Sophie Lacostes Blick ruhte auf dem Grab ihrer Mutter. Selbst im Winter machte es einen gepflegten Eindruck. Die Blumen waren entfernt worden, um Platz zu schaffen für die Sprösslinge des kommenden Frühlings. Die Erde bedeckte eine mit Blüten bedruckte Plastikfolie, beschwert mit den Ziersteinen, die ansonsten das Grabgärtchen schmückten, damit der Wind die Plane nicht davonwehte. Ihr Vater hatte an alles gedacht, nur anscheinend nicht an den heutigen Tag.

Jedes Mal, wenn Sophie die letzte Ruhestätte ihrer Mutter besuchte, sah das Grab ein klein wenig anders aus. Hier ein neuer Stein, dort eine zusätzliche Laterne. Im Winter wechselte Vater wöchentlich die Plane, als würde er ein Bett frisch überziehen. Einmal hatte eine Frau sie gefragt, ob ihr Vater aufgrund des Todes seiner Frau den Verstand verloren habe. Verrückt war er, keine Frage, aber nicht deswegen.

Sophie bückte sich, öffnete mit kalten, steifen Fingern das Häkchen an einer der schmiedeeisernen Laternen und stellte ein Grablicht hinein, das sie mit dem Feuerzeug anzündete. Der gelbe Lichtschein der Flamme fiel auf den weißen Granitstein. Eine Eisschicht bedeckte die mit Blattgold verzierte Schrift wie eine gläserne Versiegelung.

Ruhe in Frieden.
Deine Stimme bleibt für immer in unseren Herzen.
Anais Lacoste
geboren am 15. April 1961
gestorben am 11. Januar 1998

Zehn Jahre waren vergangen, seit ihre Mutter im Burgtheater ermordet worden war und obwohl Sophie es war, die sie an jenem Nachmittag auf der Bühne gefunden hatte, war jede Erinnerung an diesen Moment wie weggefegt. Wie eine Seite aus einem Buch, die jemand herausgerissen und unwiederbringlich verbrannt hatte. Weder Hypnose noch irgendeine andere therapeutische Technik hatten es je geschafft, diese Stunden zurückzuholen. Nachdem auch ihr Vater nicht über diesen Tag sprechen wollte, musste sie sich mit dem begnügen, was die Zeitungen über den Mord geschrieben hatten.

In Anbetracht des zehnten Todestages wunderte es sie einmal mehr, dass ihr Vater noch nicht erschienen war. Er konnte es unmöglich vergessen haben.

Die Kerze zauberte ein tanzendes Lichtspiel auf den Grabstein und das Wachs verbreitete ein angenehmes Lavendelaroma. Sophie vergrub die Hände in den Jackentaschen. Es war kurz vor neunzehn Uhr. Die Dunkelheit war schon längere Zeit über den Friedhof hereingebrochen. Laternen beleuchteten die Wege und der leichte Bodennebel rundete das Bild einer schaurig schönen Umgebung ab, die so manchen davon abgehalten hätte, den Friedhof zu betreten. Für reguläre Besucher schlossen sich die Tore zu dieser Jahreszeit um siebzehn Uhr, doch das hatte Sophie nie gehindert, Mutters Grab zu besuchen. Sie hatte sich einen Schlüssel besorgt.

Sophie stellte sich erneut die Frage, wo ihr Vater blieb. Sie hatte ihn seit Wochen nicht gesehen, was nicht ungewöhnlich war. Es lag vor allem daran, dass sich ihr Verhältnis mit jedem Jahr abkühlte. Manchmal telefonierten sie und sprachen einige belanglose Worte oder er schrieb einen Brief. Ihr Vater verabscheute die modernen Kommunikationstechnologien wie E-Mails oder SMS.

Eben diese Briefe, in denen er versuchte, Sophie seine Sicht der Dinge zu erklären und sie immer wieder bat, zurückzukehren, ihren Platz an seiner Seite einzunehmen, machten es ihr noch schwerer, eine normale Vater-Tochter Beziehung aufzubauen. Sie liebte ihn wie eine Tochter ihren Vater nur lieben konnte, aber sein Fanatismus, mit dem er seiner angeblichen Bestimmung folgte, hatte vieles in ihrem Leben kaputtgemacht.

Trotz ihres schwierigen Verhältnisses fanden sie jedes Jahr am Grab zusammen, um gemeinsam zu trauern und ihre Differenzen für einen Tag beizulegen. Ihr Vater war immer der Erste, der zu diesen Treffen erschien, eine Kerze anzündete und in Stille betete und weinte. Deshalb verstand Sophie nicht, was ihn in diesem Jahr bewog, die Tradition zu brechen.

Sie hoffte, dass ihm nichts zugestoßen war. Vielleicht hatte er beschlossen, mit der Vergangenheit abzuschließen, oder es fiel ihm zu diesem Jahrestag besonders schwer, zu kommen. Aber er hätte es ihr wenigstens sagen können, damit sie sich keine Sorgen machte.

Sophie wartete, bis die Uhr des Kirchturms acht schlug. Die Kälte war ihr inzwischen unter die Haut gekrochen. Mit steifen Fingern zog sie das Handy aus der Handtasche, in der Hoffnung, den klärenden Anruf überhört zu haben. Statt eines Anrufs von ihrem Vater wartete nur eine SMS von Dora und Meike, ihren engsten Freundinnen, darauf, beantwortet zu werden. Sie hatten sich um halb neun in ihrer Stammpizzeria in der Wiener Innenstadt verabredet. Eigentlich hatte sie den Abend für das Treffen mit ihrem Vater reserviert. Da sie jetzt nicht allein sein wollte, beschloss sie, die Einladung anzunehmen. Sie antwortete per SMS, dass sie nachkommen würde und die beiden ihr etwas von der Flasche Wein übrig lassen sollten. Dann verabschiedete sie sich in Gedanken von ihrer Mutter und machte sich auf den Weg zum Auto.

Sie ging den Weg über den Zentralfriedhof zurück in Richtung Parkplatz. Die Kälte brannte in ihrem Gesicht und sie sehnte sich nach der Wärme ihres Wagens und einer Tasse heißen Tee beim Italiener. Sie mochte den Winter nicht. Sobald die Temperaturen gegen null gingen, dachte sie jedes Jahr daran, mit den Vögeln in den Süden zu ziehen. Das blieben Tagträume, denn in Wirklichkeit war sie froh über das bisschen Stabilität in ihrem Leben. Wien war zum Mittelpunkt ihres derzeitigen Lebensabschnittes geworden, daran sollte sich so schnell nichts ändern. Nach der langen Zeit, in der sie versucht hatte, sich selbst zu finden, war endlich etwas Ruhe eingekehrt.

Als sie sich von ihrem Vater und seiner Bestimmung abgewandt hatte, war sie durch ein Tal der Emotionen gewandert, hatte halb Europa unsicher gemacht, Dutzende Jobs gehabt und zwei Studien abgebrochen, ehe sie sich als Grafikerin selbstständig gemacht hatte.

Nur in der Liebe fand sie kein Glück, aber das war im Augenblick zu verschmerzen. Irgendwann würde es schon funken und mit sechsundzwanzig blieb ihr noch Zeit. Bis dahin hatte sie ihre Freundinnen, damit sie sich nicht einsam fühlte. Und Geheimnisse im Nachttisch, die wesentlich ausdauernder waren als so mancher Schönling, der glaubte, ihr den Hof machen zu müssen, um in dreißig Sekunden seine Bedürfnisse zu befriedigen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.

Sophie hatte den halben Weg in Richtung Gittertor zurückgelegt, als sie eine Bewegung zwischen den Bäumen bemerkte. Vielleicht vierzig, fünfzig Meter vor ihr. Etwas huschte durch den fahlen Lichtschein, den die Laternen zwischen die Bäume warfen, und verschwand wieder. Sie hielt inne und lauschte. Wieder sah sie etwas, das ihr weit größer erschien als alle infrage kommenden Tiere.

„Hallo? Ist da jemand?“ Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Schnelle Schritte knirschten im Schnee, begleitet von einem unterdrückten Schnauben, das an das Hecheln eines Hundes erinnerte.

„Wenn man Sie eingeschlossen hat, kommen Sie raus, ich habe einen Schlüssel.“

Sie erhielt keine Antwort. Es knackte im Gebüsch, dann wieder ein Rascheln und hastige Schritte, allerdings auf der anderen Seite des Weges. Es schien, als bewege sich dieses Etwas schneller als ihr Blick erfassen konnte. Ihre Nackenhärchen sträubten sich unter dem eisigen Schauder, der ihr Rückgrat entlanglief.

„Hallo?“ Sophies Stimme klang längst nicht so forsch, wie sie vorgeben sollte. Wieder huschte ein Schatten zwischen den Bäumen entlang, schien blitzschnell die Seite des Weges zu wechseln, als wolle er mit ihr spielen wie eine Katze mit einer Maus.

Sophies anfänglich mulmiges Gefühl steigerte sich in gehetzte Unruhe. Adrenalin flutete ihre Adern und verdrängte die Kälte. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie herumwirbeln. Ihr Blick flog an den Gräbern und Bäumen entlang, bis sie für einen Moment einen verzerrten grauen Schweif erfasste. Kein Tier, das sie kannte, bewegte sich mit einer derartigen Geschwindigkeit. Eine böse Vermutung stieg auf. Nein. Vielleicht irrte sie sich und es war nur ein verrücktes Windspiel, eine Böe, die durch die Bäume zirkulierte. Die zur Beruhigung formulierten Gedanken halfen nicht. Woher kamen die Schritte, das Schnauben?

Sophie rannte einige Meter voran und stoppte abrupt. Zwischen den Bäumen nahm sie die Bewegung erneut wahr. Nein, das war kein Tier, sondern etwas anderes. Etwas, an das sie nicht denken wollte. Die bloße Vorstellung erfüllte sie mit Wut, versetzte ihr einen schmerzhaften Stromstoß, bei dem sich ihr Magen zusammenkrampfte. Dennoch sprach vieles dafür, dass sie sich kaum irrte. Sie hatte zu lange an der Seite ihres Vaters gestanden und er hatte sie gelehrt, die Zeichen zu deuten. Jedoch hatte sie nie einem dieser Vampire gegenübergestanden. Seit Jahrzehnten verbargen sie sich und nur wenige ließen ihre Tarnung fallen, offenbarten ihr wahres Ich. Warum musste dieses Exemplar gerade heute Abend mit dieser Tradition brechen? Ihre Finger umklammerten die Handtasche, öffneten den Verschluss.

Lange hatte sie ihren Vater für verrückt gehalten. Manchmal hasste sie ihn sogar für das, was er war, was er tat. Es hatte ihre Kindheit geprägt, ihr das Leben zur Hölle gemacht und erst, als ihre Mutter bei einem Vampirangriff ums Leben gekommen war, hatte Sophie begriffen, dass ihr Vater nie gelogen hatte. Sie spähte vorsichtig in alle Richtungen und lief weiter. Wo zur Hölle verbarg sich diese Bestie?

Anders als in den Mythen schliefen Vampire nicht in Särgen, zeigten keine Furcht vor Kreuzen und Knoblauch und es dauerte beachtlich länger als einen Lidschlag, sie durch Sonnenlicht zu töten. Dieser Vorgang dauerte Stunden, um genau zu sein. In Sophies Augen waren sie nichts weiter als Parasiten, die sich vom Blut von Mensch und Tier ernährten. Ein solcher Parasit war ihr nun anscheinend auf den Fersen, und das an einem Ort, an dem sie ihn am wenigsten vermutete.

Erneut blickte sie sich um. Sie beschleunigte ihre Schritte, auch wenn sie wusste, wie wenig ihr das helfen würde, einem Vampir zu entkommen.

Der Parkplatz kam in Sicht. Die Geräusche der nahenden Gefahr verstummten plötzlich. Das beunruhigte Sophie noch mehr. Sie glaubte zu spüren, wie er sie beobachtete, den richtigen Moment abwartete, um aus dem Versteck zu stürzen, wenn genug Adrenalin durch ihre Adern floss, dessen Geschmack für diese Parasiten wie eine Droge wirkte.

Vor ihr lag eine dunkle Wegstelle. Eine Laterne war ausgefallen und sie wusste, wann er zuschlagen würde. Ganz so einfach würde sie es der Bestie nicht machen. Sie hatte zwar nicht die Erfahrung ihres Vaters, aber sein Unterricht und seine Beharrlichkeit, ihr einzubläuen, immer einen seiner speziellen Dolche bei sich zu haben, erfüllten Sophie trotz ihrer Angst mit etwas Hoffnung.

Sie griff in ihre Handtasche, tastete nach der hölzernen Dolchscheide und zog die zierliche Waffe, die nicht größer als ein Brieföffner war, aus der Schutzhülle. Wie oft hatte sie den Dolch achtlos zu Hause in der Schublade gelassen. Heute hatte sie ihn eingepackt für den Fall, dass ihr Vater sie danach fragen würde. Anstatt nur eine sinnlose Diskussion zu verhindern, würde dieser Dolch ihr nun Schutz bieten.

Kaum hatte sie die dunkle Stelle erreicht, tauchte die Bestie auf. Obwohl Sophie den Angriff erwartete, erschrak sie, als der Blutsauger wie aus dem Nichts erschien. Groß, schlank und weiblich, mit langen schwarzen Haaren, bernsteinfarbenen Augen und einem Blick, der die Arroganz der Überlegenheit spiegelte. Ihr Gesicht war mit Brandnarben übersät und sie kräuselte ihre pink geschminkten Lippen. Lange spitze Fänge traten hervor.

„Was willst du von mir?“ Sophie brachte all ihren Mut auf, um selbstbewusst zu klingen. Sie blickte der Frau nicht in die Augen und wagte kaum, zu atmen.

„Kannst du dir das nicht denken?“ Mit hochhackigen Stiefeln und in einen heruntergekommenen schwarzen Pelzmantel gehüllt, kam sie auf Sophie zu, die Hände in die Hüften gestemmt. „Dein Duft … du riechst so verlockend, ich konnte nicht widerstehen.“

Die Vampirin sog demonstrativ die Luft ein und stolzierte wie ein Model auf sie zu, umkreiste Sophie und schmiegte sich immer wieder an sie.

Ein angenehmes Aroma nach orientalischen Gewürzen und Moschus stieg in Sophies Nase. Sofort merkte sie, wie dieser Duft von ihr Besitz ergriff, ihre Sinne umspannte wie Spinnweben das Opfer in einem Netz. Es musste der Vampiratem sein, von dem ihr Vater erzählt hatte, eine Art Lockstoff, den einige Blutsauger verströmten, um ihre Opfer gefügig zu machen.

Sophie hielt die Luft an und ging ein Stück weiter. Der kurze Abstand bot ihr die Möglichkeit, durchzuatmen, dann stand die Vampirin wieder vor ihr. Das Ganze geschah mit einer Schnelligkeit, die Sophie nur durch ein Verschwimmen des Bildes der Umgebung erahnte.

„Wohin willst du denn?“, fragte die Vampirin mit schmollender Miene. „Denkst du, ich lasse dich gehen?“ Sie hob die Hand, strich mit ausgestrecktem Zeigefinger über Sophies Wange und Kinn. „Hm?“, schnurrte sie und öffnete weit ihren Mund, offenbarte ihre mörderische Zahnpracht, deren Reißzähne einem Raubtier in nichts nachstanden. „Ich möchte von dir naschen und vielleicht noch etwas mehr.“

Sophie wich einen Schritt zurück. Ihre rechte Hand umschloss den Dolch in der Tasche. Sie versuchte, nicht zu zittern.

„Denk nicht daran“, fauchte die Vampirin, umschloss Sophies Handgelenk wie ein Schraubstock. „Ich hasse Pfefferspray und den sonstigen Kram, den ihr in euren Handtaschen tragt.“

Der Schmerz ließ Sophie die Hand öffnen. Tränen füllten ihre Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Die Vampirin zog sie heran, presste sich an sie und packte sie am Haarschopf. Sie riss ihren Kopf unsanft nach hinten. Sophie versuchte, sich zu befreien. Vergebens. Die weibliche Bestie zog noch fester an ihrem Haar und umklammerte ihre Handgelenke noch kräftiger, als wolle sie ihr die Knochen brechen. Sie spürte die Spitzen der Reißzähne wie Zinken einer Gabel über ihre Haut kratzen.

„Ich dachte, eure Gesetze verbieten es, Blut aus Adern zu trinken“, brachte sie hervor.

Tatsächlich reagierte die Vampirin. Fauchend hob sie den Kopf, musterte Sophie. „Unsere Gesetze? Was weißt du schon von unseren Gesetzen?“ Der Blick der Blutsaugerin wirkte einen Augenblick verunsichert, ehe sie sich wieder in der Gewalt hatte. „Ich halte mich nicht an diese Gesetze.“ Die Farbe ihrer Augen änderte sich von Bernsteinfarben zu Schwarz. Sie riss erneut an Sophies Haar und beugte sich vor. Jetzt stank ihr Atem nach ungepflegten Zähnen und fauligem Zahnfleisch.

„Wovon ernährst du dich sonst, Aas?“, stieß Sophie hervor. Vielleicht würden Beleidigungen sie von ihrem Vorhaben ablenken.

„Halt endlich dein Maul, Schlampe.“

Für einen Moment verlor die Vampirin die Konzentration und löste den Griff von Sophies Hand, um sie an der Hüfte heranzuziehen. Diese winzige Chance wusste Sophie zu nutzen, stieß ihre Hand in die Tiefe der Tasche, riss den Dolch heraus und rammte zugleich der Frau das Knie in den Unterleib. Überrascht vom Widerstand des Opfers wich die Vampirin zurück. Sophie verlor keine Zeit und stach mit aller Kraft zu, wie ihr Vater sie Hunderte Male an einer Puppe hatte üben lassen.

Der Dolch traf zwischen die Rippen, zerschnitt Haut, Fleisch, Sehnen und tauchte tief ein, ehe sich der tödliche Inhalt entlud.

Die Vampirin schlug zornig um sich. Ein Hieb traf Sophie und fegte sie von den Beinen. Das Blut der Bestie tränkte den Mantel. Er glänzte im fahlen Licht. Die Blutsaugerin zog den Dolch aus der Brust, schrie vor Schmerz und die Säure tat ihre Arbeit. Ungläubig betrachtete sie die Wunde.

„Du dreckiges Miststück. Was ist das für eine Scheiße?“

Sophie rappelte sich hoch und konzentrierte ihre Kraft auf einen Tritt, mit dem sie die Vampirin zu Boden beförderte. Das Licht der Laternen offenbarte ein grausames Bild von sich zersetzendem Fleisch. Aus der Stichwunde war ein faustgroßer Krater entstanden, der sich weiter ausbreitete.

Die Vampirin zuckte und zappelte. „Verdammte Scheiße, verdammt!“, schrie sie, starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die immer größer werdende Wunde.

Sophie lief es eiskalt über den Rücken. Auch wenn die Vampirin eben noch über sie herfallen wollte, empfand Sophie das Schauspiel des Todeskampfes unter geänderten Vorzeichen keineswegs als Sieg. Sie erfasste den furchtbaren Schmerz in den Augen der verendenden Kreatur und wusste, dass nichts die Wirkung der Säure rückgängig machen konnte. Das Konzentrat reagierte sofort mit dem Organismus eines Vampirs, breitete sich schneller aus als bei einem Menschen und war nicht aufzuhalten. Trotz ihres Hasses auf diese Spezies musste Sophie ihr Opfer aber nicht leiden lassen. Beherzt griff sie nach ihrem Dolch, atmete tief durch und rammte die Klinge in die Brust der Vampirin. Dieses Mal traf sie ins Herz. Ein dicker Schwall wässrigen Blutes drückte den Dolch aus der Wunde. Die Vampirin hob noch ein Mal den Brustkorb, dann starb sie mit einem leisen Keuchen.

Fröstelnd betrachtete Sophie die Leiche. Das wässrige Blut, das verdünnter Farbe glich und darauf hindeutete, dass die Frau lange kein Blut getrunken hatte, sickerte in die dünne Schneeschicht und breitete sich rasch auf dem Boden aus.

Sophie empfand weder Freude noch Schmerz. Leere breitete sich in ihr aus. Wie mechanisch gesteuert hob sie den Dolch auf, wischte ihn im Schnee ab und ließ ihn wieder in der Handtasche verschwinden.

Dann wandte sie sich der Straße zu, eilte im Laufschritt zum Tor. Ihr Wagen wartete vereinsamt in der Mitte des Parkplatzes. Sie machte sich nicht die Mühe, das Tor abzuschließen, rannte zu ihrem Auto, stieg ein und startete den Motor. Die Scheinwerfer erhellten den Parkplatz, fielen über das Friedhofstor. Dahinter lag der leblose Körper der Vampirin. Für einen Moment schloss Sophie die Augen. Der Anblick war erschreckend, aber auch surreal. Sie atmete tief ein und ihre Hände schlugen wie von allein auf das Lenkrad, bis sie Tränen auf den Wangen spürte.

Hunderte Gedanken schossen durch ihren Kopf. Egal, ob Mensch oder Vampir, sie hatte diese Frau umgebracht, kaltblütig ermordet. Was sollte sie nun tun? Sie konnte den Leichnam nicht einfach zurücklassen und mit ihren Freundinnen essen gehen als sei nichts geschehen.

An ihren Fingern klebte noch das Blut, das nicht menschlich war. Sophie nahm ein Taschentuch aus der Handtasche und wischte sich die Hände ab. Doch damit war es nicht getan.

Sie musste zu ihrem Vater. Er wusste, was zu tun war und als hätte er ihre Gedanken gehört, läutete das Handy. Es war der Klingelton ihres Vaters. Doch als sie abhob, war es nicht seine Stimme, die sich am anderen Ende der Leitung meldete.

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Selbst das offene Feuer im Kamin vermochte nicht die Kälte zu verdrängen, die bis in den letzten Stein des alten Gemäuers kroch. Doch es war nicht nur die Kälte, welche die Vorstadtvilla in Besitz genommen hatte, auch Verfall machte sich breit. Im Zimmer roch es schwer nach Feuchtigkeit. Putz und Rahmenwerk der Wände, das einst kunstvoll geschwungene Ranken darstellt hatte, bröckelten an unzähligen Stellen. Die Farbe der Türen blätterte und die Parkettböden warfen Wellen.

Die Einrichtung bestand aus Möbeln im Biedermeier- und Jugendstil. Sie stammten aus der Zeit vor mehr als hundertfünfzig Jahren, als er mit den Überlebenden seines Clans aus Belgien nach Wien geflohen war. Der klägliche Überrest des einstigen Reichtums seiner Familie erinnerte ihn jedes Mal aufs Neue daran, wie es um seinen Clan stand.

Gerald Vermont saß im Lehnstuhl vor dem Kamin und lauschte dem Knistern und Knacken des Holzes, das gierige Flammenzungen verschlangen. Er kam nur selten her, zu selten für seinen Geschmack. Was ein Grund dafür war, dass die Villa immer weiter verfiel. Auf eine beinahe unheimliche Weise spiegelte der Zustand dieses Ortes sein Inneres wider. Die Villa diente ihm als ein Ort des Rückzugs und der Ruhe, um nachzudenken und für einige Stunden seiner Bürde zu entfliehen.

Die meiste Zeit verbrachte er in der Sicherheitsagentur, die im Westen Wiens lag. Als vom Vampirrat bestimmter Oberbefehlshaber über alle Agenturen agierte er rund um den Globus. Es war seine Aufgabe, die Agenten zu dirigieren und für die Einhaltung der Gesetze seiner Rasse zu sorgen. Nicht selten führte ihn das von einem Kontinent zum nächsten, um sich vor Ort um die größeren Probleme zu kümmern. Letztere häuften sich in den vergangenen Monaten und machten es praktisch unmöglich, dafür zu sorgen, dass die Existenz seines Volkes unentdeckt blieb. Was vor allem daran lag, dass viele Vampire, besonders jene der jüngeren Generation, gegen ihn und die Agenten arbeiteten, indem sie bewusst Gesetze brachen, den Vampirrat provozierten. Kurz gesagt, es war ein Traumjob mit jeder Menge Freizeit und kreativen Gestaltungsmöglichkeiten.

Gerald griff nach der Kristallphiole auf dem Beistelltisch. Das glatte Gefäß in Form einer Tänzerin war angenehm warm und enthielt die Flüssigkeit, die jeder Vampir über kurz oder lang zum Überleben brauchte. Er schraubte die Kappe ab und trank einen großen Schluck des warmen Blutes. Dass der Inhalt nicht abkühlte, lag an der besonderen Gestaltung des Gefäßes, das in mehreren Schichten aus Glas, Metall und isolierenden Vakuumkammern aufgebaut war. Langsam ließ er den roten Lebenssaft auf der Zunge zergehen wie teuren Wein. Dabei wartete er auf den Moment, in dem die Energie des Blutes auf ihn überging.

Der Moment blieb aus. Weder spürte er die Schwingungen des Herzschlages noch war er in der Lage, die Gedanken jenes Menschen zu lesen, von dem es genommen worden war. Dieses Blut war schwach und enttäuschend. Es würde seinen Durst nur für wenige Stunden stillen, so wie fast jedes Blut, das er nicht aus der Ader, sondern der Konserve trank.

In Augenblicken wie diesen hatte er es satt, so leben zu müssen. Er sehnte sich nach jener Zeit, in der er noch die Freiheit genießen durfte, nachts zu jagen. Sein letzter Biss lag so unendlich lange zurück, dass er fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte, die Fänge in eine Ader zu tauchen. Nur vage blieb die Erinnerung, wie sich der Geschmack des vom Herzen kommenden Blutes in seinem Mund ausbreitete. Der bloße Gedanke trieb die Eckzähne aus seinem Oberkiefer, doch mehr als eine Erinnerung war ihm nicht vergönnt, nicht heute und an keinem anderen Tag in seinem zukünftigen Leben. Diese immer wiederkehrende Gewissheit drückte noch mehr auf seine Stimmung.

Aber er konnte nichts dagegen tun. Die Zeiten hatten sich geändert und er hatte gelernt, mit den Entbehrungen zu leben, sie zu akzeptieren und seine Verbitterung vor anderen seines Volkes zu verbergen, auch wenn es ihn innerlich zerriss. Die Freiheit der Jagd hatte sein Volk an den Rand des Untergangs getrieben und er erinnerte sich nur zu gut an diese finsteren Jahre.

Auf der einen Seite war es der jahrhundertealte Krieg gegen die Vampirjäger, der sich mit der Waffenentwicklung des Zweiten Weltkrieges zugespitzt und ihre menschlichen Feinde zu gleichwertigen Gegnern gemacht hatte. Doch es war nicht nur der Kampf mit den Jägern, auch neuartige Bedrohungen wie das HIV-Virus breiteten sich aus. Anders als die alten Krankheiten und Seuchen waren diese auch für einen Vampir ansteckend und im Falle des HIV-Virus raffte dieses einen Infizierten seiner Spezies innerhalb nur eines Tages dahin. Er hatte mehr als einen daran sterben sehen, von Schmerzen und einer Art Mumifizierung geplagt. Ein Anblick, der sich in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte und dessen Bilder selbst jemanden wie ihn, der Tod und Leid zu bewältigen gelernt hatte, nicht ungerührt ließen.

Krieg und Krankheiten hatten so viele seines Volkes getötet, dass ihre Anzahl in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts auf wenige Tausend geschrumpft war und das Ende unumkehrbar erschien. Nur die Gründung des Vampirrates durch André Barov hatte den sicheren Untergang abgewendet.

André Barov, der dem alten Herrschergeschlecht der Vampire entstammte, war es gelungen, die acht ältesten Familien, zu denen auch der Clan der Vermonts zählte, zu einen. Schon bald entschieden weitere Clans, sich dem Rat anzuschließen, der von nun an Gesetze erließ, die dem Schutz und dem Überleben der Vampirrasse dienten. Es waren Gesetze, die vor allem eines bedeuteten: Entbehrungen.

Seit der Gründung des Rates oblag es Gerald und seiner Familie, die Sicherheitsagentur zu leiten und sich darum zu kümmern, dass die Existenz der Vampire verborgen blieb.

Verdammt, sie hatten das große Los gezogen.

Er drehte die Phiole in der Hand, betrachtete durch die Öffnung, wie ein letzter Tropfen zurück auf den Boden des Fläschchens glitt. Entbehrungen. Das Wort hallte wie ein Echo durch seinen Kopf.

Er atmete durch und zerdrückte das kunstvolle Behältnis in seiner Hand. Knirschend zerbröselte das Glas, rieselte als glitzernder Staub auf das Parkett. Übrig blieb die zerknautschte metallene Seele, die Gerald auf den Beistelltisch legte. Die Schnittwunden in seiner Handfläche schlossen sich wie im Zeitraffer, ohne eine Narbe zu hinterlassen. Nur der Schmerz blieb für einige Minuten. Er genoss es. Es ließ ihn spüren, dass trotz der inneren Kälte, die er seit einiger Zeit empfand, zumindest noch ein Funken Leben in seinem Körper steckte.

Er ließ die Hände an den Seiten des Lehnstuhls hinuntergleiten und sank in die Polsterung. Seit Wochen fühlte er sich müde und ausgebrannt, auch wenn er alles daran setzte, es nach außen hin zu verbergen. Nach den Jahrzehnten der Ruhe, in denen die Erinnerung der alten Generationen an die finsteren Jahre noch frisch war und es kaum Widerstand gegen die harten Gesetze des Rates gab, war im vergangenen Frühjahr ein Vampir namens Zacharias aufgetaucht. Aus persönlichen Racheplänen gegen André Barov hatte er eine Revolution angezettelt, die sich schnell ausgeweitet hatte und selbst nach Zacharias Tod war die erhoffte Ruhe nicht eingekehrt, es verschlimmerte sich stattdessen.

Gerald hatte schon damals bezweifelt, dass lediglich ein verbitterter alter Mann wie Zacharias hinter dieser Revolution steckte. Auch wenn Zacharias aus persönlichen Gründen gehandelt hatte, war dennoch vieles ungeklärt geblieben, wie etwa die Motive des Assassinen Jorog, der Zacharias begleitet und unterstützt hatte.

Assassinen galten als die tödlichsten jemals von der Evolution hervorgebrachten Wesen. Im Prinzip waren sie Missgeburten, Bastarde, bei denen sich die Gene eines Vampirs mit denen eines Tieres vereinigt hatten. In den Geschichten der Menschen erschienen sie als Wertiere und galten als Einzelgänger. Doch daran glaubte Gerald nicht mehr. Er vermutete, dass es einen gab, der versuchte, sie zu vereinen. Der die Fäden hinter all dem zog und auch Zacharias beeinflusst oder ihm zumindest aus dem Schatten heraus unter die Arme gegriffen hatte. Lange hatte Gerald gedacht, es sei dieser Assassine, aber Jorog war von André Barov getötet worden und trotzdem nahmen die Unruhen kein Ende.

Jorog. Dieser Name erfüllte Gerald mit Wut und Hass, trieb glühendes Blut durch seine Adern. Sein Blick schweifte zu der goldenen Urne über dem Kamin. Das Licht der Flammen schimmerte auf den von Hand gefertigten Reliefen, die von den Schlachten jenes Mannes berichteten, dessen Asche in dieser Urne ruhte. Sein geliebter Bruder Romain, der im letzten Sommer im Kampf gegen Jorog gefallen war. Verdammt, es tat noch immer weh. Als laufe die Säure der Jägerwaffen durch seine Adern.

Seit dem Tod seines Bruders bereute er seine Entscheidung, die Leitung der Agentur zu übernommen zu haben. Es hatte nur Verderben über seinen Clan gebracht, einen nach dem anderen dahingerafft. Ein bitteres Lachen entfloh seiner Kehle. Duett traf es wohl besser. Außer ihm gab es nur noch seinen Bruder Clement. Sie waren die beiden letzten Vermonts. Ein Geheimnis, von dem nur Clement und er wussten.

Gerald spürte ein Ziehen in den Schläfen, das ihn aus seinen Gedanken riss, ihm signalisierte, dass jemand auf telepathischem Weg Kontakt aufnehmen wollte. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und vernahm André Barovs Stimme. Das Oberhaupt des Vampirrates konnte nicht weit sein, da jene Vampire, die über diese Fähigkeit verfügten, sie meist nur über kurze Entfernungen einsetzten. Es kostete ansonsten zu viel Kraft.

„Ich bitte um Nachsicht, falls ich dich am Ort deiner persönlichen Ruhe störe, Gerald.“

„Das ist rücksichtsvoll, aber ich wollte ohnehin ins Büro zurückkehren“, antwortete Gerald, verdrängte den Anflug von Unmut. „Bist du in der Nähe der Villa?“

Geralds telepathische Fähigkeiten beschränkten sich auf die verbale Kommunikation und so konnte er zwar Andrés Nähe spüren, ihn jedoch nicht über den Gedankenweg visuell erfassen. Wie Gerald wusste, war André umgekehrt dazu in der Lage.

„Ich stehe vor dem Gittertor zu deiner Villa.“

„Dann werde ich dir öffnen.“ Gerald brauchte nur einen Gedanken, um die Verriegelungen der Tore zu lösen und André Eintritt zu gewähren. Auch wenn seine telepathische Ausprägung schwach war, seine telekinetischen Kräfte waren umso stärker.

Er erhob sich aus dem Sessel und warf zwei Holzscheite in das Feuer. Die Flammen umfassten die Neuankömmlinge mit flatternden Armen. Wenn er André schon in der verfallenen Villa empfangen musste, dann sollte sein Gast wenigstens nicht frieren. Gerald konzentrierte sich noch einmal, atmete tief durch und sammelte seine Kräfte, um jegliche Anzeichen von Erschöpfung nach innen zu kehren.

In diesem Moment betrat André Barov die Tür zum Salon. Das hochgewachsene Oberhaupt des Vampirrates trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug, ein graues Hemd und handgefertigte Designerschuhe. Er wirkte äußerst besorgt. Tiefe Denkfalten spannten sich wie Ackerfurchen über die Stirn des kantigen Gesichtes und seine dunklen Augen strahlten Unruhe aus.

Trotz seiner Besorgnis strotzte er vor Energie und Tatendrang. Gerald vermutete, es lag daran, dass er die Liebe seines Lebens gefunden hatte. Gerald gönnte es seinem alten Freund von Herzen und verstand sich ausgezeichnet mit Andrés Gefährtin, Natalie Adam. Dennoch hatte es einen bitteren Beigeschmack. Sein Bruder Romain war für diese Frau gestorben, um sie vor dem Assassinen Jorog zu schützen. Er hätte jedoch weder Natalie noch André jemals die Schuld gegeben, da er selbst Romain zu Natalies Bewachung geschickt hatte.

„Was führt dich zu mir?“ Gerald wandte sich seinem Besucher zu. „Du siehst besorgt aus.“ Er ging zwei Schritte auf André zu, begrüßte ihn mit einem Handschlag. „Hast du heute schon getrunken?“

„Mach dir meinetwegen keine Mühe.“

Gerald nahm dennoch zwei Phiolen aus dem Vorratsschrank. Eine reichte er André. „Wie geht es Natalie?“

„Hervorragend. Sie denkt gerade darüber nach, wie sie ihrer Geschäftspartnerin die Wahrheit beichtet. Ich habe Tina Sommer eine Weile beobachtet und Natalie meine Zustimmung gegeben.“ André öffnete die Phiole und trank.

„Ein gewagter Schritt.“ Gerald verstand Andrés Entscheidung, obwohl er sie keinesfalls befürwortete, da André sich und Natalie in Gefahr brachte. Im Moment hatte seine Agentur genügend andere Probleme. „Aber ich möchte dein Urteilsvermögen nicht infrage stellen.“

„Es ist nicht einfach, eine Firma mit einer menschlichen Partnerin zu leiten, die allmählich unangenehme Fragen stellt.“ André zuckte mit den Schultern und seufzte leise. „Der Grund, weshalb ich dich dringend sprechen wollte, ist allerdings ein anderer.“

„Ich bin ganz Ohr.“ Gerald versuchte, noch immer ruhig und gelassen zu wirken, innerlich sackte er in sich zusammen. Er war immer darauf bedacht, seinen Job so gut wie möglich zu erledigen, doch er wusste nicht, wie lange es noch dauern würde, bis er endgültig daran zerbrach. Noch war es sein Stolz, der ihn auf den Beinen hielt. Aber jedes Mal, wenn André dringend mit ihm sprechen musste, bedeutete das noch mehr Arbeit. Vermutlich hätte es André verstanden, hätte er mit ihm darüber gesprochen. Diese Blöße wollte sich Gerald aber nicht geben.

„Vor einer Stunde erhielt ich einen Anruf von Mathis Leclerc“, sagte André. „Er sprach davon, dass jemand aus seinem Clan ein Gespräch aufgeschnappt hätte, in dem von einem Bruch des Rates die Rede war.“

Gerald nickte. Es gab immer irgendwelche Gerüchte über den Bruch des Rates und an jedem anderen Tag hätte Gerald Andrés Besorgnis mit einem ‚ich werde mich darum kümmern’ beantwortet. Doch er hatte heute Morgen Ähnliches erfahren, das nach mehr als einem Gerücht klang und sich vorgenommen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Alexandre Montiel, ein Agent aus seinen Reihen, hatte ihm davon berichtet. Er hatte einen Vampir aufgegriffen, der zuvor Jagd auf Menschen gemacht hatte. Die Jagd verstieß seit Gründung des Rates gegen das oberste Gesetz und war nur dann erlaubt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, den Durst zu stillen. Dieser Vampir hatte Alexandre ausgelacht und gemeint, dass die Gesetze des Rates für ihn schon bald nicht mehr gelten würden, allerdings auf eine Weise, die mehr als dummes Gerede darstellte.

„Es heißt, dass mehr als ein Dutzend Clans den Rat verlassen werden“, fuhr André fort. Er stützte sich mit einer Hand an den Kaminsims.

„Zuerst Zacharias, dann die Jäger und nun eine Spaltung des Rates“, resümierte Gerald.

„Wir stehen vor schweren Zeiten, Gerald. Zacharias hat uns schlimmer getroffen als erwartet und meine eigenen Verfehlungen haben es noch verschärft.“

„Du bist deinem Herzen gefolgt und um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass Zacharias allein hinter all dem steckt“, widersprach Gerald. „Seine Rachepläne waren nur ein willkommenes Mittel.“

„Du bleibst also bei deiner Theorie über einen anderen Drahtzieher?“

Gerald blickte ins Feuer, als könne er dort Antworten auf alle offenen Fragen finden. „Alles deutet darauf hin.“

„Könnten diese Unruhen eine Eigendynamik entwickelt haben?“

„Möglicherweise, ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen.“ Gerald wollte nichts ausschließen. Wenn die Gerüchte sich bewahrheiteten, standen sie kurz vor einem Konflikt an zwei Fronten und er konnte kaum abschätzen, wie schlimm es werden würde. Zudem ereilten ihn täglich Berichte über Vampire, die Opfer eines Jägers geworden waren. Meist handelte es sich um jüngere Vampire, die nie gelernt hatten, dass sich manche Menschen gegen einen Vampir zu wehren wussten. Das Wissen auf dem praktischen Weg zu erlernen, endete in den meisten Fällen tödlich.

„Ich werde den Rat einberufen. Dann wird sich zeigen, was hinter den Gerüchten steckt.“

„Die Zeit drängt“, warf Gerald ein. „Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Versammelten erneut um mehr Unterstützung für die Agentur bitten.“

„Wenn du Hilfe brauchst, sag es mir.“

„Möglicherweise kann ein Wort von dir hilfreich sein.“ Er hatte im Moment einunddreißig Männer und zwölf Frauen weltweit verteilt, die hervorragende Arbeit leisteten. Aber es waren schon jetzt zu wenige und sollte es zu einer Spaltung des Rates kommen und die Jäger endgültig wieder erstarken, würde die Agentur der Aufgabe nicht mehr gewachsen sein. Die abtrünnigen Clans würden sich einen Dreck um die Gesetze scheren. Gerald konnte um die Sicherheit seiner Spezies willen nicht zulassen, dass sie dem Untergang entgegentrieben. Sein Gedanke an Verstärkung war nicht ganz uneigennützig. Denn er dachte seit Romains Tod darüber nach, Clement aus der Agentur zu entlassen, damit dieser sich einem gewöhnlichen Leben widmete. Er musste seinen Bruder schützen, um den Clan zu retten. Clement wusste von all dem noch nichts und er würde Geralds Entscheidung sicherlich auch nicht zustimmen. Wie er war Clement ein Krieger, der nur schwer entbehrlich war. Ein Krieger aus dem alten Vampirkriegerorden, dem auch André und Romain angehört hatten und den sie nach der Gründung des Rates auflösten. Die Sicherheitsagentur war aus den Strukturen dieses Ordens entstanden. Dennoch hoffte Gerald, seinen Bruder zur Vernunft zu bringen, sobald genügend Agenten zur Verfügung standen.

Eine Weile stand er André schweigend gegenüber. Vielleicht war es für André weniger die Information, die er überbringen wollte als das Bedürfnis, diese schlechte Nachricht mit jemandem zu teilen, der die vergangenen zweihundert Jahre an seiner Seite gekämpft hatte. Gerald ging es oft nicht anders.

Nachdem André gegangen war, sank Gerald zurück auf seinen Lehnstuhl, trank den letzten Schluck der zweiten Phiole, bis ihn der vibrierende Störenfried in der Tasche seines Sakkos erneut aus der Ruhe riss. Er überlegte, ob der das Handy ignorieren sollte. Das Pflichtgefühl siegte schließlich über die Resignation und ließ seine Finger beinahe selbstständig nach dem Telefon greifen.

„Es gibt hier was, das du dir unbedingt ansehen solltest“, sagte Clement.

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„Spreche ich mit Sophie Richter?“, fragte der Anrufer.

„Sophie Lacoste“, verbesserte sie. Es war lange her, dass jemand sie mit dem Familiennamen ihres Vaters ansprach. Die Stimme kam ihr bekannt vor.

„Wer ist da?“

„Du hast also den Namen deiner Mutter angenommen, ich verstehe.“ Schritte ertönten, ein schnelles, aufgeregtes Schnauben, dann sprach der Anrufer weiter. „Ich bin es, Dominik … wenn du dich an mich erinnerst. Es ist eine Weile her.“

„In der Tat, Dominik“, antwortete Sophie und die Stimme bekam ein Gesicht. Dominik war einer der beiden letzten Vampirjäger, die im Orden ihres Vaters dienten. Es war tatsächlich eine Weile her, dass sie von ihm gehört hatte. Vier Jahre. Dass er sie gerade jetzt anrief, vom Handy ihres Vaters, verhieß nichts Gutes.

„Ich …“ Dominiks Stimme stockte, stotternd suchte er nach Worten. „Dein Vater … ich musste ihm versprechen, dich anzurufen, falls …“

„Was ist mit ihm?“ Die Vampirin auf dem Friedhof war für den Moment vergessen. Ein eisiges Kribbeln lief durch ihren Körper. „Bitte sag schon, Dominik, was ist mit ihm?“

„Er ist tot.“

„Was?“

Oh, Gott.

Nein.

Eine bleierne Lähmung befiel Sophie, sie konnte nicht fassen, was er gesagt hatte. „Wo … wann ist das passiert?“

„Vor etwa einer Stunde.“ Dominik klang außer Atem. „Wir haben einen Vampir gejagt.“ Er fluchte leise und zischte. „Anfangs hat alles geklappt, doch dann …“

„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Es klang, als läge er irgendwo schwer verletzt in einer Ecke.

„Ich musste fliehen … bin etwas außer Atem … nicht mehr der Jüngste.“ Er schnaubte erneut ins Telefon.

Trotz seiner Beschwichtigung beruhigte sich Sophie kaum.

„Die Polizei … sie waren überraschend schnell vor Ort, haben die ganze Gegend abgeriegelt.“

„Wo genau?“

„Wir sollten das nicht am Telefon besprechen, zu unsicher. Können wir uns treffen?“

„Sag mir, wo es passiert ist“, entgegnete sie. „Ich muss zu ihm.“

„In der Bognergasse. Keine Chance, die lassen dich nicht durch, Sophie.“ Er keuchte, hustete.

„Wir werden sehen. Behalt das Handy bei dir, ich melde mich wieder.“ Damit beendete sie das Telefonat und startete den Motor erneut. Als die Scheinwerfer ihres Autos den leblosen Körper der Vampirin beschienen, entdeckte sie zwei Gestalten, die sich über den Leichnam bückten und anschließend in ihre Richtung starrten. Sie wartete nicht, bis sich die beiden vorstellten, sondern trat aufs Gas und raste davon.

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Als Gerald die Bognergasse betrat, hatte Clement bereits vorbildliche Arbeit geleistet. Alle Zugänge waren von der Polizei abgesperrt worden, sodass niemand zum Tatort vordringen konnte. Vor den Absperrungen drängten sich Menschentrauben von Schaulustigen. Unter ihnen auch Reporter. Letztere waren die Schlimmsten, nur schwer davon abzuhalten, wenigstens ein Bild vom Tatort zu ergattern. Gerald hatte zwar Verbindungen, die ihm ermöglichten, die Berichte in den Medien zu manipulieren, sodass es nach einem gewöhnlichen Gewaltverbrechen aussah, aber das kostete zusätzliche Arbeitszeit, Schmiergeld. Zudem war es nicht immer mit Erfolg verbunden. Manchmal gelangte ein Bild dennoch in die Zeitung oder ins Internet, das Fragen aufwarf und Verschwörungstheoretiker auf den Plan rief.

Clement erwartete Gerald bereits am Tatort. Der kahl geschorene Kopf seines jüngsten Bruders schimmerte im Scheinwerferlicht. Sie hätten die Beleuchtung nicht gebraucht. Die lichtempfindlichen Augen eines Vampirs passten sich mit Ausnahme von grellem Sonnenlicht an jede Umgebung an. Jedoch mussten die Agenten verhindern, dass die anwesenden Polizisten, die nun mal Menschen waren, unangenehme Fragen stellten. Die Arbeit an einem Tatort, den die Öffentlichkeit wahrnahm, musste möglichst authentisch erscheinen.

„Wir haben auf dich gewartet, Gerald.“ Clement kam auf ihn zu.

Peter Brom, ein Kriminalkommissar der Wiener Polizei begleitete ihn. Brom war ein Vampir halbblütiger Abstammung, der für die Sicherheitsagentur arbeitete. Dank seiner unscheinbaren Erscheinung, seiner untersetzten Statur und den allgemeingültigen Klischees über das vollkommene Aussehen eines männlichen Vampirs stellte er den perfekten Kontaktmann dar.

„Worum geht’s?“ Gerald blickte zu der Stelle, an der zwei Leichen auf dem Boden lagen. An und für sich nichts Ungewöhnliches und nichts, wofür ihn Clement um Rat bitten würde. Gerade deshalb machte es ihn umso neugieriger.

„Schau es dir zuerst an.“

Gerald folgte Clement und Brom zu der ersten Leiche. Ein Vampir, der mit dem Gesicht auf dem Pflaster lag. Mehrere Löcher klafften in seinem Rücken. Eindeutig von der tödlichen Säure zerfressen, mit der die Jäger ihre Waffen präparierten. Reinblütige Abstammung, wie Gerald am schwindenden Duft des Blutes feststellte. „Wer ist er?“ Die Reinblütigkeit des Toten steigerte noch einmal gehörig sein Interesse.

Clement hob den Kopf des Vampirs, sodass Gerald ins Gesicht des Toten blicken konnte. „Erkennst du ihn?“

Gerald sank in die Knie. Auf den ersten Blick erkannte er nichts Vertrautes in den leichenblassen Gesichtszügen.

„Linus“, sagte Clement. „Es ist Mathis Leclercs Bruder.“

„Linus?“ Gerald betrachtete den Leichnam genauer und tatsächlich hatte Clement recht. Es gab keine Zweifel, auch wenn er es nicht glauben wollte. Linus war ein Geächteter des Leclerc Clans, der nach einem kaltblütigen Mord an einer Schauspielerin von Mathis ausgestoßen worden war. Mathis Leclerc gehörte wie Gerald dem inneren Rat an.

„Wir jagen ihn seit zehn Jahren und nun finden wir seine Leiche praktisch vor der Haustür.“

Clement nickte. „Aber es geht noch weiter, sieh her.“ Er deutete auf die zweite Leiche, die etwa zehn Meter entfernt lag.

Gerald wollte aufstehen und Clement folgen, als aufgeregte Rufe die Straße entlanghallten. Jeder sah in die Richtung, aus der der Lärm kam, der selbst den Krawall der Schaulustigen übertönte. Über diesen Tumult hinweg nahm Gerald einen angenehmen Duft wahr. Es roch wie die Luft nach einem warmen Sommerregen, welche die Aromen dutzender Blüten und Kräuter trug. Jeder Atemzug trug den Geruch in jede Faser seines Körpers. Schon ein Mal hatte er ihn eingeatmet.

Gerald betrachtete die zweite Leiche. Er wusste nun, wer unter Mantel und Hut verborgen lag. Ein Fluch kam über seine Lippen.

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„Sie können hier nicht durch“, sagte ein Polizist und streckte den Arm aus.

„Bitte, ich muss.“ Sie hatte nicht vor, aufzugeben. Nachdem sie vom Friedhofsparkplatz durch die halbe Stadt gerast war, hatte sie ihren Wagen am Franz-Josephs-Kai abgestellt und war hierhergerannt. Sie würde sich nun nicht von einem Polizisten abhalten lassen, ihren Vater zu sehen.

Sophie machte eine rasche Bewegung wie bei ihrem Kampfsporttraining, das sie seit Jahren ausübte, und schlüpfte an dem Polizisten vorbei. Im Nacken spürte sie das Blitzlichtgewitter einiger Kameras. Morgen würde ihr Bild wahrscheinlich in allen Tageszeitungen zu sehen sein.

„Warten Sie.“ Der Mann hielt sie fest, zog sie zurück. „Ich habe meine Anweisungen.“

„Lassen Sie mich.“ Sie riss sich los und lief die Straße entlang, bis man sie wieder festhielt. Dieses Mal kam ein zweiter Beamter zu Hilfe. Okay, die meinten es ernst.

„Seien Sie vernünftig!“

„Ich muss da rein.“ Sophie versuchte erneut, sich loszureißen, doch die Polizisten waren gewarnt und sie schaffte es nicht, ihnen zu entkommen.

„Wir haben Befehl, niemanden durchzulassen. Ich bitte Sie noch mal, vernünftig zu sein.“

„Lasst mich, Herrgott noch mal, los. Mein Vater ist dort und ich muss zu ihm.“

Mitgefühl blitzte in den Augen der Männer auf. „Woher wissen Sie das?“

Für einen Moment lösten sich die Klammern. Sophie verlor keine Zeit und rannte los. Die Polizisten unternahmen noch einen Versuch, sie aufzuhalten, gaben jedoch auf, als Sophie ihre Schritte beschleunigte und der hell beleuchtete Tatort bereits vor ihr lag. Drei Männer standen im Licht der Scheinwerfer und blickten ihr mit fragenden Gesichtern entgegen.

„Wie kommen Sie durch die Absperrung?“, fuhr einer sie mit scharfem Ton an.

Er war groß und glatzköpfig, wirkte nicht unsympathisch, strahlte jedoch entschlossene Härte aus.

„Schon gut, Clement“, kam ihr der Mann daneben zu Hilfe.

Sie blickte in ein wohlproportioniertes Gesicht mit vollen Lippen und einem Dreitagebart. Dunkelbraune Haare fielen locker in seine Stirn. Er war noch einen halben Kopf größer als der Mann neben ihm und trug eine schwarze Hose, ein Sakko in derselben Farbe und ein weißes Hemd.

Sophie bemerkte, wie er sie eine Sekunde zu lange mit seinen braunen Augen musterte und obwohl sie sich nicht erinnerte, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben, befiel sie das Gefühl eines Déjà-vu. Der Gedanke verlor sich sofort, als sie ihren Vater am Boden liegen sah, einige Meter von dem toten Vampir entfernt, den Dominik gemeint haben musste. Es war, als hätte jemand die Zeit angehalten.

Sophie betrachtete den reglosen Körper, den sein speckiger Ledermantel und der schwarze Kalabreserhut bedeckten. Ihr Blut sackte in ihre Beine und ihr Herzschlag hämmerte wie Faustschläge gegen ein Stahlblech.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte der Mann, der ihr zu Hilfe gekommen war.

„Mein Vater“, presste Sophie über ihre Lippen. Sie stolperte über die Leiche des Vampirs hinweg, sank vor ihrem Vater auf den Boden. Mit zitternden Händen berührte sie sein faltiges Gesicht. Die Augen waren geschlossen und bis auf eine Beule an der Stirn und eine Schnittwunde über dem linken Auge wirkte er nahezu unverletzt, als schliefe er nur. In ihrer Verzweiflung suchte sie nach seinem Puls. Vergebens. Ihr Vater war tot.

Heiße Tränen verschleierten ihren Blick. Ihr Innerstes zog sich zusammen. Sie wollte ihn umdrehen, doch ihr fehlte die Kraft.

„Lassen Sie es gut sein.“

Der Ermittler legte eine Hand auf ihre Schulter. Zuerst wollte Sophie ihn wegschlagen, ließ es aber bleiben und spürte seinen kräftigen Griff, der angenehme Wärme ausstrahlte.

„Es tut mir leid, Sie können nichts mehr für ihn tun.“

Sophie stand auf, ihre Beine fühlten sich wie Gummi an. Sie wischte die Tränen ab, wandte sich dem toten Vampir zu. Mit entschlossenen Schritten ging sie auf den Leichnam der Bestie zu, bückte sich und schob die Oberlippe hoch. „Es ist einer von ihnen.“ Wut und Hass überlagerten ihre Trauer. Sie packte den toten Vampir und schüttelte ihn.

„Du verdammter Dreckskerl!“

„Kommen Sie“, bat der Mann. „Machen Sie es nicht noch schlimmer.“

„Das ist kein Mensch.“ Selbst ein Blinder sah das. Sie deutete auf die spitzen Eckzähne.

„Was meinen Sie?“

„Sie schieben sich aus dem Kiefer, wenn sie Blut trinken.“

„Blut?“

Er lachte weder noch zeigte er irgendeine andere abwertende Reaktion. Trotzdem hielt er sie vermutlich für verrückt. „Vergessen Sie, was ich gesagt habe.“ Wie konnte sie so naiv sein, in seiner Gegenwart über Vampire zu sprechen?

„Wir werden sehen, was die Autopsie ergibt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Mein Name ist Gerald Vermont.“

„Sophie Lacoste.“ Als sie in seine dunklen Augen blickte, überfiel sie wieder das Gefühl, diesem Mann schon einmal begegnet zu sein. Aber bestimmt war es die Stresssituation, die ihre Gedanken völlig durcheinanderbrachte. „Sind Sie für den Fall zuständig?“

„Gewissermaßen. Kommissar Peter Brom wird mich unterstützen.“

Er stellte ihr damit den dritten Mann vor, der bisher geschwiegen hatte und auch jetzt nur nickte. Ein Motorengeräusch unterbrach das Gespräch. Rückwärtsfahrend schob sich ein Leichenwagen in die Straße.

„Was passiert nun?“ Sophie hatte sich einigermaßen in der Gewalt. Gerald Vermonts Nähe übte eine beruhigende Wirkung aus. Vielleicht war es auch der Schock, den der Anblick der beiden Leichen auslöste und der es ihr einfacher machte, den Schmerz des Verlustes zu verdrängen.

„Wir bringen die beiden zur Obduktion.“ Gerald Vermonts Lippen formten ein versöhnliches und zugleich mitfühlendes Lächeln, das sie umschloss wie eine unsichtbare Umarmung. „Sobald wir mehr wissen, melden wir uns bei Ihnen. Haben Sie eine Handynummer für mich?“

„Natürlich.“ Sophie kramte in ihrer Handtasche nach einer Visitenkarte und reichte sie ihm. Ihr Gleichgewicht geriet wieder ins Wanken, als man ihren Vater in einen schmucklosen Sarg legte. Auch auf seiner Brust und den Oberschenkeln erkannte sie keine äußeren Verletzungen, weder eine Schuss- noch eine Schnitt- oder Stichwunde. Von außen sah man nicht, woran er gestorben sein könnte und es kam ihr immer noch vor, als würde er nur schlafen. Sie musste dringend Dominik anrufen. Er war dabei gewesen und würde ihr bestimmt mehr über die Todesumstände sagen können. Jetzt, wo sie ihn gesehen hatte, konnte sie nichts mehr ausrichten, außer zu beobachten, wie sie ihn abtransportierten.

„Entschuldigen Sie mich, ich brauch jetzt etwas Ruhe“, sagte sie zu Vermont und seinen Kollegen.

„Selbstverständlich. Ich werde mich wie versprochen melden, sobald wir Näheres über die Todesursache wissen“, beteuerte Vermont erneut.

Sie nickte und ihr Blick verlor sich einmal mehr und einige Sekunden zu lange in seinen Augen. Schnell wandte sie sich um und verließ den Tatort.

Eine SMS ihrer Freundinnen erinnerte sie, dass sie noch eine Verabredung absagen musste, damit sie in Ruhe mit Dominik sprechen konnte.

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Gerald blickte Sophie Lacoste hinterher, bis sie um die Ecke bog und aus seinem Sichtfeld verschwand. Nur ihr einzigartiger Duft blieb zurück und erfüllte ihn mit einem Gefühl von Wehmut und Sehnsucht. Ihr nach all den Jahren zu begegnen, hatte ihm an diesem Tag gerade noch gefehlt.

„Alles in Ordnung?“, fragte Clement.

„Ja.“ In der Hoffnung, sie aus seinem Kopf verdrängen zu können, wandte er sich wieder dem Tatort zu.

„Ein süßes Ding. Nur schade, dass sie ein Mensch ist und nebenbei die Tochter eines Jägers“, urteilte Clement.

„Wo waren wir stehen geblieben?“ Er ging nicht auf Clements Worte ein und wollte schnell das Thema wechseln. Er hatte dieses Kapitel seines Lebens vor langer Zeit abgeschlossen und dabei wollte er es auch belassen, denn er wusste nicht, ob er noch einmal die Kraft haben würde, gegen ihre Anziehungskraft anzukämpfen.

„Wir sprachen von Linus Leclerc“, sagte Clement. „Todesursache sind drei gezielte Schüsse in den Rücken.“ Clement zog das kleine Notizbuch aus der Tasche, das er immer bei sich trug. „Die Schüsse stammen aus derselben Waffe, was mich zu dem Schluss führt, dass er allein gewesen sein könnte.“

„Oder die anderen haben ihm nur Rückendeckung gegeben und sind geflohen“, meinte Gerald und erwischte sich, wie sein Blick erneut in die Richtung schweifte, in die Sophie verschwunden war.

„Wie kommst du darauf?“

„Ich weiß über seinen Orden Bescheid. Was ist mit Friedrich Richter? Es gab keine äußerlichen Anzeichen einer tödlichen Verletzung.“

Clement strich über seine Glatze. „Das weiß ich nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Als wir eintrafen, lebte er noch.“

Mit dieser Offenbarung schaffte es Clement, Geralds Gedanken zurück an den Tatort zu holen.

„Er stand an der Stelle, wo seine Leiche lag.“

„Hast du ihn getötet?“

„Bei Gott, nein, aber es war seltsam. Er wirkte abwesend, taumelte und als ich ihn ansprach, ist er zusammengebrochen.“

„Nun, die Obduktion wird uns hoffentlich Aufschluss geben.“ Gerald betrachtete den Blutfleck an der Stelle, an der Linus Leclerc gelegen hatte. Es war sicher kein Zufall, dass Linus durch Richters Hand gestorben war. Der alte Haudegen musste die letzten Jahre damit verbracht haben, nach Linus zu suchen. Richters Tod gab Gerald aber ein Rätsel auf. Besonders, da er wusste, dass die telekinetischen Fähigkeiten im Leclerc Clan zu schwach ausgebildet waren. Nach Clements Beschreibungen handelte es sich um keinen Tod durch Gedankenkontrolle. Möglichweise war es ein natürlicher Tod. Vielleicht ein Herzinfarkt. Gerald konnte es nicht sagen und weder er noch Clement verfügten über die Fähigkeit, durch die Berührung eines Toten dessen letzten Erinnerungen abzurufen. Eigentlich hätte er über Richters Tod erfreut sein müssen. Mit seinem Dahinscheiden war der Orden des silbernen Harlekins, wie sich die von Richter geführten Jäger nannten, so gut wie ausgelöscht. Seinen beiden Handlangern traute Gerald nicht zu, den Orden erfolgreich weiterzuführen. Darum hatte er sich nie die Mühe gemacht, Agenten abzustellen, den Orden zu beseitigen, der sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf natürliche Weise dezimiert hatte.

„Was denkst du? Soll ich mit Mathis sprechen?“, fragte Clement.

Gerald atmete tief durch. „Nein, ich werde mich darum kümmern.“ Das war er Mathis schuldig. Nachdem der Anführer der Leclercs seinen Bruder geächtet und verstoßen hatte, um den Rat zu schützen, war es das Mindeste, dass Gerald ihm die Botschaft persönlich überbrachte.

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Noch bevor sie zu ihrem Wagen zurückkehrte, rief sie Dominik an.

„Wer ist da?“, erklang Dominiks Stimme.

„Sophie.“ Dominiks überzogene Vorsicht überraschte sie, obgleich sie den treuen Diener ihres Vaters als Angsthasen in Erinnerung hatte, der überhaupt nicht in das Profil eines mutigen Vampirjägers passte. Wahrscheinlich hatte er bereits beim ersten Anzeichen von Gefahr das Weite gesucht.

„Gut.“ Er atmete hörbar auf. „Wo bist du?“

„Im ersten Bezirk, ich war am Tatort.“ Die Erinnerung an ihren Vater brach über sie herein und es war, als greife eine unsichtbare Hand durch ihren Brustkorb, die den Magen zusammenquetschte.

„Sie haben dich durchgelassen?“

„Wenn du es so nennen möchtest.“ Sie gab sich locker, lässig, doch in ihrem Inneren brodelten die Gefühle immer mehr.

„Dann hast du Friedrich gesehen?“

„Ja.“ Sie schluckte die Tränen hinunter und ging weiter die Gasse entlang. Nur nicht stehen bleiben. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, schärfte sich wieder, als sie mit aller Kraft dagegen ankämpfte. „Was ist mit ihm geschehen? Er … er hatte keine Verletzungen.“

„Nicht am Telefon.“ Dominik senkte seine Stimme. Eine Tür fiel ins Schloss, danach Gelächter, Stimmen und Musik. „Ich bin in einem Gasthaus nicht unweit von dir. Schwarzer Topf.“

Sophie kannte die Kneipe. Ihr Vater hatte sie ein paar Mal dorthin mitgenommen. „Ich bin in fünf Minuten bei dir.“

Der Schwarze Topf war genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Eine kleine Spelunke, versteckt in einer schmalen Gasse nahe dem Franziskanerplatz. Über der Tür, die auf den ersten Blick unscheinbar und wie der Durchgang zu einem Hinterhof wirkte, hing ein ebenso unscheinbares Messingschild. Dahinter empfing sie stickige Luft, es roch nach Alkohol, Rauch und ranzigem Frittierfett. Der Schankraum war kaum größer als das Studio, in dem sie ihr Büro untergebracht hatte. Es gab ein Dutzend Tische aus grobschlächtigem Holz, die noch aus dem letzten Jahrhundert zu stammen schienen, ebenso wie der massive Tresen und die Barhocker, die aus alten Fässern gefertigt waren. Schummriges Licht von wenigen Lampen erhellte den Gastraum, der trotz seines heruntergekommenen Eindrucks gut besucht war.

Sophie entdeckte Dominik im hinteren Bereich. Sie bestellte sich eine Tasse Kaffee. Die anderen Gäste nahmen kaum Notiz von ihr. Etwas, das ihr Vater an diesem Gasthaus geschätzt hatte. Einige blickten zwar auf oder unterbrachen ihr Gespräch, jedoch kaum länger als einen Augenblick.

„Guten Abend, Sophie“, grüßte Dominik, sprang auf und schob ihr einen Stuhl zurecht.

Dominik war erschreckend gealtert. Die Haut spannte sich dünn wie Papier über sein eingefallenes Gesicht, seine Wangenknochen und knorrigen Finger. Er trug einen schwarzen Popelinemantel, braune Jeans und einen grauen Rollkragenpullover. Die schwarze Seglermütze, die er schon vor vier Jahren getragen hatte, lag neben dem Bierglas auf dem Tisch.

„Du hast dich verändert, bist noch hübscher geworden.“

„Alter Charmeur.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, aber die Gedanken an den Tod ihres Vaters lagen wie Nebel über ihren Gefühlen.

„Wie geht es dir?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie, denn ihre Stimmung drehte sich mit jeder Sekunde. Einmal hatte sie das Bedürfnis, einfach loszuheulen, dann wieder spürte sie, wie sich Leere ausbreitete. Vorhin am Tatort hatte sie sich noch eindeutig besser gefühlt und sie wusste nicht, ob es Geralds Gegenwart war oder der Schock. Es war seltsam, aber auch jetzt noch hatte der Gedanke an ihn und seine wärmende Berührung etwas Beruhigendes.

„Es tut mir leid, was geschehen ist.“

„Das muss es nicht.“ Sophie hegte keinen Groll gegen Dominik oder Wilhelm. „Mein Vater wusste, was er tat.“

„Ja, er wusste, was er tat.“ Dominik nickte und senkte den Blick. Er trank einen Schluck Bier und wischte mit der Hand die Schaumreste von seinen Lippen.

Der Wirt brachte ihr den Kaffee. Sie tropfte Sahne in die Tasse, nippte und spürte, wie sich Übelkeit ausbreitete. „Erzähl mir, was passiert ist“, bat sie Dominik. Sie wollte jedes Detail wissen. „Ich will versuchen, es zu verstehen.“

„Darum habe ich dich hergebeten.“ Er seufzte, drehte das Glas in seiner Hand. „Wir waren jagen. Zum ersten Mal seit Jahren hatten wir wieder ein Ziel vor Augen, einen Plan mit Aussicht auf Erfolg.“ Er griff in seine Tasche, zog eine Schachtel Zigaretten hervor, steckte sich eine in den Mund und bot Sophie eine an. Sie lehnte dankend ab.

„Ist auch besser so“, meinte er. „Dein Vater beschattete seit Wochen einen Mann, und als er überzeugt war, dass dieser Kerl der Vampir war, nach dem er lange gesucht hatte, weihte er uns in seinen Plan ein.“ Dominik sog an seiner Zigarette. „Wilhelm und ich wussten bis heute Abend nichts davon. Er wollte dich heute Abend überraschen.“

„Wie, er wollte mich überraschen?“

„Nun … er wollte dir den Kopf des Mörders deiner Mutter präsentieren.“

Ihr fiel beinahe die Tasse aus der Hand. Der heiße Kaffee schwappte über den Rand, lief über ihre Finger. Sie dachte an die Leiche der Bestie. Der Vampir, den sie eben gesehen hatte, war der Mörder ihrer Mutter?

„Ob er wirklich der Mörder deiner Mutter war, kann ich nicht sagen. Niemand kann das, denke ich. Aber dein Vater glaubte es. Wilhelm und ich hatten den Auftrag, die Straße abzusichern, während dein Vater auf den Vampir wartete. Er tauchte pünktlich auf und tappte in die Falle. Dann hat dein Vater ihn getötet.“

Sophie versuchte, sich die Szene anhand der Erinnerungen an den Tatort vorzustellen. Dominiks Erzählung passte nicht mit den Bildern zusammen. Wenn ihr Vater den Vampir getötet hatte, woran war er dann gestorben? „Was ging schief?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann dir nicht sagen, was genau geschehen ist. Wie ich schon sagte, war es meine Aufgabe, die Straße abzusichern. Ich war zu weit weg, als es passiert ist.“ Er zog erneut an seiner Zigarette, hustete und trank einen Schluck Bier. „Kurz, nachdem dein Vater den Vampir getötet hatte, tauchte ein Mann auf. Ich hörte, wie er den Namen deines Vaters rief und einen Augenblick später lag Friedrich tot am Boden.“

„Wie sah der Mann aus?“ Die Sache nahm immer seltsamere Formen an.

Dominik schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich habe nur seinen Schemen gesehen und wie er sich über den Körper deines Vaters beugte. In diesem Moment fuhren schon die ersten Polizeiwagen vor. Da bin ich abgehauen und ich schätze, Wilhelm hat es mir gleichgetan.“

„Wer war dieser Mann?“

„Vielleicht weiß Wilhelm mehr darüber. Friedrich hatte ihn beauftragt, eine Kamera aufzustellen, die den Kampf filmt. Er wollte es dir präsentieren.“

„Ein Video?“, wiederholte Sophie, als müsse sie aus ihrem eigenen Mund hören, was der alte Jäger gesagt hatte. Was wollte ihr Vater damit? War es eine weitere Masche, sie zur Rückkehr zu bewegen oder wollte er beweisen, dass sie ihm die ganzen Jahre Unrecht getan hatte? Jedenfalls war es eine groteske Idee, wie nur er sie haben konnte. „Dann müssen wir Wilhelm finden.“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht einfach. Hast du vergessen, wie er ist? Er verschwindet manchmal für Tage oder Wochen und niemand weiß, wo er ist. Wir können nur abwarten, bis er im Quartier auftaucht.“

Dominik hatte recht. Sophie erinnerte sich sehr gut an den introvertierten und ständig schlecht gelaunten Wilhelm. Sie hatte ihn nie gemocht. Es war gut möglich, dass er für immer verschwand.

„Du weißt nicht, wo Wilhelm die Kamera aufgestellt haben könnte?“

„Nein“, antwortete Dominik. „Aber sobald es hell wird, werde ich mich in der Gasse noch mal umsehen.“

Sophie trank von ihrem Kaffee. Im Moment konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Erst die Vampirin auf dem Friedhof, dann der Tod ihres Vaters. Sie strich über ihre Stirn, als könne sie die Erinnerung fortwischen. Es erschien ihr alles wie ein böser Traum.

„Was geschieht nun mit dem Hauptquartier?“, fragte Dominik.

„Ich verstehe nicht, was du meinst.“

„Jetzt, wo Friedrich tot ist, wird alles dir gehören.“

Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, auch wenn ihr Vater es immer wieder angesprochen hatte. Vielleicht auch, weil sie es nie wahrhaben wollte. Der Orden und sein Besitz, ein altes Haus in der Wiener Innenstadt, gehörten seit mehreren Generationen der Erblinie ihres Vaters. Wechselte der Ordensmeister nicht zu Lebzeiten, ging dessen Bürde auf den Erben über und das war sie, ob es ihr recht war oder nicht.

„Lass uns den Obduktionsbericht und die Beerdigung abwarten, dann sehen wir weiter.“ Damit verschaffte sie sich etwas Zeit.

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Jonathan Firenze saß auf einem Hocker in der verlassenen Bar des Albergo Rosso, einem ehemaligen Hotel in Venedigs Stadtteil San Polo. Das Gebäude, das sich seit mehr als einem Jahrhundert in Besitz seiner Familie befand, diente seinem Jägerorden als Quartier.

Er nippte an seinem Wein und stellte das Glas wieder auf die staubige Theke. Eine halbe Ewigkeit hatte sich niemand um diese Räume gekümmert. Der geräumige Barraum und der Festsaal daneben, in dem die Ordensjäger früher oft tagelang gefeiert hatten, waren verkommen. Die Spiegelverkleidung der Flaschenschränke und des Gläserregals bedeckte eine Staubschicht. An zahlreichen Stellen waren die Scheiben zerbrochen, lagen über dem Boden verteilt. Einige Stühle und Hocker hatten Jonathan bereits als Brennholz für den Kamin in der Hotellounge gedient. Der Zustand des Hotels spiegelte den des Ordens wider.

Neben dem Weinglas lag ein Stück Pergament mit einem Text in lateinischer Sprache. Die Verse berichteten von einem Serum, das eine besondere Macht verlieh. Zu Jonathans Unmut war das Dokument unvollständig. Es handelte sich um die Abschrift eines Alchemistenrezepts aus dem Mittelalter. Jonathans Vater hatte den Text einst in einer Bibliothek in Mailand entdeckt. Die Zeilen des Pergaments enthielten die Beschreibung des Herstellungsvorganges, die Liste der Ingredienzien hingegen war unvollständig. Es dauerte Jahre, bis Jonathan herausgefunden hatte, wo er das Original fände. Es lag sicher verwahrt in den Archiven des Vatikans und so lange Rom kein Gehör für die Anliegen der Jäger hatte, war es unmöglich, in die Archive vorzudringen, selbst für seinen Vater.

Lange hatte Jonathan ihn für tot gehalten. Jonathan sah den Moment vor seinem inneren Auge, als sei es gestern gewesen. Während der Jagd auf einen jungen Vampir tappten sie in eine Falle. Ein zweiter, erfahrener Vampir überraschte sie. Bei dem darauf folgenden Kampf verlor Jonathan das Bewusstsein. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, hatte er seinen Vater tot neben sich gefunden, leer getrunken und ohne Herzschlag.

Wie konnte er sich so täuschen? Hätte er gewusst, dass sein Vater den Kampf überlebt hatte, hätte er ihn in Sicherheit gebracht, anstatt ihn im Kanal zu versenken, um die Spuren des Kampfes zu verwischen.

Ein Rascheln ließ ihn hochschrecken, eine Bewegung im Augenwinkel. Wie eine Rauchschwade schwebte der Umriss des Assassinen in die Bar.

„Kannst du den Raum nicht wie jeder andere betreten?“ Erleichtert atmete Jonathan aus.

Sein Vater lachte kalt, ehe er antwortete. „Bin ich wie jeder andere?“

Jonathan hörte die Worte nicht, sie erklangen in seinem Kopf. „Warum machst du mich dann nicht zu deinesgleichen?“

„Wie oft muss ich es dir noch erklären, mein Sohn? Es ist nicht hilfreich für unseren Plan.“ Jonathan spürte Zorn in seinen Worten.

„Aber mit dieser Macht …“

„Welcher Macht? Sieh mich an. Meine Fähigkeiten sind nutzlos, wenn die ganze Vampirwelt auf der Jagd nach mir ist.“

Im nächsten Augenblick stand sein Vater neben ihm. Jonathan sah nur seine knochigen Finger. Der Rest verdeckte eine schwarze Kutte. Er stellte einen Sack auf den Tisch. Blut sickerte durch das Gewebe, breitete sich wie zähflüssiges Öl über der Theke aus.

„Ich bringe dir die Eintrittskarte zu den Archiven des Vatikans.“ Er öffnete den Beutel und zog einen blassen Kopf an den Haaren hervor. Die weit aufgerissenen, leblosen Augen starrten Jonathan an.

„Erbitte eine Audienz bei Kardinal Angelo. Dieser Kopf wird dir alle Türen öffnen.“

„Wer ist dieser Vampir, das Rom sich für ihn interessieren könnte?“ Er hatte das Gesicht dieses Vampirs nie gesehen. Er wirkte nicht wertvoller als die Kanalratte, die er vor einigen Monaten erlegt hatte.

„Ein Reinblüter erster Klasse.“ Die knochigen Finger legten das bluttriefende Haupt auf den Stoff des Sackes. „Linus Leclerc.“

„Aus dem Leclerc Clan?“

„Wunderbar, nicht war?“ Er schlug die Kapuze zurück und sein verzerrtes Gesicht beäugte die Beute mit gerümpfter Nase.

„Woher hast du ihn?“ Jonathan betrachtete die verätzte Schussnarbe am Hals des Vampirs. Eindeutig das Geschoss eines Jägers. Demnach hatte sein Vater den Vampir nicht selbst getötet.

„Dein Informant aus Wien hat uns nicht belogen. Sein Ordensmeister war diesem Vampir auf der Spur.“

Tatsächlich hatte Jonathan vor wenigen Wochen einen Anruf aus Wien erhalten. Das war, nachdem er versucht hatte, mit den anderen Orden Kontakt aufzunehmen. Der Anrufer hatte berichtet, dass Friedrich Richter, der jegliche Zusammenarbeit mit Jonathan abgelehnt hatte, einem Reinblüter auf der Spur sei. Sie hatten sich unterhalten und Richters Laufbursche war angetan von Jonathans Plänen, die Jäger in einen zweiten Frühling zu führen. Richter unterhielt weitreichende Kontakte zu anderen Orden, aber auch Geldgebern, die Jonathan unbedingt benötigte. Doch solange Richter gegen Jonathans Pläne war, galt er nur als Hindernis.

„Richter hat deinen Cocktail wie erwartet nicht überlebt.“ Sein Vater musste seine Gedanken gelesen haben.

Jonathan nickte. Richter sollte diesen Prototypen des Serums nicht überleben, dafür hatten Jonathan und sein Verbindungsmann gesorgt.

„Du musst nach Rom. Nur die richtigen Aufzeichnungen dieses Alchemisten werden es dir ermöglichen, dieses Serum herzustellen.“

Die richtige Rezeptur würde ihm ganz andere Möglichkeiten eröffnen. Dann hatte er etwas in der Hand, um die Jäger zu locken. Zuvor aber musste er nach Wien reisen.

Er wollte seinem Informanten danken und ihm das Angebot unterbreiten, weiter für ihn zu arbeiten. Außerdem musste er Sophie Richter sehen, die Tochter des Ordensmeisters und Erbin des silbernen Harlekins, seinen Verbindungen und Geheimnissen. Man erzählte, sie sei sehr attraktiv und so war die Teilnahme an der Beerdigung der nächste logische Schritt in seinem Plan.

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Es war nach Mitternacht, als Sophie den Schwarzen Topf verließ.

Nachdem weder Dominik noch Sophie ohne Wilhelms Hilfe sagen konnten, was wirklich passiert war, mussten sie den Obduktionsbericht abwarten und hoffen, dass Wilhelm auftauchte. Dominik hatte ihr versprochen, zwischenzeitlich nach der Kamera zu suchen.

Erst als sie in die kalte Nachtluft hinaustrat, merkte sie, wie stickig es in der Gaststube war. Ihre Kleider und Haare rochen nach Rauch und Alkohol. Auf dem Weg zum Auto warf sie einen Blick auf ihr Handy, fand jedoch keine Nachricht von Kommissar Vermont. Natürlich hatte er sich noch nicht gemeldet. Verdammt, es würde wahrscheinlich Tage dauern, bis sie Antwort von der Gerichtsmedizin bekam, dabei hielt sie die Ungewissheit schon jetzt kaum aus.

Statt eines Anrufs wartete erneut eine SMS von Dora und Meike darauf, gelesen zu werden. Die beiden wünschten ihr nach ihrer Absage noch einen schönen Abend, und falls sie noch Lust habe, seien sie in ihrem Stammclub zu finden. Nein, darauf hatte sie keine Lust. Sie wollte heim in ihre Studiowohnung und versuchen, ein paar Stunden zu schlafen, und wenn sie kein Auge zubrachte, wollte sie sich wenigstens unter ihrer Decke verkriechen, in der Hoffnung, dass dieser Tag sich als ein böser Albtraum herausstellte.

Sie umging die Nähe des Tatorts in weitem Bogen. Bis auf einige Nachtschwärmer, die ihr pfeifend und grölend Komplimente hinterherwarfen, waren die Straßen menschenleer.

Jetzt, wo sie wieder allein war, brachen die Bilder ihres toten Vaters über sie herein. In Dominiks Gegenwart war es einfacher gewesen, damit umzugehen. Doch nun sah sie ihn in Gedanken vor sich, wie er am Boden lag und die beiden Männer ihn wie eine Puppe in den Sarg legten. Oh, Gott, sie machte sich Vorwürfe. Ihr Vater hatte sie überraschen wollen. Auf seine eigene, brutale und groteske Art, aber er hatte es für sie tun wollen. Hatte ihr Egoismus ihn angetrieben, nach dem Mörder ihrer Mutter zu suchen? Sie hatte ihn oft genug spüren lassen, dass sie nicht schätzte, was er tat, ihn für einen verrückten Sonderling hielt, der schwer bewaffnet und im Faschingskostüm durch die Straßen Wiens irrte, auf der Suche nach Vampiren. Sophie fragte sich, ob sie seinen Tod hätte verhindern können, wäre sie bei ihm geblieben.

Nun war sie Vollwaise. Sie biss sich auf die Unterlippe, als Verzweiflung über sie schwappte. Wie würde das Leben sein, so ganz allein? Die Last der Einsamkeit und Trauer schnürten ihr den Hals zu.

Sie rief sich zur Ordnung. Etwas, das ihr Vater ihr beigebracht hatte, und das ihr schon oft im Leben von Nutzen war. Sich auf das Nächstliegende konzentrieren, nicht den Fokus verlieren, später zusammenbrechen, wenn Zeit dafür war.

Das Wasser im Donaukanal trug eisigen Wind mit sich und verschleierte ihren Blick mit Tränen. Sophie stopfte die Hände tiefer in die Jackentaschen. Die Kälte war längst durch ihre Hose gekrochen, stach mit Tausenden Nadeln in ihre Oberschenkel.

Sie rechnete damit, dass ihr Wagen, den sie vorhin in Eile und Schock im Parkverbot abgestellt hatte, nicht mehr da war, sondern auf einem Abschleppwagen einen Ausflug zur nächsten Verwahrungsstelle gemacht hatte. Entgegen ihrer Befürchtung stand der Wagen noch am selben Platz. Sie hielt inne, hoffte, dass ihre Fantasie ihr einen bösen Streich spielte, dann rannte sie die letzten Meter.

Sie traute ihren Augen kaum, als sie das Wrack erreichte, das einmal ihr Auto war. Der Citroën C3 sah aus wie nach einem Hagelsturm mit faustgroßen Körnern. Sämtliche Scheiben und Lichter waren eingeschlagen, Motorhaube und Türbleche zerbeult und die Dachholme eingeknickt. Auch im Inneren herrschte Chaos. Sitzbezüge und Armaturenbrett hingen in Fetzen und Trümmern. Die Klappe des Handschuhfachs baumelte am zerbrochenen Scharnier, Papiere und private Habseligkeiten lagen im Wagen verstreut.

Ein Streifenwagen hielt in diesem Moment. Zwei Polizisten stiegen aus, begutachteten den Citroën.

„Guten Abend, man hat uns gerufen“, sprach einer der Beamten sie an. „Gehört der Wagen Ihnen?“

Sophie nickte. Sie hatte eine Tür aufbekommen und durchwühlte ihre Sachen. Endlich entdeckte sie in der kleinen Kunstledertasche, in der sie die Autopapiere aufbewahrte, die beiden Fünfzigeuroscheine und einige Münzen. Ihr Notgroschen. Was immer die Täter gesucht hatten, das Geld hatten sie nicht gewollt.

„Ich hoffe, Sie sind gegen Vandalismus versichert.“

Die Versicherung war ihr im Moment egal. Wer immer ihren Wagen aufgebrochen hatte, wusste durch ihre Visitenkarten, wo sie wohnte und war möglicherweise auch nur daran interessiert.

„Haben Sie den Wagen hier abgestellt, im Halteverbot?“

„Es war ein Notfall.“

„Soso, ist es das nicht immer?“ Der andere Polizist musterte sie mit fragendem Blick. Ein unsympathischer Kerl mit glatt gekämmten Haaren und arroganter Miene.

„In diesem Fall hätte so mancher den Abschleppwagen vorgezogen.“

Sophie schluckte eine unhöfliche Bemerkung hinunter. Ihr war nicht nach dummen Scherzen zumute und schon gar nicht, wenn sie aus dem Mund eines schmierigen Kerls kamen.

„Ich rufe einen Wagen für Sie“, bot der freundlichere der beiden Beamten an.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Sophie mied den abwertenden Blick seines Begleiters.

Kaum war der Kollege im Wagen verschwunden, kam der Kerl auf sie zu, drehte eine Runde um den Citroën und blieb vor Sophie stehen. „Sieht nach einer Warnung aus.“

Sie schaute zu ihm hoch, er lächelte, musterte sie von Kopf bis Fuß. Sein durchdringender Blick verunsicherte sie, weckte innere Unruhe. Er trat noch einen Schritt näher.

„Die Show, vorhin auf dem Friedhof …“ Er strich mit der Zunge über seine Lippen.

Sophie suchte den Blick des zweiten Beamten.

„Er wird dir nicht helfen.“

Der Polizist schnaubte, machte eine Handbewegung, die den Kopf des Begleiters auf das Armaturenbrett kippen ließ. Sophie erkannte die beiden Male am Hals des Mannes. Verdammt, es war ein Blutsklave oder Blutwirt. Ein Mensch, der einem Vampir als Nahrungsquelle diente, allmählich in eine Abhängigkeit zu dem Parasiten geriet und seinen Befehlen folgte. Ihr Vater hatte sie ebenso gejagt wie Vampire, jedoch nicht getötet, sondern der Läuterung, einer Art Exorzismus unterzogen. Hierfür gab es in den meisten Quartieren der Jägerorden Zellen.

Die Hand des Mannes wanderte an ihren Hals. Sie wollte zurückweichen, doch eine unsichtbare Kraft hielt sie fest. Er hob ihren Kopf am Kinn hoch. Zwei gewaltige Fänge schoben sich aus seinem Kiefer und seine Pupillen veränderten sich. Sie schaute nicht mehr in das Gesicht eines Menschen, sondern in das eines Raubtieres. Verflucht, was nun?

„Du hast jemanden getötet, der uns sehr nahestand.“ Seine Finger drückten grob auf ihre Lymphknoten, bis der Schmerz kaum noch erträglich war.

„Waren Sie das mit meinem Wagen?“ Ihre Stimme erstarb in einem Keuchen.

Er schüttelte den Kopf. „Brüder von mir.“ Sein Gesicht kam näher. Im Gegensatz zu seiner Bekannten roch er nicht wie ein verfaulter Kadaver, sondern nach Schweiß und billigem Aftershave. „Du wirst bestimmt besser schmecken als er.“ Mit einer flüchtigen Kopfbewegung deutete er auf den Polizisten im Auto, der noch immer zusammengesackt im Wagen lag.

Die unsichtbare Kraft ließ kurz nach. Mit einer raschen Bewegung riss sie sich los. Der Mann war sofort wieder bei ihr. Sein Griff war nun noch fester und grober.

„Wohin willst du?“ Er packte sie erneut am Hals. „Du gehst nirgendwo mehr hin.“ Er fauchte leise und dann stieß sein Kopf vor. Sie schloss die Augen, den Biss seiner Reißzähne erwartend.

Der Mann hielt plötzlich inne. „Was wollt ihr hier?“, schrie er und ließ von Sophie ab.

Als sie ihre Augen öffnete, sah sie, dass er über sie hinwegblickte. Sophie schaute über die Schulter. Sie erkannte nichts. Dennoch schien dort jemand zu sein, der die Aufmerksamkeit des Vampirs erregte und ihn Schritt für Schritt zurückweichen ließ.

Nur weg hier. Sophie nutzte den Moment. Sie lief um das Wrack ihres Citroëns herum, sprang kurzerhand in den Polizeiwagen, warf den Motor an und trat auf das Gaspedal.

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„Verschwinde Vermont, das ist eine Sache zwischen ihr und meinem Clan“, brüllte der Halbblüter.

Der Streifenwagen setzte sich mit quietschenden Reifen in Bewegung.

Gerald trat aus dem Schatten, als er sicher war, dass Sophie ihn nicht mehr sah. Er hatte das Schauspiel beobachtet. Nachdem er sich ursprünglich noch einmal am Tatort umsehen wollte, hatte der zerstörte Wagen seine Aufmerksamkeit erregt. Clement hatte die Besitzerin des Kennzeichens binnen weniger Sekunden im Netz gefunden.

Langsam ging er auf den Polizisten zu. „Falsch“, sagte er in ruhigem Ton. „Nun ist es eine Sache zwischen dir und mir.“

„Was gibt dir das Recht?“ Die Stimme des Mannes verlor an Überzeugung.

„Die Gesetze des Rates.“ Gerald blieb stehen.

„Ach, dann schützen diese Gesetze nun also eine Vampirmörderin.“ Der Mann musste eine kurze Unsicherheit in Geralds Miene bemerkt haben, denn er gewann wieder an Selbstvertrauen. „Oder stimmt es etwa nicht, dass die kleine Schlampe eine Jägerin ist?“

„Die Gesetze dienen einzig dem Schutz unseres Volkes. Aber ich erwarte nicht, dass jemand wie du die Intelligenz besitzt, das zu verstehen“, entgegnete Gerald und unterdrückte die Wut, die das Wort Schlampe in ihm hervorrief. Was zum Teufel machte er hier? Er stand da, stritt zur Verteidigung eines Menschen mit diesem Vampir und hätte vermutlich keinen Augenblick gezögert, diesen Mann zu töten, um Sophie Lacoste zu schützen.

„Was willst du nun mit mir machen, Vermont?“

„Du kannst dein Anliegen dem Gericht des Rates vortragen.“ Das verschaffte Sophie etwas Luft, zumindest, bis er wusste, welchen Zwist sie mit dem Clan dieses Halbblüters austrug und bewahrte ihn davor, eine furchtbare Dummheit zu begehen.

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Ihr Herz raste, als sie den Wagen wendete und den Franz-Josephs-Kai entlang beschleunigte. Den regungslosen Polizisten auf dem Beifahrersitz schleuderte es wie eine Puppe hin und her. Er schlug mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe und das Armaturenbrett. Sophie dachte nicht daran, stehen zu bleiben. Der Mann war vermutlich ahnungslos in die Sache hineingeraten, doch nun stellte er eine ebenso große Gefahr dar wie der Vampir.

Sie musste weg, möglichst weit, am besten in die Nähe ihrer Studiowohnung, um den Polizeiwagen irgendwo in einer Gasse abzustellen und die letzten Meter zu Fuß zu laufen, damit niemand Verdacht schöpfte.

Was dachte sie für einen Unsinn? Der Polizist wusste, wer sie war und bestimmt auch, wo sie wohnte. Ihre Wohnung war nicht mehr sicher. Also machte es wenig Sinn, war sogar gefährlich, dorthin zurückzukehren. Nicht, bevor der Morgen anbrach und selbst dann konnten sie ihr dort auflauern.

Eine Stimme ließ sie aus ihren Gedanken fahren. Die Puppe bewegte sich, murmelte etwas und richtete sich abrupt auf. Der Blick des zuvor freundlichen Mannes hatte sich verändert. Seine Augäpfel waren blutunterlaufen und die Bisswunde an seinem Hals glühte hellrot, als halte jemand eine Taschenlampe von der Innenseite dagegen.

„Warum wollten Sie nicht auf den Wagen warten?“ Seine Stimme klang hohl. „Mein Herr wird nicht erfreut sein.“

Dem langsamen Faustschlag, der den Worten folgte, wich sie gerade noch aus. Sie verriss das Lenkrad, geriet auf die Gegenfahrbahn und schaffte es, im letzten Moment gegenzusteuern und einem entgegenkommenden Fahrzeug auszuweichen. Der Mann packte sie, riss sie auf die Beifahrerseite. Erneut verlor sie die Kontrolle. Der Wagen schrammte Funken sprühend an parkenden Autos entlang. Die Seitenfenster auf der Beifahrerseite barsten, explodierten in einem Schwall winziger Glassplitter, der auf den Polizisten niederging. Für den Moment war er beschäftigt, sich vom Glas zu befreien.

Sie packte das Lenkrad und trat auf das Bremspedal. Mit einem dumpfen Geräusch knallte der Polizist mit dem Kopf auf das Armaturenbrett. Dann riss sie die Tür auf, schnappte sich ihre Handtasche, sprang hinaus und rannte.

Hinter ihr hallte das Schlagen einer Autotür durch die Nacht. Der Mann folgte ihr taumelnd mit blutüberströmtem Gesicht.

„Warte, verdammte Scheiße noch mal, warte!“

Sie beschleunigte ihre Schritte.

„Warte“, keuchte er und feuerte seine Waffe ab.

Zwei, drei Schüsse hallten durch die Nacht, zischten an Sophie vorbei, gefolgt von einem Brennen an ihrer Schulter. Blut sickerte aus einer Wunde, es roch nach verbranntem Fleisch und verschmorter Kunstfaser. Es war nur ein Kratzer, aber der heiße Schmerz riss sie beinahe von den Beinen.

Mühsam schleppte sie sich weiter. Ein mehrmaliges Klicken ließ sie aufatmen, der Verfolger schien seine Munition verschossen zu haben. Sie befand sich nicht mehr weit von der Wohnung ihrer Freundin Dora. Vielleicht durfte sie ein paar Nächte bei ihr bleiben. Dora war bestimmt noch mit Meike unterwegs, doch Sophie besaß einen Schlüssel, da sie eine Zeit lang dort gewohnt hatte.

Die Schritte ihres Verfolgers waren nicht mehr zu hören. Sie machte dennoch nicht den Fehler, stehen zu bleiben, sondern lief weiter, bis sie den Durchgang zum Innenhof mit dem Zugang zu Doras Wohnung erreichte. Sophie stieß die Tür zum Treppenhaus auf, stürmte hinein und hielt erschöpft an. Sie schaute durch die Scheibe nach draußen. Im Licht der Straßenlaternen stolperte ihr Verfolger am Rundbogen der Hofeinfahrt vorbei.

Mit der nachlassenden Anspannung brach Erschöpfung über Sophie herein. Ihre Lungen brannten. Sie schwankte auf ihren tauben Beinen und in ihrer Schulter wütete pochender Schmerz. Doch nun war sie erst mal in Sicherheit. Doras Wohnung lag im vierten Stock mit Blick auf den Hof. Sophie kramte den Schlüssel aus der Handtasche, schloss auf und trat in den Flur. Stille empfing sie. Sie tastete nach dem Lichtschalter und erfasste plötzlich einen grauen Schatten neben sich. Erschreckt wich sie zurück, schrie auf und wie ein Echo erwiderte der Schatten den Schrei.

Das Licht ging an, Doras blasses Gesicht blitzte auf und im nächsten Augenblick knallte es.

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„Du machst einen Fehler“, fauchte der Vampir.

Gerald stieß ihn in die Sicherheitszelle und warf die Tür ins Schloss. Wütend trat und hämmerte der Mann gegen die Stahltür. „Verfluchte, dreckige Ratte“, schallte es aus dem Inneren. „Fick doch deine Menschenschlampe, du eingebildeter Reinblüter!“

Gerald ballte die Fäuste. Er war nah dran, die Tür aufzureißen und dem Kerl das Maul zu stopfen. Er atmete tief durch, schluckte den Groll hinunter und wandte sich um. Mit raschen Schritten folgte er dem unterirdischen Korridor, bog an der nächsten Abzweigung nach rechts und stieg die Treppen zu den Büros der Sicherheitsagentur empor. Oben kehrte Gerald nicht sofort in sein Büro zurück, sondern machte sich auf den Weg in die Trainingshalle. Er musste erst einen klaren Kopf bekommen, bevor er sich wieder um die Angelegenheiten der Agentur kümmerte.

Sein Handeln verwirrte ihn. Zwar hatte er kein einziges Gesetz des Vampirrates gebrochen, als er Sophie zu Hilfe gekommen war, dennoch hatte er nur aus der Motivation heraus gehandelt, sie vor dem Halbblüter zu schützen, nicht um der Interessen seines Volkes willen.

Er stieß die Doppelflügeltür zur Trainingshalle auf, einem gemauerten unterirdischen Gewölbe, das Clement und er lange vor der Gründung des Rates zu einem Übungsraum umfunktioniert hatten. Es war ein Ort, der jedes Kämpferherz höherschlagen ließ. Die Trainingshalle stammte, wie auch der Rest der unterirdischen Anlage, aus der Zeit des Vampirkriegerordens. Die Halle verfügte über einen Kraftraum, einen Ring mit Stahlseilen und einen Hindernisparcours, der jeden Fehler mit Schmerzen strafte, denn auf jegliche Schutzmaßnahmen, wie Matten oder Fangnetze hatten sie verzichtet. Auch ein richtiger Kampf verzieh keine Fehler.

Im hinteren Teil gab es einen abgegrenzten Bereich zum Testen von Waffen aller Art an Holzpuppen, einen Pool mit eisigem Wasser und selbstauslösenden Fallen, die zum Training der Reflexe über Bewegungssensoren gesteuert hoch beschleunigte Gummiprojektile durchs Wasser schossen.

Gerald tauschte den Anzug gegen eine maßgeschneiderte Kampfmontur aus Stoff, Leder und vereinzelten, mehrfach gehärteten Stahlblechen, die den besonders verwundbaren Stellen wie dem Herz zusätzlichen Schutz bieten sollten, aber ihn in der Bewegung nicht behinderten.

Verwandelt in den Krieger, der er einst war, trat Gerald aus der Umkleidekabine. Er schaute auf die Uhr, es war knapp nach zwei. Die Nacht würde noch vier Stunden dauern, ehe die Dämmerung hereinbrach und mit Tagesanbruch etwas Ruhe einkehrte. Zwar tötete entgegen aller Legenden Sonnenlicht einen Vampir nicht auf der Stelle, dennoch war es nicht unbedingt gesundheitsförderlich, weshalb viele seines Volkes die Tage in dunklen Räumen verbrachten. Wie auch bei der unterschiedlichen Ausprägung der Vampirkräfte waren die Reaktionen auf Sonnenlicht verschieden.

Gerald lief eine Runde auf dem Parcours, der um die Halle führte. Die Strecke bestand aus gemauerten Blöcken, Stacheldraht, Felsbrocken, aber auch feinem Treibsand und einer Reihe von mittelalterlichen Fallen, die es zu überwinden galt, ohne den Kopf oder andere Extremitäten zu verlieren. Einst war die Überwindung dieses Parcours eine der Aufnahmeprüfungen in den Kriegerorden. Mittlerweile reichte Gerald ein unterschriebener Vertrag zur Aufnahme eines Vampirs in die Sicherheitsagentur. So hatten sich die Zeiten geändert.

Nach zwei weiteren Runden übte er sich im Schattenboxen und am Sandsack. Im Laufe seines 220-jährigen Lebens hatte er eine Reihe von Kampfsportarten erlernt und beherrschte sowohl den waffenlosen Kampf als auch den mit Degen und Dolch. Nur Schusswaffen verabscheute er seit jeher zutiefst, da er sie für unehrenhaft und feige hielt.

Zum Abschluss zog er die schweißnasse Montur aus und sprang nackt in das eisige Becken.

Als er die Trainingshalle verließ, fühlte er sich eine Spur besser, auch wenn ihn das Training an die erste Begegnung mit Sophie erinnerte. Er sah den Moment vor sich. Gerald durchschritt den Bühnenraum des Wiener Burgtheaters. Sophie, erst sechzehn Jahre alt, kniete auf der Bühne, daneben ihr Vater, der über dem Leichnam seiner Frau kauerte. Es dauerte eine Weile, bis Richter bemerkte, dass sie nicht mehr allein waren. Er hob den Kopf. In den roten Augen loderte Hass.

„Vermont“, sagte Richter mit heiserer Stimme. „Wenn Sie mich töten wollen, tun Sie es, aber verschonen Sie meine Tochter.“

„Ich bin kein Mörder. Sie sind ein Krieger. Meine Ehre verbietet es, Sie hilflos am Boden liegend zu töten.“

„Ein Vampir mit Ehre.“ Richter lachte abwertend. Er hielt den Leichnam fest umklammert.

„Ich habe Ihre Frau nicht getötet.“ Gerald näherte sich einige Schritte.

„Was wollen Sie dann hier? Sich an meiner Trauer ergötzen?“

„Ich bin hier, um den Mörder zu finden.“

„Sie wollen mir helfen?“

Richter blieb misstrauisch. Wer konnte es ihm verdenken? „Nein, nicht Ihnen. Es sind unsere Gesetze, die das hier verbieten. Das ist auch meine Angelegenheit.“

Richters Hand wanderte unter den Mantel und zog langsam eine Waffe aus dem Halfter. „Lassen Sie mich nicht an Ihrer Ehre zweifeln.“ Schneller als die Augen des Jägers es erfassten, packte er Richters Hand und zog sie unter dem Mantel hervor. „Sie können mich jagen, sobald ich diese Räume verlassen habe. Lassen Sie uns diese Fehde für den Augenblick vergessen.“

„Wenn das so ist, dann helfen Sie meiner Tochter. Ich weiß, dass Sie es können. Nehmen Sie ihr die furchtbare Erinnerung an diesen Tag. Wenigstens sie soll in Ruhe leben.“

Gerald betrachtete ihr jugendliches Gesicht, erkannte Trauer und Schmerz hinter der starren Fassade. Es berührte ihn. Ging so tief, dass es ihn traf wie ein Messerstich ins Herz. Er tat es nicht, um Richter zu helfen, sondern um seinen Schmerz, den der Anblick dieses Mädchen erweckte, zu besänftigten. Er berührte ihre Stirn mit den Fingerspitzen. Sie sank zu Boden. Richter schrie auf, eilte zu seiner Tochter.

„Was haben Sie getan?“

„Wenn sie aufwacht, wird sie sich nur daran erinnern, dass ihre Mutter gestorben ist.“ Seine Hand zitterte von der bloßen Berührung. Die Wärme ihres Körpers floss wie ein warmes Prickeln durch seinen Arm bis in seine Brust. Ihre Schönheit und der zart erblühende Duft ihrer Haut erfüllten ihn mit einem nie da gewesenen Gefühl der Zuneigung. Er musste weg, raus hier.

Er hatte damals wochenlang jede freie Minute im Übungsraum verbracht, um seinen Verstand von den Gedanken und sein Inneres von den irrationalen Gefühlen für sie zu befreien.

Er betrat den Bürotrakt, den modernsten Teil der Anlage. Die Räume waren durch gläserne Wände abgegrenzt. Neben einem Dutzend Büros und Besprechungsräumen gab es einen Serverraum, der die Anlage zu einem Knotenpunkt in einem weltweiten Netzwerk machte.

Sein Büro lag am Ende des Ganges. Dabei kam er an Clements Räumlichkeiten vorbei. Sein Bruder saß mit angespannter Miene am Schreibtisch, das Telefon am Ohr, die Stirn in der aufgestützten Hand. Als Clement Gerald entdeckte, bedeutete er ihm mit einer Handbewegung, dass er nachher zu ihm kommen würde.

Gerald nickte, betrat sein Büro und sank auf einen Sessel. Durch die Glasscheibe beobachtete er Clement und erinnerte sich, dass er es die halbe Nacht vor sich hergeschoben hatte, Mathis Leclerc anzurufen, um ihn über den Tod seines Bruders in Kenntnis zu setzen. Gerald nahm den Hörer des Tischtelefons in die Hand, wählte die drei und wartete auf den Klingelton.

„Guten Abend, Gerald“, erklang die Stimme eines gut gelaunten Mathis Leclerc.

Das machte es Gerald schwerer. Er begrüßte Leclerc und kam direkt zur Sache. „Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass wir Linus gefunden haben.“

„Wo?“

„Hier in Wien, er ist tot.“

„Ich verstehe. Wie ist das passiert?“

Ob die Nachricht Leclerc naheging, erkannte Gerald nicht. Vielleicht hatte der Anführer des Leclerc Clans schon lange mit seinem Bruder abgeschlossen. Es war damals nicht nur der Mord an der Schauspielerin gewesen, der zu der Ächtung von Linus Leclerc geführt hatte, sondern zahlreiche weitere Morde und Verbrechen, sowohl an Menschen als auch an Vampiren. Linus hatte vor den Mitgliedern des eigenen Clans nicht haltgemacht, woraufhin Mathis ihn für vogelfrei erklärt hatte. Linus war es gelungen, rechtzeitig abzutauchen, dem Kerker und der Todesstrafe zu entgehen.

„Ein Jäger“, antwortete Gerald.

„Richter?“

„Ja, aber er hat den Kampf auch nicht überlebt.“ Unvermeidlich dachte er an die Begegnung mit Sophie, an ihren Schmerz und ihre Reaktion, als sie ihren Vater tot auf der Straße liegend fand. Es war Gerald nahegegangen wie damals im Theater.

Mathis seufzte. „Dann sollte ich nach Wien kommen.“

„Es wäre hilfreich, wenn du Linus identifizierten könntest.“

„Ich melde mich morgen.“

„Es tut mir leid, Mathis.“

„Schon gut, Gerald, schon gut. Linus wählte diesen Weg und das Schicksal hat über ihn entschieden. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.“

Gerald legte auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück, als Clement zur Tür hereinkam.

„Was ist geschehen?“, fragte Gerald.

Clement stieß die Luft aus, ließ sich in den Sessel vor Geralds Schreibtisch fallen. „Das war Brom.“ Er strich mit beiden Händen über seine Glatze. „Er kommt eben von der Gerichtsmedizin.“ Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

„Geht es um Richter?“

„Unter anderem. Er ist an Herzversagen gestorben.“

„Also eines natürlichen Todes.“

„Nicht ganz. Sie haben etwas in seinem Blut gefunden. Brom meinte, es sei eine Art Gift, das seinen Körper verändert hat.“

„Ich möchte, dass du den Totenschein auf Herzversagen ausstellst. Nimm meinetwegen Proben, aber die Sache mit Richter soll in einigen Tagen abgeschlossen sein“, sagte Gerald. „Danach können wir in Ruhe seinem Tod auf den Grund gehen.“ Er fühlte sich schlecht dabei, die Wahrheit vor Sophie zu vertuschen. Aber er konnte in dieser Situation nicht anders handeln.

Ein flüchtiges Lächeln strich über Clements Lippen. „Das habe ich bereits erledigt. So weit kenne ich dein Vorgehen, es ist nur …“

„Was bedrückt dich?“ Er kannte Clement gut genug, um anhand seines Blickes zu erahnen, dass etwas nicht stimmte.

„Es geht um Linus.“

„Mach dir keine Sorgen, ich habe mit Mathis Leclerc telefoniert. Er wird nach Wien kommen und sich um Linus Leiche kümmern.“

„Genau das ist das Problem.“ Das Lächeln wich Unsicherheit. „Linus’ Leiche ist nicht so in der Gerichtsmedizin angekommen, wie wir das erhofft hatten.“

Clements Worte drangen zuerst nur langsam zu ihm vor, doch dann war es wie ein Schlag ins Gesicht. Gerald hatte mit eigenen Augen gesehen, wie man Linus im Sarg abtransportierte.

„Sie haben die Leichen der Fahrer in der Tiefgarage entdeckt. Blutleer. Nicht sichtbar für die Überwachungskameras. Es muss geschehen sein, nachdem sie Richter hinuntergebracht hatten. Linus Sarg war leer. Sie haben danach die Gegend abgesucht und die Leiche gefunden. Nur wenige Meter entfernt in einer Nische. Es fehlte ein Stück. Der Kopf.“

„Der Kopf?“ Er musste es selbst aussprechen, um zu glauben, was er hörte. Blutleere Leichen und ein Vampir ohne Kopf, das passte nicht zusammen. Das eine deutete auf jemanden seines Volkes hin, das andere auf einen Jäger.

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„Sophie, hörst du mich?“

Doras Stimme klang fern, erklang lauter, als Sophie allmählich aus den schwarzen Tiefen der Ohnmacht auftauchte. Sie schlug die Augen auf und fand sich auf der Couch in Doras Wohnzimmer wieder. Ihre Freundin saß neben ihr, rüttelte und tätschelte sie. Sophie blickte in ein blasses Gesicht, das nur notdürftig abgeschminkt war und die Steckfrisur wirkte wie ein feuerrotes Gestrüpp aus Spirallocken.

„Ich bin wach. Bitte nicht mehr schlagen.“

„Oh, mein Gott, es tut mir leid.“

„Was tut dir leid?“ Sophie versuchte, sich aufzurichten. Das Brennen in ihrer Schulter erinnerte sie an den Streifschuss.

„Ich hab dich k. o. geschlagen.“ Dora kratzte sich an der Stirn und biss sich auf die Unterlippe. „Wenn ich gewusst hätte, dass du es bist …“

„Konntest du ja nicht.“ Sophie erinnerte sich an Doras Gesicht, als sie die Wohnung betreten hatte. Flüchtig betastete sie ihre Stirn und ihren Kopf. Sie spürte weder eine Beule noch eine Wunde. „Ich dachte, du bist mit Meike unterwegs.“

Dora schüttelte den Kopf. „Meike ist mit ’nem Typen abgehauen, da hatte ich keine Lust mehr.“ Sie zuckte mit den Schultern und gähnte. „Mann, hast du mir einen Schrecken eingejagt. Ich wollte schon die Polizei rufen.“

„Hast du?“

„Nein, natürlich nicht. Sollte ich?“

Sophie atmete erleichtert aus. „Bloß nicht.“ Sie setzte sich auf. Der Raum begann, sich zu drehen und in ihren Schläfen pochte ein stechender Kopfschmerz. „Womit hast du mich k. o. geschlagen?“

„Mit der Bibel.“ Dora deutete auf den ledergebundenen Wälzer auf dem Tisch hinter ihr. „Keine Sorge, ich geh gleich Montag zur Beichte. Also … solltest du mir nicht ein paar Dinge erzählen? Zum Beispiel, warum du nach Mitternacht mit blutender Schulter in meine Wohnung stolperst. Was ist das überhaupt? Lass mich mal sehen.“

„Du würdest mir ohnehin nicht glauben.“ Sie hatte den Beruf ihres Vaters vor ihren Freundinnen verschwiegen, ihn als Tunichtgut bezeichnet. Wenn sie nun von Vampiren erzählte, würde Dora vermutlich die Männer mit der weißen Jacke rufen.

Aber sie hatte dennoch das Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen.

„Das kann ich ja entscheiden, nachdem du mir alles erzählt hast“, bohrte Dora. „Und das hier muss anständig versorgt werden, sonst entzündet es sich.“

„Kannst du das machen?“

„Ich bin zwar keine Ärztin, aber als Krankenschwester sollte ich das gerade noch hinbekommen“, meinte Dora beruhigend. „Ich mache uns Tee und hole den Verbandskasten. In der Zwischenzeit kannst du ja überlegen, ob du dich deiner guten alten Freundin anvertraust oder nicht.“ Dora lächelte versöhnlich und verschwand in der Küche.

Als sich das Schwindelgefühl einigermaßen gelegt hatte, stand Sophie auf und ging ein paar Schritte durch das Wohnzimmer. Die Bewegung tat ihr gut. Sie fühlte sich besser. Vermutlich war es weniger Doras Schlag als die Erschöpfung nach der Verfolgungsjagd, die sie schließlich zu Boden geschickt hatte. Nachdem sich Dora so rührend um sie kümmerte und Sophie vorhatte, ihre Freundin um Asyl zu bitten, musste sie ihr auch einen Teil der Wahrheit erzählen.

Nach einer Weile kehrte Dora mit einem Tablett zurück. „Also?“, fragte sie mit erwartungsvoller Miene und machte sich an die Arbeit, Sophies Wunde zu versorgen.

Sophie atmete tief durch, bevor sie schilderte, was geschehen war, seit sie den Friedhof verlassen hatte. Die tote Vampirin verschwieg sie ebenso wie die Wahrheit über den Mörder ihres Vaters.

Am Ende ihrer Geschichte schüttelte Dora den Kopf. „Ich weiß nicht, wo du da hineingeraten bist. Aber das mit deinem Vater tut mir leid.“ Dora griff nach Sophies Hand. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann …“

„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich ein paar Tage hierbleibe, zumindest, bis ich mit diesem Vermont gesprochen habe? Diese Typen wissen, wo ich wohne.“

„Natürlich, du weißt, dass du jederzeit willkommen bist. Dein altes Zimmer steht noch leer.“

„Ich danke dir.“

„Und dieser Vermont ist vertrauenswürdig?“

„Ich denke schon.“ Er sah vor allem zum Anbeißen aus, genau, wie sie sich einen Mann vorstellte. Wie unglaublich ruhig und sicher sie sich in seiner Nähe gefühlt hatte. Zugegeben, völlig unpassend für diese Situation. Schließlich war ihr Vater getötet worden. Aber Gerald hatte etwas in ihr ausgelöst, das sie nur schwer begriff, ein Gefühl von Zuneigung und tiefer Vertrautheit. Auch jetzt löste der Gedanke an ihn den Wunsch aus, ihn wiederzusehen und erneut beschlich sie das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein. Sie kam einfach nicht darauf, wo oder wann das gewesen sein sollte. Doch im Moment hatte sie andere Sorgen und verwarf den Gedanken.

Nach einer Tasse Tee zog sich Sophie in das Zimmer zurück, in dem sie ein halbes Jahr lang gewohnt hatte. Es war einer der ersten Schritte auf ihrem Weg in die Freiheit gewesen. Der Raum war noch so, wie sie ihn vor drei Jahren verlassen hatte. Karg, aber funktionell. Sophie hatte Dora im Krankenhaus kennengelernt. Damals hatte sie als Reinigungskraft dort gearbeitet. Trotz eines Altersunterschieds von neun Jahren schlossen sie innige Freundschaft. Gerne erinnerte sich Sophie an die Zeit zurück. Ihr Drang nach Freiheit und der Wunsch, auf eigenen Beinen zu stehen, hatte sie bewogen, sich dennoch etwas Eigenes zu suchen.

Als sie ins Bett kroch, brachen die Gefühle aus ihr hinaus und sie weinte um ihre Mutter, ihren Vater, sich selbst, bis der Schlaf sie übermannte.

Sie fand sich in einem Traum wieder, den sie oft träumte. Vor ihr lag die Tür zu einem Hintereingang des Wiener Burgtheaters und ein Gefühl sagte ihr, dass die Wahrheit über die Erinnerungen an Gerald hinter dieser Tür lag. Doch wie jedes Mal, wenn ihr Unterbewusstsein sie hierher führte, war diese Tür fest verschlossen und so sehr sie daran rüttelte und zog, sie wollte sich nicht öffnen lassen.

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In voller Fahrt raste Gerald in seinem silbergrauen Shelby Mustang in die Einfahrt der Gerichtsmedizin. Die Schranken zur Tiefgarage gingen bereits auf, als er sich näherte. Er preschte weiter, ohne vom Gas zu gehen, die Abfahrt hinunter und parkte zielsicher auf seinem Stammplatz. Er hatte weniger als fünf Minuten quer durch Wien gebraucht, nachdem er von Clement erfahren hatte, was mit Linus Leclerc geschehen war.

Clement und er stiegen aus und eilten zum Lift. Gerald schob den Schlüssel in das Tastenpult und schaltete den gesperrten Trakt unterhalb der Tiefgarage frei, dessen Existenz nur wenigen bekannt war.

Kälte und der Geruch von Formaldehyd schlugen ihnen entgegen, als der Lift anhielt und sich die Türen zu einem hell beleuchteten Flur öffneten. Die Wände waren mit poliertem Edelstahl verkleidet und der Boden mit schwarzem Marmor gefliest. Der Korridor führte zu den Türen links und rechts, hinter denen die Arbeitsräume der von der Agentur geführten geheimen Abteilung der Gerichtsmedizin lagen. Nur wenige Personen hatten hier Zugang. Außer den Agenten und den beiden Gerichtsmedizinern, die für die Agentur arbeiteten und Vampire wie menschliche Opfer sezierten, war es nur André Barov und den restlichen Mitgliedern des inneren Rates gestattet, die Räumlichkeiten zu betreten.

Auf der Fahrt hierher hatte er sowohl André Barov als auch Mathis Leclerc von dem Überfall auf den Leichenwagen berichtet. Leclerc hatte sich seinerseits auf den Weg gemacht.

André wartete bereits an der Tür zum Untersuchungsraum drei, als Clement und Gerald eintrafen.

„Habt ihr ihn schon gesehen?“, fragte Gerald.

André nickte. „Ein sauberer Schnitt. Der eines Jägers mit geübter Klinge, wenn ihr mich fragt.“

Sie betraten den Raum. Doktor Roth, der zuständige Mediziner, begrüßte sie. Die Leichen, vier an der Zahl, lagen von Tüchern verdeckt auf Blechtischen. Auf fahrbaren Instrumententischen lagen Skalpelle, Sägen und andere Sezierwerkzeuge aufgereiht.

„Wir haben Spuren von Chrom und Stahl in der Wunde gefunden.“ Roth schlug das Stofftuch von Linus Leclercs Leichnam zurück. „Es war eine Klinge aus gehärtetem, säurebeständigem Edelstahl, wie er bei Jägerwaffen benutzt wird.“

Gerald bückte sich über den Torso, betrachtete den Schnitt. Darunter klafften die säurezerfressenen Schusswunden, die Linus getötet hatten und die sich mittlerweile vom Rücken ausgehend bis zum Brustkorb durchgefressen hatten. Es gab keinen Zweifel. Es war die Leiche, die sie noch vor wenigen Stunden in der Wiener Innenstadt zum Abtransport freigegeben hatten. Nur ohne Kopf.

„Was ist mit den Fahrern?“, fragte Gerald den Mediziner.

Dieser wandte sich den anderen Tischen zu und schlug die Tücher zurück. Darunter lagen die beiden Männer, die den Transportwagen gefahren hatten. Tiefe Bisswunden klafften an den Hälsen, kein sauberer Biss, sondern wie von einem gierigen Raubtier.

„Gab es Spuren?“

Roth grinste breit. „Oh ja, die gab es, jede Menge sogar. Speichel, Hautreste, alles, was das Herz eines Genetikers begehrt.“ Roth griff nach einem Blatt Papier. „Menschliche Gene, vermischt mit denen eines Vampirs und eines Wolfes.“

„Ein Assassine?“

„Wenn Sie so wollen.“ Der Mediziner blickte über seine Brille hinweg. „Obwohl es scheint, dass es keine Verwandlung vom Vampir zum Assassinen, sondern vom Menschen zum Assassinen war. Der Körper dieses Assassinen scheint über die Fähigkeit zu verfügen, rote Blutkörperchen zu produzieren.“

Was bedeutete, dass er überleben konnte, ohne Blut zu trinken. Dennoch tat er es und das auf grausamste Art und Weise. Gerald tauschte einen Blick mit André, der mit nachdenklicher Miene Linus Leclercs Leichnam betrachtete, mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn strich und anschließend den Kopf schüttelte.

„Weshalb stiehlt ein Assassine den Kopf eines Vampirs?“, sprach André schließlich aus.

Roth zuckte mit den Schultern. „Möglichweise liefert die Blutanalyse unseres vierten Opfers eine Erklärung.“ Er deckte Friedrich Richter auf. „Auf Clements Wunsch habe ich den Totenschein auf Herzversagen ausgestellt, aber …“ Er blätterte um, rümpfte die Nase. „Jemand hat unserem Freund hier etwas injiziert, das die Stammzellen des gesuchten Assassinen enthielt.“

„Richter hat mit einem Assassinen gearbeitet?“ Gerald warf diesen Gedanken in die Runde. Er kannte Richter und seine beiden Gehilfen, aber es war kaum vorstellbar, dass dieser Verrat an sich selbst beging. War der alte Jäger so verzweifelt dem Mörder seiner Frau gefolgt, dass er einen Assassinen engagiert hatte, Linus Leclerc zu finden? Aber selbst das erklärte nicht, warum er sich selbst Assassinen-DNS injizieren sollte. Es sei denn, jemand anderes hatte es getan.

„Ich kann nicht sagen, wer für wen gearbeitet hat“, erklärte Roth. „Aber die Gene des Assassinen haben Richters Körper angegriffen und ihn schließlich von innen zerstört. Es ist eine Art misslungene Metamorphose, um es mit anderen Worten zu sagen.“

„Was geht hier vor sich?“ Gerald hörte Andrés Stimme auf telepathischem Weg.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Gerald auf die gleiche Art. „Aber ich werde der Sache auf den Grund gehen.“

Gerald betrachtete Richters Leichnam und fragte sich, ob die Assassinen nach dem Scheitern von Zacharias Plan einen Pakt mit den Jägern geschlossen hatten. Alles deutete darauf hin, dass Linus Leclercs Kopf als Trophäe diente.

„Ich möchte, dass ihr Richters Jägerorden beobachtet und mich unterrichtet“, sagte André telepathisch.

Nachdem sie die Gerichtsmedizin verlassen hatten, brachte Gerald Clement zurück in die Agentur. Er wollte die letzten Stunden, bevor die Sonne aufging, nutzen, nach Sophie zu sehen. Eine gewisse Dosis Tageslicht konnte er aufnehmen, ohne dass es Folgen hatte. Das UV-Licht löste eine Art Strahlenkrankheit bei Überschreiten einer bestimmten Grenze aus und er hatte diese während der vergangenen Wochen zu oft überschritten.

Nachdem Sophie mit dem Polizeiwagen geflüchtet war, hatte er sich nicht mehr darum gekümmert, ob sie in Sicherheit war. Sein Verstand schalt ihn einen Verrückten. Jemanden, der gerade dabei war, nach dem Wohlbefinden der Tochter eines Vampirmörders zu sehen.

Brom hatte inzwischen auf seine Anweisung veranlasst, dass Mitarbeiter Sophies Wagen in die Garage der Agentur brachten. Auf ihren verstreuten Visitenkarten fand er ihre Adresse. Kurz darauf parkte er vor dem Wohnhaus. Er stieg aus, öffnete die Haustür telekinetisch und lief die Treppe hinauf zu ihrer Tür. Einen Moment hielt er inne und konzentrierte seine Sinne, lauschte, ob er in der Wohnung etwas hörte. Alles war still, bis auf das Ticken einer Uhr. Kein Atemgeräusch und kein Herzschlag.

Erneut nutzte er Telekinese zum Öffnen der Tür. Leise schwang der Eingang auf. Warme Luft strömte ihm entgegen, getränkt von Sophies Duft. Sein Herz raste und sein Verstand lähmte seine Beine, versuchte, ihn zu hindern, diese Räume zu betreten. Wie oft hatte er einem Menschen gegenübergestanden, ohne dass es eine derartige Reaktion ausgelöst hatte. Er hatte sie immer nur als Blutlieferanten gesehen. Mit Ausnahme dieser Frau. Sie brachte ihn um den Verstand. Er spürte seine Fänge, die hart pochten, und Erregung, die seinen Körper durchflutete. Er durfte diesem Verlangen nicht nachgeben. Niemals, beschwor er sich. Es widersprach allen Gesetzen und all seinen Prinzipien und es war nicht das erste Mal. Wie konnte er nur so verrückt sein, sich erneut dieser Droge auszusetzen? Zumindest wusste er, dass es keine krankhafte Neigung war, sondern die Aura dieses Menschen, die ihn so sehr anzog. Er hatte damals richtig daran getan, sich von ihr fernzuhalten, sich so lange zu quälen, bis er sie verdrängt hatte. Denn vergessen konnte er sie nie. Trotz aller Bedenken schlich er in die Wohnung, durchsuchte jeden Raum. Sophie war nicht hier und diese Erkenntnis erfüllte ihn mit rasender Panik, dass ihr bei der Flucht etwas zugestoßen war. Heiß und kalt lief es über seinen Rücken. Aber wenn dem so wäre, dann hätte Brom bestimmt etwas erfahren. Schwere Unfälle mit Polizeiwagen waren nicht alltäglich. Nur weil sie nicht zu Hause war, bedeutete es noch lange nicht das Schlimmste.

Er machte kehrt, schloss die Tür ab, lief nach unten und sprang in seinen Mustang. Über den Touchscreen rief er alle Polizeimeldungen der vergangenen Stunden ab. Es gab keine Berichte über weitere Vorfälle.

Der Morgen brach bereits an. Wolken bedeckten den Himmel, doch sie würden das Tageslicht nicht zurückhalten, auch wenn die Strahlungsintensität an solchen Tagen geringer war. Er musste in die Agentur, ob er wollte oder nicht. Noch einmal blickte er hinauf zu ihrem Apartment, in der Hoffnung, sie am Fenster stehen zu sehen. Natürlich war es nur ein Wunsch, der sich nicht erfüllte. Im Moment konnte er nichts anderes tun, als abzuwarten.

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Der Tag begann für Sophie erst nach Mittag. Sie hatte unruhig geschlafen, von wirren Träumen gequält, an deren Handlung sie sich nicht erinnerte, lediglich das Gefühl aufkommender Panik trug sie in die Wirklichkeit. Eher gerädert als erholt stand sie auf und schlurfte ins Badezimmer. An der Küchentür fand sie eine Nachricht von Dora auf einem kleinen Zettel. Musste zur Arbeit, du weißt ja, wo alles ist, Dora.

Sophie nahm eine heiße Dusche und zog die Kleider vom Vortag an. Sie musste unbedingt in ihre Wohnung, frische Sachen holen. Tagsüber war es vielleicht etwas sicherer. Auf jeden Fall musste sie vorsichtig sein und unbedingt einen Weg finden, mit Vermont zu sprechen, nicht nur über ihren Vater, sondern auch über die Infiltration der Polizei durch Vampire. Es wäre einfacher gewesen, hätte sie sich seine Nummer geben lassen. Verdammt, warum hatte sie gestern Abend nicht daran gedacht? Natürlich hätte sie auch versuchen können, bei der Polizei anzurufen, doch nachdem sie erfahren musste, dass selbst die Exekutive unterwandert war, wollte sie sichergehen. Nicht, dass sie am Ende noch einen weiteren Blutsklaven aus der Reserve lockte. Noch wusste sie nicht, wie sie es dem Ermittler erzählen sollte, ohne dass er sie für verrückt hielt. Dennoch schienen im Moment Vermont und Dominik die Einzigen zu sein, die ihr weiterhelfen konnten. Der Gedanke an Vermont weckte ein warmes Prickeln und sie sah dabei ihr Gesicht im Badezimmerspiegel und ihre Lippen, die ein Lächeln formten.

Sie betrat die Küche, um sich auf die Schnelle eine Tasse Kaffee zu machen. Dora hatte als fürsorgliche Ex-Mitbewohnerin, die sie war, ein Gedeck für Sophie auf dem Tisch stehen lassen, sowie Brötchen, selbst gemachte Marmelade und Kaffee in einer Thermoskanne. Gott, wie lieb. Sie setzte sich und genoss die Fürsorge.

Sophie schaltete das Radio an und las in der Tageszeitung. Es gab weder Berichte über ihren Wagen noch über die nächtliche Spritztour einer Frau im Polizeiwagen, bei der mehrere parkende Autos und ein vom Steuerzahler finanziertes Fahrzeug schwer beschädigt worden waren. Auch der Mord in der Innenstadt erhielt nicht mehr als eine Randnotiz über einen tödlich endenden Streit zweier Obdachloser, deren Namen der Redaktion nicht bekannt waren.

Wie ihr Vater immer gesagt hatte: Sie sind überall. Und bei Gott, er hatte recht gehabt.

Was ihr Auto betraf, musste sie ohnehin in die Wohnung, um nach den Versicherungsunterlagen zu suchen. Sie hatte keine Ahnung, was geschehen war, nachdem sie den Franz-Josephs-Kai verlassen hatte, geschweige denn, wer oder was diesen Vampir-Polizisten abgelenkt und ihr die Flucht ermöglicht hatte. Es hatte sie auf jeden Fall vor Schlimmeren bewahrt.

Der Tag brachte leichten Schneefall und Kälte, die ihr ins Gesicht schnitt, als sie aus der Haustür auf den Innenhof trat. Zu Fuß machte sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Sie hatte sich vor dem Verlassen der Wohnung Make-up und Parfüm von Dora geborgt, damit ihr nicht jeder anmerkte, dass sie kaum geschlafen und in ihren Kleidern übernachtet hatte.

Auf dem Weg zum Bus kam sie an der Stelle vorbei, wo sie den Polizeiwagen verschrottet hatte. Dieser und auch die anderen beschädigten Autos waren verschwunden. Nur einige Bluttropfen auf dem Gehweg deuteten darauf hin, dass alles wirklich passiert war.

Nach einigen Minuten Verspätung hielt ihr Bus. Sophie stieg ein. Sie ließ ihren Blick durch das Innere schweifen. Die meisten Fahrgäste kamen vom Einkaufen oder waren wahrscheinlich auf dem Weg dorthin. Nichts Besonderes und niemand, der sie auf ungewöhnliche Weise beobachtete. Ein Funken Misstrauen blieb dennoch und sie erwischte sich immer wieder, wie sie die Hälse der Fahrgäste nach Malen absuchte. Wunderbar, allmählich nahm sie paranoide Züge an.

Vier Haltestellen später stieg sie aus und lief zu ihrem Wohnhaus am nördlichen Stadtrand Wiens. Ein Neubau, in dessen Dachgeschoss ihre Studiowohnung lag. Arts of Lacoste stand auf einem Schild neben der Eingangtür. Sie begutachtete das Türglas auf der Suche nach Spuren gewaltsamen Eindringens. Aber falls jemand in ihrer Wohnung war, dann hatte er vermutlich alle Spuren beseitigt, wie es mit dem Tatort und dem Polizeiwagen geschehen war.

Auch im Flur war alles sauber. Sophie nahm die Post aus dem Briefkasten, stieg in den Lift und fuhr in die sechste Etage. Obwohl es keine Anzeichen von Eindringlingen gab, hielt sie ihre Hand in der Tasche, tastete nach dem Dolch.

Warum hatte sie in Dominiks Gegenwart nichts von dem Kampf auf dem Friedhof erwähnt? Jetzt ärgerte sie sich. Sie wusste nicht, ob der Dolch überhaupt noch funktionierte. Dominik hätte ihr bestimmt geholfen, die Waffe wieder einsatzfähig zu machen.

Vor der Wohnungstür hielt sie inne und lauschte. Nichts war zu hören, also schloss sie auf und betrat den Flur. Die Jalousien der Dachfenster standen offen, der Schnee hatte die Scheiben nur leicht angezuckert, sodass helles Licht die Räume flutete und ihr etwas Zuversicht schenkte. Sie sah sich um. Alles schien an seinem Platz.

Dennoch war es, als durchsuche sie eine fremde Wohnung. Das heimelige Gefühl vom sicheren Zuhause fehlte. Nach dem ersten, vorsichtigen Auskundschaften der Lage warf sie die Post auf den Tisch und betrat das Schlafzimmer. Sie schlüpfte in eine schwarze Stretchhose und ein graues Langarmshirt, kämmte sich die Haare nach hinten und band sie zu einem straffen Pferdeschwanz.

Der Schein der wiedererlangten Sicherheit in ihren vier Wänden ließ sie darüber nachdenken, ob es Sinn machte, bei Dora einzuziehen und ob ihre Angst nicht nur eine überzogene Reaktion darstellte. Immerhin wartete in ihrem Arbeitszimmer ein Berg unerledigter Projekte und die Auftraggeber würden sich nicht mit einer Geschichte über Vampire abspeisen lassen.

Aber was, wenn der Schein trog? Wenn sie sich durch ihren Trotz in Gefahr brachte? Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken bei dem Gedanken, dass ihr jemand auflauerte. Wenn es kein Vampir war, vielleicht ein Blutwirt. Sie konnten praktisch überall sein und waren nur durch Narben an Hals oder Handgelenk erkennbar, die sie meist gut zu verbergen wussten. Ihr Wissen beruhte auf Büchern und Aufzeichnungen ihres Vaters, die plötzlich einen grausamen Sinn ergaben. Die Gefahr konnte sich ebenso gut hinter einem Postboten verbergen, der bemerkte, dass der Briefkasten geleert war oder ein Nachbar, der sie belauschte.

Gott, sie drehte allmählich wirklich durch.

Bisher hatte sie Glück gehabt, ihre Gegnern unterschätzten sie. Das durfte sie nicht vergessen. In Zukunft würden ihre Feinde vorsichtiger sein, nachdem sie einen ermordet hatte. Körperlich war sie einem Vampir trotz ihres regelmäßigen Kampftrainings und der präparierten Waffe in jeder Hinsicht unterlegen.

Dessen ungeachtet wollte sie sich nicht aus ihrer Wohnung vertreiben lassen, und wenn sie hier wirklich nicht mehr sicher war, dann hatte sie neben Doras Wohnung die Möglichkeit, vorübergehend ins Hauptquartier des Ordens zu ziehen. Wie Dominik bereits gesagt hatte, gehörten die Räumlichkeiten nun ihr.

Egal, wo sie wohnen würde, sie brauchte einen gepackten Koffer, eilte durch die Wohnung und sammelte ihre Lieblingssachen ein. Danach setzte sie sich an den Computer und checkte ihre E-Mails. Sie seufzte in Anbetracht der vielen Nachrichten ihrer Kunden.

Sophie nutzte die nächsten Stunden zum Arbeiten, entwarf einige Designs für eine Firma in England, aber entspannen konnte sie sich nicht. Immer wieder wandte sie den Kopf, als lauere der Feind hinter ihren Schultern.

Gegen vier bereitete sie sich eine leichte Mahlzeit und aß am Schreibtisch. Dabei betrachtete sie die Grafik, die sie entworfen hatte, und gab schließlich auf. Ihre Konzentration reichte nicht, eine gute Arbeit abzuliefern. Ihre Gefühle spiegelten sich in dem Mist, den sie soeben produziert hatte. Die Kunden würden ihr einen Vogel zeigen.

Als sie den Computer ausschaltete, klingelte das Handy. Unbekannte Nummer. Mit einem mulmigen Gefühl nahm sie ab. Vielleicht war es Vermont.

Es meldete sich Kommissar Brom. Sie erinnerte sich an den untersetzten Mann, der ihrer Unterhaltung mit Gerald Vermont stumm beigewohnt hatte.

„Hallo, Frau Lacoste. Ich habe den Obduktionsbericht vorliegen.“

„Ja, ich höre.“ Ihre Knie gaben nach, der Raum begann, sich zu drehen. Jetzt nur nicht schwach werden. Sie atmete tief durch.

„Ihr Vater ist an Herzversagen gestorben.“ Seine Stimme klang emotionslos, als überbringe er eine simple Nachricht nach dem Motto: Das von Ihnen bestellte Buch ist eingetroffen, Sie können es abholen.

„Das ist alles?“, bohrte sie, nachdem er kein Wort über den vermeintlichen Vampir verlor oder dass ihr Vater vielleicht einen Mord begangen hatte.

„Im Augenblick ja.“ Er räusperte sich. „Ihr Vater wird noch heute auf den Zentralfriedhof überstellt.“

„Was ist mit dem anderen Mann?“

„Es tut mir leid. Darüber kann ich keine Auskunft gegeben.“

Okay, er würde ihr nichts weiter sagen, also bedankte sie sich für die Nachricht. Sein Anruf weckte die Erinnerung. Sie hatte sie in den vergangenen Stunden erfolgreich verdrängt, doch nun kam die Trauer zurück, legte sich wie Blei über ihr Inneres. Sie spürte, wie ihr Blut erneut in die Beine sackte und ihr schwindelte. Dabei dachte sie wieder an Vermont und die Ruhe, die sie in seiner Nähe empfunden hatte. Unter die Trauer mischte sich Enttäuschung. Warum hatte er sie nicht selbst angerufen? Wenn Brom ihr die Ergebnisse der Obduktion überbrachte, bedeutete das, dass sich Gerald vielleicht gar nicht mehr bei ihr melden würde.

„Eine Frage hätte ich noch. Ermittelt Kommissar Vermont noch in dem Fall?“

„Weshalb?“ Seine Stimme nahm einen scharfen Ton an.

„Ich wollte ihm nur danken.“

„Ich werde es ihm ausrichten.“

„Vielen Dank, Herr Brom.“ Während des Telefonats war sie zum Fenster geschlendert. Ein verbeulter Polizeiwagen rollte auf der Straße im Schritttempo vorbei.

„Verdammt, sie kommen“, fluchte sie und vergaß, dass sie immer noch Brom am Ohr hatte.

„Wer kommt?“

Der Wagen hielt an, jemand stieg aus und blickte zu ihr hoch. Sie erkannte die Person nicht genau, doch ein Gefühl sagte ihr, dass sie einander bereits kannten.

„Sie haben nicht zufällig einen Polizeiwagen zu mir geschickt?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten.“ Sophie legte auf. Ein zweiter Wagen hielt und weitere Personen stiegen aus, unterhielten sich mit dem Fahrer des Polizeiwagens und blickten anschließend in ihre Richtung. Ihr Herz sprang ihr vor Schreck beinahe aus dem Hals. Verdammt, sie musste raus hier, und zwar sofort.

Sie schlüpfte in Schuhe und Jacke und lief nach draußen in den Gang.

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„Sie ist eine verdammte Vampirmörderin“, wiederholte der Mann immer wieder. Seine Polizeiuniform war dreckig und er stank nach Schweiß und Urin.

Gerald hatte den Vormittag damit verbracht, Pietro Morati zu verhören. Er hatte ihm kein Haar gekrümmt. Auch wenn jedes Wort dieses Kerls Geralds Wut schürte, hatte er lediglich versucht, in seinen Geist einzudringen und mehr über den Angriff auf Sophie zu erfahren. Offenbar hatte Sophie in der vergangenen Nacht eine Begegnung mit einer Vampirin des Morati Clans gehabt, dem auch dieser Kerl angehörte, wie Gerald im Verhör herausgefunden hatte. Die Moratis waren keine Familie mit Stammbaum, sondern ein zusammengewürfelter Haufen krimineller Vampire, meist halbblütiger Abstammung, die überall ihre Finger im Spiel hatten, wenn es darum ging, Gesetze zu brechen. Dabei war es egal, ob es die der Vampire oder der Menschen waren. Sie organisierten Blutorgien, raubten Banken aus, agierten dick im Drogengeschäft und der illegalen Prostitution.

Es war auch kein Clan, der dem Rat angehörte oder den dieser anerkannte. Daher war es nicht möglich, diese Leute zu kontrollieren und zu beobachten. Sie mordeten, tranken Blut, wo und wann es ihnen gefiel und nur ihre Unabhängigkeit hatte es ihnen möglich gemacht, einen Kerl wie den, den er gerade verhörte, in die Polizei einzuschleusen, ohne dass der Rat es erfahren hatte. Allerdings waren sie auch Meister im Spuren verwischen, weshalb ihre Straftaten oft unentdeckt blieben.

Die Vogelfreiheit dieses Clans änderte jedoch nichts daran, dass Sophie eine Vampirin ermordet hatte. Sie war die Tochter eines Jägers und hatte das Jägerhandwerk allem Anschein nach erlernt. Das beruhigte ihn, war sie doch nicht ganz so hilflos, wie er befürchtet hatte. Nichtsdestotrotz war sie in größerer Gefahr, als sie bewältigen konnte, wenn die Moratis hinter ihr her waren.

„Wir reden später weiter, Pietro.“ Er würde Morati dem Rat übergeben und dieser würde ihn verurteilen. Doch bis es so weit war, wollte er aus diesem Ganoven so viele Information herausquetschen wie möglich.

„Irgendwann wirst auch du für deine Verbrechen an den Vampiren bezahlen, Vermont.“ Pietro spuckte auf den Boden. „Meine Brüder und Schwestern werden deine kleine Schlampe finden, egal, wie lange du mich hier festhältst. Sie werden unschöne Dinge mit ihr anstellen.“

Gerald hatte Mühe, sich bei diesen Worten unter Kontrolle zu halten. Seine Zähne knirschten und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Pietros Worte hatten so viel Dampf in ihm aufgestaut, dass er nahe daran war, zu explodieren, was dem Abschaum vor ihm nicht verborgen blieb.

„Los, komm schon. Lass deinen Gefühlen für sie freien Lauf, Mann.“

Niemand würde ihn verurteilen, wenn er einen Vogelfreien hier und jetzt tötete, doch so tief wollte er nicht sinken. Er zwang sich zur Ruhe und wich dem Blick des Kerls nicht aus.

„Du bist so feige wie deine reinblütigen Freunde. Verkriecht euch doch in Löchern aus Angst vor den Menschen.“

Gerald wandte sich um, verließ die Zelle. Dieser Kerl kapierte nichts, war verbohrt und unbelehrbar. Kein Grund, sich aus der Fassung bringen zu lassen. Die geschlossene Tür verschluckte die Hasspredigt des Gefangenen. Gerald bog um eine Ecke und folgte dem Korridor, als ihm Brom über den Weg lief und ein Stück begleitete.

„Ich habe Frau Lacoste über die offizielle Todesursache ihres Vaters in Kenntnis gesetzt.“

„Sie ist wohlauf?“ Gerald spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Erleichterung machte sich breit.

„Ähm, ja“, antworte Brom. „Obwohl sie etwas nervös klang.“

„Wovon redest du?“, fragte Gerald.

Brom zuckte mit den Schultern. „Sie war sehr aufgeregt, redete wirre Dinge von wegen: Sie kommen. Wahrscheinlich ist es der Schock über den Tod ihres Vaters.“

Gerald hielt an. „Hat sie gesagt, wer da kam?“

„Nein.“ Der Ermittler schüttelte den Kopf. „Aber was spielt das für eine Rolle?“

„Hast du irgendetwas gehört?“, bohrte Gerald nach.

Wieder verneinte Brom kopfschüttelnd. „Ich verstehe deine Sorge nicht.“

„Wie es scheint, hat sich Sophie Lacoste die Moratis zu Feinden gemacht.“ Gerald machte kehrt und eilte den Gang zurück zur Tiefgarage.

Brom hatte Mühe, Schritt zu halten. „Du meinst, sie könnte uns zu den Mitgliedern dieses Clans führen?“ rief er ihm hinterher.

Gerald nickte. Brom hatte recht. Diese Möglichkeit hatte er noch nicht in Betracht gezogen. Es gab ihm einen Freibrief, Sophie im Auge zu behalten, ohne das jemand unangenehme Fragen stellen würde. „Ich werde mich in der Gegend umsehen.“

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Brom.

„Danke, im Moment nicht.“ Aber er würde vielleicht noch Hilfe brauchen, wenn der halbe Clan hinter Sophie her war. Als wäre das nicht genug, musste er auch noch herausfinden, was es mit der Assassinen-DNS auf sich hatte, die im Blut ihres Vaters gefunden worden war. Ob er wollte oder nicht: Die Ermittlungen erforderten, dass er in Sophies Nähe blieb, sie beobachtete und beschattete, auch wenn er wusste, dass es ihn um den Verstand bringen würde.

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„Dann statten wir der Lady mal einen Besuch ab“, hallte es durch das Treppenhaus.

Schnelle Schritte näherten sich und die Anzeigetafel über der Lifttür zeigte, wie die Kabine nach unten fuhr. Verdammt. Die Kerle schnitten Sophie die Wege ab. Ihr blieb kaum noch Zeit. In ihrer Etage gab es nur eine Wohnung gegenüber. Die stand seit Monaten leer und war bestimmt abgeschlossen. Gehetzt fiel ihr Blick auf die kleine quadratische Blechtür neben dem Lift, die zu einem Haustechnikschacht führte, in dem Rohre und Kabel verliefen.

Ihr blieb keine andere Wahl. Sie öffnete die Minitür, die sich in Hüfthöhe befand. Warme, stickige Luft strömte ihr aus einem senkrecht abfallenden Schacht entgegen, in dem sich das Licht verlor. Spinnennetze spannten sich über die Ecken des Schachtes. Staub und Schimmel wucherten an den Wänden. Sehr einladend. Aber immer noch besser als ein Date mit dem Schlägertrupp. Wenigstens gab es Metallsprossen, die in die Wand eingelassen waren. Ob sie so stabil waren, wie sie aussahen, würde sich zeigen. Ach, verdammt. Der rasch näherkommende Lärm ließ sie jeden Zweifel vergessen. Sie stieg hinein und schloss die Tür. Keine Sekunde zu früh. Als sie ein Stück nach unten kletterte, hörte sie, wie ihre Verfolger den Gang stürmten.

Für einen Augenblick hielt sie inne. Atmete tief durch. Wenn sie hier lebend rauskam, musste sie Kommissar Brom eine Dankeskarte schicken, denn ohne seinen Anruf hätte sie den Polizeiwagen vielleicht nicht bemerkt. Sie war ihren ungebetenen Besuchern für den Moment entkommen, aber sie wusste, dass sie hier nicht ewig sicher war.

Sprosse für Sprosse arbeitete sie sich im Dunkeln nach unten. Das Rauschen und Zischen der Leitungen war unheimlich und sie spürte den aufsteigenden Luftzug. Hände und Schuhe rutschen über die gebogenen Stahlrohre, als hätte sie jemand mit Öl eingestrichen. Das machte es nicht gerade einfach, hinabzuklettern.

Früher als erwartet erreichte Sophie festen Untergrund. Sie zog den Schlüsselbund aus der Tasche und schaltete die kleine Taschenlampe ein. Das Licht leuchtete den Schacht nur schwach aus, offenbarte ihr die groben Umrisse. Die Senkrechte ging in ein waagrechtes Teilstück über.

Von oben ertönte ein Knall. Einer ihrer Verfolger hatte offenbar die Schachttür aus den Angeln gerissen. Okay, jetzt nur nicht bewegen. Sie konnte ihr Zittern nicht unterdrücken.

Ein Kopf erschien im Schacht. Der Polizist von gestern Nacht. Er blickte zu ihr herunter und sie bemerkte zu spät, dass sie vor Schreck vergessen hatte, den Finger von der Taschenlampe zu nehmen.

„Hier versteckt sich das Mäuschen!“, brüllte der Mann und kletterte in den Schacht.

Verdammter Mist, wie konnte sie nur so dumm sein. Rasch nahm sie den Schlüsselbund in den Mund und krabbelte auf allen vieren den Schacht entlang, getrieben von einem Adrenalinschub, der eisig prickelnd durch ihre Adern schoss.

Plötzlich kippte sie vornüber und ihre Finger griffen ins Leere. Im letzten Moment ergriff sie eine Treppensprosse. Noch mehr Adrenalin schoss durch ihre Glieder, als das Licht der Lampe ein weiteres, senkrecht abfallendes Teilstück offenbarte. Bei Gott, war das knapp.

Ihr blieb keine Zeit, sich von dem Schreck zu erholen. Durch den Schacht hinter ihr hallte das metallische Schlagen der schweren Schritte des Mannes, der rasch näher kam.

„Du entkommst mir nicht!“, drohte ihr Verfolger, und als sie das nächste Querstück erreichte, hatte er bereits aufgeholt.

Sie verschwendete keine Energie damit, zu antworten, sondern durchtauchte einen Vorhang aus Spinnweben, um zu der nächsten Senkrechten zu gelangen. Sie bemerkte nicht sofort, dass die kleine Blechtür zu dieser Etage geöffnet war.

Was zum …?

Kräftige Hände packten sie und rissen sie ruckartig aus dem Schacht. Der Boden flog unter ihren Füßen vorbei und das Nächste, was sie spürte, war die Wand an der gegenüberliegenden Seite in ihrem Rücken. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen. Mit tränenverschwommenem Blick erfasste sie einen in Jeansjacke und -hose gekleideten Mann mit fettigem Haar und fingerlangen Reißzähnen, von denen Speichel troff. Als er nach ihr griff, duckte sie sich unter seinem Arm hindurch und versuchte, davonzukommen. Ein weiterer Schlag riss sie von den Beinen. Sofort war er über ihr. Sie holte aus und trat ihn dorthin, wo es selbst für einen Vampir am Schmerzvollsten war. Ein zweites Mal trat sie zu, mit aller Kraft und gezielt, als wolle sie Holzbretter durchschlagen. Der Mann sackte mit einem Schmerzenslaut zusammen. Schnell kam sie mit Schwung wieder auf die Beine. Der kleine Erfolg verlieh ihr neue Kraft.

Sie rannte zur Treppe, lief die nächsten zwei Stockwerke hinunter, ehe sich der Kerl von dem Tritt erholt hatte und ein weiterer Verfolger von oben herabgestürmt kam. Doch so schnell sie lief, der Kerl von oben war schneller. Er packte sie am Hals, bleckte die Zähne. Nur noch die Reißzähne in seinem Maul waren echt, der Rest war verfault oder durch Goldzähne ersetzt. Eine schneidende Gestankwolke nahm ihr die Luft.

„Nun gehörst du uns.“

Er drückte sie gegen die Wand, bog ihren Kopf zur Seite und fixierte sie mit dem Gewicht seines Körpers. Verzweifelt versuchte sie, gegen seine Kraft anzukämpfen. Er umklammerte sie wie eine stählerne Fessel. Der kurze Moment der Euphorie schlug in Verzweiflung um.

„Lass das, Seth“, befahl der Typ, dem sie die Familienjuwelen zu Brei geschlagen hatte. Er humpelte die Treppe herunter. „Bruce bringt uns um, wenn wir ihr Blut trinken.“

„Bruce kann mich mal.“

Sophie versuchte, sich erneut loszureißen, doch sie konnte sich keinen Millimeter bewegen. Das Licht im Treppenhaus ging an und zwei ihrer Nachbarn blickten zur Tür heraus und schimpften lauthals. Mittlerweile tauchte auch der Blutsklave in Polizeiuniform auf und schickte die Bewohner des Hauses zurück in die Wohnungen.

„Wir bringen sie zum Wagen. Bruce soll entscheiden, wie sie sterben soll“, sagte Fetthaar.

Er stieß die wandelnde Latrine zur Seite, packte Sophie und trieb sie vor sich her, die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. An den Haaren gepackt zerrte er sie zum Wagen.

Das Geräusch eines laut aufheulenden Motors ließ sie aufhorchen und innehalten. Das grelle Licht von Scheinwerfern raste auf sie zu. Latrine und Fetthaar hoben die Hände, um ihre Augen vor dem Licht zu schützen. Der Wagen näherte sich so schnell, dass sie glaubte, er würde nicht anhalten.

Sie hielt die Luft an, bereitete sich auf den Aufprall vor. Die Scheinwerfer kamen näher und näher. Das war das Ende, gleich würde sie ihre Eltern wiedersehen. Sie hatte keine Angst. Die Vorstellung hatte etwas Tröstliches.

Auch die beiden Vampire und der Blutsklave hatten dieselben Schlüsse gezogen. Sie ließen Sophie los und hechteten zur Seite in die Zierbüsche.

Im letzten Moment brach der Wagen aus und kam mit quietschenden Reifen neben Sophie zum Stehen. Die Beifahrertür flog auf.

„Steig ein! Beeilung!“

Ohne zu zögern, sprang sie zu Gerald ins Auto.

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Erst als er Sophie sicher im Wagen wusste, entspannte sich Gerald und löste den unsichtbaren Griff, mit dem er die beiden Vampire am Boden festhielt. Es hatte ihn so viel Kraft gekostet, dass es ihm unmöglich gewesen war, den Wagen zu verlassen, um Sophie zu Hilfe zu eilen. Zum Glück war der Blutsklave von seinem plötzlichen Auftauchen so überrascht, dass er zurückgesprungen war und sich nicht mehr bewegt hatte. Ihn hätte er unmöglich auch noch telekinetisch halten können.

Ein Blick in Sophies Gesicht, das von der rüden Behandlung der Moratis gerötet war, genügte, einen Zorn zu entfachen, der ihm neue Kraft verlieh. Er schaute tief in ihre Augen, strich mit der Hand an ihrem Gesicht vorbei und versetzte sie für ein paar Minuten in einen tranceartigen Schlaf. Er wollte nicht, dass sie die Wahrheit über ihn erfuhr.

Als sie schlafend in den Ledersitz sank, riss er die Tür auf und sprang nach draußen. Die Morati-Schergen waren wieder auf den Beinen.

„Was willst du hier, Vermont?“, fauchte ihn der Langhaarige an.

Gerald hielt sich nicht mit Erklärungen auf. Blitzartig stieß er vor, packte den Arm des Kerls, verdrehte diesen, bis die Knochen brachen und der Bastard wimmernd auf die Knie sank. Seinen Kumpanen, der dem Clanbruder zu Hilfe eilen wollte, beförderte er mit einem Tritt zu Boden.

„Das wirst du bereuen, Vermont!“, brüllte der Kerl, den er niedergeschlagen hatte und mit der Ferse zwischen den Schulterblättern festhielt. „Bruce wird sie jagen, für das, was sie getan hat.“

„Soll er kommen.“ Gerald trat noch fester in den Rücken des Morati-Bruders. Mit der freien Hand rief er Brom an und ihn bat, einen Wagen zu schicken, um die drei abzuholen.

„Euer Rat wird bald Geschichte sein“, fauchte ihn der Langhaarige an.

„Wir werden sehen.“ Gerald ging nicht weiter auf die Sticheleien des Kerls ein, sondern verstärkte seinen Griff.

Kurz darauf erschien Brom mit Clement und Alexandre Montiel, dem dritten Agenten, der permanent in Wien stationiert war.

„Gute Arbeit, Gerald.“ Clement begutachtete die verwahrlosten Bastarde.

Wie Gerald anhand ihrer Duftaura schnell festgestellt hatte, waren die beiden weder rein- noch halbblütig, sondern als Vampire aus dem Leib einer menschlichen Frau geboren worden, als Folge nächtlicher Triebe ihrer vampirischen Väter. Ihre Kräfte waren schwach, ebenso ihr Duft.

„Nehmt die beiden mit und bringt den Typen da drüben in eine der Läuterungskliniken.“ Gerald deutete auf den Polizisten. Er stand wahrscheinlich schon zu lange unter dem Einfluss des Clans und glaubte, einer von ihnen zu sein.

„Was geschieht mit ihr?“, fragte Brom.

Sophies hilfloser Anblick stach Gerold ins Herz. Vor seinen Agenten wollte er sich nicht bloßstellen, daher zuckte er mit den Schultern und sprach mit geübt neutraler Stimme. „Ich werde sie aufwecken und wegbringen.“

Clement packte den Langhaarigen und schob ihn auf die Rückbank des gepanzerten Wagens. „Sie scheint der Schlüssel zum Orden des silbernen Harlekins zu sein und der Draht zu den Moratis. Und wie man sieht, vertraut sie dir.“

„Und sie ist die Tochter eines Jägers“, fügte Gerald hinzu. Er sah sie weiterhin an und dachte daran, wie verkehrt das alles war. Er versuchte, diese Frau zu schützen, die wahrscheinlich keinen Augenblick zögern würde, ihn zu töten, wüsste sie, was er war.

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