tod ihres Vaters sein Vermögen geerbt. Es war ein Strohhalm, an den er sich klammerte, noch dazu ein dünner, aber er musste es versuchen. Um an diese Art von Daten um diese Zeit heranzukommen, musste er zurück in die Agentur. Nur der Zentralcomputer verfügte über Möglichkeiten, auf die Grundbuchaktivitäten zurückzugreifen. Da die Orden auch hier schlau agierten und die Besitzer jeweiliger Liegenschaften nur mit einem Pseudonym nannten, das lediglich einem kleinen Kreis bekannt war, hatte er nur eine winzige Chance. Zumindest fand er vielleicht heraus, wer der Notar war, der sie beraten und die Abwicklung des Erbes durchgeführt hatte.
Zehn Minuten später war er im Büro. Alexandre saß mit blutbeflecktem Hemd an seinem Schreibtisch und winkte Gerald herbei.
„Die beiden Tatorte sind gesäubert.“
„Gute Arbeit, Alexandre.“
„Die beiden Neuen haben sich nicht dumm angestellt.“
„Wo sind sie?“
„Sie überwachen die Gegend um das Apartment. Ich wollte auf Nummer sicher gehen, dass sich kein Morati mehr in der Nähe versteckt, aber wie es scheint, habt ihr heute Nacht den Kern dieses Clans ausgerottet.“
Das würde sich noch zeigen. „Hat es sonst etwas gegeben, das ich wissen müsste?“
„Die üblichen Unruhen seit Gründung der freien Liga. Blutpartys, zwei menschliche Leichen, die Opfer eines Vampirs waren und mehrere Bisswunden, die in Krankenhäusern behandelt wurden. Im Moment beobachten unsere Agenten nur. Die Jäger erledigen die Arbeit.“
Damit verlagerte sich das Problem nur. Durch die Jägeraktivitäten und deren Erfolge war es nur eine Frage der Zeit, bis es wieder zu größeren Geldflüssen kommen würde, um die Orden zu stärken und neue Rekruten auszubilden. Seit der Zerschlagung der Jägerorden waren mehrere Jahrzehnte vergangen. Die Technologie hatte sich inzwischen weiterentwickelt und dank der Möglichkeiten der modernen Kommunikationsmedien würde auch die Schattenwelt des Vampirrats nicht lange verborgen bleiben. Im Moment bestanden die Orden nur aus einer Schar alter Männer, verbunden in einem Netzwerk. Es gab nur wenige Junge, meist Söhne oder Töchter ehemaliger Ordensmeister. Noch waren sie nach Geralds Ansicht nicht in der Lage, diese Medien zu nutzen, um durch gezielte Recherche die Unterwanderung einzelner Organisationen aufzudecken. Denn so könnten sie Personen wie André Barov, die als erfolgreiche Geschäftsleute in der Öffentlichkeit auftraten, mit etwas Geschick entlarven. Sobald die Jagd nach den Vampiren der freien Liga, die sich durch ihr Unwissen selbst ins Verderben stürzten, genug Geld eingebracht hatte, war der Rat nicht mehr sicher.
„Bitte halte hier noch ein wenig die Stellung“, bat Gerald. „Ich muss einige Daten im Netz recherchieren.“
Alexandre nickte. „Natürlich.“
Er ging in sein Büro, warf den Computer an und stellte eine Verbindung zum Zentralrechner her.
Von pochenden Kopfschmerzen geplagt, erwachte Sophie auf der Liege des Kerkers. Es dauerte einige Zeit, bis sich ihre Augen an das grelle Licht des Raumes gewöhnt hatten. Wenn dieses Licht bereits für die Augen eines Menschen zu hell war, wie musste es dann erst einem Vampir ergehen?
Woher kamen diese Gedanken? Hatte sie plötzlich Mitgefühl mit den Bestien?
Wie Peitschenhiebe tauchten die Bilder aus ihrem Traum wieder auf.
Heilige Mutter Gottes!
Hatte er sie getötet oder ihr das Unterbewusstsein nach allen den Jahren des Vergessens einen Streich gespielt? Welche Rolle spielte er in dem Ganzen?
Der Assassine war verschwunden. Sie stand auf, öffnete die Verbindungstür und tippte den Code ein, um die Zylinder der Kerkertür zu aktivieren.
Im Versammlungsraum erwartete sie das gleiche Chaos, das sie bei ihrer Ankunft vorgefunden hatte. Der Assassine kannte das Versteck des Ordens. Nun war sie auch hier nicht mehr sicher.
Sie nahm zwei Kopfschmerztabletten aus dem Medizinschrank hinter der Bar, sank auf einen Hocker und spülte die Tabletten mit einem Schluck Wasser hinunter. Sie stellte das Wasserglas ab und bemerkte ein Kuvert auf der Theke, das mit einem altmodischen roten Wachssiegel verschlossen war.
Für den Orden des silbernen Harlekin, zu Händen Sophie Lacoste, Ordensmeisterin, stand darauf geschrieben.
Das rote Siegel zeichnete sich als Relief eines geflügelten Löwen ab, das Wappen Venedigs. In dieses Wappen war ein kunstvoll gestaltetes F eingearbeitet: der Orden der Firenze, Jonathans Orden. Eine pergamentfarbene Karte mit goldenem Rand und schwarzer Schrift lag im Umschlag. Es war eine Einladung zur Versammlung der Orden in Venedig, die in drei Tagen stattfinden würde. Zur Verhandlung über das Schmieden einer Allianz der Orden. Jonathan versprach, eine neuartige Waffe zur Bekämpfung des übermächtigen Feindes vorzustellen. Mit den Worten „Auf dein Erscheinen freue ich mich besonders, Sophie“, endete der Text.
Seit wann war sie mit dem Kerl per du? Hatte sie Jonathan gegenüber irgendwelche falschen Signale gesendet? Noch viel mehr fragte sie sich, wie dieser Brief hierherkam. Wenn Firenze hier gewesen war, dann hatte er auch von ihrem Gefangenen Wind bekommen oder einer der beiden Jäger hatte es ihm erzählt. Sie dachte an das Stück Papier, das sie vor Tagen in Wilhelms Wohnung gefunden hatte. Hatte er den Orden verraten?
Sie ging in Wilhelms Zimmer. Es war noch penibel aufgeräumt und auch das Stück Papier lag an derselben Stelle. Dominik hatte von einem Experiment gesprochen, für das Jonathan das Blut eines Reinblüters brauchte und nur Wilhelm hatte auf ihre Anordnung, den Gefangenen im Kerker geheim zu halten, nicht geantwortet.
„Dieser Dreckskerl!“
Sein Verschwinden, seine seltsam verschlossene Art, einfach alles an ihm war verdächtig. Vermutlich war sogar Julius’ Tod eine Folge von Wilhelms Verrat.
Der Schmerz in ihrem Kopf pochte und sie kämpfte gegen eine Welle der Müdigkeit an. Allmählich wuchs ihr die ganze Sache über den Kopf. Ihr Leben war ein einziges Durcheinander. Das kleine Einzelunternehmen, das sie gegründet und mühsam aufgebaut hatte, war völlig ins Hintertreffen geraten. Sie hatte Termine vernachlässigt und Mails nicht beantwortet. Aber zumindest das war dank des Erbes im Moment nebensächlich. Vielmehr plagten sie die unzähligen offenen Fragen, ihre Beziehung zu Gerald, den ihr Traum als Mörder ihrer Mutter entlarvt hatte, der Vampirclan, der sie auf jedem Schritt verfolgte und nun auch noch der Verrat innerhalb des eigenen Ordens.
An Dora und Meike wagte sie gar nicht erst, zu denken. Wie sollte sie das alles allein bewältigten? Und wo sollte sie beginnen? Sie wusste auch nicht, was dieser Assassine zu bedeuteten hatte und ob oder wann er wieder auftauchte und sie bedrohen würde.
Als sie aufstand, schwindelte ihr. Der Raum begann, sich zu drehen. Sie atmete tief durch. Sie durfte jetzt nicht aufgeben. Das lag nicht in ihrer Natur. Sie musste so lange kämpfen, bis sie alle Probleme bewältigt hatte und mit der Versammlung in Venedig würde sie beginnen.
Wankend schleppte sie sich in den Aufenthaltsraum. Sie wollte in ihr Zimmer, wenigstens ein paar Stunden schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Da stand er plötzlich vor ihr.
Es hatte eine Weile gedauert, bis sich Gerald endlich im Dschungel des Netzes zurechtgefunden hatte und mithilfe diverser Umgehungsprogramme in einige Datenbanken eingedrungen war, die ihm Aufschluss geben sollten. Schließlich gelang es ihm, eine Liste aller Notare zu erstellen und der von ihnen durchgeführten Aufträge. Wie erwartet fand er weder die Namen Richter noch Lacoste unter den Klienten, dafür aber einen Herrn Julius, der ihm nur allzu bekannt war. Anteile des Bestattungsunternehmens hatten vor wenigen Tagen den Besitzer gewechselt von einem Gottfried Simon zu einer Theresa Max. Ein euphorisches Gefühl machte sich breit. Er durchsuchte die gesamte Liste und fand zehn Liegenschaften, die in den Besitz von Theresa Max übergegangen waren. Er musste jeden dieser Orte durchsuchen. Zuvor aber wollte er der Kanzlei von diesem Doktor Seewald einen Besuch abstatten, um sicherzugehen.
Der neue Tag brach an und die Sonne ging bereits auf. Obwohl er seinen Bruder finden musste, konnte er noch nicht wieder raus. Sein Körper hatte sich noch nicht von der überhöhten Strahlendosis erholt und tot würde er seinem Bruder am wenigsten nützen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Tag zu ruhen und abzuwarten, ob er wollte oder nicht.
„Was gefunden?“, fragte Alexandre, der aus dem Büro kam, als sich Gerald auf den Weg zu seiner Unterkunft machte.
„Scheint so. Ich werde heute Nacht diesen Notar aufsuchen. Würdest du bitte die Adressen auf diesem Papier in das Navigationssystem meines Wagens übertragen?“
Alexandre nickte. „Ich werde mich darum kümmern.“
„Wenn etwas sein sollte, ich bin in meiner Unterkunft.“ Er hoffte, auf der richtigen Spur zu sein, dann konnte er Alexandre von seiner Bürde befreien und sich selbst wieder um seine Aufgaben kümmern.
„Du wagst es!“, herrschte Sophie den alten Mann an. „Nach allem, was du getan hast, kommst du noch hierher, Wilhelm?“
Sichtlich erschreckt von der rüden Art wich Wilhelm zurück und starrte sie aus großen Augen an.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
„Du warst es also nicht, der all diese Dinge getan und unseren Orden verraten hat?“
„Was immer du meinst, meine Antwort ist nein.“ Er hielt seine Hände abwehrend vor seinen Körper, als hätte er Angst, sie würde jeden Augenblick über ihn herfallen.
„Zuerst das Video, jetzt der Vampir, den wir gefangen hatten, und was soll die Telefonnummer von diesem Jonathan Firenze auf deinem Schreibtisch?“
„Was ist mit dem Vampir?“
„Ach, du weißt also nichts davon, dass er aus der Zelle verschwunden ist?“ Sie ging darauf zu.
Wilhelm folgte ihr mit gehörigem Sicherheitsabstand und begutachtete die leere Zelle mit einer ungläubigen Miene.
„Und du hast vermutlich auch keine Ahnung, wo das Video abgeblieben ist?“
„Du musst mir glauben, Sophie. Ich habe mit all dem nichts zu tun.“
„Wie könnte ich dir vertrauen? Du sprichst kaum ein Wort, haust einfach ab, um tagelang nicht mehr aufzutauchen und auf dem Schreibtisch deiner Kammer finde ich eine Notiz über Jonathan.“
Er schüttelte den Kopf. „Du verstehst das falsch. Ich war … bin diesem Orden immer treu geblieben.“ Seine Stimme zitterte. „Nur ist es für mich nicht so einfach, hierherzukommen.“ Wilhelm wich ihrem Blick aus. „Ich bin verheiratet, seit vielen Jahren. Meine Frau, meine Kinder und meine Enkelkinder wissen von all dem hier nichts, verstehst du?“ Er setzte sich an den Rand der Liege. „Wenn ich herkomme, dann schleich ich mich abends aus dem Haus oder gehe zum Schein zum Kartenspielen. Aber ich habe den Orden nie verraten. Wie kannst du nur glauben, ich könnte deinem Vater in den Rücken fallen?“
Seine Beichte berührte sie und klang zu echt, als dass sie gespielt sein konnte. „Aber wer hat das hier getan?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon wusste, so unlogisch es in diesem Moment auch erschien.
„Dominik“, sagte Wilhelm leise. „Ich wollte es dir sagen, aber du hättest mir nicht geglaubt.“
„Was? Aber weshalb?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Wilhelm. „Vielleicht ist er unzufrieden, weil sein Leben nicht so verlaufen ist, wie er wollte. Dominik ist zum Orden gekommen, um Vampire zu töten und hat dafür sein altes Leben, seine Familie, seine Freunde, einfach alles aufgegeben. Die vergangenen Jahre waren nicht gerade aufbauend. Ich habe meine Familie, doch Dominik hat nicht mehr als diese Wände hier und die Hoffnung, dass er irgendwann wieder seiner Bestimmung folgen kann.“
„Dann ist er mit Jonathan nach Venedig abgehauen“, dachte sie laut.
„Wahrscheinlich. Was wirst du nun machen?“
„Ich werde zu der Versammlung fahren. Dabei kann ich gleich die Gelegenheit nutzen, mir das Haus anzusehen, das Vater mir dort vererbt hat.“
„Auch wenn ich es wollte, ich kann dich nicht begleiten.“
Nach seiner Offenbarung verlangte sie das auch nicht. „Hast du ein Auto? Irgendetwas, mit dem ich bis dorthin gelange?“
Wilhelm nickte. „Wenigstens damit kann ich dir helfen.“
„Haben Sie gute Nachrichten für mich, Doktor Mare?“ Jonathan ließ den weißhaarigen Mann eintreten und bat ihn die Treppe hinauf in die Empfangshalle des alten Hotels.
„Leider nein“, antwortete der Mann. Jonathan hatte den Genetiker engagiert und in seinen Plan eingeweiht, um auf Nummer sicher zu gehen, dass auch alles klappte. „Es liegt an den Reagenzien.“
„Wie darf ich das verstehen?“ In der Empfangshalle angekommen, bot er dem Mann einen Platz auf einem der bequemen Polsterstühle an und brachte die Teekanne und zwei Tassen herbei, die er von Dominik hatte vorbereiten lassen.
„Nun, sagen wir so“, begann der Mann vorsichtig. „Etwas scheint mit der letzten Konserve nicht zu stimmen.“
„Sie meinen das Blut des Reinblüters?“ Jonathan goss Tee in die Tasse.
„Ich habe das Rezept des Alchemisten zigmal durchgelesen, es durchdacht. Der Mann war ein Genie seiner Zeit und es müsste nach seinen Aufzeichnungen so funktionieren.“ Er griff nach der Tasse. Seine Hände zitterten, als er einen kräftigen Schluck nahm. „Das Blut, das Sie mir gegeben haben, ist nicht rein, zumindest nicht so, wie es in den Aufzeichnungen verlangt wird.“
„Nicht rein?“ Jonathan glaubte kaum, was er hörte. In seinem Kerkerverlies ein Stockwerk unter ihnen ruhte ein Sohn des Vampirfürsten Maxime Vermont.
„Die Blutlinie stimmt“, sagte der Mann, den Jonathan in erster Linie, aufgrund seiner Erfahrung engagiert hatte.
Er hatte Bücher und Aufzeichnungen des Wissenschaftlers gelesen, der sein Leben der Erforschung einer im Schatten lebenden Spezies gewidmet hatte. Seine Kollegen lachten über ihn, hielten ihn für einen Spinner, weil er diesem Hirngespinst hinterherjagte. Umso einfacher war es, ihn mit etwas Geld und Schädelteilen jener Geschöpfe zu locken, deren Existenz er durch Erforschung ihrer Gene nachgewiesen hatte. Diese Gene hatte er von Tatorten rund um den Globus und sie bewiesen Jonathan, wie viele Bestien noch immer über diesen Planeten wandelten.
„Die DNS enthält menschliche Spuren, was bedeuten würde …“
„Er ist das Ergebnis eines Abenteuers der Fürstin?“, unterbrach Jonathan.
„Es scheint so. Wir wissen es nicht genau, aber der Verunreinigung nach zu schließen, war der Vater von Clement Vermont ein halbblütiger Vampir.“ Doktor Mare zog den Kopf ein, als er erwarte er, dass wie früher der Überbringer der schlechten Nachricht sein Haupt verlor. „Was denken Sie, sollen wir es trotzdem versuchen?“
„Nein“, antwortete Jonathan. „Das hätte wenig Sinn. Es ist schon ein Mal fehlgeschlagen, als die Zutaten mangelhaft waren und ich möchte, dass es dieses Mal perfekt wird.“
„Wie Sie wünschen, Herr Firenze.“ Doktor Mare nippte an seinem Tee. „Aber wie wollen sie an einen weiteren Vampir dieser Reinheit gelangen?“
„Überlassen Sie das mir. Wir haben unseren Bastard und werden ihn als Köder benutzen, um seinen Bruder zu fangen. Wir wollen hoffen, dass Clement das einzige Kuckucksei dieser Familie ist.“
Sophie würde ihm dabei ebenfalls zu Diensten sein. So wie er sie einschätzte und wie Dominik von ihr gesprochen hatte, war sie ein stures Biest, das sich ihren Schatz nicht einfach würde nehmen lassen. Wobei er noch immer nicht verstand, warum sie Clement gefangen hielt und zugleich eine Romanze mit Gerald unterhielt.
Sie würde nach Venedig kommen, um ihre Trophäe zurückzufordern und wenn sie es nicht offen tat, würde sie Clement suchen, um ihn zurückzustehlen. Jonathan beschloss, sie nicht daran zu hindern, im Gegenteil. Er nahm sich vor, ihr die Suche zu erleichtern. Dabei musste er nur auf der Hut sein, den Moment nicht zu verpassen, in dem sie zuschlug. Wenn alles klappte, würde er schon bald Geralds Blut haben und Sophie würde ihm zu Füssen liegen, als dem Anführer der neuen Jägerallianz, Viribus Unitis, die er in zwei Tagen zu gründen gedachte.
„Gerald? Bist du wach?“, fragte Alexandre, der in der Tür zu seiner Unterkunft erschienen war, um ihn an den Einbruch der Dunkelheit zu erinnern.
„Das bin ich.“
Er hatte nicht geschlafen, dazu waren ihm zu viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Fragen, ob er Clement finden würde und wie es mit seiner Beziehung zu Sophie weitergehen sollte. In ihm wütete ein fürchterlicher Zwiespalt. Bereits als die erste Wut verflogen war, hatte er Sophie vermisst, doch zugleich weckte der Gedanke den Zweifel, dass es jemals eine gemeinsame Zukunft gäbe.
„Ich habe die Gebäude gesucht und das GPS vorbereitet, Gerald. Vielleicht kann ich helfen, nach Clement zu suchen?“
„Das kannst du. Nachdem ich mich bei diesem Notar umgesehen habe, melde ich mich. Wenn ich recht habe, werden wir die Ziele aufteilen und nach Clement suchen.“
Gemeinsam kehrten sie zu den Büros zurück. Gerald nahm die Liste sicherheitshalber auch als Ausdruck mit.
Die Kanzlei erwies sich als belebter, als Gerald um die Zeit erwartet hatte. Dabei hatte er gehofft, diesen kleinen Einbruch unkompliziert abwickeln zu können.
Er betrat den Altbau und stieg die Treppe in die erste Etage hinauf. Hinter der Eingangstür zur Kanzlei erklang ein Seufzen und Stöhnen. Auch eine Form der Arbeit, doch leider musste er den Notar bei seinem Schäferstündchen unterbrechen. Er öffnete das Schloss. Was von außen nach hemmungslosem Treiben geklungen hatte, wandelte sich ins Gegenteil, als Gerald den Raum betrat. Er hörte die Geräusche nun deutlich, roch Ausdünstungen und Blut eines angsterfüllten Menschen.
Die Tür zu einem hell beleuchteten Büro stand einen Spalt offen, offenbarte den Umriss einer hochgewachsenen, in schwarze Lumpen gehüllten Kreatur. Ohne zu zögern, riss er die Tür auf. Ein Assassine wirbelte in diesem Augenblick herum, überrascht, Gerald zu sehen, verzerrte seine Fratze zu einem breiten Grinsen. Der Notar kauerte neben seinem Schreibtisch auf dem Boden, halb an die Wand gelehnt und sichtlich geplagt von den psychischen Misshandlungen des Assassinen.
„Gerald Vermont“, sagte der Assassine.
Da Gerald jeglichen Zugang zu seinem Geist blockierte, war die Bestie gezwungen, zu sprechen. Das Gesicht war ihm seltsam vertraut. Nicht durch den Tod seines Bruders, sondern durch ein weiter zurückliegendes Ereignis. Gerald gelang es nicht, die Erkenntnis zu entwirren, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er keine guten Erinnerungen an diese Kreatur hatte.
„Ich würde dir zu gern alles erklären, aber ich habe die Informationen, die ich suchte und mir bleibt nur wenig Zeit.“
Er flatterte mit den Händen. Der Mann am Boden schrie auf, zappelte, verdrehte seine Augen und kippte zur Seite. Blut floss aus Ohren und Nase.
„Ich muss gehen. Wir sehen uns bald wieder.“
Damit war der Assassine verschwunden, schneller als Gerald reagieren konnte. Er kniete sich vor den Körper des Notars, berührte die Halsschlagader. Sein Puls hatte aufgehört zu schlagen, der Assassine hatte ihn getötet.
Verdammt. Ein weiterer Tatort, den es zu bereinigen galt. Der Tod einer in der Öffentlichkeit stehenden Person war weit schwieriger zu vertuschen. Vor allem erwuchs aus dem Tod des Mannes Fragen: Was hatte der Assassine von ihm gewollt? War es Zufall oder war diese Bestie denselben Informationen auf der Spur?
Gerald verständigte Brom. Dann machte er sich auf die Suche nach den Unterlagen, durchwühlte die Aktenschränke und den Stapel auf dem Schreibtisch, ohne Erfolg.
„Wo ist es versteckt?“, fragte er den Leichnam.
Er würde ihm nicht mehr antworteten. Oder doch? Gerald bemerkte, wie der Blick des Mannes auf eine Stelle an der Wand gerichtet war, an der ein Ölgemälde hing. Er trat vor das Bild und tastete es ab, rund um die Innenseite des Rahmens, bis er einen Hebel spürte, bei dessen Betätigung das Bild zur Seite schwang und einen Tresor freilegte. Diesen zu knacken kostete ihn nur einen tiefen Atemzug und etwas Konzentration. Der Assassine hatte sich nicht die Mühe gemacht, diesen versteckten Tresor zu öffnen, sondern die Informationen einfach aus dem Kopf des Mannes bezogen.
In dem stählernen Innenraum lagerten zahlreiche Akten. Ein Stapel lautete auf die Namen Gottfried Simon und Theresa Max, mit einem Klammervermerk Friedrich und Sophie Richter. Er brauchte nur noch einen Blick in die Unterlagen zu werfen, um zu erkennen, dass es sich dabei um exakt jene Anwesen handelte, die er gefunden hatte. Sophie hatte nicht nur Gebäude in Wien geerbt, sondern auch Häuser in Venedig, New York, London und weitere Gebäude, denen er im Moment keine Aufmerksamkeit schenkte. Zuerst mussten sie Wien durchsuchen. Dennoch war er überrascht, welch gewaltiges Vermögen Richter besessen hatte, das nun in Sophies Besitz übergegangen war und wer immer davon Wind bekam, konnte dieses Wissen ausnutzen, um sie zu erpressen. Wobei er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Assassine derartige Mittel nötig hatte.
Von schrecklichen Träumen geplagt, in denen Gerald als blutrünstiges Monster die Hauptrolle spielte, erwachte Sophie in ihrem Zimmer. Zitternd und schweißgebadet versuchte sie, die Erinnerungen an die Bilder des Traums zu verdrängen, die sich selbst nach ihrem Erwachen noch in ihrem Kopf abspielten.
Es tat weh, Gerald so zu sehen. Denn das passte einerseits nicht zu dem Gerald, den sie kannte und andererseits nicht zu den Gefühlen, die sie für ihn empfand. Trotzdem waren die Bilder real. Es fiel ihr schwer, Traum und Wirklichkeit voneinander zu trennen und vielleicht kam daher auch das Gefühl, Gerald schon lange zu kennen.
Ohne dass sie es wollte, weckte dieser Traum eine unsägliche Wut auf ihn und sie wusste im Moment nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie ihm das nächste Mal gegenüberstand. Es war ein Strudel der Gefühle, ein Vermischen von Zu- und Abneigung, das jeglichen klaren Gedanken an ihn verschwimmen ließ. Wenn sie an seine Berührungen, seine Küsse dachte, wünschte sie sich, in seinen Armen zu liegen. Es war zum Verzweifeln. Sie stand auf. Trotz des unruhigen Schlafs fühlte sie sich ein wenig gestärkt, bereit, nach Venedig aufzubrechen und nach dem Vampir und der Wahrheit zu suchen.
Ihr blieben zwei Tage, bevor die Versammlung stattfinden würde. Jonathan hatte keinen genauen Ort auf der Einladung genannt. Wahrscheinlich würde er sie kurz vor Beginn darüber informieren. Zur Not hatte sie seine Nummer.
Wenigstens blieb ihr in Venedig Zeit, um darüber nachzudenken, wie sie auf Dominiks Verrat reagieren sollte. Sie musste an die Worte des Vampirs denken, an seinen Hinweis, dass ihr Vater nicht aufgrund eines Herzversagens gestorben war, sondern vergiftet wurde. In seinem Blut war Assassinen-DNS gefunden worden. Welche Rolle spielte Dominik in diesem Stück und war es die DNS des Assassinen, der sie angegriffen hatte? Das alles ergab keinen Sinn, kein klares Bild, nur ein heilloses Durcheinander offener Fragen.
Wilhelm war längst verschwunden, als sie in den Versammlungssaal kam. Wer hätte gedacht, dass dieser verrückte alte Kauz eine Familie und Enkelkinder hatte?
Er hatte sein Versprechen gehalten, ihr sein Auto zu leihen. Auf dem Tresen neben Jonathans Einladung lag ein Schlüssel und daneben eine Notiz: Der schwarze Chrysler Voyager am Parkplatz hinter dem Burgtheater … pass auf dich auf.
Auf dem Stück Papier fand sie eine Handskizze mit der Straße und einem X für den genauen Standort des Wagens. Es war kurz vor 22 Uhr. Sie gönnte sich einen schnellen Snack aus schwarzem Kaffee und ein paar Crackern. Anschließend kramte sie im Labor zwei Dolche und Betäubungsmunition zusammen und rüstete sich mit einem Navigationsgerät aus. Im Schreibtisch ihres Vaters fand sie die Adressen und Schlüssel sämtlicher Liegenschaften. Bevor sie nach Venedig aufbrach, wollte sie noch in ihre Wohnung, um auch dort ein paar Sachen zusammenzupacken, danach konnte es losgehen. Ihr graute vor der rund fünfstündigen Autofahrt, doch fliegen kam wegen ihres Waffenarsenals leider nicht infrage.
Nachdem Gerald das lange verlassene Vorstadthaus, das nicht unweit der Liegenschaft der Vermont Villa lag, durchsucht hatte, gab er auf und fuhr zum nächsten Objekt.
Auch Alexandre hatte bisher keinen Erfolg gehabt und die Liste der in Wien infrage kommenden Gebäude verkürzte sich rasch. Es blieb nur noch ein Haus in der Wiener Innenstadt, nahe des Burgtheaters, das sie nicht durchsucht hatten. Das schmale Reihenhaus wirkte auf den ersten Blick wenig ermutigend. Es erschien heruntergekommen. In seinem Inneren offenbarte sich eine Liegenschaft, die ihre besten Jahre längst hinter sich hatte. Die Zimmer waren seit einem Jahrhundert nicht renoviert worden, manche hatten als Lager gedient, doch mehr als Gerümpel fand er nicht.
Er wollte bereits umkehren, als ihn ein scharfer Luftzug veranlasste, die Wand am Ende des Korridors im Erdgeschoss genauer zu untersuchen. Er fuhr mit der Hand über das rissige Mauerwerk und ertastete den rechteckigen Umriss einer Tür. Dahinter lag eine Treppe, die ins Kellergeschoss führte und als er einatmete, wusste er sofort, dass er hier richtig war, denn unter dem schweren, feuchtmodrigen Gestank lag die Nuance von Sophies Duft. Es konnte nicht lange her sein, seit sie das letzte Mal hier war. Motiviert eilte er die Treppe hinunter. Im Dunkeln folgte er dem Tunnel, kehrte um, als er in eine Sackgasse stieß und blickte hinter jede der hölzernen Türen, die einst Kerker gewesen sein mussten.
Schließlich gelangte er an eine Tür am Ende eines Ganges, die sich von den anderen unterschied. Sie verbarg, wonach er gesucht hatte: Das Quartier eines Jägerordens. Er jubelte innerlich. Was vorhin nur eine Nuance ihres Duftes war, erfüllte den ganzen Saal, sodass er dachte, sie sei noch hier. Er rief ihren Namen, eilte durch den Raum, blickte in jede Kammer, angeekelt von den Trophäen an der Wand so manchen Raumes.
Nur eine Kammer schien, als habe schon lange niemand mehr darin gewohnt. Der Schrank und die Wände waren leer, doch das Bett war vor Kurzem benutzt worden und er erkannte von wem, denn alles hier duftete noch mehr nach ihr.
Sein Herz schlug schneller, Sorge kämpfte mit Verlangen und Zorn, erinnerte ihn, dass sie seinen Bruder eingesperrt hatte und zugleich an die Leidenschaft, die sie ihm entgegengebracht hatte.
Zurück im Saal fand er auch endlich einen Hinweis auf Clements Verbleib. Hinter einer angelehnten, stählernen Tür, die für gewöhnlich durch ein digitales Zahlenschloss versperrt war, fand er die Zelle, die er in Sophies Flashback gesehen hatte. Auf er Liege, auf der sie ihn gefesselt hatten, klebte das Blut seines Bruders. Es war eingetrocknet. Sie mussten ihn bereits vor Stunden aus der Kammer gebracht haben. Schleifspuren auf dem Boden, die quer durch den Versammlungssaal verliefen und ihm jetzt erst richtig auffielen, ließen darauf schließen, dass sie Clement in einer schweren Kiste befördert haben mussten.
Eine düstere Vorahnung beschlich ihn.
Heiß und kalt lief es über seinen Rücken bei der Vorstellung, dass sein Bruder bereits tot war. Er schloss für einen Moment die Augen, atmete tief, um das Feuer zu besänftigen und wieder klarer denken zu können. Wie von selbst schlug er mit der Faust gegen das Blech der Liege, hämmerte eine tiefe Delle in das Metall, dann wirbelte er herum, kehrte zurück in den Saal. Er untersuchte jede Ecke nach Hinweisen auf Clements Aufenthalt, bis er eine Einladungskarte zu einer Jägerversammlung in Venedig fand. Von einer neuen Waffe war die Rede.
Vielleicht hatte sie Clement dort hingebracht? Wenn es eine neue Waffe zur Bekämpfung seiner Rasse gab, dann brauchte man ein Opfer, an dem man sie demonstrierte und wer eignete sich besser als ein Reinblüter?
Verdammt noch mal, so musste es sein. Er musste sofort mit Alexandre sprechen und alles zum Aufbruch vorbereiten. Es gab nur ein Ziel. Clement zu finden, bevor es zu spät war. Der Einladung zufolge blieben ihm nur noch zwei Tage.
Das Haus, das ihr Vater einst in Venedig erworben hatte, war ein dreistöckiger Prunkbau, der die Baustile mehrerer Epochen vereinte, wobei die Einflüsse der Renaissance überwogen. Aufwendige Gesimsarbeiten und Giebelfenster mit Verzierungen dominierten. Auf den Dächern ruhten steinerne Gargoyles und wachten stoisch über das Haus.
Als Kind war sie einige Male hier gewesen, ohne zu wissen, dass ihrem Vater dieses Haus gehörte. Obwohl die Villa seit Jahren unbewohnt war, wurde sie gepflegt. Kein Staubkorn bedeckte die Böden. Weiße Tücher verhüllten sorgsam Möbel und Gemälde an der Wand. Das Geschirr in den Vitrinen glänzte einladend. Es war kein Zufall, dass ihr Vater gerade dieses Haus gehütet hatte wie seinen wertvollsten Schatz. Sophie wusste, wie sehr ihre Mutter Venedig geliebt hatte und erst auf ihrer jetzigen Reise war ihr bewusst geworden, dass es Vaters Hochzeitsgeschenk gewesen sein musste. Sie erinnerte sich an einen Sommer, als Mutter wegen einer Entzündung ihrer Stimmbänder nicht singen konnte und fünf Wochen mit ihr in Venedig verbracht hatte. Es war eine ihrer schönsten Kindheitserinnerungen. Umso trauriger war sie, als sie daran dachte, aus welchem Grund sie dieses Mal nach Venedig gekommen war.
Der erste Tag in Venedig verlief ruhig. Sie spazierte durch die Straßen und machte sich mit dem Labyrinth der Stadt vertraut, von der sie anfangs glaubte, sie kenne jeden Winkel. Diese Ansicht änderte sich schnell, nachdem sie sich hoffnungslos verlaufen hatte und sich eine Karte kaufen musste, um wieder zurückzufinden.
Am späten Nachmittag rief sie die Telefonnummer von Jonathans Visitenkarte an. Es meldete sich nur ein Tonband, dem sie verriet, dass sie zur Versammlung erscheinen würde und um die genaue Adresse bat.
Jonathans Rückruf ließ bis in die Abendstunden auf sich warten. Seine Stimme klang heiser und erregt, als er ihr die Adresse eines Hotels im Stadtteil San Polo nannte und sie im selben Atemzug zu einer Besichtigungstour durch Venedig einlud. Sie lehnte seine Offerte dankend ab und versprach, pünktlich zu der Versammlung zu erscheinen.
Nachdem das Gespräch beendet war, machte sie sich auf den Weg zu der genannten Adresse, um die Gegend auszukundschaften. Sie fand ein ungepflegtes Haus. Wie Jonathan erwähnt hatte, war es ein ehemaliges Hotel, das einer verfallenen Spelunke glich. Der perfekte Ort für das Versteck eines Jägerordens. Sie hielt sich zurück, das Haus näher zu untersuchen oder gar zu versuchen, einzudringen. Geduld war die bessere Strategie. Zwar wusste sie nicht, was er mit dem Vampir vorhatte, aber vielleicht konnte sie sich während der Versammlung davonstehlen, um nach ihm zu suchen. Bis dahin musste sie ausharren, auch wenn es schwerfiel.
Durch den Spalt zwischen den vernagelten Fenstern sah er sie. Groß, schlank, mit wallendem Haar, das im Licht der Straßenlaterne glänzte. Jonathan hatte erwartet, dass sie kommen und die Adresse auf eigene Faust auskundschaften würde.
Er folgte ihr mit seinem Blick, beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sein Blick war schärfer geworden, seit er von dem Blut der Frau getrunken hatte. Allmählich ließ die Wirkung nach, und auch wenn er keinen Durst verspürte wie ein Vampir, konnte er kaum erwarten, seine Lippen erneut auf eine geöffnete Ader zu legen. Am liebsten hätte er von Sophie gekostet, selbstverständlich nicht, um sie zu töten. Wenigstens nicht, solange die Hoffnung lebte, dass sie schon bald ihm gehören würde. Noch musste er warten, bis sie Gerald Vermont zu ihm führte. In seiner Erinnerung flammten die Bilder aus dem Park auf. Er sah sie in den Armen des Vampirs. Tief atmend wandte er sich vom Fenster ab, als sie umkehrte und in einer Gasse verschwand. Er schwor sich, er würde Sophie von dem Vampir befreien, sobald er das Blut in seinen Händen hielt.
Eine Zeit lang strich Sophie durch die Straßen um das Hotel, versuchte, sich die Wege einzuprägen und kehrte schließlich in die Villa auf der anderen Seite des Canal Grande zurück.
Sie vermisste Dora und Meike, fragte sich, wie es den beiden erging und hoffte, Gerald habe sie nicht belogen mit seinem Versprechen, ihnen helfen zu können. Sie setzte sich an den großen Esstisch und begann, die Pistole in ihre Einzelteile zu zerlegen und zu reinigen, wie Vater es sie gelehrt hatte. Sie hatte sich früher immer geschworen, diese Dinger niemals an einem Lebewesen zu benutzen und nun hatte sie schon drei Mal damit gemordet. Mord, wiederholte sie das Wort in Gedanken, mehr war es nicht. Kein Vergnügen, keine Heldentat, sondern blanker Mord, um des eigenen Überlebens willen.
Vor ihr floss das schwarze Wasser durch den Kanal. Eine Gondel glitt langsam vorbei. Während ihr Blick dem Boot folgte und sie die Waffe zusammensetzte, musste sie an Gerald denken. In ihrer Erinnerung vermischten sich Traum und Realität. Sofort spürte sie, wie sehr sie sich sträubte, den brutalen Bildern in ihrem Kopf Glauben zu schenken. Sie sehnte sich nach ihm. Seine Ruhe und Gelassenheit, sein ganzes Wesen, das immer nur Friedliches ausgestrahlt hatte. Was war Wirklichkeit, was Illusion?
Er hatte sie belogen. Doch wie hätte sie reagiert, hätte er ihr sein Geheimnis offenbart? Einer Jägerin, die sein Volk hasste? Sie war die Tochter eines Jägers, der sich Trophäen getöteter Vampire an die Wand nagelte. Wie schwer musste es für ihn gewesen sein, sie zu akzeptieren, sich ihren Berührungen hinzugeben?
Es sei denn, er hatte nur gespielt, um sie quälen. Vielleicht gab es ihm einen besonderen Kick, mit einer Jägerin, einer Vampirmörderin zu schlafen.
Aber so pervers schätzte sie ihn nicht ein. Und sie verstand nicht, weshalb er andere seines Volkes getötet hatte, um sie zu retten.
Die Nacht verbrachte sie in einem Zimmer mit Himmelbett und handgearbeiteten Möbeln. Die Größe des Hauses mit seinen zahlreichen Zimmern und Kammern ließ sie spüren, wie einsam sie war. Die Einsamkeit einer Jägerin. Nun musste auch sie damit leben, genau wie ihr Vater.
Noch vor Tagesanbruch verließ sie die Villa, um durch Venedig zu spazieren und den Sonnenaufgang mitzuerleben. Sie frühstückte in einem Straßenkaffee, schlenderte über den Piazza San Marco und ließ die Stunden verstreichen, bis der Zeitpunkt kam, aufzubrechen. Das Hotel war so unscheinbar, wie sie es am Vorabend vorgefunden hatte. Nichts wies darauf hin, was hinter den Mauern stattfinden sollte und sie zweifelte einen Moment an der Echtheit der Einladung. Erst, als sie klopfte und ein junger Mann in Pagenuniform sie misstrauisch musterte, sie nach Namen und Herkunft fragte und ihre Antworten auf einer Liste abhakte, zerstreuten sich ihre Zweifel. Der Mann geleitete sie eine Treppe hinauf. Oben angekommen empfing sie Jonathan Firenze.
„Schön, dass Sie gekommen sind.“ Er machte eine gekünstelte Verbeugung und hauchte einen Kuss auf ihre Hand.
Sie erwiderte seine Begrüßung mit gezwungenem Lächeln und folgte ihm, als er sie in die ehemalige Empfangshalle des Hotels führte, wo bereits etliche Männer älterer Generation versammelt waren. Einige erkannte sie von der Beerdigung wieder, die meisten waren ihr fremd.
Unterschiedlich waren die Reaktionen auf ihr Erscheinen. Sie war die einzige Frau. Manche nickten ihr freundlich zu, andere brachten ihr Misstrauen, Gleichgültigkeit aber auch einen Ausdruck von Feindseligkeit entgegen.
Sophie suchte nach Dominik, fand ihn aber nicht unter den Versammelten. Vielleicht war er in Wien und Wilhelm hatte sich geirrt. Sie glaubte immer noch nicht, dass ausgerechnet Dominik den Orden verraten hatte.
Eine Weile stand sie abseits, abwartend, was kommen würde, bis ein Mann mit vernarbtem Gesicht sie ansprach.
„Sie sind Richters Tochter, nicht war?“
Sie nickte. „Das bin ich.“
„Mein Name ist Padro Libri, ich kannte Ihren Vater und wollte Ihnen mein Beileid aussprechen. Er war ein großer Jäger.“
„Ich danke Ihnen.“
„Es überrascht mich, Sie hier zu sehen.“
„Aus welchem Grund?“ Ein Kellner kam vorbei, reichte Sophie ein Glas Wasser von einem Tablett.
„Unter uns.“ Er beugte sich vertraulich vor. „Ihr Vater war ein Gegner von diesem Kerl. Ich unterstützte ihn in seiner Meinung über Jonathan“, flüsterte er. „Er hielt ihn für einen Spinner und Betrüger.“
„Das habe ich habe in seinen Aufzeichnungen gelesen, ja.“ Sophie trank einen Schluck. Andere beobachteten ihr Gespräch interessiert. Padro Libri beugte sich noch weiter vor.
„Hat er in seinen Aufzeichnungen auch erwähnt, dass dieser Kerl nicht Jonathan Firenze sein kann?“ Seine Stimme war nur noch ein leiser Hauch.
„Nein … wie meinen Sie das?“
„Jonathan müsste längst ein alter Mann sein.“
Sophie warf einen Blick zu dem großen, schlanken Jäger, dessen Gesicht und das volle, blonde Haar nicht das eines alten Mannes war. „Sind Sie sicher?“
Libri nickte. „Ich kannte auch seinen Vater, ein ebenso großer Jäger, der zu früh von uns gegangen ist. Er hatte immer mit seinem Sohn geprahlt, aber das ist Jahrzehnte her. Damals war ich selbst noch ein junger Mann.“
„Ich bin zu wenig mit dieser Welt vertraut“, gestand Sophie. „Aber wenn er nicht Jonathan Firenze ist, wer dann? Ein Enkelsohn oder ein Betrüger?“
Dieses Mal zuckte er mit den Schultern. „Darum bin ich hier. Ich möchte herausfinden, aus welchem Motiv heraus er die Orden vereinen will und bin gespannt, jene Waffe zu sehen, die er heute Abend präsentieren wird.“
„Glauben Sie, dass es noch weitere gibt, die ihm gegenüber misstrauisch sind?“ Inzwischen waren noch mehr Gäste eingetroffen und der Saal hatte sich so weit gefüllt, dass sie die Anzahl der Versammelten nur noch schätzen konnte.
„Zu wenige, fürchte ich. Die meisten hoffen auf jemanden wie ihn, der sie eint und in ein neues Zeitalter führt. Raus aus der tristen Vergessenheit. Er ist nicht der Einzige, schon viele verfolgten den Plan, die Orden zu einen, doch alle scheiterten. Nur Ihr Vater und ausgerechnet der des echten Jonathans vermochten es, Allianzen zu bilden, mit deren Hilfe große Überfälle auf Vampirhorte möglich waren.“
Er wollte noch weiter sprechen, aber Jonathan erhob in diesem Moment die Stimme und bat alle Versammelten in den Raum nebenan.
„Wir sprechen später weiter“, sagte sie zu Padro Libri und folgte der Menge in einen festlich geschmückten Saal mit zahlreichen runden Tischen, die fürstlich gedeckt und mit Namenskärtchen bestückt waren, die jedem Ordensmeister seinen Platz zuwiesen. Nach einem kleinen Tumult mit Rufen wie „hier drüben“, hatten alle ihre Plätze gefunden, ebenso Sophie. Sie begrüßte die Jäger an ihrem Tisch, die sich höflich vorstellten und ihr Beileid aussprachen.
Sie suchte Padro Libri, fand ihn aber nicht mehr. Bei den mehr als zwanzig Tischen, die bis auf wenige Ausnahmen mit sechs Gästen belegt waren, kein Wunder. Geschätzt mussten an die Hundert Jäger Jonathans Aufruf gefolgt sein. Wesentlich mehr als Sophie erwartet hatte. Sie war überrascht, wie viele aktive Orden es noch gab. Viele Meister waren nicht allein gekommen, sondern in Begleitung eines Ordensjägers oder mit ihrem zukünftigen Nachfolger.
Während ein gutes Dutzend Kellner zwischen den Tischen umhereilte, gekleidet in Uniformen, die das Zeichen des Ordens trugen und Getränke und Vorspeisen der venezianischen Küche servierten, begab sich Jonathan auf den Weg zur Bühne. Er zeigte keine Nervosität. Stattdessen strahlte er Überheblichkeit aus. Er trat gemächlich vor das Rednerpult und klatschte in die Hände. Hinter ihm entrollte sich ein Banner, das ein Wappen trug.
„Geschätzte Brüder des Eides“, begann er mit selbstsicherer Stimme. Dabei deutete er mit erhobener Hand auf das Banner hinter sich. „Mit diesem Wappen, das den Grund symbolisieren soll, weshalb ich euch alle einlud, möchte ich die Versammlung eröffnen.“
Er machte eine Pause, gab den Kellnern Gelegenheit, ihre Arbeit zu erledigen, damit alle Aufmerksamkeit auf ihm ruhte, als er weitersprach.
„Zwei gekreuzte weiße Schwerter auf schwarzem Hintergrund sollen die Vereinigung unserer Kräfte im Kampf gegen das Volk der Finsternis darstellen“, posaunte er theatralisch. Was folgte, war eine Präsentation vergangener Ereignisse, in denen Jonathan anhand von Zeitungsausschnitten, Zitaten, Bildern und zu guter Letzt mit einem Ausschnitt aus Sophies Video darstellte, zu welch neuer Gefahr sich die Vampire in den vergangenen Monaten entwickelt hätten. Er ersparte Sophie nicht den Moment, in dem ihr Vater tot zusammenbrach. Ihr fiel beinahe das Glas aus der Hand. Unzählige Blicke schwangen in ihre Richtung. Langsam begann sie, diesen aufgeblasenen Pfau zu hassen.
„Ja, selbst Friedrich Richter wurde Opfer dieser neuen Bedrohung!“ Er richtete seinen Blick auf eine Gruppe von Männern. Geldgeber, wie sie vermutete. „Wollen wir also warten, bis sie uns überrennen, oder wollen wir handeln?“
Ein Raunen ging durch die Menge, Jonathan kostete den Moment der Verwirrung aus.
„Unsere Orden sind zerschlagen, nicht bereit, für sich allein gegen diese Bedrohung zu kämpfen. Aber gemeinsam können wir es schaffen, Viribus Unitis, mit vereinten Kräften.“ Dabei deutete er erneut auf das Banner. „Aber ich habe euch noch mehr versprochen, nämlich eine Waffe.“
Ein Mann in brauner Kutte trat auf die Bühne und brachte Jonathan einen Koffer. Anstatt einer Waffe holte er simples Fläschchen hervor, das eine klare Flüssigkeit enthielt.
„Was soll das sein? Weihwasser?“, kam es aus der Menge. Gelächter und Applaus ertönten.
Jonathan hob seine Hand, hielt das Behältnis gegen das Licht und wartete, bis stille Neugierde die Lacher verdrängte.
„Vielleicht“, antwortete er gelassen. „Ja vielleicht ist es so etwas wie geweihtes Wasser. Aber nicht, um unsere Feinde damit nass zu spritzen. Wir wissen alle, wie wirkungsvoll diese Art der Vampirbekämpfung ist.“ Erneut lachten alle und Jonathan gefiel sich in der Rolle des Alleinunterhalters. Lächelnd stellte er das Fläschchen auf das Rednerpult. „Hier seht ihr ein Serum, wie es der Alchemist Arthur von Haineck bereits vor hundert Jahren entwickelte. Es verleiht die Kräfte eines Vampirs, ohne selbst zu einem zu werden.“
„Hainecks Serum? Ihr seid ein verdammter Idiot, Jonathan. Dieses Gebräu ist nur ein Märchen. Wie wollt ihr beweisen, dass es wirkt“, rief einer der Zuschauer.
„Das brauche ich nicht“, antwortete er. „Ich selbst bin der Beweis. Ich trage es in mir. Einige von euch wissen, wie alt ich bin.“
Die Menge verstummte. Diese Information musste erst mal verdaut werden. Auch Sophie staunte nicht schlecht. Hatte Libri also recht.
In diesem Augenblick war Jonathan plötzlich verschwunden, tauchte im nächsten von erstauntem Raunen begleitet am Tisch eines Kritikers auf. Er grinste und offenbarte seine Zahnreihen.
„Seht ihr Fänge? Natürlich nicht. Und dennoch bewege ich mich wie einer von ihnen, ohne Blut zu trinken.“ Einen Augenblick später stand er wieder auf der Bühne.
„Gibt es noch mehr von eurem sogenannten Zauberelixier?“, rief jemand.
Jonathan nickte. „Schon bald, meine Freunde, schon bald.“
Die Ersten erhoben sich von ihren Stühlen und verließen schimpfend den Saal. Andere lehnten sich mit erwartungsvollen Gesichtern zurück.
„Jeder, der möchte, kann gehen. Ich halte niemanden zurück“, rief Jonathan durch den Raum. „Aber lasst mich noch einmal sagen, nur gemeinsam sind wir stark.“
„Ihr seid entweder verrückt oder ein Hochstapler.“
Sophie erkannte nicht, von wem dieser Vorwurf kam, aber kurz darauf verabschiedeten sicher weitere Jäger von der Versammlung.
„Die Reihen lichten sich“, spottete Jonathan. „Nur die Elite bleibt.“
Tatsächlich war es mehr als die Hälfte der Eingeladenen, die keine Anstalten machte, zu gehen. Stattdessen kamen weitere Fragen zu dem Inhalt des Fläschchens, wie lange es wirke und was es genau bewirke.
„Es verändert den Körper, macht uns stärker.“ Jonathan erklärte in einer weiteren Präsentation die Zusammensetzung des Serums, ohne die Herstellung zu verraten. Jedoch erwähnte er die DNS eines Assassinen und das genügte ihr. Sie musste nur noch eins und eins zusammenzählen. Sie hatte das Video gesehen, hatte gehört, was ihr der Vampir über die wahre Todesursache ihres Vaters gesagt hatte. Ihr war heiß und kalt gleichzeitig.
Der Vampir aus dem Kerker war unschuldig.
Verdammt.
Sie stand auf. Ihre Gliedmaßen zitterten. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt, um die Wahrheit aus dieser hinterhältigen Ratte vor allen Versammelten herauszuprügeln.
„Sagen Sie mir, Jonathan …“ Sie versuchte, laut und bestimmend zu sprechen, aber die Emotionen, die im Klang ihrer Stimme mitschwangen, waren selbst für sie nicht zu überhören. „Haben Sie dieses Zeug an meinem Vater getestet?“
Jonathan zuckte unmerklich, hatte sich aber sogleich wieder in der Gewalt. „Gut möglich, meine Liebe“, antwortete er lächelnd.
„Dann haben Sie ihn getötet.“
Er lachte. „Aber nicht doch. Wir alle haben das Video gesehen. Er wurde Opfer dieses Vampirs.“
„Ein Video, das Sie mir gestohlen haben, wie so manch anderen Besitz meines Ordens“, konterte sie. „Aber wie dem auch sei, im Blut meines Vaters fand sich die DNS eines Assassinen.“
„Und?“ Er zuckte mit den Schultern. „Das beweist nicht, dass er daran gestorben ist.“ Er verschwand, tauchte im nächsten Moment so schnell vor ihr auf, dass sie zusammenzuckte. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und atmete schwer. Dann flüsterte er. „Wenn Sie Ihren anderen Besitz meinen, den können Sie haben, er ist wertlos für mich. Clement Vermont ist kein Reinblüter, sondern das Ergebnis eines verheimlichten Seitensprungs.“
Okay, das lief nun anders als erwartet. Unter ihre Wut mischte sich Verwunderung. Sie wich einen Schritt zurück, bis sie an ihren Stuhl stieß, weil sie die Nähe dieses Irren anekelte.
„Was haben Sie mit ihm gemacht?“
Ihre Frage löste nur ein abfälliges Lächeln bei ihm aus, ein Lächeln, für das sie ihm am liebsten einen Dolch in die Brust jagen wollte, doch sie konnte sich vor Anspannung nicht bewegen. „Wie ich sagte, nehmen Sie ihn an sich, er befindet sich im Erdgeschoss, in den Kerkern meines Ordens“, hauchte er ihr ins Ohr. „Sie riechen so herrlich wie ein Blumenfeld, Sophie.“ In seinen Augen lag der Glanz der Erregung. Oder war es Wahnsinn? „Überlegen Sie, welche Seite Sie einnehmen wollen, meine Liebe.“ Im nächsten Augenblick stand er wieder auf der Bühne.
Übelkeit überkam sie. Sie setzte sich. Firenzes Blick ruhte noch immer auf ihr. Was führte dieser Kerl mit ihr im Schilde? Unbeirrt sprach er wieder zu seinem Publikum. Sie versuchte, ihren Puls unter Kontrolle zu bringen.
„Nun wollen wir uns über die Allianz unterhalten. Aber zuvor lasst uns speisen und trinken“, verkündete er und klatschte in die Hände.
Durch die sich öffnenden Seitentüren strömten Kellner, beladen mit duftendem Essen. Keinen Bissen würde sie in diesem Laden runterbringen. Sie beschloss, den Moment, in dem das Essen aufgetragen wurde und die Stimmung im Saal zu wilden Diskussionen, Gelächter und Streitereien heranwuchs, zu nutzen, um sich auf die Suche nach dem entführten Vampir zu begeben.
Schnell lief sie in die Empfangshalle, hielt inne und vergewisserte sich, dass ihr niemand folgte. Sie ging die Treppe hinunter. Natürlich wusste sie nicht, ob Jonathan sie auf den Arm genommen hatte, als er ihr verraten hatte, wo der Vampir versteckt war oder ob es eine Falle war. Dennoch musste sie riskieren, den Vampir aus den Fängen dieses Irren zu befreien. Jonathan hatte weit mehr von einer durchgeknallten Bestie als alle Blutsauger zusammen. Wer war so irre, ein Serum, das den eigenen Körper veränderte, das Wasser aus einem Jungbrunnen sozusagen, in einer Präsentation vorzustellen, die einer Kaffeefahrt mit Rheumadeckenverkauf glich?
Am unteren Ende der Treppe gab es neben der Eingangstür noch eine weitere Tür, die in einen Korridor führte. Wieder blieb sie stehen und lauschte. Noch war sie allein hier unten. Sie schloss die Tür, eilte den Gang entlang, bis sie zu den Kerkerzellen kam. Ein leises Stöhnen und Husten sowie das Rascheln von schweren Eisenketten erklangen.
Sie riss die Tür auf, hinter der sie das Geräusch vermutete und da lag er, auf dem feuchten, kalten Boden und mit Dutzenden Ketten an die Wand gefesselt. Praktischerweise hing der Schlüssel zu den Kettenschlössern direkt neben der Tür. Einen schlafenden Wärter, dem man erst leise den klappernden Schlüsselbund klauen muss, hatte Jonathan ihr erspart. Das Gefühl, dass das hier viel zu einfach war, meldete sich in einer Ecke ihres Verstandes.
„Komm, schnell, wir müssen hier raus“, drängte sie Clement, während sie ihn von seinen Fesseln befreite. „Ich fürchte, das ist eine Falle, aber wir haben keine andere Wahl als erst mal mitzuspielen.“
Geralds Bruder wirkte schwach und ausgehungert. Sein Gesicht war ausgemergelt, seine Lippen trocken und rissig. Und verdammt, es ähnelte Gerald in seinen Grundzügen.
Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, sie als willkommene Mahlzeit zu sehen. Sie hatte bisher keinen Gedanken an mögliche Gefahren, die von ihm ausgehen könnten, verschwendet, doch jetzt, als er wankte, während sie ihn den Korridor entlangführte, meldete sich leichtes Unbehagen.
„Warte.“ Sie blickte die Treppe empor. „Die Luft ist rein. Schnell, uns bleibt keine Zeit.“
Von oben aus dem Versammlungssaal klangen laute Stimmen und das Gelächter von bereits Angetrunkenen. Wer nicht abgereist war, hatte Jonathans Plan offenbar zugestimmt. Was für ein Irrsinn. Sie zog Clement hinter sich her, blickte erneut über die Schulter, lauschte, ob sie jemand verfolgte, und brachte den Vampir schließlich nach draußen.
„Ich bring dich in Sicherheit. Es ist nicht weit von hier“, versuchte sie, ihn zu motivieren.
Sie hoffte, dass Dominik nichts von der Villa ihres Vaters in Venedig wusste. Die Nachtluft schien Clement etwas seiner Lebensenergie zurückzugeben. Er wirkte immer noch wie der wandelnde Tod. Zumindest musste sie ihn nicht mehr hinter sich herziehen. Er folgte ihr aus eigener Kraft.
Verdammt, Gerald würde ihr niemals verzeihen, wenn er seinen Bruder in diesem Zustand vorfand. Es war alles ihre Schuld. Nur weil sie so naiv gewesen war, dieses Video falsch zu deuten. Doch wer ahnte, dass Firenzes Plan so weit reichte, bis ins kleinste Detail durchdacht war?
Sie erreichten den Canal Grande an der Stelle des Ponte di Rialto, die den Stadtteil San Polo mit San Marco verband, und Sophie wunderte sich, so weit gekommen zu sein. Sie hielt für einen Moment inne, um sich zu orientieren.
„Ich war noch nicht oft hier.“ Sie hatte das Gefühl, sich bei ihm entschuldigen zu müssen, nicht nur dafür, dass sie nicht genau wusste, wo es langgeht. Er antwortete nicht. Schwer atmend lehnte er an einer Hauswand, Schweiß glänzte auf seiner Stirn. „Alles so weit in Ordnung?“
Er nickte abwesend. Der kurze Energieschub schien aufgebraucht. Dennoch liefen sie weiter, bis sie plötzlich hörte, wie Clement hinter ihr zu Boden fiel. Sie wollte die paar Schritte zurücklaufen, als sie Gerald sah.
Mitten auf dem Platz vor ihr stand er und fixierte sie mit einer Miene, die sie zu Eis erstarren ließ. Er hatte sich verändert. Sein Anzug war einer Lederrüstung gewichen, die an vereinzelten Stellen mit Metallplatten beschlagen war. Im Licht der Laternen wirkte er wie eine aus Metall gegossene Statue.
Ihn hier und jetzt zu sehen, ließ sie an ihren Traum denken. Zweifel, Ängste und Verzweiflung kamen auf, ohne dass sie es beeinflussen konnte. Wie von selbst vermischte ihr Unterbewusstsein den Leichnam ihrer Mutter mit Geralds blutverschmiertem Mund. War er es? Hatte er sie getötet?
„Was willst du hier, Gerald?“
„Dich finden“, seine Stimme war dunkler als sonst und sein Blick düster. „Wie konntest du mich so täuschen, Jägerin?“
„Ach. Ich habe dich getäuscht? Andersrum wird ein Schuh draus – Blutsauger.“
Der erste Schreck, ihn hier zu sehen, verflog. Sie fasste nicht, dass ausgerechnet er ihr Vorwürfe machte. Das Blut rauschte in ihren Ohren und über ihren immer heftiger werdenden Herzschlag musste sie ihm die Frage stellen, die sie am meisten quälte.
„Warst du es? Hast du meine Mutter ermordet und mir dann die Erinnerung daran genommen?“ Sie tastete nach der Pistole in ihrem Halfter und zog den Dolch aus der Scheide. „Verdammt noch mal, wie konntest du derart mit meinen Gefühlen spielen?“
Mist, durch die Tränen in ihren verräterischen Augen sah sie ihn nur undeutlich. Sollte er sie angreifen, wäre sie womöglich nicht nur zu langsam, weil sie ein Mensch war, sondern auch noch durch den Tränenschleier gehandicapt. Die Erinnerungen an seine zärtlichen Berührungen und seine sanften Worte machten es nicht besser, ließen sie fast zusammenbrechen und heulen wie ein Baby.
Er rührte sich nicht. Stand nur da wie ein stahlharter Krieger.
Sie stieß die Luft aus, wischte sich die verräterischen Tränen von ihrer Wange und ging auf ihn zu. „Wie konntest du nur? Ich will die Wahrheit hören. Hast du nur mit mir gespielt?“ Ihre Stimme klang rau und das Sprechen tat im Hals weh. „Du wusstest, wie sehr ich dein Volk hasse.“
Er warf den Kopf zurück und lachte ohne Humor. „Ja, eben, das war genau das Problem – Jägerin.“
Er verhöhnte sie. Das war zu viel. Sie stach zu. Schnell und präzise, wie ihr Vater es sie gelehrt hatte.
Doch Gerald reagierte blitzschnell. Er zog seinen Degen und parierte mit Leichtigkeit ihren Dolchstoß. „Ich habe nichts von alldem getan, aber du … du hast meinen Bruder geraubt, nachdem er dir zu Hilfe eilte“, konterte er und drückte ihre Dolch-hand zu Boden. „Wo ist er?“
„Warum sollte ich dir das sagen, du Lügner.“ Sie zog den Dolch unter dem Degen weg, stach erneut zu, kam jedoch nicht weiter als zuvor.
„Ich will wissen, wo er ist.“
„Vielleicht hab ich ihn getötet, genau, wie du meine Mutter getötet hast.“
„Das denkst du?“, knurrte er, attackierte sie mit einem halbherzigen Degenhieb, den sie so einfach parierte wie er ihr Dolchstöße. Wenn er gewollt hätte, wäre sie auf der Stelle eine tote Jägerin, das war ihr bewusst.
„Ich träume davon.“ Mit der anderen Hand zog sie die Pistole, die mit Betäubungspatronen geladen war, und hielt den Lauf unmittelbar vor sein Gesicht.
Die Situation war grotesk.
Hier stand sie nun und richtete die Waffe auf den Mann, der ihr zur Seite stand im Kampf, dessen Körper sie geliebt hatte, der ihr zugehört und sie beschützt hatte. Der Mann, den sie liebte.
Ihre Hand begann, zu zittern.
„Oh, Gott, was tue ich hier?“ Tränen liefen über ihre Wangen. Sie ließ Pistole und Dolch sinken. „Töte mich einfach“, flüsterte sie.
Langsam schüttelte er den Kopf. „Das kann ich nicht.“ Der Zorn verließ seine Augen. „Ja, ich war da in jener Nacht, soweit hat dein Traum dich nicht belogen. Aber ich habe deine Mutter nicht getötet. Verdammt, ich will nur meinen Bruder, Sophie, nur meinen Bruder, dann verschwinde ich aus deinem Leben, wenn du das wünschst.“
„Bravo … großes Theater! Romeo und Julia waren Schmierenkomödianten gegen euch. Ich kann mir nicht helfen, ich bin gerührt.“ Jonathan applaudierte, während er langsam den Platz überquerte. In seinem Schlepptau befanden sich Dominik und zwei weitere bewaffnete Jäger. „Ich hatte recht, Dominik, dank ihr stehen wir einem echten Reinblüter gegenüber, im Gegensatz zu seinem Bruder.“
„Wo ist er?“, rief Gerald.
„Bis vor Kurzem war er in der gemütlichen Zelle meines Ordens. Doch unserer Prinzessin tat er offensichtlich leid.“
Gerald schaute fragend in ihre Richtung.
„Schnappt ihn, aber vergesst nicht, ich brauch ihn lebend“, befahl Jonathan seinen Begleitern, und während sich die beiden fremden Jäger auf Gerald stürzten, stellte sich Sophie Dominik entgegen.
„Geh mir aus dem Weg, Göre“, herrschte sie der einstige Freund ihres Vaters an.
„Ich denke nicht daran.“
Sie stieß zu. Dominik wich blitzschnell aus, packte ihren Arm und riss sie herum. Überrascht von der Gewandtheit des alten Mannes reagierte sie zu spät, stürzte, und noch im Fallen löste sich ein Schuss aus ihrer Waffe.
Gerald ging zu Boden. Die Kugel hatte sich in seine Schulter gebohrt und der betäubende Inhalt wirkte sofort.
„Nein!, schrie sie, befreite sich mit einem von Wut gestärkten Tritt von Dominik.
Gerald hatte seine Angreifer bereits k. o. geschlagen, sie lagen neben ihm auf dem Boden. Jonathan zögerte keinen Augenblick. Sofort war er bei ihm, schneller als ein normaler Mensch sich bewegte. Er rammte Gerald eine Spritze in den Hals, füllte sie mit dunkelrotem Blut, dann zog er den Dolch aus seiner Scheide, um Gerald als Trophäe an sich zu nehmen.
„Lass die Finger von ihm.“ Sophie stemmte sich hoch, griff nach der Pistole, richtete sie auf Jonathan.
Dominik versuchte, sie zurückzuhalten. Sie schlug seine Hand fort und stürmte auf Jonathan zu.
„Ich habe, was ich brauche“, sagte Jonathan gelassen, wich von Gerald zurück. „Komm, Dominik, lassen wir den Vampir und unsere kleine Verräterin allein.“
Schneller, als sie reagieren konnte, waren Dominik und Jonathan verschwunden. Sie kniete sich neben Geralds regungslosen Körper und legte ihre Hand auf seinen Kopf. Schon wieder diese verdammten Tränen. Oh, Gott, hätte sie die Waffe mit den gewöhnlichen Säurepatronen geladen, wäre er jetzt tot. Sie konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Als sie aufsah, stand Clement hinter hier. Zittrig, aber bestimmt, sagte er mit rauer Stimme: „Ich kümmere mich um ihn. Versuch die beiden aufzuhalten, es ist wichtig, sie dürfen dieses Serum nicht herstellen. Es wäre verheerend für uns alle.“
„Nein, ich will bei ihm bleiben.“ Sie streichelte seinen Kopf. Diese verdammten Tränen. Warum war sie nur so blind gewesen, blind vor Hass?
Clement drückte ihre Schulter. Aus dem Gesicht des Mannes war jede Härte gewichen. „Bitte, du musst ihnen folgen, sonst ist alles zu spät. Ich würde es tun, aber mir fehlt die Kraft.“
Clement hatte recht. Sie musste Jonathan hindern, dieses Serum zu brauen. Sie strich noch einmal über Geralds Gesicht. Es fiel ihr nicht leicht, ihn allein zu lassen. Aber Clement würde sich gut um ihn kümmern. Vielleicht konnte sie die beiden noch einholen. Es musste ihr einfach gelingen.
Schwermütig ließ sie Gerald los. „Bring ihn zu meinem Haus. Ich will euch später beide wiedersehen. Also nicht einfach verschwinden.“
Clement nickte. Sie nannte ihm die Adresse und rannte los.
Sie hörte die Schritte von Jonathan und Dominik. Die Gasse, in die die beiden eingetaucht waren, war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Links und rechts wuchsen die Häuser empor wie Felsschluchten.
An einer Abzweigung hielt sie an und lauschte. Sie folgte Dominiks Stimme und bog nach rechts ab, in der Hoffnung, sich nicht in der Richtung geirrt zu haben. Mit schnellen Schritten lief sie über das Pflaster. Plötzlich packte Jonathan sie und stieß sie zu Boden. Sie war nicht schnell genug und er verpasste ihr eine schallende Ohrfeige, dass ihr Kopf auf das Pflaster schlug. Verdammt. Schwärze breitete sich aus, sie schmeckte Blut auf der Zunge.
„Gerald?“
Jemand schüttelte ihn heftig. Er fand das extrem unangenehm. Die Stimme kam von fern.
„Wach auf“, forderte sie. „Verdammt, wach auf.“
Er war müde, so unendlich müde. Doch diese Stimme ließ nicht locker.
„Komm endlich zu dir, Mann.“
Wieder diese Stimme. Er konnte sie niemandem zuordnen. Immer, wenn er glaubte, den Mann an der Stimme zu erkennen, verzerrte sein Ohr den vertrauten Klang zu einem tiefen Grollen oder einem künstlichen Schallen.
„Was zum Henker war in dieser Kugel?“, fluchte der Unbekannte und schüttelte ihn erneut.
Seine Muskeln und jeder Knochen fühlte sich so träge an, als habe man ihn mit Blei ausgegossen. Erst als ein eisiger, nach Salz und Algen schmeckender Schwall Flüssigkeit in sein Gesicht klatschte, öffnete er die Augen. Er schnappte nach Luft und hustete, als das Meerwasser in Nase und Lungen kroch.
„Es tut mir leid, ich musste das tun“, sagte Clement.
Gerald traute seinen Augen kaum, als er in das Gesicht seines Bruders blickte. „Clement! Mein Bruder! Sie hat dich tatsächlich befreit?“
Er stemmte sich hoch, berührte Clements Gesicht, seine Schulter, als müsse er ihn eigenhändig fühlen, und dann umarmte er ihn. Er stand wahrhaftig vor ihm.
„Wenn du damit Richters Tochter meinst, ja, sie hat mich aus diesem Kerker geholt. Sie ist nicht wie die anderen Jäger, Gerald.“ Clement seufzte tief, schloss die Augen. Es ging ihm nicht gut.
„Gott, du bist am Verhungern, Bruder. Dagegen müssen wir etwas tun. Wo ist Sophie?“
„Sie ist Jonathan gefolgt.“ Clement deutete auf eine Gasse hinter ihnen. „Ich bat sie, ihn aufzuhalten. Jonathan hat dein Blut.“
„Mein Blut?“
Clement erzählte ihm alles, was er wusste.
„Wie es scheint, bin ich kein Reinblüter, deshalb wollten sie dein Blut. Jonathan meinte, ich sei das Ergebnis einer Affäre.“
„Unmöglich!“
„Mein Blut ist unrein, vermischt mit den Genen eines Halbblüters. Du weißt, was das bedeutet?“
„Dass uns Mutter einige Dinge verschwiegen hat“, antwortete Gerald. Er glaubte es dennoch kaum.
„Aber lassen wir das. Wir sollten Richters Tochter helfen.“
„Du hast recht, wir müssen uns beeilen.“ Die Wirkung des Betäubungsmittels hatte inzwischen nachgelassen. Mehr Sorgen machte er sich um Clement, sie mussten einen Weg finden, dass er zu Blut gelangte und wenn sie den alten Weg wählen mussten. Jonathan hatte Pläne mit Sophie, er würde sie nicht sofort töten. Sie war stark, sie würde ihm erst mal die Stirn bieten. Trotz seiner Furcht, ihr könne dennoch etwas passieren, musste er grinsen. Jonathan tat ihm fast leid. An ihr würde er sich die Zähne ausbeißen.
Ihr Kopf schmerzte und der Blick war im ersten Moment verschwommen. Sie lag auf einer Couch in einem unbekannten Raum. Jemand hantierte mit Glas und Metall. Es roch nach abgestandener Luft, Schimmel und Nässe und tief unter ihr vernahm sie den grollenden Lärm der tobenden Jägerversammlung.
„Die Prinzessin ist erwacht“, Dominik saß auf einem Stuhl in einer Ecke des Raumes und las in einer Zeitung. Aus dem freundlichen alten Mann, dem sie vertraut hatte, war ein Verräter geworden.
„Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.“ Jonathan trat in ihr Blickfeld.
In seiner Hand hielt er einen Glaskolben, in dem er eine farblose Flüssigkeit schwenkte. Hoffentlich war das nicht das gleiche Zeug, das er auf der Versammlung präsentiert hatte.
„Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel.“ Er lächelte auf eine Art, die ihr Angst einjagte. „Ich liebe dich doch, Kleines“, sagte er. „Ich liebe dich seit dem Moment, als ich dich auf dem Friedhof gesehen habe.“
Jonathan hatte sie nicht mehr alle. Gott, am liebsten wäre sie ihm an die Kehle gesprungen. Da sie das nicht konnte, versuchte sie sich an verbalen Peitschenhieben. „Du bist so verrückt und krank wie deine Pläne, Jonathan Firenze.“
Er zuckte unter ihren Worten zusammen. Getroffen. Offensichtlich empfand er tatsächlich eine kranke Zuneigung für sie und sein richtiger Name schien eine Art Kastration für ihn zu sein. Eine Reduktion auf ein minderwertiges Selbst.
„Elendige Verräterin“, schnaubte er und verzog sein Gesicht wie ein trotziger Junge. „Denkst du, ich hätte dich nicht gesehen mit deinem Vampir?“
Sie hatte genug von diesem Verrückten. Sie probierte es und konnte tatsächlich aufstehen, ohne dass sich einer der beiden die Mühe machte, sie abzuhalten. „Wenn ich dich ansehe, frage ich mich, wer hier die Bestie ist.“
„Du kannst dich für oder gegen mich entscheiden.“
„Eher sterbe ich, als an deiner Seite zu stehen.“
Wieder zuckte er unter ihren Worten zusammen. Dann weiteten sich seine Augen. „Ich werde die Jäger in eine neue Zukunft führen!“, rief er. „Durch dieses Mittel werden wir endgültig über die Vampire siegen. Sieh mich an Sophie, ich bin bereits, wozu ich sie alle machen werde. Es macht mich stärker, schneller, so wie deinen Vater. Leider ist er daran gestorben, weil eine Zutat fehlte, die es stabilisiert und die Gene des Assassinen in Zaum hält.“
Ein eisiger Schauder lief über ihren Rücken. Dieses Zeug hatte schon ihren Vater getötet. Jonathan wusste nicht, was er da vorhatte.
„Jonathan, hör dir doch bitte selbst mal zu. Du kannst nicht in komplexe, biochemische Abläufe eingreifen. So etwas hat immer ungeahnte Konsequenzen. Das ist Größenwahn!“
„Denkst du? Nein, Sophie. Ich halte den Schlüssel für eine neue Form von Leben in meinen Händen. Weder Mensch noch Vampir.“
Mit dem Mann war nicht zu reden.
Nur wenige Schritte entfernt lag ihr Waffengürtel. Sie musste diesen Irren abhalten, noch mehr Schaden anzurichten oder gar ihr das Zeug einzuflößen.
So schnell sie konnte, rannte sie zum Tisch und zog gleichzeitig die Pistole aus dem Halfter und den Dolch aus der Scheide. Sofort war Dominik auf den Beinen und feuerte in ihre Richtung. Die Kugel surrte knapp an ihrem Kopf vorbei, zerschlug ein Gefäß hinter ihr. Sie roch den beißenden Gestank der austretenden Säure. Ohne zu zögern, schoss sie und Dominik brach unter der Wirkung des Betäubungsmittels zusammen. Sie hatte keine Ahnung, wie es auf Menschen wirkte. Hauptsache er war außer Gefecht gesetzt.
„Genug“, hallte eine Stimme in ihrem Kopf, ließ ihre Schläfen wie Feuer brennen.
Vor ihr stand eine Gestalt in eine schwarze Robe verhüllt.
„Darf ich vorstellen, mein Vater“, sagte Jonathan.
„Wir kennen uns bereits.“ Die Gestalt warf die Kapuze nach hinten.
Der Assassine. Sie wich zurück, stieß gegen ein Hindernis, stolperte und fiel nach hinten. Blitzschnell war die Höllenkreatur über ihr, hielt sie mit knochigen Fingern fest, drückte sie unsanft zu Boden.
Jonathan kniete sich neben sie. In seinen Händen hielt er eine Spritze, die er ihr unsanft in den Hals schlug. Brennende Schmerzen strömten von der Nadel in ihren Körper, verbreiteten sich in jeder Faser ihres Körpers. Ihre Muskeln krampften. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Die Krämpfe raubten ihr den Atem. Es tat höllisch weh, und sie konnte sich nicht wehren.
„Gleich ist es vorbei“, flüsterte Jonathan. „Gleich.“ Er strich über ihre Stirn, ihr Haar. „Dann wirst du es fühlen, meine Prinzessin.“
„Leck mich!“
„Ich hab was gefunden“, rief Clement.
Gerald ging neben ihm in die Hocke und betrachtete die Blutstropfen auf dem Straßenpflaster. Es war Sophies Blut.
„Ich hätte sie nicht hinterherschicken sollen“, entschuldigte sich Clement.
„Ich gebe dir keine Schuld. Es war deine einzige Option.“ Er stand auf und folgte den Spuren nasser Schuhe, die von der Stelle wegführten.
„Wir brauchen den Spuren nicht zu folgen. Ich denke, ich weiß, wo sie ist. Das Hotel … sie haben sie bestimmt zurückgebracht.“
„Dann müssen wir dort nach ihr suchen.“
„Das wird nicht so einfach. Dort wimmelt es nur so von Jägern. In unserem Zustand sind wir leichte Beute.“
„Ich muss es versuchen.“
„Verzeih, wenn ich dir diese Frage stelle, Bruder, aber liebst du sie?“
„Ja, das tue ich und kapiere nichts davon.“
„Zuerst André Barov, nun du.“ Clement schüttelte den Kopf, lachte. „Das Schicksal straft uns furchtbar für unsere Gesetze.“
„Wie es scheint, hast du recht. Ich vermute, dass es auch dich eines Tages treffen könnte.“
„Wenn es so kommt, werde ich mich nicht gegen mein Schicksal stellen. Das scheint nichts zu bringen.“ Clement schloss zu ihm auf, grinste. „Sie wollte dich übrigens nicht verlassen. Sie saß bei dir und weinte, ich musste sie überreden.“
Gerald bedankte sich für diese wichtige Information mit einem Nicken. Wärme durchströmte seine Brustgegend. Also hasste sie ihn nicht, zumindest nicht für das, was er war. Das erleichterte ihn.
„Komm, ich führe dich zum Hotel“, sagte Clement.
Sie folgten dem Weg zurück, den Clement mit Sophie gekommen war, bis sie das ehemalige Hotel vor sich sahen.
„Ich werde allein da reingehen“, sagte Gerald.
„Kommt nicht infrage. Wir holen sie gemeinsam da raus“, protestierte Clement.
„Das ist ein Befehl. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt. Du bist noch viel zu schwach.“
„Dann sieh es als Befehlsverweigerung an.“ Clement blieb stur. „Komm schon, mir geht es besser. Warum solltest du allein den Spaß haben? Außerdem kenne ich den Weg und vielleicht können wir so den Kontakt mit den Jägern meiden.“
„Weißt du, wie viele zu der Versammlung erschienen sind?“
„Dem Lärm nach Hunderte. Zu viele auf jeden Fall, um allein da herumzuspazieren und sich nicht auszukennen, Mann.“
Er widersprach Clement nicht länger. Gemeinsam überquerten sie den Platz vor dem Hotel. Gerald öffnete die Tür mit Gedankenkraft und überließ ab hier Clement die Führung. Statt der Treppe nahmen sie den Weg durch eine Seitentür, folgten einem Korridor, der mit Kerkertüren gesäumt war, ehe sein Bruder an einer Nische anhielt und die Wand nach einem Mechanismus abtastete.
„Warte“, sagte Gerald, berührte die Mauer mit der Hand, schloss die Augen. Es steigerte seine Konzentration und es war, als würde er eins mit der Wand und allem, was sich darin verbarg. Mit der Kraft seiner Gedanken legte er den kleinen Hebel um. Das aus gepressten Sägespänen nachgebildete Modell einer Steinwand schob sich schabend zur Seite und legte eine enge Wendeltreppe frei, die in vollständiger Dunkelheit lag. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, dann erkannte er jede Stufe und jede Mauerritze. Der Aufgang endete an einer Wand, hinter der er Jonathans Summen hörte.
„Er scheint allein zu sein“, sagte er, berührte die Wand, bis auch diese Barriere sich zur Seite schob und sie in einen kleinen Vorraum traten, der in eine geräumige Dachkammer führte.
Jonathan trug Sophies reglosen Körper zu einer Liege. Auf dem Boden lag Dominik, der Verräter aus Sophies Orden, von einer Kugel durchbohrt. Hundert Punkte für Sophie. Wie es schien, hatte sich sein Mädchen einmal mehr gewehrt.
Nun war es an der Zeit, Jonathan in den Boden zu rammen.
Er spürte noch, wie Clement ihn zurückhalten wollte, als er losstürmte. Eine schrille, hallende Stimme tobte durch seinen Kopf, die zu Jonathan sagte: „Wir bekommen Besuch.“ Aber es war zu spät. Er hatte den Raum bereits durchquert, Jonathan gepackt und den Degen gezogen, als er den Assassinen sah.
Der stand sofort neben ihm und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Doch auch Clement reagierte, griff nach der Kutte des Assassinen, riss ihn herum und schleuderte ihn quer durch den Raum. Der knochige Körper der Bestie prallte gegen die Wand. Einige der dünnwandigen Ziegel gaben der Wucht des Aufpralls nach, zersplitterten wie Porzellan. Woher sein Bruder noch diese Kraft nahm, konnte er sich nicht erklären. Clement kämpfte wie ein Löwe und es dämmerte Gerald, dass es der bloße Anblick des Assassinen war, der in ihm diese Kräfte freisetzte.
Bevor der Hass ihn blind machte, wandte sich Gerald Jonathan zu. Er drückte ihn gegen die Wand und starrte dem Jäger in die Augen. Dieser versuchte, sich mit einer Kraft gegen Gerald zu wehren, die nicht die eines Menschen war.
„Was willst du von ihr?“, schrie er Jonathan an.
„Nichts anderes als du.“ Jonathans Blick strahlte eine Arroganz und Überheblichkeit aus, die die Wut in Gerald noch mehr schürte. „Sie gehört mir, Vampir, und du wirst mich nicht daran hindern.“
Im nächsten Augenblick stieß er Gerald von sich. Erneut von der Kraft Jonathans überrumpelt, stolperte er ein paar Schritte zurück. Mit der Geschwindigkeit eines Vampirs bewegte sich Jonathan durch den Raum, griff nach seinen Waffen und parierte Geralds Degenhieb mit meisterhafter Technik. Dieser Mensch verblüffte ihn.
„Wer oder was bist du?“
Jonathan lachte, parierte erneut zwei, drei schnell geführte Hiebe. „Der Anfang vom Ende deiner Rasse, Vampir.“
Hinter ihm zischte Clement vor Schmerz. Der Assassine hatte den Aufprall nahezu unbeschadet überstanden und Clement mit einem Gegenangriff zu Boden geschlagen. Das Gesicht seines Bruders war von Schnitten zerfurcht und blutüberströmt.
Jonathan nutzte den Moment, in dem er unachtsam und in Sorge zu seinem Bruder blickte, und stach zu. Der Dolch traf seine Brust, zersplitterte aber an einer der stählernen Platten und dem Leder. Gerald wich rechtzeitig zurück, bevor die Waffe mit dem tödlichen Inhalt ihn verletzte und verpasste aus der Bewegung heraus dem heranstürmenden Assassinen einen Tritt, der die Bestie zu Boden fegte.
Wieder stach Jonathan zu, doch Gerald machte nicht erneut den Fehler, den übermenschlichen Jäger zu unterschätzten, und blockte den Angriff mit dem Degen.
„Es wird schon bald mehr wie mich geben. Selbst Sophie ist nun eine von uns“, sagte Jonathan. „Ihr beide könnt es nicht mehr aufhalten.“
„Wovon redest du?“ Gerald zog den Degen zurück, wich einem Stich des Jägers aus und griff an. „Was hast du mit ihr gemacht?“
„Ich habe ihr ein neues Leben geschenkt und sie wird mich dafür lieben.“ Funken schlagend prallten die Waffen aufeinander. „Sie wird wie ich sein, übermenschlich wie ein Vampir.“
„Was, was hast du mit ihr gemacht?“ Geralds Muskeln spannten sich vor Zorn. Immer und immer wieder griff er an, blickte gelegentlich zu Clement, ob er den Assassinen noch im Griff hatte, und trieb zugleich Jonathan durch den Raum. „Hast du sie vergiftet wie ihren Vater?“
„Möglicherweise“, antwortete Jonathan herablassend, mit hochgezogenen Augenbrauen und breitem Grinsen.
Die Angst um Sophie wuchs. Er musste diesen Kampf zu Ende bringen und nach ihr sehen. Er wich einem weiteren Angriff aus, nutzte die Parade, um ihm dem Dolch aus der Hand zu schlagen und rammte ihm den Degen in die Schulter. Im Lauf schob er ihn gegen die Wand und vernahm mit Genugtuung, wie einige Knochen brachen. Jonathan schrie.
„Wenn sie stirbt …“, knurrte er und schleuderte Jonathan herum.
„Was dann?“, keuchte Jonathan, versuchte, sich loszureißen, doch Gerald hielt ihn fest, rammte ihm das Knie in den Magen und versetzte ihm einen Tritt, der ihn gegen eine große Scheibe aus bunten Glasmosaiken schleuderte.
Unter einem Schwall aus Splittern zerbrach das Glas. Jonathan stürzte hindurch und verschwand schreiend in der Tiefe. Ein lautes Platschen erklang, Wasser spritzte. Er versank im schwarzen Wasser des Kanals. In diesem Moment erschütterte ein schriller Schrei den Raum.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“, fauchte der Assassine.
Gerald wirbelte noch herum, wollte ihn zurückhalten, doch es war zu spät. Wankend vor Erschöpfung konnte Clement dem Angriff des Assassinen nichts mehr entgegensetzen. Wie ein Streifen aus schwarzem Rauch schnellte die Bestie quer durch den Raum, griff nach Clement und stürzte sich mit ihm ins Wasser. Gerald schrie sich die Seele aus dem Leib, griff den Fallenden hinterher, doch seine Finger fassten nur die kalte Nachtluft.
Sein Körper zitterte, während er sah, wie Clement unter ihm verschwand. Er wollte hinterherspringen und seinen Bruder vor dem sicheren Tod retten. In diesem Moment trommelten Schritte auf dem Gang, gefolgt von einem lauten Poltern an der Tür. Jäger. Sie mussten den Lärm des Kampfes gehört haben. Sein Blick fiel auf Sophie und wieder in die Tiefe. Er konnte sie nicht hier zurücklassen. In Gedanken rief er nach Alexandre.
„Seid ihr schon in Venedig?“, fragte er den Agenten.
„Soeben eingetroffen.“
„Ordert sofort Tauchteams und sucht den Kanal nach Clement ab“, befahl Gerald und nannte ihm die Stelle, an der Clement versunken war.
Er unterbrach die Verbindung und nahm Sophie auf den Arm. In diesem Moment flog die Tür zur Dachkammer aus den Angeln. Schüsse surrten durch den Raum. Kurzerhand sprang er aus dem Fenster, landete auf dem Sims unter ihm und nahm die beiden Stockwerke auf dieselbe Weise, bis er auf dem letzten Vorsprung landete, der ihn vom Wasser trennte.
Die Jäger ließen ihm keine Zeit, nach Clement Ausschau zu halten. Blind feuerten sie in die Tiefe. Neben ihm schlugen die Kugeln in die Wand und ins Wasser. Es blieb nur die Flucht.
Mithilfe seiner Gedankenkraft öffnete Gerald die Tür zu Sophies Villa, trug sie hinein und stieg die Stufen hinauf, wo er sie in das einzig bewohnte Schlafzimmer des Hauses brachte. Wie zerbrechliches Porzellan legte er sie aufs Bett, strich über ihr Gesicht und fühlte sich hilflos. Sie schlief tief und fest.
Die Stichwunde an ihrem Hals war feuerrot und entzündet. Er berührte die Stelle, versuchte, sie mithilfe seiner telekinetischen Fähigkeiten zu heilen. Doch es funktionierte nicht. Überhaupt wirkte sie seltsam anders seit dem Moment, als er sie aus Jonathans Dachkammer gebracht hatte. Sie war noch immer die Frau, die er liebte, deren Duft und Ausstrahlung ihn um den Verstand brachten. Doch etwas an ihr hatte sich verändert. Es schien, als befinde sich ihr Körper in einer Wandlung, einer Metamorphose. Was zum Teufel hatte Jonathan mit ihr angestellt?
Im Laufe seines 220-jährigen Daseins hatte er an vielen Ritualen der Metamorphose teilgenommen und wusste, was im Moment der Wandlung geschah. Dies hier war keine gewöhnliche Veränderung des menschlichen Körpers, bei der die DNS eines Vampirs von der des Menschen Besitz ergriff und diese dann verwandelte. Der Körper des Menschen stellte normalerweise die Produktion der roten Blutkörperchen ein und mit der Metamorphose wuchsen auch die körperlichen Merkmale, die einen Vampir von einem Menschen unterschieden. Sophie wies nichts von dem auf. Ihr Blut schien noch das eines Menschen zu sein, ebenso ihre Pupillen und die Zähne.
Stattdessen begann Sophies menschliche Aura zu verblassen wie ein Regenbogen am sonnigen Himmel und ging in etwas über, das er nicht deuten konnte. Es war weder menschlich noch von seiner Rasse. Kein Halb- oder Reinblüter, auch keine Form von Bastard oder Assassine, sondern etwas, das zwischen allem lag, als habe der Vorgang der Metamorphose begonnen und dann einfach aufgehört, ehe er vollendet war.
Gerald war unfähig, zu sagen, was geschah oder wie sie reagieren würde, wenn sie erwachte. Er konnte sie hier und jetzt nicht allein lassen, obwohl er eigentlich nach Clement suchen sollte. Gerald haderte mit seiner telepathischen Fähigkeit, die nicht stark genug war, um Clement mit der Kraft seiner Gedanken zu suchen.
Ein Brennen in den Schläfen unterbrach ihn. Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf die Stimme, die ihn rief.
„Es tut mir leid, Gerald. Die Taucher waren erfolglos. Sie glauben, dass die Strömung ihn hinaus in die Lagune getragen hat.“
Alexandres Worte explodierten wie eine Abfolge von Schlägen in seinem Gesicht, verdeutlichten, dass er Clement für immer verloren hatte. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er in den Kanal gestürzt war, nachdem ihn der Assassine schwer verwundet hatte. So sehr er auch hoffte, es war nahezu unmöglich, selbst für einen Vampir, so etwas zu überleben.
Erschöpft sank er auf einen Stuhl. Er zitterte am ganzen Leib, vor Zorn auf sich selbst. Jeder Muskel und jede Faser spannte sich, während die Trauer über ihn hereinbrach, schwer wie ein Gewitterregen. Er sog die Luft ein, versuchte, gegen den Schmerz des Verlustes anzukämpfen, doch zum ersten Mal in seinem Leben spürte er Tränen seine Wangen hinunterlaufen. Heiß wie Tropfen aus geschmolzenem Metall. Es war ihm egal, ob Clement nur halbblütiger Abstammung war oder nicht. Er war sein Bruder und nur das zählte.
Nun war er der Letzte seines Clans.
Ein unterdrücktes Schluchzen bahnte sich den Weg in Sophies Geist. Es dauerte einige Sekunden, bis sie wusste, wo sie war. Hitze floss durch ihre Adern und sie fühlte sich auf seltsame Weise verändert, als arbeiteten ihre Sinne mit enormer Schärfe.
Als sie ihren Kopf zur Seite drehte, saß Gerald auf einem Sessel, die Hand vor seinen Augen. Er litt. Sie wusste nicht, was geschehen war, aber sein Schmerz tat ihr weh.
Vorsichtig stand sie auf, sank vor ihm in die Knie, berührte seine tränenfeuchte Wange. Nie hätte sie geglaubt, dass ein Vampir zu derartigen Gefühlen imstande war. Nicht, nachdem sie diese Wesen für Bestien und Parasiten gehalten hatte, die kein Recht zu leben hatten. Doch hier saß Gerald vor ihr und weinte.
Stumm sah er sie an. In seinen dunklen Augen lagen Schmerz und Trauer. Dennoch zwang er sich zu einem Lächeln und löste die Eisenklammer um ihr Herz. Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen, küsste ihn auf die Lippen, in der Hoffnung, sie könne ihm etwas von dem Kummer nehmen, der ihn quälte.
„Was ist geschehen?“, fragte sie, schaute tief in seine Augen.
Er holte tief Luft, bevor er antwortete, und legte seinen Kopf in den Nacken. „Der Assassine hat Clement mit in den Tod gerissen.“
Seine Lippen waren leicht geöffnet und sie sah erstmals seine Fänge, die sich scharf und spitz in seinem Oberkiefer verbargen. Dieser Anblick löste keinerlei Angst in ihr aus. Im Gegenteil, sie wusste nun, dass sie zu ihm gehörte, und wollte und konnte es akzeptieren. Weil sie wusste, dass er ihr niemals wehtun würde.
Ihr Blick wanderte zu seinem Hals. Sie betrachtete seine Ader, das schnelle Pulsieren unter seiner Haut. Wie es sich anfühlte, wenn sie ihren Mund darauf legte, ihre Zähne an der Stelle in seine Haut grub? Wie es wohl war, wenn er diese weißen spitzen Zähne auf ihren Hals legte?
Der Gedanke erregte sie. Plötzlich war da das Verlangen, ihn zu beißen, von seinem Blut zu kosten und sie war nicht so entsetzt über den Lauf ihrer Gedanken, wie sie es eigentlich hätte sein sollen.
Ihr Oberkiefer pochte. Vorsichtig tastete sie mit der Zunge ihre Zähne ab. Keine Veränderung war zu spüren. Verdammt, was war los mit ihr?
Gerald betrachtete sie aufmerksam. Sie setzte sich auf seine Beine, beugte sich vor, um ihn erneut zu küssen. Sie wollte ihm nah sein, ihn spüren lassen, wie sehr sie ihn wollte und mit ihren Küssen erhoffte sie, ihn noch weiter loszulösen von seinem Kummer.
„Sophie.“ Es war mehr ein Stöhnen. Er vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter und sie ahnte, wie sie seinen Schmerz vergessen machen konnte.
„Gerald. Ich will dich. Ich will dich spüren und dein Blut kosten.“ Ihre Stimme klang verändert.
Mit einem kehligen Knurren hielt er inne. Er musterte sie mit zur Seite geneigtem Kopf. Seine Fänge schoben sich aus dem Kiefer, lang, beängstigend und schön. Seine Pupillen veränderten sich zu Schlitzen.
„Verflucht, was hat der Kerl mit dir angestellt?“, fragte er.
„Er hat mir ein Serum gespritzt.“ Magisch von seinen Reißzähnen angezogen, berührte sie diese mit ihrer Zunge. Er stöhnte auf, als hätte sie seinen empfindlichsten Körperteil berührt. Erregung durchrieselte sie. „Es scheint mir nicht zu schaden, im Gegenteil. Alles fühlt sich irgendwie besser an.“
Sie schmiegte sich noch näher an ihn, bewegte ihren Schoß in einem langsamen Rhythmus über seiner Erregung. Er war hart und sie glaubte fast, er würde seinen Lederkäfig bereits sprengen, als sie seinen Hals küsste und ihn zärtlich biss. Die Haut zwischen ihren Zähnen schmeckte salzig und roch nach Gerald. Seine Finger strichen über ihren Rücken und machten sich an den Knöpfen ihres Bustiers zu schaffen. Er schob den Stoff von ihren Schultern. Sie lehnte sich etwas zurück und Gerald nahm das als Einladung, sein Gesicht zwischen ihren Brüsten zu vergraben. Er liebkoste sie, knabberte sanft und saugte.
Als er Sophie ansah, lehnte sie ihre Stirn an seine und verkrallte sich in seinem Haar. Auch er atmete jetzt heftig. Mit Leichtigkeit hob er sie hoch. Als würde sie schweben, sank sie wie eine Feder in seinen Armen aufs Bett.
Dann war er über ihr, fordernd nach dem, was sie in ihm geweckt hatte. Sie befreite ihn von seinem Lederhemd, glitt über die glatte, von Muskeln gespannte Haut tiefer, bis weit unter den Gürtelrand der Hose. Mit den Fingern umschloss sie seinen Schaft.
„Bitte, ich möchte dich in mir spüren.“
Er hauchte Zustimmung auf ihre Lippen und öffnete ihre Hose, streifte das Kleidungsstück von ihren Beinen, befreite sich von der Bürde des eng anliegenden Leders.
Sophie nahm ihn bereitwillig in sich auf, als er sich auf sie legte, seine Männlichkeit sie teilte und tief in sie eindrang. Er verweilte einen Moment und sah ihr tief in die Augen. Erst langsam, dann schneller, begann er sich in ihr zu bewegen. Sie folgte seinem Rhythmus, kam seinen Bewegungen entgegen. Die Veränderung ihres Körpers führte dazu, dass ihre Empfindung noch feiner und intensiver war. Die Wellen der Lust erreichten jeden Winkel ihres Körpers, führten sie schnell zum Höhepunkt, dem rasch ein zweiter folgte. Jeder Nerv prickelte, als bade sie in Champagner. Alles um sie herum verschwamm. Sie sah nur noch Gerald, der sie liebte, sich ihr hingab. Sie schöpfte nach Atem, doch sie wollte nicht, dass er aufhörte, sie wollte mehr, wollte ihn ganz für sich.
Er blickte sie an und hielt kurz inne, blieb jedoch in ihr. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er hob seinen Arm und biss sich in den Unterarm.
Blut trat hervor. Sie öffnete ihren Mund, legte ihre Lippen auf die beiden Punkte und saugte, während er sich auf einen Arm gestützt wieder in ihr bewegte. Eine Explosion von Geschmack, Duft und Energie füllte ihren Mund.
Als sie trank, spürte sie, wie ein Teil seiner Kraft auf sie überging. Ihr Orgasmus zerriss ihr beinahe den Leib und nur am Rande hörte sie Gerald ihren Namen rufen. Sie öffnete ihre Augen und betrachtete sein Gesicht. Wie ein Mann kurz vor dem Ertrinken schloss er die Augen und stieß ein letztes Mal in sie.
Nur zaghaft ebbte die Lust ab. Als er sich aus ihr zurückzog, sehnte sie sich schon wieder nach ihm. Ihr Herz pochte hart und schnell und eine unglaubliche Energie durchströmte ihre Adern. Sie bekam Angst vor sich selbst.
„Was bin ich geworden, Gerald?“, fragte sie ihn. „Was hat dieser Wahnsinnige aus mir gemacht?“
„Also ich habe gegen deinen Sexhunger nichts einzuwenden.“
Er grinste selbstsüchtig und sie boxte ihm gegen die Schulter. „Bitte, ich meine es ernst. Es macht mir Angst.“
Er schüttelte den Kopf, antwortete nicht gleich, sondern strich ihr eine Haarsträhne aus ihrem verschwitzten Gesicht. Wie von allein folgte ihr Kopf seiner Hand.
„Ich weiß es nicht, mein Engel, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wie sehr ich dich liebe und dass ich dich nicht mehr verlieren möchte, was immer er aus dir gemacht hat oder die Zukunft bringen wird.“
Seine Worte drangen in sie wie süßer Nektar. Sie schmiegte sich an ihn. „Ich weiß nicht, ob ich damit umgehen kann, eine von euch zu werden.“
Er nickte. „Was einige meines Volkes dir angetan haben, war ein schlimmes Verbrechen. Ich verstehe dich und es tut mir leid. Aber du musst auch verstehen, dass ich diejenigen jage, die unsere Gesetze brechen.“
Dann erklärte er ihr, wie die moderne Welt seines Volkes funktionierte, und sie begann zu verstehen, was er war und wofür er kämpfte.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob du überhaupt noch eine von uns werden könntest, nachdem Jonathan dich in etwas verwandelt hat, das ich nicht deuten kann“, sagte er schließlich. „Wie es scheint, bist du es bereits und auch wieder nicht. Aber du lebst und es wäre mir eine Ehre, dich von meinem Blut zu nähren.“ Er senkte den Kopf zu einer Verbeugung. „Manchmal tun und sagen wir für Menschen altmodische Dinge“, fügte er hinzu und lächelte. „Ich nenne es Tradition.“
Vieles an ihm wirkte antiquiert und doch war es das Aufrichtigste, was ihr jemals gesagt wurde. „Danke Gerald. Ich bin dir sehr dankbar.“
Für eine Weile sprachen sie nicht. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und fragte ihn, was in jener Nacht wirklich geschah, als ihre Mutter starb. Gerald setzte sich auf und lehnte sich an das Kopfende des Bettes. Sie schmiegte sich an seine Seite und lauschte seiner Erklärung.
„Seit diesem Tag liebe ich dich. Ich konnte es nicht zulassen, aber ich konnte dich beschützen.“
„Also sind wir wohl so etwas wie füreinander bestimmt.“
„Wie es aussieht, ja.“
Sie sah zu ihm hoch und lachte. „Dann habe ich also auch einen Prinzen zu dem Schloss bekommen, das mir mein Vater vererbt hat.“
„Welches Schloss?“
Mit Freude registrierte sie, dass auch er ein befreites Lächeln zeigte. Die Trauer um seinen Bruder schien für den Moment ertragbar für ihn.
„Ich war noch nie dort. Es liegt in Belgien.“ Seine Augen vergrößerten sich, als sie ihm den Ort nannte und ein nachdenklicher Schatten huschte über sein Gesicht. „Wenn du möchtest, sehen wir es uns gemeinsam an.“
„Das möchte ich. Mehr als du erahnen kannst.“
„Wirklich?“
„Das wäre für mich, zurück zu meinen Wurzeln gehen. Meine Familie stammt aus Belgien. Und das Schloss, das du geerbt hast – gehörte einmal uns.“
Sie starrte ihn an. „Was?“
Er lachte leise, sein Körper bebte verhalten. „Das nenne ich Ironie des Schicksals, Sophie. Das Schloss der Vermonts ging, nachdem es halb niedergebrannt wurde, an die Jäger über und gelangte über diesen Weg in den Besitz deines Vaters. Es wurde neu aufgebaut. Und nun werde ich dahin zurückkehren. Mit dir. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Außer vielleicht dem hier …“
Er zog sie unter die Decke und sie dachte, da konnte sie ihm nur zustimmen.