Sophie erwachte auf dem Beifahrersitz eines parkenden Autos. Sie erinnerte sich nicht, eingeschlafen zu sein, sondern wusste nur noch, wie sie zu Gerald Vermont in den Wagen gestiegen war.

„Bist du in Ordnung?“, fragte er.

Gerald trug eine schwarze Lederjacke, ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Er saß am Steuer und betrachtete sie mit sorgenvoller Miene. Sophie nickte. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Sie schaute über den Parkplatz hinweg auf ein Fast-Food-Restaurant, das mehrere Straßen von ihrem Wohnblock entfernt lag.

„Die Kerle?“ Mühsam setzte sie sich auf. Die Schmerzen in ihrem Rücken spürte sie erst jetzt richtig, das kleine Präsent ihrer Begegnung mit Fetthaar. Zu allem Übel brannte auch die Schusswunde wie flüssiges Feuer.

„Mach dir keine Sorgen. Du bist erst mal in Sicherheit. Was ist mit deinem Arm?“

„Nicht so schlimm, nur ein Streifschuss.“ Tapfer wie ein Cowgirl biss sie die Zähne aufeinander, als eine Schmerzwelle durch ihren Körper jagte. Sie wollte nicht wegen eines Kratzers und ein paar blauer Flecken herumjammern. Nicht, nachdem er sie vor Schlimmerem bewahrt hatte.

„Die haben auf dich geschossen?“ Ein finsterer Schatten huschte über sein Gesicht, als sie auf den Arm deutete.

„Das war vergangene Nacht … dieser Polizist“, erklärte sie und erzählte, was geschehen war. Sie verschwieg, dass sie den ganzen Tag auf seinen Anruf gehofft hatte. Dass er sich zu der vertrauten Anrede entschlossen hatte, verursachte ein warmes Wattegefühl in ihrem Brustkorb. Die Geschehnisse hatten sie miteinander verbunden. Hoffnung ersetzte die Qual der Einsamkeit in ihrem Herzen.

Albern. Als ob dieser gut aussehende Mann Interesse an ihr hätte.

„Lass mal sehen.“

Er beugte sich zu ihr. Sein Gesicht kam ihr nahe. Er roch himmlisch. Nach edlen Hölzern und einer süßlichen Note exotischer Gewürze. Betörend wie eine Droge wirkte dieser Duft. Bereits nach dem ersten Atemzug sehnte sie sich nach mehr. Sie ertappte sich, in Gedanken die wohlproportionierten Gesichtszüge nachzuziehen, das markante Kinn, die geschwungenen Lippen, die aussahen wie von einem perfekten Pinselstrich gezogen. Seine Augen hatten einen satten Anthrazitton, mit verästelten gelblichen Linien und schmalen, kräftig gezeichneten Augenbrauen. Auf Kinn und Wangen schimmerte ein leichter Bartschatten und die fingerlangen Strähnen seiner dunkelbraunen Haare hingen in sein Gesicht. Er war ein großer Mann, breitschultrig und kräftig, obwohl er nicht vor Muskeln strotzte. Dennoch füllte sein Körper jeden Zentimeter des Anzuges an den richtigen Stellen aus.

Auf seine Aufforderung hin schlüpfte Sophie mit einer Hand aus dem Ärmel des Langarmshirts und schob den Stoff hoch. Das sah gar nicht gut aus und fühlte sich noch weniger gut an. Die Wunde war aufgerissen und blutete durch den Verband.

Er nahm ihren Arm in seine Hände und war so vorsichtig, dass sie glaubte, er fürchtete, sie durch eine unbedachte Bewegung zu zerbrechen. Noch behutsamer löste er den Verband und begutachtete die leuchtend rote Wunde. Sein Mund verzog sich skeptisch und er sah selbst mit diesem Ausdruck noch zum Küssen aus. Sophie hielt die Luft an und erwartete einen viel schlimmeren Schmerz. Doch stattdessen spürte sie, wie Gerald zart mit etwas über den Schnitt wischte, das er zuvor nicht in der Hand hielt. Sie wusste nicht, wie er es hergezaubert hatte. Als sie den Mut fasste, den Blick von seinem Gesicht zu nehmen und hinzusehen, war ihr Arm verbunden. Es war erstaunlich, der Schmerz war nur noch ein ertragbares Ziehen.

„Wie hast du das gemacht?“

„Alter Polizeitrick.“ Er lächelte.

Dieses Lächeln war einmalig. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, das sie schon bei ihrer ersten Begegnung empfunden hatte. Wieder spürte sie diese Vertrautheit, als müsse sie ihn kennen. Sie fühlte sich zu Gerald hingezogen, auf eine Weise, die sie noch nie verspürt hatte und die sie verunsicherte, da sie nichts über ihn wusste außer seinen Namen. Es fiel ihr schwer, nachdem, was in den letzten Stunden passiert war, sich dieser Art Gefühl hinzugeben. Blindes Vertrauen konnte sie sich nicht leisten.

„Wohin darf ich dich bringen?“, fragte er.

„Ich schlafe bei einer Freundin.“

Sie nannte ihm die Straße und Gerald fuhr los. Kurz darauf hielten sie vor der Durchfahrt zum Innenhof.

„Ich denke“, sagte er mit selbstsicherer Stimme und beugte sich in ihre Richtung, „dass du morgen wieder in deiner Wohnung schlafen kannst. Die Kerle werden nicht dorthin zurückkehren.“ Er sah ihr in die Augen und in seinem Blick lag tiefe Überzeugung.

„Du weißt nicht, gegen was wir hier kämpfen.“ Sie war ihm unendlich dankbar, aber sie wollte bei Gott nicht, dass ihn ihre Probleme in Gefahr brachten.

„Ich weiß es.“

Für einen Moment versteinerte sich seine Miene, als sehe er ein Bild vor sich, das ihn bedrückte. Doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt und atmete tief durch.

Seine Antwort verwirrte sie. Was konnte er schon wissen? „Das glaube ich eher nicht.“

„Vertrau mir. Das ist alles, worum ich dich bitte, Sophie.“

„Aber woher …?“ Wer war dieser Mann wirklich?

„Ein andermal. Heute ist zu viel passiert, du brauchst Ruhe.“

Er schüttelte den Kopf und Sophie nahm seine Antwort hin. Nachdem er sie aus den Fängen dieser Teufelsbrut gerettet hatte, musste sie ihm nicht auch noch mit lästigen Fragen auf die Nerven gehen.

„Ich danke dir für deine Hilfe.“ Sie öffnete die Wagentür.

Er verabschiedete sich mit seinem Ladykillerlächeln, und als er in seinem Wagen davonbrauste, überkam Sophie tiefe Wehmut. Sie fragte sich, ob er tatsächlich wusste, wovon sie sprach und ob er vielleicht selbst ein Jäger war.

Nach dem Überfall unternahm sie vorerst keinen neuen Versuch, nach Hause zurückzukehren. Sie brauchte für ein paar Tage das Gefühl von Sicherheit, das ihr Doras Wohnung bot. Sie hoffte, dass sie mit ihrer Anwesenheit ihre Freundin nicht in Gefahr brachte.

Der Sonntag verlief ruhig. Während Dora in der Klinik war und Meike als Kellnerin jobbte, vertrieb sich Sophie die Zeit mit Doras DVD-Sammlung und versuchte, die Ereignisse aufzuarbeiten. Mehr als ein Mal flogen ihre Gedanken zu Gerald Vermont, und immer, wenn er vor ihrem geistigen Auge auftauchte, war es, als sei er wirklich da, lausche ihren unausgesprochenen Worten und spende ihr Trost und Mitgefühl.

Als Dora am Abend vom Dienst nach Hause kam, trug sie Sophies Sporttasche bei sich.

„Warst du bei mir in der Wohnung?“

„Die Tasche stand unten vor der Tür und ich könnte schwören, ich hätte einen silbergrauen Mustang davonfahren sehen.“

Sophies Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken an ihn. Doch warum stellte er die Tasche vor die Tür und klingelte nicht? War ihm ihre Gegenwart unangenehm? Hatte er deshalb Brom vorgeschickt, ihr die Todesursache ihres Vaters zu überbringen? Vielleicht wollte er nur nicht aufdringlich sein.

„Du müsstest dein Gesicht sehen. Als wolltest du jeden Moment losstürmen.“

„Bin ich so leicht durchschaubar?“ Sophie nahm die Tasche an sich. Das jugendliche Schwärmen für Gerald kam ihr beinahe wie Verrat an ihrem Vater vor. Eigentlich sollten ihre Gedanken ihm gehören und der Trauer. Es war nicht richtig, in einem Moment wie diesem romantische Gefühle zu hegen, und doch half es ihr, mit der Flut negativer Erlebnisse umzugehen. Schubweise empfand sie eine furchtbare Leere und einen tiefen, stechenden Schmerz, der kam und verging, ihr die Luft nahm oder wie Feuer in ihrer Brust brannte.

Nach der Ruhe des Vortages begann der Montag umso hektischer. Bereits in den frühen Morgenstunden meldete sich jemand von der Gerichtsmedizin und Sophie ließ sich den Brief per Boten an Doras Adresse zustellen. Die Oberflächlichkeit, mit der die Behörden den Tod ihres Vaters abhandelten, war ernüchternd. Als sei er nur eine Nummer – Stempel drauf und ab unter die Erde. Wahrscheinlich war er das für die zuständigen Leute auch. Arbeit. Tägliche Routine.

Das schlampig ausgefüllte Papier eines Doktor Roth bestätigte, was Kommissar Brom ihr mitgeteilt hatte. Mit dem Totenschein in der Hand führte sie einige Telefongespräche und besorgte sich Formulare aus dem Internet. Meike und Dora, die freihatten, begleiteten sie auf das Amt, wofür Sophie dankbar war. Die Bestätigung der Todesanzeige durch die Behörden brachte die endgültige Gewissheit, dass ihr Vater tot war, vertrieb die letzten Zweifel und die stille Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum war, aus dem sie irgendwann aufwachen würde.

Auf den Weg zu Doras Wohnung brach sie in Tränen aus. Das Gefühl der bleiernen Schwere, das auf ihrer Seele lastete, ließ sie spüren, dass sie ihren Vater trotz aller Konflikte und Unstimmigkeiten geliebt hatte. Sie vermisste ihn.

Umso eifriger ging sie ans Werk, die Beerdigung zu organisieren. Sie schnappte sich das Telefonbuch und suchte nach Bestattungsunternehmen.

Bevor sie einen Anruf getätigt hatte, kam ihr ein übereifriger Unternehmer zuvor. Er stellte sich als Herr Julius vor, vom Bestattungsunternehmen Julius & Co. Sophie wunderte sich, woher er von dem Todesfall wusste. Doch als der Bestatter sich glaubhaft als guter Freund ihres Vaters zu erkennen gab und versprach, sich kostenlos um die Beerdigung und alles andere zu kümmern, verflog ihr Misstrauen. Da ihr Vater kein Vermögen hinterließ und sie ständig in Finanznot, nahm sie das Angebot erleichtert an.

Und so brach ein weiterer schwerer Tag in ihrem Leben an. Sie stand früh auf, duschte und zwang sich, eine Kleinigkeit zu frühstücken, damit sie die Zeremonie irgendwie überstand. Dora war jede Minute für sie da und auch Meike hatte sich freigenommen, um ihr in dieser schweren Stunde beizustehen.

Dennoch fühlte sich Sophie wie der einsamste Mensch der Welt.

So sehr sie ihre Freundinnen schätzte, mit ihrem Vater trug sie das letzte Mitglied ihrer Familie zu Grabe. Ein Vater, zu dem sie, wenn auch begrenzt, Kontakt gehabt hatte. Zwar gab es noch irgendwo eine Tante oder einen Cousin und weitere entfernte Äste des Stammbaums, doch die Verbindungen waren lange abgerissen. Woran die Eigenarten ihres Vaters nicht unschuldig waren. Viele hatten ihn für einen komischen Kauz gehalten. Besonders jene, die wussten, welcher Bestimmung er nachging. Für andere war er ein Stadtstreicher. Seit ihrer eigenen Begegnung mit Vampiren sah sie vieles anders.

„Wie geht es dir?“, fragte Meike, als sie in Doras Wagen stiegen.

„Als müsste ich mich jeden Augenblick übergeben.“ Sie sank auf die Rückbank, schaute aus dem Fenster, um den Blicken ihrer Freundinnen zu entgehen. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und davongerannt. Sie fürchtete sich vor dem Moment am Grab, vor dem letzten und endgültigen Abschied. Das Schlimmste war das Gefühl der Schuld, ihren Vater sein ganzes Leben allein gelassen, ihm nicht geglaubt zu haben. Das konnte sie nun nicht wieder gut machen. Verdammter Mist!

Auf dem Parkplatz des Zentralfriedhofes empfing sie Franz Julius vom Bestattungsinstituts. Der alte, weißhaarige Herr wirkte vertrauenerweckend. Auf den ersten Blick hatte er gute Arbeit geleistet und Sophie war überrascht, wie viele Menschen zur Beerdigung gekommen waren.

„Wie gut kannten Sie meinen Vater?“, fragte sie den Bestatter.

„Vor sehr langer Zeit habe ich für ihn gearbeitet“, sagte Julius mit gedämpfter Stimme und blinzelte. „Wir waren gute Freunde, und als ich aufhörte, für ihn zu arbeiten, half er mir, mein Unternehmen aufzubauen. Das Co. in den Firmierung steht für Ihren Vater.“

„Oh. Das wusste ich nicht.“ Er hatte ein Unternehmen? Wieder eines dieser Dinge, die er ihr verschwiegen hatte. Vielleicht gab es doch einen Nachlass, der nun auch noch geregelt werden musste? Sophie stöhnte innerlich. Welche Überraschungen warteten noch auf sie?

„Seine Anteile werden in Ihren Besitz übergehen“, fügte Julius seiner Erklärung hinzu und beantworte damit ihre Frage.

„Und die vielen Menschen hier? Ich dachte immer, mein Vater sei ein Einzelgänger.“ Sie blickte in zahlreiche Gesichter, zumeist ältere Männer jenseits der Fünfzig, die Grüppchen bildeten und sich mit ernsten Gesichtern unterhielten.

„Das konnte man meinen.“ Julius lächelte. „Aber Ihr Vater war in seinem Gewerbe ein bekannter Mann. Viele suchten seinen Rat. Es ist wie ein Netzwerk, fern des modernen Internets, das er über Jahrzehnte aufgebaut hat und dessen Existenz nur in den engsten Kreisen bekannt ist. Es war schwer, sie zu überzeugen, herzukommen. Für unsere Feinde wäre diese Beerdigung ein willkommenes Fressen.“

Und für Sophie waren Julius Worte schwer zu glauben.

„Ich denke, er hat Sie um Ihrer Sicherheit willen nicht eingeweiht. Seien Sie ihm deswegen bitte nicht böse.“ Er pausierte, beugte sich Sophie entgegen und flüsterte so leise, dass Dora und Meike, die ein paar Schritte abseitsstanden, es nicht verstehen konnten. „Sie müssen wissen, er zweifelte immer daran, ob es der richtige Weg war, Sie zu einer Jägerin auszubilden. Sie haben ihm mit Ihrer Entscheidung, Ihren eigenen Weg zu gehen, vieles erleichtert.“ Julius kratzte sich am Hinterkopf. „Ich weiß noch nicht einmal, ob ich Ihnen alles erzählen soll, aber ich denke, als seine Erbin haben Sie ein Recht darauf.“

„Wie haben Sie von seinem Tod erfahren?“

„Von Wilhelm Wiesenburg.“

„Sie wissen, wo er steckt?“ Seine Worte ließen Sophie für den Moment alles um sie herum vergessen.

Julius nickte.

„Ich muss ihn dringend sprechen.“

„Wegen des Videos, wie ich vermute?“

Julius’ Wissensstand faszinierte und beunruhigte sie zugleich. „Sie sind tatsächlich gut informiert.“

„Wie ich bereits sagte, es ist ein Netzwerk, auch wenn nur mehr ein Bruchteil übrig ist.“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Mit Ihrem Vater ist jemand von uns gegangen, der es verstanden hat, dieses Netzwerk zu einen.“

„Könnten Sie Wilhelm bitten, heute Abend ins Hauptquartier zu kommen?“

„Ich werde ihn in Kenntnis setzen, und wenn Sie wünschen, bitte ich auch Herrn Seewald, Sie anzurufen. Er ist der Anwalt Ihres Vaters.“

„Danke.“ Wenn sie anfangs gezweifelt hatte, war sie nun froh, auf ihn getroffen zu sein und seine Hilfe gab ihr die Hoffnung, mehr über den Tod ihres Vaters zu erfahren als der Obduktionsbericht verriet. Sie glaubte nicht, dass er ein schwaches Herz hatte. Das hatte er nie durchblicken lassen.

„Es ist mir eine Ehre, Ihnen zu helfen.“

In diesem Moment gesellte sich Dominik zu ihnen. „Guten Tag Sophie, hallo Franz. Wie ich sehe, habt Ihr euch bereits kennengelernt.“

Herr Julius nickte, doch sein Lächeln wirkte aufgesetzt. Es schien, als entschwinde mit Dominiks Auftritt die Herzlichkeit aus der Unterhaltung, ersetzt durch formale Etikette. Es sah aus, als wären Dominik und Franz Julius keine Freunde.

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Die Anzahl der am Friedhof versammelten Gesellschaft übertraf Jonathan Firenzes kühnste Erwartungen. Er erkannte viele Gesichter wieder, die er seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte und deren Adressen nachzuforschen nahezu unmöglich war. Es gab keine Aufzeichnungen über die Identität der Jägerorden-Mitglieder, da sie ihr Wirken geheim hielten. Deshalb war er auf Richters Netzwerk angewiesen. Nur dumm, dass dieser alte Spinner ihm jegliche Zusammenarbeit verweigert hatte.

Nun lag es an ihm, die Beerdigung zu nutzen, Richters Kontakte zu den seinen zu machen. Er musste die Jäger nach Venedig locken, um ihnen seine Pläne vorzustellen. Nur so konnte er sie überzeugen, ihm zu folgen. Mit Richters Tod hatte das Netzwerk, zu dem auch sein Orden vor langer Zeit Zugang gehabt hatte, seinen Kopf verloren. Es war Jonathans große Chance, diesen Kopf zu ersetzen.

Die Gesellschaft versammelte sich vor dem Eingang der Kirche. Jonathan mischte sich unter die Trauergäste. An der Spitze stand eine junge, in Schwarz gekleidete, Frau. Groß und schlank, mit schulterlangem, kastanienbraunem Haar. Wie das Holz eines teuren Möbelstücks. Ihre weiblichen Rundungen riefen ein Verlangen in seiner Leistengegend hervor, das im Moment ungelegen kam. Er faltete die Hände vor dem Schoß wie einer der Gläubigen.

Sophies blasses Gesicht wirkte wie weißes Porzellan, zart und zerbrechlich. Je länger er sie betrachtete, desto unbändiger wollte er sie. Das musste Richters Tochter sein.

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Das Gespräch mit Herrn Julius hatte Sophie abgelenkt. Seine Aussage, Vater habe an seiner Motivation gezweifelt, sie zur Jägerin zu machen, nahm ihr eine Last von der Seele. Gott, warum hatte er nie etwas gesagt? Es hätte so vieles geändert.

Ihr wurde schwer ums Herz, als sie an Doras und Meikes Seite die Kirche mit dem aufgebahrten Sarg vor dem Altar betrat. Kränze und Bänder bedeckten den kunstvoll gestalteten Kasten aus Edelholz. Es tat weh. Sie sank auf die Bank, die Stimmen verschmolzen zu einem hallenden Klang. Ihr Blick ruhte auf dem Sarg. So sehr sie sich anstrengte, an einen glücklichen Moment mit ihrem Vater zu denken, sie fand keinen. Sie erinnerte sich nicht mal daran, dass er jemals von Herzen gelacht hätte, weder, als sie ein Kind war noch später.

Während der Priester seine Predigt hielt, versank sie tiefer in ihren Gedanken. Sie dachte an die Beerdigung von Mama, deren Tod. Dann schweiften ihre Erinnerungen zurück in die Schulzeit, ihre Jahre im Gymnasium. Die Tochter des Stadtstreichers hatten manche sie genannt. Sie hatte sich immer eingeredet, dass es ihr egal sei, doch es hatte sie getroffen, sie geprägt. Sie konnte nicht ihr ganzes Leben vor ihrer Vergangenheit davonlaufen. Noch vor ein paar Tagen hatte sie geglaubt, endlich das Leben zu führen, das sie immer gewollt hatte. Vaters Tod ließ sie zweifeln, warf die Frage auf, ob ihre Bestimmung nicht doch darin lag, in den Orden zurückzukehren, um jene zu jagen, die ihre Familie zerstört hatten. War sie dazu überhaupt in der Lage? War sie stark genug?

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Gerald parkte seinen Wagen weit abseits und ging die letzten Meter zu Fuß zur Friedhofsgrenze. Er musste verrückt sein. Am helllichten Tag hierherzukommen, der Beerdigung eines Jägers beizuwohnen, grenzte an Dummheit. Nein, es überschritt diese Grenze mehr als deutlich. Obwohl er sich den Versammelten nicht nähern würde, sondern die Vorgänge vom Zaun aus beobachteten wollte, war ihm bewusst, dass es trotz des langen schwarzen Mantels und der Sonnenbrille einige Leute geben würde, die ihn auf der Stelle erkennen und alles daransetzen würden, ihn zu töten.

Er lehnte sich gegen einen Baum. Der Himmel war bedeckt. Dennoch spürte er, wie das Tageslicht auf seiner Haut brannte, als würde ihm jemand glühende Kohlen ins Gesicht drücken. Es würde einiger Phiolen Blut bedürfen, seine Blödheit zu kurieren.

Die Trauergesellschaft versammelte sich um ein geöffnetes Grab. Sophie stand bleich wie ein Blatt Papier davor. Der Sarg glitt in die Tiefe.

Gerald stand mehrere hundert Meter entfernt und trotzdem nahm er die feinen Nuancen ihres einzigartigen verführerischen Duftes wahr. Wie eine Droge strömte das feine Aroma von wilden Kräutern und Gewürzen durch seinen Körper, erfüllte ihn mit Verlangen und Euphorie, fegte die Leere hinweg und gab seinem Leben wieder Sinn.

Er strich sich über die heiße Stirn. Sein Blick schweifte über die Versammelten. Es waren alte Jäger, Überbleibsel einst mächtiger und reicher Orden. Ein Anruf hätte genügt, um mit Clement und den anderen beiden in Wien stationierten Agenten das Problem der Jägergilden für längere Zeit aus der Welt zu schaffen.

Jedoch widersprach es seinem Ehrenkodex, den heiligen Moment der Trauer vor dem Grab eines Gefallenen auszunutzen. Außerdem konnte er nur schwer abschätzen, welche Aufmerksamkeit ein derart offener Angriff bei Tageslicht erregen würde. Es war ein unkontrollierbares Risiko.

Er studierte die Gesichter der Jäger, rief sich ihre Namen in Erinnerung, und dokumentierte seine Eindrücke mit einem Diktiergerät, um sie später in der Agentur mit den existierenden Aufzeichnungen abzugleichen. Ihm fiel jemand auf, der nicht zu dem Rest der Anwesenden passte. Der Mann, der durch die Gesellschaft schritt und Gespräche mit einzelnen Ordensmeistern führte, war groß, trug einen blonden Kurzhaarschnitt und sein durchtrainierter Körper unterschied ihn auffällig von den alten Männern. Er erinnerte Gerald an jemanden. Vielleicht irrte er sich auch und es war der Sohn oder ein Enkel des Mannes, an den er Gerald dachte. Ein Mitglied des Firenzeordens, jemand, der aussah wie Jonathan Firenze. Allerdings war das unmöglich, denn er war tot. Ebenso wie sein Vater und der Rest des Firenzeordens. Er hatte Jonathan Firenzes Leiche vor mehreren Jahren in einem Leichenschauhaus auf dem Festland Venedigs gesehen, nachdem Romain ihn getötet hatte.

Gerald konzentrierte sich. Er schloss die Augen, alle Sinne darauf gebündelt, in den Geist dieses Mannes einzudringen. Etwas hinderte ihn. Es war wie ein leerer Raum, in den Gerald vordrang. Er erfasste Dunkelheit und das Rauschen eines Sturmes, ehe ihn ein schneidender Schmerz aus Jonathan Firenzes Kopf vertrieb.

Gerald riss die Augen auf, bemerkte, wie Jonathan Firenze einen Augenblick zu lang in seine Richtung starrte, ehe er sich wieder den Gästen zuwandte. Gerald griff sich an die brennenden Schläfen. Was zum Henker war das? Kaum ein Mensch war in der Lage, einen Vampir zu hindern, in den Geist einzudringen. Bei Jonathan Firenze hingegen war es so, als würde ihn etwas davor schützen. Ähnlich verhielt es sich bei Blutsklaven, aber dafür agierte der Mann zu überzeugt und selbstständig. Irgendetwas war hier faul.

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„Sophie, hast du einen Moment?“, fragte Dominik.

Beim Einzug in die Kirche war er kurz verschwunden und nun kam er mit einem großen, blonden Mann im Schlepptau auf sie zu. Sophie nickte und wandte sich vom Grab ab. Herrgott, warum gönnte ihr niemand einen Moment der Ruhe? Nur einen Augenblick. Sie schluckte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte gedacht, am Grab ihres Vaters fast allein zu sein und nicht von einer Menschenmenge umgeben. Auf diese Truppe war sie innerlich nicht eingestellt.

Der Fremde zeigte ein herzförmiges Gesicht mit markanten, durchaus attraktiven Zügen. Volle Lippen, deren Rot sich aus dem blassen Gesicht abhob, eine scharfkantige Nase und blonde Augenbrauen. Sophie schätzte ihn auf Anfang, höchstens Mitte dreißig. Obwohl der Mann, während er sich ihr näherte, auf Freundlichkeit und Mitgefühl bedacht war, wirkte sein Auftreten unsympathisch und gekünstelt.

„Darf ich dir Jonathan Firenze vorstellen?“, fragte Dominik. „Er war ein guter Freund deines Vaters und würde gerne ein paar Worte mit dir wechseln.“

„Natürlich.“ Nicht … hätte sie gern angefügt. Doch wie konnte sie einem guten Freund ihres Vaters das Wort verwehren?

„Mein Beileid.“ Der Mann schüttelte ihr kräftig die Hand.

„Vielen Dank für Ihr Mitgefühl.“ Mit dieser Worthülse und einem Schritt zurück, versuchte sie das Gespräch auf Distanz zu halten. Jonathan schien ihre Signale jedoch nicht zu verstehen. Er trat sogar noch näher und flüsterte in ihr Ohr.

„Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber werden Sie den Orden Ihres Vaters übernehmen?“

Sie wusste nicht, woran es lag, aber alles an diesem Mann wirkte wie eine Fassade. Als sei sein freundliches Gesicht nur aufgemalt und die Haare aus Kunstfasern aufgesetzt. „Diese Frage kann ich Ihnen noch nicht beantworten.“ Sie wich einen weiteren Schritt zurück. „Es gibt im Moment zu viele andere Dinge, die geklärt werden müssen.“

„Natürlich, ich bitte nochmals um Verzeihung“, sagte er mit erneut gedämpfter Stimme. „Es ist nur … sollten Sie sich für das Erbe entscheiden, möchte ich Sie schon bald nach Venedig zu einer Versammlung der Orden einladen. Es wäre mir eine Ehre, die Tochter eines so großen Jägers in meinen bescheidenen Hallen zu empfangen.“

Er griff in eine Tasche, zog eine laminierte Visitenkarte hervor und reichte sie Sophie. Widerwillig nahm sie die Karte an, versuchte, ihre Abneigung zu verbergen. Er gab ihr keinen Grund, unhöflich zu sein.

„Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich möchte mich vor dem Leichenschmaus noch etwas zurückziehen.“

„Natürlich.“ Jonathan verneigte sich wie ein Theaterschauspieler und verschwand mit Dominik in der Menge.

„Komischer Kerl“, flüsterte Julius. Er musste dem Gespräch gelauscht haben und kam näher.

„Kennen Sie ihn?“ Sie beobachtete Jonathan, wie er aus einer Gruppe auftauchte und ihr einen Blick zuwarf.

Julius schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich erinnere mich an seinen Orden. Die Mitglieder waren bei vielen Überfällen auf Vampirhorte federführend. Doch die mächtigen Firenze verschwanden vor etwa zwei, drei Jahrzehnten plötzlich.“

„Er sprach von einer Versammlung der Orden.“

„Ich habe davon gehört. Wie es scheint, versucht er, die Orden in einer Allianz zu einen.“

Interessant. Der Tod ihres Vaters schien einiges zu bewegen hinter den Kulissen.

Den Rest der Zeit nutzte sie, sich von den Gästen zu verabschieden, für ihr Erscheinen zu danken und sie zum Essen in die Gaststätte einzuladen. Julius hatte alles organisiert. Dora und Meike, die während der Beerdigung in den Hintergrund gerückt waren, begleiteten sie.

Als sie sich auf den Weg zum Parkplatz machten, entdeckte sie jemanden in der Nähe des Friedhofszauns, der sie beobachtete. Obwohl sie den Mann nicht erkannte, durchströmte sie ein warmes Gefühl, das die Trauer erträglicher machte. Das konnte nur Gerald sein. Mittlerweile sehnte sie sich so sehr nach seiner Gegenwart, dass es beinahe schmerzte. Wenn er doch nur an sie herantreten würde, ihr die Gelegenheit gäbe, beisammen zu sein und sich näherzukommen. Was stieß ihn an ihr ab, dass er sich nach jeder kurzen Begegnung zurückzog, als hätte er glühende Kohlen angefasst? Vielleicht war sie nicht sein Typ. Sie blickte zu Julius und ihren Freundinnen auf. „Entschuldigt mich kurz.“

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Gerald löste seine telepathische Verbindung zu Sophies Freundin, deren Augen und Ohren er benutzt hatte, Jonathans Gespräch mit Sophie zu belauschen.

Er sah, wie sie auf ihn zukam, und wich hinter den Baum zurück. Er war ein verdammter Idiot. Er spielte mit dem Feuer und hatte zu lange hier gestanden, auch wenn es sich ausgezahlt hatte. Die Information von Jonathan über eine Versammlung der Jägerorden in Venedig war Gold wert. Es bestätigte die Vermutung, dass ihre alten Feinde neue Aktivität aufnahmen und diese Information kam rechtzeitig vor der Ratsversammlung.

„Gerald?“

Sophies Stimme schmeichelte sich weich und wohlklingend in sein Gehör. Verschwinde, brüllte sein Verstand, doch sein Körper bewegte sich keinen Millimeter.

„Bist du es?“

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Er verschwand so schnell, dass Sophie zuerst dachte, sie hätte sich geirrt. Erst als sie den Zaun erreichte, gab sich Gerald zu erkennen.

„Hier drüben.“ Er legte seinen Zeigefinger an die Lippen. In einen langen Mantel gehüllt und unter Brille und Kopfbedeckung verborgen wirkte er fremd. „Verzeih, ich wollte nicht stören.“

„Du störst doch nicht.“

Er nahm die Brille ab, rieb sich die Augen. Sein Blick wirkte müde. „Ich wollte mich überzeugen, dass die Feier sicher ist.“

„Warum gesellst du dich nicht zu uns? Du hast mir das Leben gerettet, bist somit kein Fremder mehr.“ Sie versuchte, mit einem Lächeln überzeugender zu klingen.

„Vielen Dank für die Einladung, aber ich kann nicht. Ich bin im Dienst.“ Er zuckte mit den Schultern und lächelte nun ebenfalls.

„Darf ich dich wenigstens zu einer Tasse Kaffee einladen? Natürlich nur, wenn du möchtest. In den nächsten Tagen vielleicht.“ Was in Gottes Namen machte sie hier? Sie störte ihn nicht nur bei seinen Ermittlungen, sondern lud ihn zu einem privaten Treffen ein. Vielleicht wollte er gar nichts von ihr, vielleicht existierte diese Anziehung nur von ihrer Seite.

„Gern“, antwortete er.

Erleichterung und Freude keimten auf. Einen endlosen Moment versank sie in seinem Blick. Sie hätte stundenlang stehen bleiben und in seine faszinierenden Augen schauen können, aber Dora und Meike warteten. Die beiden beobachteten sie und konnten Gerald nicht sehen. Sie mussten denken, sie sei endgültig übergeschnappt, sprach neuerdings mit Bäumen. „Ich muss leider zurück.“

Er nickte und schenkte ihr einen Blick, der bis in ihre Körperzellen vibrierte. Sehnsuchtsvoll, tief. Ein bisschen flirtete er mit ihr. Doch dann ruckte es in ihm, als sei ihm dies aus Versehen passiert, und er legte den netten, distanzierten Polizistenblick wieder auf.

„Bis später.“ Sie kehrte wehmütig zu ihren Freundinnen zurück. Doch dieser dunkle Tag schien auf einmal von einem Lichtstrahl erhellt zu sein.

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Gäbe es in der Agentur einen Preis für die dümmste Tat des Tages, wäre Gerald der glorreiche Sieger. Mit einem saftigen Fluch auf den Lippen schlug er hart gegen den Baum.

Er hätte ablehnen sollen.

Wie konnte er nur mit ihren Gefühlen spielen, indem er ihr einen Funken Hoffnung gab, dass mehr als nur ein Kaffeeflirt daraus werden konnte. Er hatte gespürt, wie sie auf ihn reagierte, wie sich ihr Puls beschleunigte und die Hitze ihres Verlangens die Kälte der Trauer vertrieb.

Sie fühlte wie er.

Doch hätte sie gewusst, wer er war, hätte sie vermutlich keine Sekunde gezögert, ihm ihren Säuredolch in die Brust zu rammen und in seiner jetzigen Verfassung hätte er sich nicht einmal gewehrt.

Warum quälte er sich, indem er jeden Moment ausnutzte, um in ihrer Nähe zu sein? Mehr als es für seinen Auftrag notwendig war.

Er wartete, bis die Trauergäste abgezogen waren und Sophie in einen Wagen stieg. Dann machte er sich auf den Weg zurück in die Agentur. Er brauchte Blut und vor allem ein paar Stunden Schlaf. Er erinnerte sich kaum, wie lange sein letzter Vampirschlaf zurücklag. Es mussten Wochen sein. Er kam lange ohne Schlaf aus, doch irgendwann kam auch seine Rasse nicht darum herum. Dann verfielen sie für einige Stunden in einen Zustand, aus dem sie kaum zu wecken waren. Vielleicht kam er so wieder auf vernünftige Gedanken. Schlaf reinigte den Geist.

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Das Essen in der kleinen Gaststätte endete am späten Nachmittag. Sophie verabschiedete sich von ihren letzten Gästen und bedankte sich bei Herrn Julius für seine Arbeit.

„Ich werde Wilhelm bitten, ins Hauptquartier zu kommen“, versprach er ihr auf dem Weg zum Wagen.

Dora fuhr sie nach Hause. Sie sehnte sich nach ihrem Bett. Seit ihrem Treffen mit Gerald auf dem Friedhof hatte sie keine Angst mehr, in ihre Wohnung zurückzukehren. Die Ruhe, die sie in seiner Nähe verspürt hatte, schenkte ihr Zuversicht und sie vertraute nun auch seinen Worten aus jener Nacht, in der er sie vor den Vampiren gerettet hatte. Diese Kerle würden nicht zurückkommen. Vielleicht war dieses blinde Vertrauen naiv, dennoch empfand sie so.

Vor dem Wohnhaus war alles ruhig. Die Spuren, die Geralds Wagen im Rasen hinterlassen hatte, waren verschwunden, und als sie nach oben fuhr und ihre Wohnung betrat, fand sie auch hier alles am rechten Platz.

Sophie schloss ab und warf ihre Tasche ins Schlafzimmer. Sie war nur wenige Tage fort gewesen, trotzdem schien es ihr, als seien Wochen vergangen, seit sie ihr kleines Reich fluchtartig verlassen hatte. Es dauerte etwas, bis sie wieder das Gefühl hatte, zu Hause zu sein.

Das Trauergefühl hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, die Eindrücke des Tages überlagerten alles. Sie war erschöpft und ausgeweint, ihre Emotionen wichen einer komfortablen Leere, die sie wie Balsam hinnahm. Abschalten. Nicht mehr denken und grübeln. Das tat gut.

Kurz nach neunzehn Uhr erreichte sie ein Anruf von Herrn Julius. Wilhelm sei mit Video im Gepäck auf dem Weg zum Hauptquartier. Eilends rief sie sich ein Taxi und fuhr hin.

Der Zugang zum Hauptquartier des Jägerordens lag in einem Haus in der Nähe des Burgtheaters. Nur die silberne Figur eines Hofnarren, die unscheinbar im Windfang des Hauseinganges hing, wies darauf hin, was sich hinter dem alten Gemäuer verbarg, das bald ihr gehören würde. Der Gedanke, dies alles hier zu besitzen, erschien ihr noch immer unwirklich. Sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Am liebsten hätte sie das Erbe abgelehnt, um ihr normales Leben weiterzuführen. Doch sie konnte nicht. Allein, daran zu denken, war, als verriete sie ihren Vater. Wenn sie ehrlich war, musste sie gestehen, dass sie dieses Erbe nicht nur seinetwegen annehmen musste. Auch für sich, um die Erinnerungen an einen der Orte, an denen sie aufgewachsen war, zu bewahren und einen Neuanfang zu wagen, indem sie nicht mehr vor ihren Problemen davonrannte. Sie musste endlich beginnen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und sich darüber klar zu werden, was sie wollte. Herausfinden, wo ihr Platz in diesem Leben war. Und falls sie zu der Erkenntnis kam, dass ihre Bestimmung darin lag, Vampire zu jagen, dann war es so und sie würde sich nicht dagegenstellen.

Die Lage des Hauptquartiers auf der Rückseite des prächtigen Burgtheaters war einst dafür verantwortlich, dass sich ihre Eltern gefunden hatten. Ihre Mutter hatte ihr Engagement am Wiener Burgtheater angetreten, als junge, aufstrebende Sängerin und Schauspielerin, deren Talent Kritiker in höchsten Tönen lobten. Die Männerwelt lag ihr zu Füßen und in der High Society Wiens stand sie hoch im Kurs. Sie war eine der begehrtesten Junggesellinnen. Ihre Mutter ließ allerdings alle Bewerber abblitzen und konzentrierte sich ganz auf die Karriere.

Eines Abends, während einer Probe, war ihr ein Mann aufgefallen. Mama hatte ihr erzählt, dass sie manchmal den starren Blick einer Szene nutzte, um ihn zu beobachten. Sein seltsames Erscheinungsbild im langen Ledermantel und mit auffälligem Kalabreserhut wirkte mehr einem Theaterstück entsprungen als dem wahren Leben.

So ging es jeden Tag, bis ihre Mutter ihren Mut zusammennahm und den Mann bat, hervorzutreten und Platz zu nehmen. Mit gerötetem Gesicht folgte er der Aufforderung und entschuldigte sich. Ihr Herz hatte sich längst entschieden. Die Liebe geht ihre eigenen Wege, hatte Mama immer gesagt. Wie wahr.

Sie betrat das Haus, schloss die Tür hinter sich ab und folgte dem Gang bis zum Ende. Die Räume im Erdgeschoss und darüber dienten als Abstellräume und Lagerplatz. Früher, als der Orden noch ein Dutzend Mitglieder gezählt hatte, waren oben die Schlafräume untergebracht.

Obwohl sie mit ihren Eltern in einer Wohnung wenige Straßen entfernt gelebt hatte, hatte sie als Kind viel Zeit hier verbracht. Immer, wenn Mama im Theater gearbeitet hatte, war sie hierhergekommen. Auch jetzt erinnerte sie sich so gut daran, dass es wie ein Film vor ihrem inneren Auge ablief. Vaters Jäger hatten sich oft um sie gekümmert, besonders Dominik, der wie ein Onkel für sie war. Je älter sie wurde, desto distanzierter gestaltete sich ihre Beziehung zu den Jägern und bei dem Gespräch neulich im Schwarzen Topf war Dominik niemand anderes für sie gewesen, als ein freundlicher alter Mann, den sie kannte. Trotzdem überraschte es sie, dass es auch schöne Erinnerungen an diesen Ort gab, die sie verdrängt und vergessen hatte.

Der eigentliche Zugang zum Hauptquartier lag hinter einer scheinbar verputzten Wand, die aus einer Holzfassade bestand. Dahinter verbarg sich ein Treppenabgang, der steil in die Tiefe führte. Die Stufen aus behauenem Stein zwangen sie, sich beim Runterlaufen am schmiedeeisernen Geländer festzuhalten. Die vereinzelten Glühbirnen spendeten nur wenig Licht. Modriger Geruch lag in der Luft. So gruselig dieser Ort war, sie empfand keine Angst. Es war noch immer alles so vertraut.

Der Abgang mündete in einen gemauerten, gewölbeartigen Tunnel, der in ein Labyrinth aus Gängen und Lagerräumen führte. Sophie war das letzte Mal vor mehr als drei Jahren hier gewesen, und obwohl sie jeden Winkel dieses Ortes zu kennen glaubte, verirrte sie sich dennoch und fand die pechgetränkte, beschlagene Holztür erst beim dritten Versuch. Herzklopfen machte sich breit, als unzählige Erinnerungen blitzartig über sie hereinbrachen, ohne dass sie diese greifen konnte. Erst jetzt begriff sie, weshalb sie hergekommen war. Das Blut sackte in ihre Beine, ihr schwindelte und sie stützte sich für einen Augenblick an der Wand ab.

Hinter dem massiven Portal lag der Raum, nach dem sie suchte. Auf dem Holz prangte groß und breit das silberne Wappen des Ordens. Für einen Moment hielt sie inne und dachte daran, wie sie diesen Ort verlassen und sich geschworen hatte, nie mehr zurückzukehren. Nie mehr war in diesem Fall eine relativ kurze Zeit.

Hinter dem Holz vernahm sie die gedämpften Stimmen eines Streits, der verstummte, als sie die Tür öffnete und den runden Saal betrat. Wärme und das Knistern eines Feuers im Kamin empfingen sie, und ohne, dass sie es beeinflussen konnte, erwachte ein Empfinden, als wäre sie nach einer langen Reise heimgekehrt. Verwirrt von diesem Gefühl ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Das Licht des Kristalllüsters an der kuppelförmigen Decke spannte ein Netz aus weißgelben Strahlen über den Saal. Die Wände waren mit Teakholz getäfelt und der Boden mit massivem Parkett bedeckt. Mehrere Türen führten in kleine Ruheräume und Kammern, die zu Glanzzeiten des Ordens den Offizieren vorbehalten waren. Im Versammlungssaal warteten gemütliche, gepolsterte Bänke, massive Tische aus grobschlächtigem Holz. Statuen mit den Gewändern und Waffen legendärer Jäger des Ordens standen reihum. Die Wände schmückten Abzeichen und Urkunden, wertvolle Teppiche und prunkvolle Waffen. Alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte, gemütlich und dennoch vom Hochmut eines ehemals stolzen Ordens geprägt.

Als Kind hatte sie diesen Ort gemocht, seine warme, heimelige Atmosphäre und das geheimnisvolle Labyrinth davor, das viel Platz zum Spielen bot. Spätestens als Teenager begann sie, alles zu verabscheuen. Sie hatte es als Gefängnis empfunden, aus dem sie entfliehen musste, um ein normales Leben zu führen.

„Willkommen daheim“, sagte Dominik, der hinter der Bar stand und ein Bier zapfte.

Wilhelm saß auf einem Barhocker. Das Gesicht des zierlichen alten Mannes, der nur noch dünnen Flaum als Kopfhaar trug, war zorngerötet, entspannte sich aber, als er sie ansah.

„Hallo Sophie.“

Der Klang seiner Stimme war schwach und seine Hände zitterten, während er das Bierglas hob und trank. Er war noch immer der introvertierte komische Kauz aus ihrer Erinnerung.

„Hast du das Video bei dir?“, fragte sie.

Er nickte, stand auf, zog eine DVD aus der Innentasche seines Mantels und wedelte damit.

„Du hattest es die ganze Zeit hier?“ Dominiks Blick verfinsterte sich.

Wilhelm zuckte mit den Schultern. „Sophie sollte es zuerst sehen.“

Dominik schluckte seine Wut mit einem lauten Schnauben hinunter und schaltete den Fernseher ein, der im Barbereich über ihren Köpfen hing.

Okay, sie musste sich erst einmal setzen. Auch wenn sie darauf gedrängt hatte, das Video zu sehen, überkam sie ein eisiger Schauder. Verdammt, sie musste stark sein und diese Aufzeichnungen ansehen. In Gedanken sah sie die Bilder des Tatortes vor sich, ihren Vater tot am Boden liegen. Plötzlich glaubte sie, Geralds Hand auf ihrer Schulter zu spüren, so intensiv, dass sie sich erwischte, wie sie sich umsah, weil sie glaubte, er stünde tatsächlich hinter ihr. Aber auch wenn es nur eine Erinnerung war, gab sie ihr dennoch Kraft. Wer war dieser Mann, dass die wenigen Begegnungen so eine Wirkung auf sie hatten? Sophie seufzte innerlich, um den Wunsch, ihn zu sehen, ihm nahe zu sein, zu verdrängen. Sie musste sich auf die Aufzeichnungen der Kamera konzentrieren.

„Darf ich den Film einlegen oder sollen wir auf den Weihnachtsmann warten?“ Dominik Tonfall klang scharf.

Sophie überhörte die Sticheleien der beiden und ging mit der DVD zum Abspielgerät, ein Modell aus dem letzten Jahrtausend, das schon hier gestanden hatte, als ihre Mutter noch am Leben war.

Rauschen drang durch die Boxen. Auf dem Bildschirm war zunächst nur eine verlassene Gasse zu erkennen, einige Passanten gingen vorbei. Dann sah sie die Jäger. Ihr Vater beauftragte Dominik und Wilhelm, zwei Zugänge der Gasse zu sichern, während er sich verbarg.

Es verstrichen einige Minuten, in denen nichts geschah. Das Bild war wegen des Lichtmangels undeutlich. Sophie hörte den Atem ihres Vaters, der nur unweit des Mikrofons in Deckung gegangen war. Dann erklangen Schritte und die Kamera erfasste einen Mann, der der Dunkelheit entstieg.

„Linus Leclerc“, rief ihr Vater laut und von tiefem Hass erfasst.

„Lange hat mich niemand mehr so genannt.“ Der Fremde bewegte sich nicht von der Stelle. „Woher weißt du, wer ich bin?“

Vater trat aus dem Schatten, der ihn ohnehin nicht vor den Augen eines Vampirs verbarg.

„Ich kann deine Angst riechen, Mensch.“ Leclercs Fänge waren trotz des spärlichen Lichts zu erkennen.

„Du irrst dich, Parasit“, antwortete Vater. „Ich fühle nur Hass.“

„Welchen Grund hast du schon, mich zu hassen.“

„Du bist der Mörder meiner Frau.“

„Ach.“ Der Vampir schüttelte den Kopf. „Ich bin der Mörder vieler Frauen.“ Er grinste breit. „Du langweilst mich, alter Mann.“

Die Bestie wandte sich um und machte zwei Schritte. Sophie sah das Gesicht von der Seite und erahnte an der Miene, dass der Vampir bluffte.

„Altes Blut ist widerwärtig … aber was soll’s.“

Mit diesen Worten schwang Leclerc herum. Sein Körper verschwamm zu einem grauen Streifen, als er sich schneller, als die Kamera erfasste, auf ihren Vater stürzte. Der hatte anscheinend darauf gewartet und wich zur Seite, mit einer Schnelligkeit, die sie ihm nicht mehr zugetraut hätte. Überhaupt wirkte er wie verjüngt. Obwohl sein Äußeres noch das eines alten Mannes war, bewegte er sich kaum langsamer als sein Gegenspieler. Eine neue Überraschung. Wie konnte das sein? Der Vampir schoss an seinem Ziel vorbei, raste ungewollt komisch gegen eine Hauswand und blickte ungläubig über die Schulter.

Sophie war keine Spezialistin darin, Mimik zu deuten. Aber sie hatte das Gefühl, als glaubte ihr Vater selbst nicht recht, was da gerade passiert war.

Wieder schoss der Vampir in seine Richtung und wieder reagierte ihr Vater mit derselben Schnelligkeit.

Noch bevor der Vampir sein neuerliches Versagen begriff, hielt ihr Vater eine Waffe in der Hand und feuerte das Magazin ab. Dumpf schlugen die Kugeln in den Körper des Vampirs und setzten ihren tödlichen Inhalt frei. Linus Leclerc wankte, während die Säure seinen Rücken zerfraß.

„Meine Frau starb vor zehn Jahren auf der Bühne des Burgtheaters, von dir ermordet, Leclerc.“

Der Vampir schien nicht mehr zu hören, was ihr Vater sagte. Er taumelte noch wenige Schritte, dann kippte er nach vorn und schlug auf dem Asphalt auf.

Vater sank erschöpft zusammen. Seine Anspannung schien von ihm abzufallen. Mein Gott, als ob die Lebensgeister ihn verlassen hätten, jetzt, da er seine Frau gerächt hatte. Hatte sie seine Liebe zu Mama unterschätzt? Konnten die Liebe und der Trieb nach Rache so etwas in einem Menschen auslösen? Sie glaubte, ihren Vater gekannt zu haben, aber nun sah sie ihn in einem völlig anderen Licht. Er war kein Verrückter, der abends in ein Kostüm kletterte, sondern das, was er ihr sein ganzes Leben lang versucht hatte, zu erklären. Ein Jäger, der nach dem jagte, woran die meisten Menschen nicht mehr glaubten.

Es blieb keine Zeit, nachzudenken, denn nun erschien ein weiterer Mann, groß, mit kahl geschorenem Kopf. Sie erschrak, als sie das Gesicht erkannte. Es war einer der Männer, die an jenem Abend am Tatort waren. Ihr Vater wankte plötzlich. Das Glänzen auf seiner Stirn deutete sie als Schweiß. Er atmete schwer und bewegte sich nicht von der Stelle.

„Bleib, wo du bist, Richter“, rief ihm der Neuankömmling zu.

Er hob die Hand, bedeutete ihrem Vater, sich nicht zu bewegen. Im Hintergrund ertönten Sirenen. Er ging auf die Leiche des Vampirs zu, schüttelte den Kopf und blickte anschließend über die Schulter.

„Die Arbeit eines Meisters, wie man sieht.“

Ihr Vater hob die Pistole.

„Lass das“, sagte der Fremde in scharfem Ton.

Er senkte seine Hand und Sophie erkannte nicht, was geschehen war. Von einer Sekunde auf die nächste sackte ihr Vater zusammen.

An dieser Stelle verschwamm die Aufnahme zu einem Rauschen und dem Geheul verzerrter Stimmen. Das Batteriesymbol blinkte und schließlich erlosch das Bild.

Stille legte sich über den Raum. Schließlich musste sie irgendetwas tun, also stand sie auf und schaltete das Video erneut ein. Sie konnte sich weder erklären, warum ihr Vater solche Bewegungen vollführte noch was in dem Moment geschehen war, als dieser Mann erschien. Wer war er wirklich und in welcher Beziehung stand er zu Gerald? Sie suchte im Blick der beiden Jäger nach einer Antwort oder irgendeinem Zeichen. Dominik wich ihr aus, trank sein Bier, während Wilhelm durch sie hindurchstarrte.

Sie beschloss, das Video ein drittes Mal anzuschauen und stoppte an der Stelle des Kampfes, als ihr Vater zusammengebrochen war. Doch sie erkannte beim besten Willen nichts. Ein Gefühl sagte ihr, dass ihr Vater nicht an Herzversagen gestorben war. Furchtbare Wut überkam sie. Eine Wut auf sich, dass sie die Todesursache einfach so hingenommen hatte. Doch verdammt, woher sollte sie es auch wissen und was hätte sie zum Zeitpunkt des Anrufs schon sagen sollen. Nein, sie liegen falsch, mein Vater wurde ermordet? War das tatsächlich der Fall? Sie konnte es selbst nach dem dritten Durchlauf des Videos nicht sicher sagen. Nur dieser Glatzkopf wusste diese Frage zu beantworten. Er war der Letzte, der Vater lebendig gesehen hatte und seiner Handbewegung zufolge, die nach Telepathie oder einer Art Gedankenkontrolle ausgesehen hatte, war er kein Mensch.

Die Wut schlug in Schmerz um. Sie erinnerte sich, auf welch mysteriöse Weise sie ihre Mutter verloren hatte. Sie wollte nicht, dass auch der Tod ihres Vaters ungeklärt blieb, solange sie nicht zumindest alles versucht hatte, die Wahrheit herauszufinden. Sie war es ihm und sich schuldig und wusste, was zu tun war. Zuallererst musste sie an die Akten der Gerichtsmedizin kommen und dann verdammt noch mal diesen Glatzkopf finden.

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Das alte, zu einem kolossalen Sitzungssaal umgebaute Pariser Kino, das dem Rat als Versammlungsort diente, war beinahe bis auf den letzten Platz gefüllt.

Fahles Licht hüllte den fensterlosen Raum ein. Hitze und der Geruch von Körperausdünstungen aufgrund schlechter Hygiene und dick aufgetragenem Parfüm lagen schwer in der Luft.

Gerald und André nahmen hinter einem langen Tisch auf der ehemaligen Theaterbühne Platz, an dem bereits die sechs restlichen Mitglieder des inneren Rates saßen. Lautes Stimmengewirr umgab sie.

Mathis Leclerc, der zu Geralds rechter Hand saß, begrüßte ihn mit verhaltenem Nicken. Der Franzose mit dem schwarzen Lockenhaar wirkte blass und mitgenommen. Nach dem Besuch in Wien, bei dem Gerald die schwere Aufgabe zuteilgeworden war, Mathis zu Linus zu führen, hatte Gerald nichts mehr von ihm gehört.

„Wie geht es dir?“, fragte Gerald.

„Ich lebe“, antwortete Leclerc. „Gibt es Neuigkeiten, wo der Rest meines Bruders abgeblieben ist?“

„Nein.“ Gerald tauschte einen Blick mit Alyssa Blackrose, der Vampirlady aus New York, die wieder mal fantastisch aussah, wie dem Bild eines Künstlers entstiegen.

Javier Alfaro und Thomas Sinclair begrüßten ihn ebenso mit Kopfnicken wie Alessandro De Angelis und Lucia Luego.

Nachdem er dem inneren Rat seine Aufwartung gemacht hatte, schweifte sein Blick durch den Saal, der von der Bühne aus anstieg. Die vorderen Reihen, deren Plätze für jene Clans reserviert waren, die ein Mitbestimmungsrecht im Rat besaßen, waren alle besetzt. Neben den Clanoberhäuptern waren viele weitere, höhere Mitglieder einzelner Familien zu der Versammlung erschienen. Nur in den oberen Reihen, die Familien in Anspruch nahmen, welche sich die Aufnahme in den Rat noch nicht verdient hatten und nur vor der Versammlung sprechen, aber nicht entscheiden durften, befanden sich einige freie Plätze. Unter anderem der von Zacharias. Seit seinem Ausscheiden war kein weiteres Mitglied der Grey-Familie nachgerückt. Dadurch bestätigte sich Geralds Theorie, dass es außer Zacharias keinen Vertreter dieses Clans mehr gab. Mit einem inneren Seufzer stellte er fest, dass es bald um den Vermont-Clan ähnlich stehen konnte.

Wie immer prägten die Versammlung im Vorfeld Gehässigkeiten und kleine Konflikte unter den Clans. Gerald lauschte den Gesprächen über Verletzungen des Territoriums oder die Auslegung einzelner Gesetze des Rates. Obwohl es das übliche Hick-hack verkörperte, herrschte besonders in den oberen Reihen ungewohnte Unruhe.

Nach einer Weile erhob sich André Barov und bat um Ruhe. Er verlas die Agenda, die sich vor allem mit den Jägeraktivitäten sowie den Gerüchten um die Ratsspaltung und die Situation innerhalb der Sicherheitsagentur beschäftigte.

„Gibt es Einwände?“, fragte André in die Runde.

In der hintersten Reihe erhob sich eine Gruppe von vierzehn Clanführern. „Wir möchten sprechen“, ergriff einer das Wort. Ein junger Vampir, den Gerald nur flüchtig kannte.

„Wie ist Euer Name?“, fragte André.

„Felicias Tree“, antwortete der junge Mann mit selbstsicherer Stimme in perfektem Englisch.

„Was begehrt Ihr, Felicias Tree?“

„Wie Ihr bereits verlesen habt, wertes Ratsoberhaupt, sind wir hier, um unseren Rückzug aus dem Rat und seiner Gesetzesgewalt zu verkünden. Wir möchten Eure Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen und erbitten, diesen Punkt hier und jetzt abzuhandeln.“

In seinem Blick lag das Funkeln einer Überzeugung, die er hier und jetzt durchsetzen wollte. Seinen Worten folgte ein wirres Stimmenorchester.

„Ich bitte um Ruhe! Wovon redet Ihr, Felicias Tree? Der Rat wurde geschaffen, um das Volk der Vampire vor dem Untergang zu bewahren.“

„Dieser Rat ist eine Farce, geschaffen von Reinblütern, um Eure Clans auf ein Podest zu heben. Eure Heuchelei stinkt zum Himmel, André Barov. Wir haben es satt, uns in Löchern zu verstecken und zitternd vor dem zu fliehen, was unsere Nahrung sein sollte.“

Gerald schielte zu André, der keine Regung zeigte.

„Ihr habt keine Ahnung, wovon Ihr sprecht“, konterte André. „Habt Ihr jemals gegen einen Jäger gekämpft, Felicias Tree? Sagt, habt Ihr?“

„Meint Ihr diese alten, weißhaarigen Männer?“ Die Frage kam von einer Frau in schwarzer Lederkleidung, die neben Tree stand. „Erspart Euch diese Märchen, Barov. Zacharias hat uns die Augen geöffnet.“

„Zacharias ist tot. Er war ein verrückter, alter Mann“, kam Mathis Leclerc André zu Hilfe. „Und um es Euch vor Augen zu führen: Diese alten Männer haben vor wenigen Tagen meinen Bruder Linus getötet.“

„Sprecht Ihr von dem Bruder, den Ihr verstoßen habt?“ Felicias Trees Blick strahlte Überheblichkeit aus.

Mathis Leclerc sprang auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Haltet Eure Zunge im Zaum.“

„Schon gut, Mathis“, versuchte Gerald, zu besänftigen. „Begebt Euch nicht auf deren Niveau.“

„Ach, der Chef des Sicherheitsrates erteilt uns eine Lehre in Sachen Niveau.“ Tree spuckte zu Boden. „Dabei wart Ihr es doch, der mehrere Mitglieder des Morati-Clans in den Kerker stecken ließ, weil sie sich an einer Jägerin rächen wollten. Jener Jägerin, deren Vater Linus Leclerc ermordet hat.“

Gerald lief es bei diesen Worten eiskalt über den Rücken. Noch ehe er ein Wort sagen konnte, erhob André wieder die Stimme.

„Ich gab Gerald den Auftrag, die Frau und diesen Orden zu beobachten.“

„Ihr lügt, Barov. Ihr lügt zum Schutz Eures Freundes, weil er wie Ihr die Gesetze des Rates bricht und einer Menschenfrau hinterherstelzt“, bohrte Tree nach.

Seine Worte sorgten für zunehmende Unruhe, die Andrés Aufforderungen nicht mehr besänftigten.

„Das sind schwere Anschuldigungen, Felicias Tree.“

„Ich sage nur die Wahrheit, Blutprinz.“ Seine Verbündeten stimmten ihm zu. „Wir haben unsere Entscheidung getroffen, diesen Rat zu verlassen. Zusammen mit weiteren Clans, die ihr geächtet und verstoßen habt, werden wir eine freie Liga gründen und unseren eigenen Gesetzen folgen.“

„Ist das Eurer letztes Wort, Felicias Tree?“, fragte André und Gerald spürte an der Hitze, die André ausstrahlte, dass er vor Wut kochte.

„Ja, André Barov. Das ist alles, was es zu sagen gibt. Wir werden uns jetzt verabschieden.“

„Nun denn, aber seid gewarnt: Wenn Ihr Euch gegen unsere Gesetze stellt, riskiert Ihr einen Krieg“, drohte André.

Er erntete ein Lachen. „Ihr habt nichts verstanden, Blutprinz. Die Vampire unserer Orden werden frei sein.“ Damit wandte er sich um und verließ mitsamt seinem Gefolge den Raum.

„Wollen wir sie gehen lassen?“, schallte es aus den Reihen.

„Für heute schon“, antwortete André. „Wir sind keine Mörder. Doch wir werden Sie beobachten.“

Gerald ahnte, wie schwer die Last auf Andrés Schultern lag und er sich dennoch standhaft wie der Fürst, der er noch immer im Herzen war, dagegenstemmte. Trees Verkündung stürzte den Rat in eine noch größere Krise als Zacharias es getan hatte. Umso wichtiger war es, die verbliebenen Clans um Hilfe zu bitten, die Agentur zu stärken. Nur so konnten sie die Interessen des Rates wahren, ohne dass Chaos und Verderben über sie hereinbrachen.

Gerald sank in seinen Stuhl und schloss die Augen. Er dachte an Sophie und der Gedanke spendete Hoffnung und Euphorie. Verdammt noch mal. Er musste dagegen ankämpfen und wenn es bedeutete, dass er sich wieder für Wochen in die Trainingshalle verkroch, bis der körperliche Schmerz jedes Gefühl vertrieb. Er durfte nicht nachgeben und doch verlangte sein Herz nach nichts mehr, als bei ihr zu sein.

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Es war ein Uhr morgens, als Sophie den Fernseher endlich ausschaltete. Sie hatte die Aufzeichnung nun mehrere Dutzend Male angesehen, ohne dass es sie einen Schritt voranbrachte. Es war immer noch verwirrend.

Dominik war unterdessen am Tresen eingeschlafen, laut schnarchend mit dem Kopf auf den Armen. Wilhelm hatte es sich auf einer Bank hinter ihr bequem gemacht. Sie fragte sich, was ohne Führung aus den beiden werden würde.

Es war inzwischen zu spät, in ihre Wohnung zurückzukehren, also beschloss sie, die Nacht in ihrem ehemaligen Zimmer im Hauptquartier zu verbringen.

Der Ruheraum war noch so, wie sie ihn verlassen hatte. Eine kleine Kammer, keine zehn Quadratmeter groß. Sie enthielt ein altes Metallrohrbett, einen Schreibtisch und einen Schrank, in dem noch immer die Jägerkluft hing, die sie von ihrem Vater zum achtzehnten Geburtstag bekommen, aber nie getragen hatte. Die Luft im Raum roch muffig. Das Hauptquartier war im Gegensatz zur Tunnelanlage, die es mit der Oberfläche verband, mit einer Lüftungsanlage ausgestattet, welche die Räume vor Feuchtigkeit und Schimmel bewahrte. Nur hatte sich jahrelang niemand die Mühe gemacht, den Filter in dieser Kammer zu reinigen.

Auf dem Bett lag eine kratzige Decke aus alten Militärbeständen, die für die Nacht genügen musste. Sie schloss die Tür. Sophie vertraute Wilhelm nicht. Zwar war er schon immer ein komischer Vogel gewesen, aber sein Verhalten war anders, noch nervöser und introvertierter, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Sie legte sich auf das Bett. Die Matratze war zu weich und Sophie versank darin, bis ihr Rücken auf dem harten Lattenrost lag. Auf die Decke verzichtete sie vorerst. Es war warm genug, ohne den sandpapierartigen Wollstoff auszukommen.

Mit verschränkten Armen starrte sie an die Holzdecke. Es war, als hätte sie diesen Ort nie verlassen. Nach Mutters Tod hatte sie viele Nächte in dieser Kammer verbracht, weil sie es in der Wohnung nicht aushielt.

Ihr Blick schweifte durch den Raum. Im Schrank, dessen Türen offen standen, hingen die schwarze Lederhose, das weiße, altmodische Hemd und das mit Stickereien verzierte schwarze Top. Ein Mantel aus demselben schwarzen Leder und ein Gürtel, an dem eine Scheide befestigt war. Darin steckte ein Dolch. Das Halfter für die Schusswaffe war leer.

Als Vater ihr die Montur geschenkt hatte, glänzten seine Augen vor Stolz. Sie hasste ihn dafür. Damals zweifelte sie nicht daran, dass er davon träumte, sie würde irgendwann seinen Platz einnehmen.

Seit dem Gespräch mit Herrn Julius wusste Sophie, sie hatte sich geirrt. Zwar hatte er damit auch ihre Selbstvorwürfe entkräftet, zugleich aber auch die ersten Zweifel hervorgerufen, ob ihr Lebenswandel der Weg war, den zu gehen sie sich immer gewünscht hatte. Der nicht nur jugendlichem Trotz entsprungen. Sie dachte an das seltsame Gefühl, heimgekommen zu sein. Nie zuvor hatte sie Ähnliches für diese Räume verspürt.

Jetzt, da sie die Ermordung ihres Vaters mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte sie nicht einfach in ihr altes Leben zurückkehren. So tun, als sei nichts geschehen, als gäbe es keine Vampire, die mordend durch die Straßen Wiens zogen. Hatte sie nicht die Pflicht, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten?

Als sie erwachte, erahnte sie anhand des tosenden Lärms, dass es Tag war. Über ihr donnerte die U-Bahn nahe dem Hauptquartier vorbei. Sie stieg aus dem Bett. Ihr Rücken schmerzte und in ihrem Kopf hämmerte es gegen die Schläfen.

Als sie zurück in den Saal ging, waren Dominik und Wilhelm verschwunden. Zuerst dachte sie, die beiden hätten sich in ihre Kammern zurückgezogen, doch die Türen standen offen und der Blick auf die Betten offenbarte das Gegenteil.

An der Bar schaltete sie die Kaffeemaschine ein, schüttete die letzten Bohnen aus einer zerknautschten Packung in den Mahltrichter.

Der Kaffee schmeckte, wie die Packung aussah. Sophie trank ihn dennoch, schwarz und ohne Zucker. Die Bar wirkte verwahrlost. Den Kühlschrank öffnete sie nur für eine Sekunde, denn der Gestank, der daraus entwich, nahm ihr die Luft zum Atmen. Nicht anders erging es ihr mit den Vorratsschränken, in denen früher immer Knabbergebäck und Naschzeug gelegen hatten.

Sie blieb bei Kaffee, würgte ihn in kleinen Schlucken hinunter. Dabei fiel ihr Blick auf den DVD-Player. Die Lade stand offen und die DVD war verschwunden. Sie suchte alles ab. Wilhelm musste sie wieder mitgenommen haben. Die Kunststoffhülle hatte er liegen lassen.

Sie ärgerte sich und würde Wilhelm darauf ansprechen. Wenn er nicht mehr auftauchte, musste sie Herrn Julius bitten, ihr zu helfen.

Nach dem Kaffeefrühstück nutzte sie die Zeit für eine Katzenwäsche im Waschraum. Obwohl sie die Nacht in ihrer Kleidung geschlafen hatte und sich schmuddelig fühlte, sah sie davon ab, sich in dem verdreckten Raum eine Fußpilzinfektion zu holen. Für ihren nächsten Besuch im Quartier nahm sie sich vor, Putzzeug mitzunehmen, um die Räume wieder bewohnbar zu machen. Sie war nicht pingelig, aber dieses Chaos hier war zu viel. Sie wunderte sich, dass ihr Vater das Quartier nicht besser gepflegt hatte. In ihrer Erinnerung war er ein Reinheitsfanatiker gewesen, bei dem alles seine Ordnung und seinen Platz hatte.

Sie nahm sich die Zeit, die restlichen Räume des Quartiers zu begutachten. Die Waffenkammer war gut bestückt und ausgestattet mit diversen Schränken, einem Laborbereich mit Reagenzgläsern, in denen die diversen Säuren für die Füllungen der Waffen lagerten.

Ein Raum war zu einem massiven Kerker mit stahlvertäfelten Wänden, codierten Spezialschlössern und verglastem Beobachtungsbereich umgebaut, der selbst den mächtigsten Vampir im Zaum hielt. Wozu dieser Raum gut war, konnte sie sich nicht erklären, da ein Jäger einen Vampir für gewöhnlich tötete und nicht gefangen nahm.

Abschließend wagte sie einen erneuten Blick in die Räume von Dominik und Wilhelm. Letzterer war penibel aufgeräumt, mit einer einzigen, störenden Ausnahme. Auf dem Schreibtisch lag ein abgerissenes Stück Papier, das so sehr aus der Ordnung des Raumes stach, dass es ihre Neugierde weckte. Es war nicht ihre Art, in fremden Sachen herumzustöbern, dennoch warf sie einen Blick auf den Tisch. Auf dem Papier stand eine unleserliche Notiz, darunter der Name Jonathan und eine Telefonnummer. Was hatte Wilhelm mit diesem Jonathan zu schaffen?

Sie ließ das Stück Papier auf dem Tisch liegen. Die Nummer des venezianischen Jägers hatte sie ohnehin in Form einer schlecht gemachten Visitenkarte.

Sie kehrte zurück und betrat das Zimmer ihres Vaters. Ein Raum, der sich von den anderen darin unterschied, dass er wesentlich größer und nobler eingerichtet war, mit edlen Möbeln, einem Sekretär und zahlreichen Bücherregalen, handgeknüpften Teppichen an Boden und Wänden. Und seine Trophäensammlung, vor der sie sich bereits als Kind gefürchtet hatte. Auch jetzt fand sie das halbe Dutzend Köpfe, von denen zwei ausgestopft und der Rest aus ausgekochten Schädelknochen bestand, ekelhaft. Obwohl es die Köpfe und Schädel von bestialischen Vampiren waren, mit weit herausragenden Reißzähnen, hielt sie es schon immer für falsch, einen Sieg auf derartig erniedrigende Weise zur Schau zu stellen. Unzählige Male hatte sie mit ihrem Vater darüber gestritten.

Ihr Ziel war der Sekretär. Darauf lagen Rechnungen und Briefe. Sie tastete über das kunstvolle Relief des Tischbeines, bis sie den kleinen, als Perle getarnten Schalter fand. Er öffnete mit leisem Klicken ein unter einem Wappen verborgenes Fach. Ihr Vater hatte es ihr gezeigt. Und sie wusste, dass sie im Falle seines Todes hineinschauen sollte.

In der schmalen Lade lag ein versiegeltes Testament, eine Versicherungspolice, diverse Besitzurkunden, Bankunterlagen und Vaters Tagebuch. Ihr blieb die Luft weg. Ihr war, als würde sie in ein fremdes Haus einbrechen. Sie betrachtete die Papiere und staunte nicht schlecht. Er besaß Beteiligungen an mehreren Gesellschaften, Aktienpakete, mehrere Häuser in Wien. Hinzu kamen eine Lebensversicherung auf ihren Namen und das Testament, von dem sie nicht wusste, was darin stand.

Am meisten Respekt hatte sie vor Vaters Tagebuch. Es dauerte einen Augenblick, bis sie den Mut aufbrachte, es zu öffnen. Sie nahm sich vor, es irgendwann vollständig zu lesen, nun aber interessierten sie vor allem die Einträge der letzten Wochen. Viel hatte er nicht geschrieben und auch nur in unregelmäßigen Abständen.

Ein Eintrag stach ihr ins Auge. Er stammte vom elften Dezember 2007, einem Monat vor Mutters zehntem Todestag. Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Sekretär und begann zu lesen.

Ein weiterer Todestag meiner geliebten Frau naht und endlich scheint es, als hätte ich ihren Mörder gefunden. Es hat beinahe zehn Jahre gedauert, nach ihm zu suchen, doch nun werde ich Rache üben für den Schmerz, der in meinem Herzen brennt.

Ich habe das Gefängnis in der Zwischenzeit umgebaut und dafür gesorgt, dass keiner dieser Bestien dem Raum entfliehen kann. Er soll nicht sofort sterben, nein, sondern eine ganz besondere Trophäe an meiner Wand werden, die Letzte wohlgemerkt. Ja, er soll büßen, ich werde ihn quälen und beobachten, wie er langsam dem Blutdurst erliegt.

Eiskalt lief es ihr über den Rücken. Sie las die Zeilen noch einmal, spürte seinen Zorn und fragte sich, weshalb er den Vampir getötet hatte, wenn er ihn doch einsperren wollte. Sie sprang zum nächsten Eintrag, vom 24. Dezember 2007.

Es sind Tage wie diese, an denen ich meine Anais am meisten vermisse. Ich möchte am liebsten sterben, mich von dieser Qual befreien. Doch ich habe noch eine Aufgabe, eine letzte Jagd, die ich meiner geliebten Tochter schulde. Ich habe sie durch meinen Wahn aus meinen Leben getrieben. Sie hält mich für einen Verrückten und ich kann es ihr nicht verübeln.

Sie atmete tief durch, schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und kämpfte gegen die Tränen an. Bei Gott, er hatte tatsächlich geglaubt, ihr etwas zu schulden. Schließlich las sie den letzten Absatz, vom 3. Januar 2008.

Die Falle ist gelegt. Nun muss ich dafür sorgen, dass sie zuschnappt. Wie es scheint, verfällt gerade jetzt die Welt um mich herum in Wahnsinn. Wilhelm ist seit Tagen verändert, noch zurückhaltender als sonst und da ist auch noch dieser Jäger aus Venedig, Jonathan Firenze. Ich traue ihm nicht.

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„Kommen Sie.“ Der junge Mann führte Jonathan durch einen Kreuzgang, bis sie an eine Tür gelangten. „Er wird sie empfangen.“

„Ich danke Ihnen.“ Jonathan verneigte sich, wandte sich der Tür zu und klopfte an.

„Treten Sie ein“, hallte es aus dem Inneren.

Es war ein Studierzimmer, mit antiken Möbeln und zahlreichen Tischen und Bücherregalen ausgestattet. Hinter einem der Sekretäre saß ein alter Mann, der sich erhob, als Jonathan die Tür hinter sich schloss.

„Kardinal Angelo?“, fragte Jonathan, um sicherzugehen.

„Der bin ich.“ Der Mann trat hinter dem Tisch hervor. „Man sagte mir, Sie wollten mich sprechen.“

„Mein Name ist Jonathan Firenze.“ Sein Vater hatte ihm geraten, sich an Angelo zu wenden. Er war es, der über Jahrzehnte hinweg die Aufträge des Vatikans an die Jägerorden gesteuert hatte, bis die katholische Kirche ihr Engagement in der Verfolgung der unheiligen Vampirrasse Ende der Achtziger des letzten Jahrtausends aufgegeben hatte.

„Vom venezianischen Jägerorden der Firenze?“

„In der Tat.“ Jonathan schleppte den Korb zum Schreibtisch. Er war froh, das Paket endlich abliefern zu können, der Gestank machte ihn wahnsinnig. Angelo beobachtete ihn mit misstrauischem Blick.

„Was haben Sie darin versteckt? Eine tote Katze?“, fragte der Kardinal.

Jonathan öffnete das Tuch, das den Kopf verdeckte, und wich zurück, um dem herben Aroma zu entfliehen. Er hätte schon früher nach Rom kommen können, doch er wollte die Beerdigung nicht verpassen. In der Zwischenzeit hatte am Geschenk seines Vaters bereits der Verwesungsvorgang eingesetzt.

„Oh, mein Gott“, keuchte Angelo, machte einen Satz nach hinten. Aber schnell siegte seine Neugierde und er hielt sich ein Tuch vor die Nase, beugte sich über den Korb und betrachtete den Kopf des Jägers. „Hohe Wangenknochen, weit gebogene Fänge“, murmelte er. „Ein Vampir reinblütiger Abstammung.“ Angelo begann, vor Aufregung zu zittern. „Woher habt ihr ihn?“

„Aus Wien“, antwortete Jonathan. „Lest Ihr keine Zeitungen? Der Krieg ist noch lange nicht vorbei, auch wenn Rom das glaubt. Sie haben ihre Wunden geleckt und kriechen nun wieder aus ihren Löchern.“

„Ich habe davon gehört. Rom berät bereits, was zu tun ist. Aber das es noch Vampire von so reinblütiger Abstammung gibt …?“ Er drehte den Korb, ohne den Kopf zu berühren. „Wie viel verlangt Ihr? Er ist ein wichtiger Beweis.“

„Kein Geld, sondern die Erfüllung einer einfachen Bitte.“

„Ja?“

„Ich möchte in den Archiven nach einem alten Dokument suchen, um mehr über unseren Freund hier zu erfahren.“

Nachdenklichkeit zeichnete die Miene des Kardinals. Er strich über sein Kinn. „Normalerweise bin ich gezwungen, diese Bitte abzuschlagen.“

„Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber es ist von höchster Wichtigkeit. Wir müssen die Gefahr im Keim ersticken. Ich plane, die Überreste der Orden in einer Allianz zu vereinen.“

Angelo seufzte. „Nun gut, der Kopf ist Rechtfertigung genug, in Ihrer Angelegenheit eine Ausnahme zu gestatten.“ Er trat an den Sekretär, betätigte eine Taste am Telefon. „Pater Lucio wird Sie hinführen.“

„Ich danke Ihnen.“

Kardinal Angelo verneigte sich abwesend. Sein Blick ruhte weiterhin auf dem Kopf des Vampirs. „Wenn Sie gefunden haben, wonach Sie suchen, möchte ich, dass Sie zu mir zurückkommen. Ich will mit Ihnen über Ihre Pläne sprechen.“

„Wie Sie wünschen, Kardinal.“

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Die Einträge im Tagebuch hatten Sophie nachdenklich gestimmt und ihren Entschluss gefestigt, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen.

Sie verließ das Hauptquartier und fuhr mit dem Taxi in ihre Wohnung. Sie duschte und zog sich um. Danach setzte sie sich an den Computer, sagte alle Termine in den nächsten Tagen ab und schrieb eine E-Mail an zwei Auftraggeber, dass der Liefertermin ihrer Arbeiten sich leider etwas verzögern werde.

Anschließend durchsuchte sie ihr Handy nach Broms Nummer, fand sie aber nicht. Dabei fiel ihr wieder ein, dass er mit unterdrückter Nummer angerufen hatte. Sophie stöberte auf der Internetseite der Gerichtsmedizin nach einem Doktor Roth, rief dort an, nur um von einer freundlichen Dame zu erfahren, dass es keinen Doktor Roth gab, der bei der Gerichtsmedizin arbeite. Allerdings gab es tatsächlich einen Kriminalkommissar Brom bei der Wiener Polizei, dieser war jedoch für die nächsten drei Wochen in Urlaub, wie sie erfuhr, als sie auch dort anrief.

Die Sache stank und sie wünschte, Gerald nach seiner Nummer gefragt zu haben, damit sie wenigstens ihn erreichte. Wenn er wirklich ein Jäger war, wie sie vermutete, würde sie seine Nummer nirgends finden. In welchen Zusammenhang standen Brom, Gerald und dieser glatzköpfige Mann, der ihren Vater noch lebend gesehen hatte und von dem Sophie glaubte, dass er ein Vampir war? Sie war sicher, dass dieser Mann etwas mit dem Tod ihres Vaters zu tun hatte. Um das herauszufinden, musste sie den richtigen Obduktionsbericht sehen.

Wie zum Teufel sollte sie an einen Bericht herankommen, von dem sie nicht wusste, wer ihn erstellt hatte und vor allem wo?

Sie ging in die Küche und bereitete sich eine Tasse Kaffee, um sich konzentrationsförderndes Koffein in die Blutbahnen zu schießen. Anschließend setzte sie sich wieder an den Schreibtisch und las noch einmal den Obduktionsbericht, den man ihr geschickt hatte. Ein Dokument mit kaum leserlicher Handschrift und getipptem Fachchinesisch, das sie recherchieren musste, um die Worte zu verstehen. Aufschluss brachte es nicht. Es beschrieb nur einen Tod durch Herzversagen. Wo also sollte sie zu suchen beginnen? Oder reimte sie sich nur etwas zusammen, um einen Schuldigen zu finden, wo es keinen gab?

Wo war Kommissar Vermont bloß, wenn sie ihn brauchte? Ein Seufzen verließ ihre Lippen. Sie kannte diesen Mann nicht, wusste nicht, wer er wirklich war, auch wenn sie glaubte, ihm schon einmal begegnet zu sein. Und doch wünschte sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als ihm noch einmal so nahe zu sein wie vor wenigen Tagen in seinem Wagen, als er sie auf diese wundersame Weise verarztet hatte. Sie berührte die Stelle an ihrer Schulter. Die Wunde war noch nicht vollständig verheilt, aber sie schmerzte nicht mehr.

Das Klingeln ihres Handys holte sie in die Wirklichkeit zurück. Dr. Seewald, der Notar ihres Vaters, wünschte ihr sein aufrichtiges Beileid. Da er gerade keine Termine hatte, bot er Sophie an, die Angelegenheit rasch über die Bühne zu bringen.

Die Kanzlei von Dr. Seewald lag in der Karlsgasse nahe der historischen Barockkirche in einem renovierten Altbau. Im geräumigen und stilvoll eingerichteten Wartezimmer traf Sophie auf Herrn Julius, der sie herzlich begrüßte. Dr. Seewald ließ nicht lange auf sich warten. Er war ein schmächtiger Mann im maßgeschneiderten Businessanzug, mit ergrautem Haar und Designerbrille. Der Herzlichkeit der Begrüßung der beiden Männer entnahm Sophie, dass es sich um keine reine Geschäftsbeziehung handelte, sondern die Freundschaft tiefer reichte.

Sophie überreichte Seewald das versiegelte Testament. Anschließend folgte der trockene Teil der Testamentsverlesung. Seewald weihte Sophie in ein weiteres Geheimnis der Vampirjäger ein, nämlich die Verschleierung der wahren Eigentümer durch falsche Namen in den Grundbüchern. Als er ihr die Liste sämtlicher Vermögenswerte ihres Vaters offenbarte, zerbröckelte das Bild des mittellosen Landstreichers endgültig.

Vater war reich. Er besaß eine Reihe von Liegenschaften in Wien, Salzburg, Paris und Venedig, des Weiteren ein Schloss samt Landbesitz in Belgien. Hinzu kamen Beteiligungen an Unternehmen durch Aktien und Gesellschaftsanteile.

„Ich … wusste von all dem nichts“, stammelte sie.

„Ihr Vater machte sich nicht viel aus Reichtümern“, erklärte Herr Julius. „Er traute den Banken nicht, darum hat er fast alles selbst angelegt, um den Besitz des Ordens sicher zu verwahren. Wofür er ein Talent hatte.“

„Nehmen Sie das Erbe ihres Vaters an?“, fragte Doktor Seewald.

Sophie nickte, musste das erst mal alles verdauen.

Der Verlesung folgte ihre Unterschrift, womit Sophie ihren neuen Lebensabschnitt besiegelte.

Gemeinsam mit Herrn Julius verließ sie die Kanzlei. Auf dem Weg zum Taxistand sprachen sie über das Video.

„Wissen Sie, ich denke auch nicht, dass es Herzversagen war“, meinte Julius. „Meines Wissens nach hatte er ein starkes Herz. Aber es wird schwierig sein, das Gegenteil zu beweisen.“

„Ich muss es versuchen.“ Sie gab sich kämpferisch. Innerlich zweifelte sie, da sie immer noch nicht wusste, wo sie mit der Suche beginnen sollte.

„Ich bewundere Ihren Mut, meine Liebe. Ihr Vater wäre, nein, er war schon zu Lebzeiten stolz auf Sie.“

„Ich kann das nicht beurteilen, ich habe ihn anscheinend niemals richtig kennengelernt.“

„Ihr Vater wollte Sie schützen. Nach Anais Tod waren Sie der einzige Sinn in seinem Leben, wofür zu kämpfen sich noch lohnte.“

„Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“

„Was Sie für richtig halten“, antwortete er. „Niemand zwingt Sie zu etwas. Johann und Wilhelm sind alt genug, auf sich aufzupassen und wenn Sie das Buch des Ordens ein für alle Mal schließen, wird Ihnen das niemand ankreiden.“

Den Orden auflösen? Das wäre, als würde sie das Grab ihres Vaters mit Füßen treten. Im Grunde hatte sie sich längst entschieden.

Sie erreichten den Taxistand. Herr Julius ließ es sich nicht nehmen, Sophie die Tür aufzuhalten. Er nannte dem Fahrer die Zielorte und bat ihn, die Dame zuerst nach Hause zu bringen.

Sophie lehnte sich zurück. Oh, Gott, sie war die Erbin eines Vermögens! Es überraschte sie, wie viel Reichtum der Orden in den vergangenen Jahrzehnten angehäuft hatte. Zumindest brauchte sie sich keine Gedanken zu machen, was mit Dominik und Wilhelm geschehen würde.

Im Seitenspiegel beobachtete sie das Gesicht des Taxifahrers. Der steinerne Gesichtsausdruck beunruhigte sie. Etwas stimmte nicht mit diesem Kerl. Bewusst suchte sie seinen Hals nach Bisswunden ab, entdeckte aber nichts.

„Ich denke, wir sollten den Nachmittag noch für einen Spaziergang nutzen.“ Herr Julius blinzelte auffällig und deutete verhalten in Richtung des Fahrers. Er hatte es also auch bemerkt.

„Gern.“ Sophie beugte sich vor und tippte dem Fahrer auf die Schulter. „Halten Sie bitte hier an.“

Der Mann reagierte nicht.

„Die Dame hat Sie gebeten, anzuhalten.“

Statt einer Regung des Mannes klickte es zweimal und die hinteren Türverriegelungen schnappten ein. Gleichzeitig beschleunigte der Mann und trieb den Wagen in halsbrecherischem Tempo durch den Nachmittagsverkehr. Im Rückspiegel verzogen sich seine Lippen zu einem listigen Lächeln, wobei sie die Spitzen seiner perlmuttfarbenen Fänge erkannte.

„Verdammt noch mal, halten Sie sofort an!“ Sophie wollte aufspringen, nach dem Mann greifen.

Der Fahrer trat noch fester auf das Pedal, riss den Wagen wie ein Irrer herum. Wie wild schleuderte sie umher, ihr Kopf knallte gegen das Seitenfenster. Julius wich die Farbe aus dem Gesicht.

„Ich bin zu alt für so etwas.“ Er schöpfte nach Atem und griff sich an die Brust.

„Halten Sie durch. Ich bring uns hier raus.“

Die Handbremse lag nur eine Armlänge entfernt. Vielleicht konnte sie den Wagen damit verlangsamen. Einen Versuch war es wert. Als der Fahrer bremste, um an einer Kreuzung abzubiegen, griff sie nach dem Hebel. Noch ehe der Typ begriff, was passierte, riss sie mit aller Kraft daran. Sofort brach der Wagen aus. Der Fahrer versuchte, gegenzusteuern. Sie zog die Bremse bis zum Anschlag. Es quietschte und scheuerte. Beißender Rauch und Gestank drangen in den Wagen.

Das Taxi drehte sich, als der Fahrer zu beschleunigen versuchte. Plötzlich kam ihr die Verzweiflungstat wie Selbstmord vor. Sie wirbelten herum wie in einem drehenden Karussell.

Dann krachte es. Das Taxi schlug mit dem Kofferraum voraus in ein parkendes Auto. Die Gewalt des Aufpralls war harmloser als erwartet. Dennoch schleuderte die Wucht Sophie gegen den Vordersitz und presste die Luft aus ihren Lungen. Schließlich kam das Taxi zum Stehen. Sophie hörte ein Zischen, Rauschen und roch Benzin.

Der Fahrer lag regungslos über dem Lenkrad.

„Verrückt wie Ihr Vater“, murmelte Herr Julius. Der Arme hatte etliche blutende Schnittwunden im Gesicht und wirkte noch blasser als zuvor.

„Wir müssen schleunigst hier raus.“ Sie hob den Fuß und trat mit aller Gewalt gegen die Seitenfenster. Die Scheibe gab nach. Die Hintertür ließ sich ein Stück öffnen, den Rest besorgte sie durch zwei, drei weitere Tritte. Noch während sie aus dem Wrack kroch, liefen die ersten Schaulustigen zusammen und in der Ferne heulten Polizeisirenen. „Kommen Sie!“ Sie fasste nach Julius’ Händen und zog ihn heraus. Der Typ am Steuer kam unterdessen zu sich und hob den Kopf. Sein Gesicht war blutverschmiert.

Sie trieb Julius an, half dem humpelnden Mann, vom Wrack wegzukommen. Der Fahrer versuchte, sich seinerseits zu befreien und trat gegen die Tür. Er fauchte vor Wut.

„Schnell …“ Sie zog Julius mit.

Unter dem Wrack funkte es, als einige der zerrissenen Kabel einen Kurzschluss verursachten und einen Augenblick später schossen Stichflammen unter dem Wagen hervor, umschlossen das Wrack wie eine Bestie mit orangegelben Armen. Der Vampir schlug wild um sich, während die Menschentraube, die sich um den Unfallort gebildet hatte, aufschrie.

Sophie zog Julius weiter. Sie flohen in eine Straße, in der sich noch keine Schaulustigen versammelt hatten.

„Ich frage mich, wer dieser Kerl war.“ Julius schaute über die Schulter. „Als habe er auf uns gewartet.“

„Eher auf mich“, murmelte Sophie.

„Was meinen Sie damit?“

„Ich bin nicht sicher, aber ich denke, er wollte mich zu seinem Clanführer bringen.“ Sophie berichtete vom Tod der Vampirin, der Begegnung mit dem falschen Polizisten und dem Überfall auf ihre Wohnung. Ihre Hände zitterten und bei dem Anblick des im Wrack brennenden Vampirs drehte sich ihr der Magen um.

„Sie haben sich also den Unmut eines ganzen Clans zugezogen.“ Er schüttelte den Kopf. „Warum haben Sie nicht früher davon erzählt?“ Erneut blickte er zum brennenden Wrack.

„Wir sollten in ein Krankenhaus, um sie verarzten zu lassen“, schlug Sophie vor.

„Nicht nötig, es sind nur Kratzer und ich wohne nicht weit von hier. Ich werde die Strecke zu Fuß gehen.“ Er deutete in eine Richtung und tupfte mit einem Taschentuch über sein Gesicht. „Ich hoffe nur, das hier lockt keinen von denen an.“

„Dann begleite ich Sie. Vielleicht können Sie mir einen Wagen leihen.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, mit einem schwarz lackierten Kombi durch die Gegend zu fahren, gern“, antwortete er mit schelmischem Grinsen.

Ihr war nicht zum Lachen zumute. Wie schon nach dem Kampf auf dem Friedhof empfand sie nur Kälte. „Gewöhnt man sich irgendwann an das Töten?“, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Jeder empfindet anders. Ich habe gelernt, mit dem Tod umzugehen, aber Freude am Töten von Vampiren hatte ich nie. Deshalb habe ich auch dem Orden den Rücken gekehrt.“

Mit „in der Nähe“ hatte Julius einen Fußmarsch von mehr als einer halben Stunde gemeint. Das Beerdigungsunternehmen lag auf einem großzügigen Grundstück, umschlossen von hohen und kunstvoll verzierten Mauern. Ein schmiedeeisernes Tor in Form ineinander verwobener Kreuze und Ranken bildete den einzigen Zugang zum Anwesen. Das Unternehmen war im Erdgeschoss des Geschäftshauses untergebracht, im Stockwerk darüber befand sich die Wohnung.

„Willkommen in meinem bescheidenen Reich“, sagte Julius, nachdem sie im Hinterhof ankamen, wo der Kundenparkplatz und die Lagerschuppen lagen und auch die beiden schwarzen Mercedes Kombi im modischen Friedhofsdesign parkten.

„Und Sie brauchen wirklich keine Hilfe?“, fragte sie ihn erneut, als sie in den Wagen stieg und sein blasses Gesicht betrachtete.

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin zäh.“

„Wie Sie meinen.“ Er sah nicht gut aus. Aber sie konnte ihm ihre Hilfe nicht aufzwingen. Schließlich startete sie den Motor und machte sich auf den Weg nach Hause.

Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, parkte sie den Leichenwagen abseits des Wohnblocks und ging das letzte Stück zu Fuß. Müde und durchgefroren erreichte sie endlich ihre Wohnung. Auf dem Weg zum Beerdigungsinstitut hatte sie aus Sorge um Julius sich selbst vergessen. Der Unfall war auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen. Zwar war sie mit leichten Prellungen und einigen blauen Flecken davongekommen, diese schmerzten aber heftig.

Sie zog saubere Kleidung an und schaltete das Radio ein, aus Neugierde, ob es auch dieses Mal gelungen war, die Wahrheit über den Unfall zu vertuschen. Die Nachrichten berichteten lediglich von einem Taxiunfall in der Innenstadt. Der Fahrer sei ums Leben gekommen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Kein Wort von einem Vampir oder Fahrgästen, die zu Fuß geflohen waren. Das war doch zum Verrücktwerden! War die Welt, die sie bisher kannte, nur eine Fassade?

Es war an der Zeit, tiefer zu graben.

Sophie startete den Computer und bereitete sich einen Kaffee. Es musste im modernen Zeitalter der Informationstechnologie möglich sein, wenigstens Hinweise zu finden. Bei Gott, sie konnten ja nicht unsichtbar sein. Sie wusste praktisch alles über Vampire, um Mythos und Wahrheit unterscheiden zu können. Warum also hielt sie sich mit der Fassade auf? Indem sie das Wort Vampir in diversen Suchmaschinen eintippte, würde sie bestimmt keine vernünftige Antwort bekommen. Sie musste tiefer gehen und wenn nötig über Wege, die nicht legal und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Sophie nahm das Kuvert mit dem offiziellen Obduktionsbericht in die Hand. Es tat immer noch weh, aber sie musste nun versuchen, den Schmerz zu verdrängen, damit sie klar denken konnte. Sie prüfte den Umschlag und den Poststempel und verglich diesen mit Daten, die sie aus dem Internet bezog. Alles war korrekt, selbst die Postleitzahl. Wer immer sich hinter dem Namen Doktor Roth verbarg, musste diesen Brief in den Postversand der Gerichtsmedizin geschmuggelt haben.

Okay, das war ein Anhaltspunkt, mehr aber auch nicht. Es grenzte den Kreis der Verdächtigen nicht ein und war nur ein weiterer Teil der Fassade. Sie musste den Putz abkratzen, um an das Mauerwerk zu gelangen. Ihr kam eine Idee. Vielleicht war der Brief auf einem Computer der Gerichtsmedizin getippt worden. Der nicht handschriftliche Teil ließ zumindest auf einen gewöhnlichen Drucker schließen. Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Noch einmal überflog sie die Seiten und tatsächlich entdeckte sie auf der letzten rechts unten winzig und kaum leserlich eine Zeile, die auf den ersten Blick gewöhnlichem Formulartext glich. In Wirklichkeit aber verriet es, wo dieser Obduktionsbericht abgespeichert worden war. Die waren doch nicht ganz so schlau. Eine Last fiel von ihrer Schulter.

Bis vor wenigen Minuten hatte sie nicht gewusst, wo sie zu suchen beginnen sollte. Doch nun hatte sie verdammt noch mal einen Hinweis. Nicht viel, aber genug, um daran festzuhalten. Wenn sie mehr über dieses Dokument erfahren wollte, musste sie sich Zugriff auf den Server der Gerichtsmedizin verschaffen. Ein Kinderspiel – verglichen mit brennenden Autos und Vampirangriffen.

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„Hattest du Erfolg?“, fragte Clement, als Gerald das Büro seines Bruders betrat.

Gerald strich sich über die Stirn, als könne er seine Müdigkeit einfach abwischen. Aber so funktionierte das wohl nicht.

„Eigentlich nicht. Aber was haben wir schon für eine Wahl?“

„So schlimm?“

„Schlimmer.“ Er blickte über seine Schulter, beobachtete durch die Glaswände, wie der letzte Bewerber den Besprechungsraum verließ.

„Das sind Zivilisten, keine Krieger.“

„Sind wir das etwa noch?“ Clement deutete auf den Papierkram, der vor ihm lag. „Ich kämpfe nur noch mit Formularen.“

„Was ist das überhaupt?“ Er bückte sich über Clements Schreibtisch, überflog die erste Zeile. Unfallbericht.

„Ein Unfall mit einem Taxi“, erklärte Clement, klickte mit der Maus und Aufnahmen der Unfallstelle erschienen auf dem Bildschirm. Gerald betrachtete das ausgebrannte Wrack und die verkohlte Leiche. Diese Art Bilder berührten ihn schon lange nicht mehr, er hatte gelernt, seine Gefühle auszuschalten.

„Wir hatten Glück, dass Brom in der Nähe war und die Leiche gesehen hat. Die Zeitungen wären sonst voller Bilder von unserem Freund. Die Merkmale am verkohlten Schädel waren unverkennbar.“

„Gab es weitere Tote?“

„Nein, aber Zeugen sprachen von einer Frau und einem alten Mann. Sie sind rechtzeitig aus dem Wrack gekrochen und geflohen. Die Beschreibung der Frau traf auf Richters Tochter zu.“

„Warum sagst du das nicht gleich?“

„Es tut mir leid, ich hatte keine Ahnung, dass du dich plötzlich für derartige Unfälle interessierst.“

„Schon gut, wissen wir, wer der Kerl ist?“, fragte Gerald. Das Interesse an diesem Unfall war mit einem Mal gestiegen. Er konnte sich kaum halten, wäre am liebsten sofort losgestürmt, sie zu suchen.

„Ich hab ihn zu Roth in die Pathologie bringen lassen.“ Clement ließ die Bilder durchlaufen. „Ich hätte dir noch davon berichtet“, fügte er hinzu.

„Schon gut.“

Clement sah ihm in die Augen. „Seit wann juckt dich ein einzelner Mensch?“

Er hielt Clements Blick stand und antwortete wahrheitsgemäß, wenn auch unvollständig.

„André hat mir aufgetragen, sie zu beschatten. Und wegen der Moratis.“

„Ach.“ Sein Bruder nickte.

Verdammt, hatte er sich so wenig unter Kontrolle, dass jedem auffiel, was er empfand?

„Dann werde ich mir die Sache mal ansehen und bei dieser Gelegenheit, möchte ich noch mal mit Roth über Richters DNS-Veränderung sprechen.“

„Denkst du, es war ein Morati?“

„Gut möglich.“

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Sophie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet ihre Informatikkenntnisse helfen würden, einen Mord aufzuklären. Nun war sie mitten drin und im Gegensatz zu einem Dolchstoß in feindliche Körper war das hier ihr Spezialgebiet. Auch wenn sie ihr Können bisher nie genutzt hatte, auf digitalem Weg einzubrechen, dauerte es nur einige Minuten, Zugriff auf den Server zu bekommen. Gott, war dieses System schlecht gesichert, das grenzte an Fahrlässigkeit.

Im Nu gab sie sich Administrationsrechte und konnte sich frei bewegen, auf Festplatten zugreifen und jede Aktivität nachverfolgen. Tatsächlich fand sie den Obduktionsbericht und eine eingescannte Version, die den handschriftlichen Text enthielt, unterschrieben von Doktor Roth. Wer war dieser Doktor? Ein Pseudonym? Vielleicht ein Blutsklave?

Wie sie schnell bemerkte, erfolgten die Zugriffe auf den Obduktionsbericht stets von einem Computer. Sie war auf dem richtigen Weg. Die Anspannung stieg. Sie versuchte weiter, dem digitalen Pfad zu folgen, um mehr über diesen Computer herauszufinden.

Der Rechner gab plötzlich ein akustisches Warnsignal von sich. Zugriff verweigert, blitzte auf dem Bildschirm auf. Mist, gesperrt. Sophie kontrollierte den Zugang. Das war eigenartig. Obwohl sie noch immer eingeloggt war und über alle Rechte verfügen sollte, blockte der Computer den Zugriff. Jeder weitere Versuch, die Sicherheitsbarriere zu umgehen, schlug fehl.

Was nun? Sie versuchte, sich zu entspannen. Krampfhaft würde sie das Problem nicht lösen. Sie tastete nach dem Kaffee, nahm einen Beruhigungsschluck und betrachtete weiterhin den Bildschirm in der Hoffnung, das Problem zu lösen. Im Gegensatz zum Hauptsystem war dieser Bereich separat und vor allem wesentlich besser geschützt. Jemand versuchte, etwas zu verbergen. Vielleicht die Akten toter Vampire und deren Opfer? Oder jagte sie einem Hirngespinst hinterher?

Ein Gefühl sagte ihr, dass es besser wäre, umzukehren und nicht weiter zu bohren. Auch wenn sie alle Vorkehrungen getroffen hatte, ihre Identität zu verbergen, war sie nicht sicher, ob die Sicherheitsbarriere nicht über Möglichkeiten verfügte, Eindringlinge aufzuspüren. Doch sie war nun schon so weit gekommen. Aufgeben würde sich wie eine Niederlage anfühlen, und wenn sie eine Tugend von ihrem Vater geerbt hatte, dann seinen Sturschädel. Gepaart mit der Ausdauer ihrer Mutter ergab das eine gefährliche Kombination.

Nur, was brachte ihr das Wissen über die Existenz dieses Computers? Sie kehrte zum Dateiordner zurück, in dem der Obduktionsbericht abgelegt war, und betrachtete noch einmal die Zugriffsliste. Ihr Blick fiel auf die Adressierung der Netzwerkbuchse. Eine Nummer, die einem einzigen Netzwerkanschluss zugeordnet war. Natürlich, warum war sie nicht früher darauf gekommen? Auch wenn der Rechner den Zugriff verweigerte, hatte sie zumindest eine Chance, seinen Standort zu ermitteln. Sophie durchsuchte das Netzwerk nach den Plänen. Sie lagen wie auf dem Präsentierteller völlig unverschlüsselt in einem Ordner. Fortuna war ihr wohlgesonnen. Sie fand den Netzwerkanschluss des Computers, der in einem Kellerarchiv unterhalb der Tiefgarage eingezeichnet war. Und das Archiv, eine Bunkeranlage aus dem Zweiten Weltkrieg, war laut den Plänen seit Jahrzehnten verwaist. Bei Gott, wenn das kein Hinweis auf ein Versteck war. Wie es aussah, gab es einen aktiven Zugang über einen Lift der Tiefgarage. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie nur einfach in den Lift steigen und einen Knopf drücken musste, um dort hinunterzugelangen. Der Zugang war bestimmt gesichert und überwacht. Aber wenn sie Informationen über ihren Vater haben wollte, lagen diese dort unten.

Noch einmal durchsuchte sie das Netzwerk nach den Programmen, die den Lift steuerten. Unscheinbar für jemanden, der nicht explizit danach suchte, offenbarte ihr die Programmierung des Lifts einen sechsstelligen Mastercode.

Sie atmete tief durch, verdrängte die aufkommende Nervosität. Hier endeten die digitalen Möglichkeiten. Ihr Verstand schalt sie eine Verrückte, doch welche andere Wahl blieb ihr, als dort reinzugehen? Verdammt noch mal, sie musste es versuchen, ob es ihr gefiel oder nicht.

Zuvor wollte sie wenigstens mit Dominik sprechen. Vielleicht wusste er etwas darüber.

„Hallo! Wilhelm? Dominik?“, rief Sophie, als sie den Saal des Hauptquartiers betrat.

„Wilhelm ist nicht hier“, antwortete Dominik. Er saß auf einer Bank und reinigte eine Waffe, die er in alle Einzelteile zerlegt hatte. Daneben standen ein Krug Bier und ein Teller mit Wurst.

„Ich brauche deine Hilfe, Dominik.“

„Wobei?“, fragte er gelassen, trank von seinem Bier und aß ein Stück Hartwurst.

„Ich muss in die Gerichtsmedizin.“

„Jetzt?“ Er machte keinerlei Anstalten, sich zu bewegen.

„Ja, jetzt.“

„Um diese Zeit wirst du dort niemanden antreffen.“

„Ich muss etwas nachprüfen.“

„Du willst in die Gerichtsmedizin einbrechen?“

So gesehen klang das krass. „Einbrechen würde ich nicht sagen, ich will ja nichts stehlen.“ Zumindest hatte sie das nicht vor.

„Wie stellst du dir das vor? Wir sind Jäger, keine Diebe.“

Okay, hier war keine Hilfe zu erwarten. „Dann geh ich eben allein.“ Sie war schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer, als Dominik ihr hinterherrief, sie solle warten.

„Wenn sie dich erwischen, landest du hinter Gittern, Sophie. Das ist es nicht wert.“

Sie ging in ihr Zimmer und suchte ihre Jägerausrüstung. Dominik kam ihr hinterher. Wie konnte sie davon ausgehen, dass er sie verstehen würde. Dennoch versuchte sie, es ihm zu erklären. „Ich muss einfach wissen, wie Vater gestorben ist.“

„Du hast doch das Video gesehen. Es war der Glatzkopf.“

Sie nahm die Jägerausrüstung aus dem Schrank. Der perfekte Anlass, den Anzug das erste Mal in ihrem Leben zu probieren. Sie knallte Dominik die Tür vor der Nase zu, schlüpfte in die Hose und zog Bluse und Lederbustier an. Dann band sie den Gürtel um und griff nach der Jacke.

„Genau das will ich nachprüfen“, erklärte sie dem verblüfft dreinschauenden Dominik, als sie die Tür aufriss. Sie schob sich an ihm vorbei in Richtung Labor, nahm einen Dolch und einen Revolver aus dem Waffenfundus und rundete ihre Ausrüstung mit einem Satz Dietrichen ab. „Wenn es wirklich dieser Glatzkopf war, dann gnade ihm Gott.“

„Du bist verrückt, Sophie.“

Sie verschwendete keinen Augenblick mehr mit Diskutieren. Stattdessen verließ sie den Saal des Hauptquartiers und kehrte durch das Tunnelsystem zurück zum geborgten Wagen, der jetzt zu ihrem dunklen Outfit passte.

Als sie losfuhr, sah sie im Rückspiegel, wie Dominik aus dem Haus gelaufen kam. Er konnte nicht wissen, welchen Wagen sie fuhr, weshalb er sich verwirrt umblickte, und kopfschüttelnd kehrtmachte. Er schien sich Sorgen zu machen. Aber ein Angsthase war er schon immer. Obwohl er natürlich recht hatte, aber sie musste es einfach riskieren.

Sie erreichte die Gerichtsmedizin wenige Minuten später. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht.

Zuerst überlegte sie, etwas abseits zu parken. Doch der Gedanke erübrigte sich, als sie im Schritttempo zur Einfahrt der Tiefgarage rollte und der Portier sie offenbar für einen Lieferanten hielt. Jetzt nur nicht auffallen. Sie versuchte, freundlich zu lächeln, während sich die Schranke öffnete. Der Portier nahm kaum Notiz von ihr, nickte nur kurz und wandte sich einem Fußballspiel im Fernsehen zu. Sie parkte den Wagen und warf einen Blick auf ihr Handy, auf dem sie die Gebäudepläne abgespeichert hatte. Hoffentlich war das Spiel spannend genug.

Sie stieg aus, knöpfte ihren Mantel zu und ging ein paar Schritte, vergewisserte sich noch einmal, wo sie hinmusste und folgte dem Plan zu dem Lift.

Während sie die Taste drückte und wartete, dass sich die Türen öffneten, meinte sie von draußen Schüsse zu hören. Das Quietschen von Reifen, das von der Einfahrt zu kommen schien. Dann knallte es. Sie zuckte zusammen. Was zum Teufel war das?

Vor ihr gingen endlich die Lifttüren auf. Drinnen untersuchte sie rasch das digitale Tastenpult und tippte den Mastercode ein. Ein schriller Piepton erklang und sie erschrak beinahe zu Tode. Das war definitiv das erste und letzte Mal, dass sie irgendwo einbrach.

Sie atmete tief durch. Alle Lämpchen auf der Anzeige leuchteten auf, dann setzte sich der Lift mit einem Ruck in Bewegung und fuhr nach unten. Nach einem kurzen Surren öffneten sich die Türen.

Vor ihr lag ein langer Gang mit Edelstahlwänden und schwarzen Böden. Der Geruch von Formaldehyd lag schwer in der Luft. Nur schwaches Licht beleuchtete den Gang. Die Räume hinter den Glastüren waren dunkel, bis auf den letzten Raum am anderen Ende des Korridors. Jemand summte schief vor sich hin.

Alles klar, sie war also nicht allein. Dennoch gab es kein Zurück mehr, sie war hier und musste nun da durch. Entschlossen betrat sie den Korridor, knöpfte den Mantel auf, um ihre Waffen griffbereit zu haben. Etliche Male hatte sie es geübt, aber eine Übung war keine Realität. Was sie hier tat, kam ihr wie ein böser Traum vor. Mit bleiernen Füßen ging sie einige Schritte, hielt an und lauschte wieder.

Sie hörte metallisches Klappern, vermutlich Instrumentenbestecke. Wie von selbst wanderten ihre Finger zu ihrer Waffe. Sie hatte nicht vor, irgendjemand zu verletzen. Sofern sie sich nicht verteidigen musste, wollte sie von der Waffe keinen Gebrauch machen. Aber die Berührung des Griffes gab ihr das Gefühl von Sicherheit.

Die Tür zu dem Raum am Ende des Ganges stand offen. Ein Mann beugte sich über eine verkohlte Leiche und war dabei, einen Schnitt mit einem Skalpell zu machen. Sie ahnte, wer dieser Tote war.

„Doktor Roth?“

Der Mann zuckte vor Schreck, das Skalpell schnitt in einer wirren Bahn über den Leichnam. Er sah hoch und schlagartig veränderte sich sein Blick von erschreckt zu raubtierartig. Lange Reißzähne schoben sich aus seinem Oberkiefer und er wich zurück.

„Wie kommst du hier rein, Jägerin?“

Seine Stimme troff vor Abscheu. Was hatte sie anderes erwartet. Sie musste das nun zu Ende bringen.

„Ich stelle hier die Fragen.“ Sie war erstaunt, wie leicht es ihr fiel, so einen harten Tonfall anzuschlagen. Der Anblick des Vampirs hatte ihren Vorsatz, niemand verletzen zu wollen, aufgeweicht. Dieser Mann war eine der Bestien, die ihre Mutter auf dem Gewissen und im Grunde ihr eigenes Leben bestimmt und geprägt hatten. Ohne Vampire keine Jäger. Wie hätte ihre Familie wohl gelebt, wenn ihr Vater Versicherungsvertreter gewesen wäre? Wie hätte ihr Leben ausgesehen? Zorn und Abscheu vermischt mit der Wut auf die Dinge, wie sie nun mal waren, kochten in ihr hoch. Der Vampir wich unterdessen weiter zurück und stieß gegen einen Instrumentenwagen. Skalpelle, Scheren und anderes Werkzeug fielen zu Boden.

„Sind Sie Doktor Roth?“

„Der bin ich.“

Sie zog die Waffe aus dem Halfter, richtete sie auf den Vampirarzt. Es kostete ihre ganze Kraft, nicht zu zittern. Ob vor Wut oder Entsetzen über sich selbst, wusste sie nicht.

„Haben Sie den Totenschein meines Vaters Friedrich Richter unterschrieben?“

„Ich weiß nicht, wovon du redest, Jägerin.

„Diese Kugeln enthalten hoch konzentrierte Säure. Ein Schuss …“

„Und mein Fleisch zersetzt sich, blablabla, ich weiß, ich bin Arzt“, sagte er in abwertendem Ton.

„Lass die Späße und beantworte meine Frage.“ Sie stützte ihren Schussarm mit der anderen Hand, um ihn zu fixieren und dem Vampir zu signalisieren, dass sie es ernst meinte. Der Vampir zuckte zusammen. Er riss die Augen auf.

„Schon gut“, sagte er, aber auch wenn es im Moment so schien, hatte sie den Vampir keineswegs im Griff und das bereitete ihr Unbehagen. Bereits auf dem Friedhof hatte sie gelernt, wie schnell diese Kreaturen waren. „Richter, ja.“ Er kratzte sich am Kopf und nickte, als wäre es ihm soeben eingefallen. „Herzversagen.“

„Es war kein Herzversagen. Ich will die Wahrheit wissen.“ Sie entsicherte die Waffe und Roth zuckte erneut zusammen.

„Nein, bitte, bitte … ich bin kein Krieger“, wimmerte er. „Du hast recht, du hast vollkommen recht … es war kein Herzversagen. Jemand hatte die Finger im Spiel und ihn getötet.“

In diesem Moment schallte Gebrüll durch den Raum. Ein Schlag traf sie in den Rücken und schleuderte sie in Roths Richtung. Der Mann wich blitzschnell zur Seite und sie stürzte über einen Instrumentenwagen. Edelstahlgeräte regneten über sie nieder. Vier Gestalten, einer verwahrloster als der andere, standen im Raum.

Das waren auch keine Freunde von Roth, denn der Arzt wich in eine Ecke zurück. „Verschwindet, das sind die Räume der Agentur!“

„Halts Maul, Doc“, antwortete einer der Vier, ein breitschultriger Hüne. „Wir gehören der freien Liga an. Die Gesetze deines Rats scheren mich einen Dreck.“

Zu schnell, um es mit bloßem Auge verfolgen zu können, stand er vor dem Arzt, packte ihn, hob ihn hoch und drückte ihn so heftig gegen die Wand, dass Sophie die Knochen des Mannes knacken hörte.

Der Hüne drehte den Kopf in ihre Richtung. „Wen haben wir denn da? Unser Hühnchen.“

Einer der anderen kam auf sie zu. Sie überlegte nicht lange, griff nach der Pistole und drückte ab. Die Wucht des Schusses, der ein Loch in die Brust des Kerls schlug, schmerzte in ihrem Handgelenk. Der getroffene Vampir zuckte und zappelte, während die Säure ihre Arbeit tat.

Auch der zweite Vampir war schneller als das menschliche Auge erfasste und stand so plötzlich neben ihr, dass sie ihm nichts entgegenzusetzen hatte. Er presste ihren Waffenarm zu Boden und hielt sie mit seinen Knien unten. Stechender Schmerz bestrafte jede Bewegung. Nun saß sie verdammt noch mal in der Falle.

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Nachdem Gerald Sophie nirgends fand, war er seinem ursprünglichen Ziel gefolgt und zur Gerichtsmedizin gefahren. Bereits beim Betreten des Lifts stellte er fest, dass der Schutzmechanismus, der die unterirdische Anlage vor unerwünschten Besuchern sicherte, deaktiviert war. Für gewöhnlich kam niemand so einfach hier runter. Jemand musste einen Weg gefunden haben, das System zu umgehen.

Was zur Hölle war hier los?

Gerald war hergekommen, um den toten Taxifahrer zu sehen und sich zu vergewissern, ob die Moratis noch immer hinter Sophie her waren. In nur wenigen Tagen hatte sich das Problem mit diesem Clan in eine Richtung verschoben, die ihm nicht behagte. Sie waren für den Rat zwar vogelfrei, doch nun gehörte der Clan der Moratis der freien Liga an. Das bedeutete, er musste vorsichtig sein, solange er die Agentur nicht so weit gestärkt hatte, jegliche Aggression der freien Liga abwehren zu können, wenn sie mit den Gesetzen des Rates gegen diese Clans vorgingen.

Aus dem Laborraum am Ende des Ganges erklangen Stimmen und Schmerzenslaute einer Frau.

Sophie.

Ohne Zögern rannte er den Gang entlang. Durch den ätzenden Formaldehydgestank drang ihr Duft zu ihm. Sein Sichtfeld verengte sich. Es dauerte kaum ein Blinzeln, bis er den Raum erreichte. Anstatt des penibel aufgeräumten Traktes erwartete ihn Chaos. Besteck und Instrumente lagen am Boden, Tische waren verschoben und umgeworfen. Peripher nahm er wahr, wie ein massiger Kerl Sophie festhielt und ein anderer zuckend am Boden lag. Er packte die beiden Morati-Schergen im Genick und riss sie zurück. Mit einem Tritt beförderte er den ersten gegen einen Seziertisch, den zweiten schickte er mit einem Ellbogenstoß zu Boden. Der Hüne ließ von Roth ab und eilte seinem Kameraden zu Hilfe. Gerald wich den Fäusten des Angreifers aus, packte ihn an den Haaren und der Lederjacke und schob ihn in vollem Lauf gegen die Wand.

Sophie kam wankend auf die Beine. Sie war unverletzt. Jetzt nahm er sich einen Moment Zeit, nach Roth zu sehen. Tot. Verdammt.

„Komm“, sagte er zu Sophie, packte sie am Arm und zog sie aus dem Raum.

Einer der Schergen versuchte, ihn zu hindern. Mühelos wehrte Gerald den Angriff ab. Er wollte die drei hier und jetzt nicht töten, sie waren wertvoll, um an Informationen zu gelangen. Für den vierten kam jede Hilfe zu spät. Es reichte, wenn er Sophie in Sicherheit brachte und den Zugang verriegelte, damit sie die Kerle später in Gewahrsam nehmen konnten. Gerald musste nur verhindern, dass sie freikamen. Dazu genügte es, den Lift zu deaktivieren. Außerdem war es besser, wenn niemand außerhalb der Agentur von diesem Kampf erfuhr. Einen weiteren Eklat wie bei der Ratsversammlung konnte er sich nicht leisten.

Gemeinsam eilten sie den Gang entlang zum Lift. Er vermied es, schneller als ein Mensch zu laufen, um seine Identität weiterhin vor ihr zu verbergen. Erneut versuchten zwei der Morati-Vampire, sie aufzuhalten. Ein Messer flog auf ihn zu, er duckte sich, jedoch einen Deut zu langsam. Die Klinge des Hünen schnitt eine Furche in das Leder seiner Hose, ohne ihn zu verletzen. Er trat nach dem Angreifer, fegte ihn zu Boden und hörte einen schrillen Schmerzschrei neben sich. Von einem Jägerdolch durchbohrt, sank der Kumpane des Hünen zu Boden.

„Lass uns abhauen!“, rief er Sophie zu.

Sie nickte. Sie wirkte bleich, geschockt von der Grausamkeit des Kampfes. Er zog sie erneut mit sich, öffnete den Lift. Während die verspiegelte Kabine zur Tiefgarage fuhr, deaktivierte Gerald sämtliche Zugangscodes und verständigte Clement mit einer telepathischen Botschaft. Er bat ihn, die beiden Überlebenden in die Agentur zu bringen. Allmählich artete die Sache zu einem Clantreffen der Moratis in den Zellen der Agentur aus.

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Als sich die Lifttüren öffneten und Sophie in die vermeintliche Sicherheit der hell beleuchteten Tiefgarage trat, brauchte sie einen Augenblick zum Verschnaufen.

„Alles in Ordnung?“ Gerald berührte sanft ihre Schulter.

Die Wärme seiner Hand legte sich durch den Stoff hindurch auf ihre Haut und sie wünschte sich, dass er nie wieder losließ.

Das war doch verrückt. Sie kannte diesen Mann immer noch nicht und doch wollte sie sich am liebsten in seine Arme werfen.

„Es geht schon wieder.“ Sie strich ihre Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Danke.“

„Was hast du dort unten gesucht?“

„Dasselbe könnte ich dich fragen.“ Nachdem sie gesehen hatte, wie er gegen die Vampire kämpfte, war sie sicher, dass er ein Jäger war. „Für welchen Orden kämpfst du?“

„Für keinen.“ Ein Schatten glitt über sein Gesicht.

„Verstehe.“ Alles klar, ein Einzelkämpfer. Sie wusste von ihrem Vater, dass die Orden nicht gut auf Draufgänger wie ihn zu sprechen waren.

„Komm, ich bring dich nach Hause“, bot er ihr an.

Sie sollte ablehnen, doch nach dem Kampf und dem Tod vor Augen, wollte sie jede Sekunde in der Nähe des Mannes auskosten, dem sie nun zum zweiten Mal ihr Leben verdankte. „Ich möchte nicht noch mehr deiner Zeit beanspruchen.“

„Es liegt auf dem Weg.“

Wie ein Gentleman hielt er ihr demonstrativ die Tür seines Autos auf. Sie nahm sein Angebot an.

Kurz darauf fuhren sie aus der Tiefgarage in das Nachtleben Wiens. Die Häuser flogen an ihr vorbei und die Lichter hinter den unzähligen Fenstern verschmolzen zu einem Netz aus gelben Fäden. Was für eine skurrile Situation.

„Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet“, sagte er nach einer Weile.

„Ich wollte die Wahrheit über den Tod meines Vaters herausfinden.“

„Und? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“