„Nicht ganz. Doktor Roth bestätigte meine Vermutung, dass es kein Herzversagen war. Zu mehr ist er leider nicht gekommen, bevor der Vampir ihn ermordete.“

Der Hinweis, dass ihr Vater getötet worden war, genügte ihr aber nicht, ihre Vermutung, der glatzköpfige Mann auf dem Video könne der Mörder ihres Vaters sein, zu bestätigen. Ihn galt es zu finden und Gerald kannte diesen Mann. Er war an dem Abend am Tatort, hatte sie rüde angefahren, nachdem sie die Absperrung überwunden hatte. Vielleicht war er ein Konkurrent von Gerald? Nachdem Gerald keinem Orden angehörte, war das nicht so abwegig. War es den beiden vielleicht nur um die Beute gegangen und der einzig wahre Ermittler Kommissar Brom gewesen? Aber damit wollte sie Gerald jetzt nicht konfrontieren, nachdem er ihr gerade das Leben gerettet hatte.

„Nun bist du dran“, sagte sie.

„Womit?“

„Wie bist du dort runtergekommen und warum?“

Gerald schaute kurz in ihre Richtung. „Vielleicht aus demselben Grund wie du.“ Er ging vom Gas, schaltete zurück und hielt schließlich an. „Da runterzukommen war einfach: Jemand hatte den Lift manipuliert.“ Sein Blick machte klar, dass er wusste, wer das war. „Wir sind da.“

Sie standen auf dem Parkplatz vor dem Wohnhaus. Wenn sie ihn jetzt fahren ließ, sah sie ihn tagelang nicht wieder. Ihn nach seiner Handynummer zu fragen, käme einem plumpen Annäherungsversuch gleich.

„Möchtest du mit raufkommen auf die versprochene Tasse Kaffee?“

Bravo. Das war noch plumper. Sie fühlte Hitze in ihren Wangen und wäre am liebsten unsichtbar geworden.

Er hob die Schultern. „Wenn es keine Umstände macht, gern.“

Seine Antwort entfachte ein Feuer in ihr, das sie jeden Zweifel vergessen ließ.

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Gerald stieg aus dem Wagen und schloss ab. War er noch bei Sinnen? Wie konnte er dieses Angebot annehmen? Er hatte sie eben noch beobachtet, wie sie einen Vampir mit einem gekonnten Dolchstoß zu Boden geschickt hatte und nun ließ er sich zum Kaffee einladen, obgleich er in ihrer Nähe jeden Funken Konzentration brauchte, seine Gefühle und sein Verlangen unter Kontrolle zu halten, nicht einfach über sie herzufallen.

Als sie mit dem Lift nach oben fuhren, hörte er, wie ihr Herz schneller schlug, spürte die stetig zunehmende Hitze, die ihr Körper ausstrahlte. Nur eine Tasse Kaffe. Dann würde er wieder verschwinden.

Sie traten aus dem Lift. Sophies Wangen schimmerten in leichter Röte. Ihr Duft, diese unwiderstehliche Droge, intensivierte sich mit jeder Sekunde, durchsetzt von einer feinen Nuance Erregung.

Seinen Blick auf die sich schließenden Lifttüren gerichtet, schrie etwas in ihm danach, umzukehren. Er war nicht stark genug, ewig dagegen anzukämpfen. Das Raubtier in seinem Inneren wollte die Oberhand gewinnen und fragte ihn, warum er sich nicht einfach nahm, was er begehrte. Ein Grollen wollte sich in seiner Kehle bilden und er hatte Mühe, es zu unterdrücken.

Sophie beobachtete ihn. Spürte sie seinen Kampf? Verlegen strich sie eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Wie flüssige Schokolade flossen die kastanienbraunen Strähnen durch ihre Finger.

Sein Oberkiefer pochte, seine Fänge schoben sich langsam hervor und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er wollte sie anfassen, ihr Haar berühren, ihre Haut ertasten. Er atmete tief durch, um den animalischen Trieb zu unterdrücken und den Druck im Kiefer zu entspannen.

Sophie schloss die Tür auf, bat ihn in ihr Reich. Schon einmal hatte ihn das Betreten dieses Ortes halb wahnsinnig gemacht. Die Vorhänge, die Möbel, einfach alles duftete nach ihr. Ein tiefer Atemzug half nicht, gegen das Verlangen anzukämpfen, im Gegenteil, es machte es nur schlimmer.

„Wie trinkst du deinen Kaffee?“

Die Frage riss ihn aus seinen nicht jugendfreien Gedanken. „Schwarz.“

„Warum jagst du diesen Clan?“ Sie schaltete die Espressomaschine ein und stellte zwei Tassen bereit.

„Ich jage Verbrecher. Mörder, Drogendealer, Zuhälter, die sich nicht damit begnügen, nur Blut zu trinken.“ Sie sah zu ihm hoch und er musste es ihr sagen. „Du weißt, du bist in großer Gefahr, Sophie?“ Es machte keinen Sinn, ihr Dinge zu verschweigen, die ihr Leben retten könnten. „Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber es scheint, als hättest du einen von ihnen getötet.“

Sophie nickte, und erzählte ihm, was ihr auf dem Friedhof passiert war. Unterdrückte Tränen glitzerten in ihren Augen. Diesen Kampf focht sie nur, weil das Schicksal sie hineingedrängt hatte. Er bewunderte ihre Stärke, mit der sie das alles bewältigte und es bedrückte ihn, ansehen zu müssen, wie sie litt, wie schwer die Erlebnisse auf ihren Schultern lasteten. Er konnte es schon damals nicht ertragen und hatte ihr auf eine Art geholfen, wie er es nie zuvor bei einem Menschen getan hatte und wohl auch nie wieder tun würde. Es hatte ihn beinahe zerstört, doch nun wusste er, dass er richtig gehandelt hatte, die Bitte ihres Vaters zu erfüllen.

„Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.“

Sie hob den Kopf, schaute in seine Augen. Der Schmerz über den Verlust funkelte darin. Wie von selbst hob sich seine Hand und berührte vorsichtig ihre Wange. Sophie schmiegte sich an seine Hand, als wolle sie sich fallen lassen und wüsste, dass er sie fangen würde. Heiß durchzog es seinen Arm bis hinunter in seine Lenden.

Sie schloss die Augen und ließ es geschehen, als er über ihre weiche Haut und durch ihr Haar strich. Es wäre einfacher, sie hätte ihn zurückgestoßen, sich gegen die Berührung gewehrt, stattdessen gab sie sich hin. Als sie die Augen öffnete, hatte sich ihr Blick verändert. Der Schmerz war verschwunden und loderndem Verlangen gewichen. Sie legte ihre Hand auf seine Brust.

Du musst aufhören, schrie eine Stimme tief in ihm.

Er konnte nicht. Sie fühlte sich so gut an in seinen Armen. Er küsste ihre Stirn, spürte ihre zarte Haut unter seinen Lippen und kämpfte gegen den Instinkt seiner Rasse an. Noch hielt er seine Fänge unter Kontrolle.

Sie war ihm so nah und sie suchte seine Lippen. Sie küsste ihn. Zimt und Karamell und das einzigartig Aroma weiblicher Erregung explodierten auf seiner Zunge. Der Vampir in ihm schrie nach dem besonderen Blut, das nun durch ihre Adern floss. Der Mann in ihm genoss und schätzte das Gefühl ihres an ihn gepressten Körpers. Wilder und fordernder küsste sie ihn, und als sie an seinen Lippen saugte, ihre Zungen miteinander rangen, fürchtete er, sie könnte sein Geheimnis entdecken. Er löste sich kurz von ihr und zog sie weiter in seine Umarmung.

„Du musst dich nicht zurückhalten“, hauchte sie ihm ins Ohr.

„Das werde ich nicht.“ Die Wahrheit war, er konnte es nicht.

„Komm.“

Sie führte ihn in den Raum nebenan. Beinahe blind folgte er ihr. Erneut küsste er sie, wanderte tiefer, liebkoste ihr Kinn, den Hals. Er spürte das Pochen in ihrem Körper, spürte, wie der warme Blutfluss durch ihre Adern strömte. Glühend und mit kräftigen Schüben prüfte es ihn.

Um sich von der Verlockung ihres Lebenssaftes abzulenken, konzentrierte er sich auf das andere Verlangen, das unaufhaltsam wuchs. Seine Hände gingen auf Erkundungstour, öffneten die dünnen Lederschnüre ihres Bustiers und die Knöpfe ihrer Bluse. Er kostete von ihren Schultern und ließ seine Finger über ihre Hüften und entlang ihrer Schenkel bis zu den Knien gleiten, erforschte jeden köstlichen Zentimeter Haut unter dem Stoff.

Seine Lippen wanderten zu ihrem Dekolleté und ihr leiser Seufzer spornte ihn an. Langsam sanken sie zu Boden. Das Bett war ihm viel zu weit weg. Mit den Händen umfasste er ihre Brüste, die sich unter dem champagnerfarbenen Stoff ihrer Unterwäsche verbargen. Er öffnete das kleine Häkchen des vorderen Verschlusses, strich mit den Fingern über ihre seidenglatte Haut. Nicht nur ihr Duft intensivierte sich, ihre festen Brüste unter seinen Händen waren so unwiderstehlich, dass er von ihren zartrosa Knospen naschte, behutsam, um sie nicht mit seinen Zähnen zu verletzen.

Wie eine Meereswelle bewegte sie sich unter ihm, krallte ihre Hände in sein Haar, als wolle sie ihn daran festhalten. Er begehrte sie so sehr, dass er sie spüren, ganz für sich haben wollte. Seine Lippen wanderten tiefer, liebkosten ihren Bauch, die Vertiefung des Nabels. Er wollte am liebsten jede Stelle ihres Körpers schmecken. Fordernd nach mehr schob sie ihn tiefer, zeigte ihm, wo sie seine Lippen, seine Zunge spüren wollte.

Seine Erregung spannte sich schmerzhaft unter seiner Hose. Er öffnete die ihre, strich sie von ihren Hüften. Seine Augen erfreuten sich an einem knapp geschnittenen Spitzenhöschen in der Farbe ihres Büstenhalters. Unwiderstehlich. Auch hier forschte er weiter mit den Lippen, wanderte mit der Zungenspitze den Rand des Höschens entlang und legte seinen Mund auf die feuchte Seide. Er wagte kaum noch, zu atmen, so sehr betörten ihn ihr Bouquet und ihr Geschmack. Langsam, um sie noch etwas zu necken, sie mit ihrem Verlangen auf süße Weise zu quälen, schob er ihr Höschen über ihre Schenkel.

Die vollen, glatten Lippen ihrer intimsten Stelle glänzten, verschlossen das Zentrum ihrer Lust wie eine wertvolle Blume. Er öffnete ihre Mitte mit Daumen und Zeigefinger, glitt mit der Zunge über die rosa Blütenblätter bis hin zu der kleinen Perle, die unter ihm zu einer Knospe erwuchs. Sophies Finger krallten sich in sein Haar, sanft und fordernd zugleich. Sie drückte ihn gegen ihren Schoß, erwiderte die Bewegungen seiner Zunge mit ihrem Becken, während er seine Hände unter ihren Po schob, um ihr noch näher zu sein. Seine Gedanken waren in Aufruhr und doch fokussiert auf diese unglaubliche Frau. Er dachte an nichts anderes mehr, als in sie einzudringen, sie zu spüren und die jahrelange Enthaltsamkeit zu beenden, die er sich auferlegt hatte, seit er ihr das erste Mal begegnet war.

Es dauerte nicht lange, bis ihr Schoß zu zittern begann. Mit einem leisen Schrei erreichte sie den Höhepunkt, und ihm war, als würde er die Wellen in seinem eigenen Leib spüren.

„Komm zu mir, bitte.“

Ihre Stimme hatte sich verändert, ein Timbre angenommen, das tief in ihm vibrierte. Er überließ sich ihren Händen. Sie befreite seine Erektion mit ungeduldigen Fingern, umschloss ihn und führte ihn dorthin, wo sie beide sein wollten, tauchte ihn in ihre noch immer pulsierende Scham in die Tiefe, durchstreifte das Tal, bis er tief in sie eindrang. Wärme umfing ihn. Er vergaß alles andere, spürte nur noch Sophie, ihren warmen, weichen Köper, ihren Duft und das intensive Gefühl, in ihr zu sein, von ihr empfangen und getrieben zu werden.

Ihre Bewegungen verschmolzen zu einer perfekten Harmonie, wie ein Tanz. Ein weiteres Mal schwappten die Wellen eines Höhepunktes durch ihren Körper, und als die Spitze der Welle sie erreichte und sie sich fest an ihn presste, glaubte er, eins mit ihr zu werden. Alle Empfindungen und Gefühle liefen in seinen Lenden zusammen. Sein Blick verschwamm und ein letztes Mal stieß er in sie. Tief, bis sich seine ganze Lust und sein Verlangen in einem heißen Schwall und tausend Blitzschlägen entluden.

Gerald erinnerte sich nicht, wann er sich zuletzt gefühlt hatte wie in diesem Augenblick. Sanfte Wellen schwangen durch seinen Körper und er empfand zum ersten Mal seit Langem, dass er lebte.

Sophie war in seinen Armen eingeschlafen. Sie lagen noch immer auf dem Teppich in ihrem Wohnzimmer, über ihm das Dachfenster und der Blick in den Sternenhimmel. Eigentlich ein perfekter Moment. Doch war er ihm nicht länger vergönnt. Seine Schläfen brannten und er spürte, wie Clement Kontakt aufnehmen wollte. Mit einem inneren Seufzer schloss er die Augen, hörte Clements geistige Stimme.

„Ich höre dich“, gab Gerald zurück.

„Wo bist du?“

Er antwortete nicht. Clement würde es nicht verstehen. Er verstand ja selbst nicht, wie er so schwach und egoistisch sein und Sophie das antun konnte. Diese Beziehung hatte keine Zukunft, nicht mal eine Gegenwart.

„Es gibt Neuigkeiten über diesen Jäger Jonathan und die freie Liga, die ich dir nicht vorenthalten wollte“, fuhr Clement fort.

„Leg los.“

„Ich habe nicht genug Kraft, diese Verbindung lange aufrechtzuerhalten.“

Gerald spürte das Abflauen des telepathischen Tunnels. Clement verfügte über andere Stärken als Telepathie, die bei ihm noch schwächer ausgeprägt war als bei Gerald. Er betrachtete Sophies Gesicht. Er würde sie allein lassen. Wieder mal. Vielleicht war es besser so.

„Warte, ich komme ins Büro.“ Er beendete die Verbindung.

Sophie murmelte im Schlaf: „Bitte geh nicht.“

Er hatte keine Wahl. Seine Verpflichtungen zwangen ihn. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, hob er sie hoch, trug sie behutsam zu ihrem Bett. Er legte sie darauf ab, küsste ihre Stirn und deckte sie zu.

„Es tut mir leid“, flüsterte er.

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„Endlich!“

Jonathan hatte die alte Archivbox geöffnet. Das von einer Plastikhülle geschützte Schriftstück war vergilbt und rissig, sodass es wahrscheinlich in seinen Händen zerfallen wäre, hätte er es direkt berührt. Sein Aufschrei lenkte kurz die Blicke der Anwesenden auf sich, doch das scherte ihn herzlich wenig. Er wartete, bis sich die Mönche und Priester, denen der Zugang zu den Archiven gewährt war, wieder ihren Arbeiten zuwandten, ehe er sich an einen Tisch setzte und die Seite mit zwei Pinzetten aus der Box auf den Tisch legte. Zwei Tage hatte er nach diesen Aufzeichnungen gesucht. Pater Lucio hatte ihn die ganze Zeit misstrauisch beobachtet und Kardinal Angelo vermutlich stündlich Bericht erstattet. Er traute diesem Pater nicht.

Mit seinem Körper verdeckte Jonathan, was er vorhatte. Behutsam strich er über die Seite, wischte den Staub von der Folie, der sich trotz der sauberen Luft hier unten über die Jahre angesammelt hatte.

Er überflog die Zeilen, die in schwer zu entzifferndem Latein verfasst waren. Es würde ihn Zeit kosten, den Text des Alchemisten und Mathematikers Arthur von Haineck zu entziffern. Zuvor musste er den Text abschreiben, ehe Pater Lucio mitbekam, dass er nicht nach Aufzeichnungen über Vampirclans, sondern nach verbotenen alchemistischen Rezepten suchte. Rezepten, die ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus waren und deren Wirkung nur mit dem heutigen Wissen auf dem Gebiet der Genforschung zu erklären waren.

Auch wenn er nicht alles auf Anhieb verstand, merkte er schnell, dass es derselbe Text war, von welchem seine Familie einen Teil besaß. Es galt nun, die fehlenden Zutaten zu finden, um einen neuerlichen Fehlschlag zu verhindern. Manche waren im 21. Jahrhundert einfacher zu bekommen als zu von Hainecks Zeiten, andere dafür umso schwerer zu finden. Was seine Aufgabe als Jäger neu definieren würde. Vom Vampir- zum Blutjäger. Er grinste in sich hinein und hätte Pater Lucio am liebsten eine lange Nase gezeigt, weil dieser ihn noch immer dämlich begaffte.

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Die Nacht erschien Gerald kälter als zuvor. Er vermisste Sophie und ihre wärmende Nähe bereits, als er das Wohnhaus verließ und in den Wagen stieg.

Verdammt. Er roch sie noch immer, schmeckte sie und spürte sie auf seiner Haut. Für einen perfekten Moment waren ihre Seelen vereint gewesen. Sein Herz schlug bei diesem Gedanken schneller und er verspürte schon wieder Lust auf sie. Wie konnte etwas, das sich so perfekt anfühlte, so falsch sein?

Wenige Minuten später war er in der Agentur.

„Was ist los mit dir?“, begrüßte ihn Clement.

Na wunderbar, er hatte Geralds Konflikt sofort bemerkt.

„Ich möchte nicht darüber sprechen. Vielmehr interessiere ich mich für die Infos.“

„Natürlich.“ Clement sank in seinen Bürostuhl und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Was willst du zuerst hören?“

„Das überlass ich dir“, antwortete Gerald und versuchte krampfhaft, sich zu konzentrieren und Sophie aus seinen Gedanken zu verbannen. Doch das war zwecklos. In dieser Nacht hatte er eine Grenze überschritten, die es ihm nicht leicht machen würde, umzukehren.

Clement tippte etwas in den Computer und drehte den Bildschirm in Geralds Richtung. Ein roter Pfeil markierte eine Stelle auf der Karte der Wiener Innenstadt.

„Was ist das?“ Gerald beugte sich vor.

„Eine Bar nahe dem Stadtpark. Gerüchten zufolge soll es dort einen Treffpunkt der freien Liga geben.“

Die Bar lag Luftlinie keine zweihundert Meter von André Barovs Penthouse entfernt. Zufall oder Absicht? „Woher weißt du davon?“

„Die zwei aus der Pathologie, die wir festnehmen konnten und der Kerl, der noch am Leben war, als wir eintrafen.“ Clement strich sich über seine polierte Glatze. „Er hat gesungen, in der Hoffnung, wir könnten ihm helfen. Aber seine Wunden hatten ihn bereits zerfressen.“ Clement drehte den Schirm wieder zurück. „Was ist da unten passiert? Es waren die Waffen eines Jägers, die diese Morati-Vampire getötet haben.“

Es hatte keinen Sinn, Clement die Wahrheit zu verschweigen. Die Pathologie war mit Kameras ausgestattet, und auch wenn die Auswertung etwas dauerte, würde er es früher oder später erfahren.

„Es war Richters Tochter. Sie war in der Pathologie, um Roth zur Rede zu stellen. Die Moratis kamen ihr in die Quere.“

„Wo ist sie jetzt?“

„Ich habe sie nach Hause gebracht. Du weißt, dass ihr nichts geschehen soll.“

„Ist es wirklich nur das?“

„Lass das meine Sache sein.“

„Verstehe.“ Clement nickte. „Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.“

„Da bin ich im Moment nicht so sicher“, gab er zu und ging nach draußen, um eine Blutphiole aus dem Lagerschrank zu holen. Clement folgte ihm.

„Wenn du darüber reden willst …“

„Ich muss mir zuerst selbst im Klaren sein, was da mit mir passiert.“

„Schon gut.“ Clement nahm sich ebenfalls eine Phiole. „Aber denk dabei an die Agentur und den Rat.“

„Das tue ich. Immer. Das ist das Problem.“ Gerald trank einen Schluck und sank gegen die Tür eines Küchenschrankes.

„Was ist mit Jonathan? Du hast gesagt, du hättest auch über ihn etwas erfahren?“

„Das hätte ich beinahe vergessen“, antwortete sein Bruder. „Er befindet sich in den Archiven Roms.“

„In Rom? Wie ist es ihm gelungen, da reinzukommen?“

„Der Kopf eines Vampirs war seine Eintrittskarte.“

„Linus’ Kopf?“

„Den Beschreibungen nach, ja. Es sind im Moment nicht so viele Köpfe im Umlauf.“ Clement grinste.

Gerald trank den letzten Schluck, stellte die Phiole ab. „Was könnte er dort suchen?“

„Er führt auf jeden Fall etwas im Schilde. Wir sollten ihn nicht aus den Augen lassen.“

„Ich gebe dir in diesem Fall freie Hand“, sagte Gerald.

„Zuerst möchte ich mich in dieser Bar umsehen.“

„Ich halte es für keine gute Idee, wenn du allein reingehst.“

„Allein falle ich nicht auf und ich werde bei Tag gehen. Dich würde man sofort erkennen.“ Clement klang entschlossen. „Wenn dieser Dreckskerl recht hatte, dann wissen wir, wo wir sie am schmerzhaftesten treffen können.“

Clements Ansicht klang vernünftig, und solange die Agentur in Personalnöten war, mussten sie jede Möglichkeit ausloten, effektive Offensiven gegen die Clans der freien Liga zu führen, sollten diese die Rasse in Gefahr bringen.

„Ich möchte, dass du mich auf dem Laufenden hältst. Ich versuche, in der Zwischenzeit mehr über Jonathans Besuch in Rom herauszufinden.“

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Trotz des trüben Wintermorgens, der sich über den Fenstern ihrer Studiowohnung spannte, erwachte Sophie entspannt und glücklich. Sie streckte sich und atmete tief durch, sog den Duft der Liebe ein, der jeden Zentimeter des Raumes erfüllte.

Sophie tastete auf die rechte Betthälfte, in der Hoffnung ihn zu spüren. Ihre Hand strich über eine unbenutzte Decke. Wie es schien, hatte er sie nur hergebracht und sich danach aus dem Staub gemacht. Warum ärgerte sie sich darüber? Was hatte sie erwartet? Sie hatte ihn eingeladen, ihn gewissermaßen verführt. Vielleicht hatte er es lediglich als ein Angebot für einen One-Night-Stand gedeutet. Wieder einmal erkannte sie, dass sie nichts über ihn wusste, außer dass er ihre Gefühle und ihren Verstand durcheinanderbrachte.

Sophie stand auf, warf sich den Morgenmantel über und ging ins Wohnzimmer. Auch dieser Raum duftete nach ihm, weckte Erinnerungen an seine Berührungen und seine Wildheit, mit der er sie geliebt hatte, wie kein Mann zuvor. Umso enttäuschter war sie, dass er nicht mehr da war. Sie setzte sich auf den Teppich und vergrub ihre Finger in den flauschigen Fasern. Der euphorische Moment des Erwachens verblasste immer mehr. Sie hatte mit diesem Mann geschlafen, ohne auch nur einen Gedanken an Verhütung oder Sicherheit verschwendet zu haben. Zwar nahm sie die Pille, sodass sie nur schwerlich schwanger werden konnte, aber vor Krankheiten schützte das nicht. Auch wenn er ihr schon zwei Mal das Leben gerettet hatte, bedeutete das nicht, dass er kein Casanova war, der die Anzahl seiner Liebschaften schon lange nicht mehr zählte.

Sie versuchte, sich den Morgen nicht durch Schwarzmalerei zu verderben und nahm sich vor, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein. Sollte es je eins geben.

Einen Moment verharrte sie am Boden, kostete die Schwingungen aus, die bei den Gedanken an ihn immer noch durch sie flossen. Dann stand sie auf, um sich einen Kaffee zu machen. Dabei entdeckte sie in der Küche einen Zettel mit einer Notiz.

Ich bedanke mich für diese besondere Tasse Kaffee, die mich süchtig gemacht hat. Mein Herz kann es kaum erwarten, Dich wiederzusehen und ich entschuldige mich für mein plötzliches Verschwinden. Leider ruft die Pflicht.

In Liebe, G.

In Liebe.

Ein umwerfendes Glücksgefühl durchströmte sie.

Sofort schaltete sich ihr Misstrauen wieder ein. Vielleicht hatte er diesen Text schon zig Mal geschrieben, doch sie konnte nicht anders, als ihm seinen Aufbruch zu verzeihen. Süchtig nach ihr … Sie hoffte, dass er besonders dies nicht jeder Frau sagte.

Das bedeutete aber auch, dass sie ihn bald wiedersehen würde. Versöhnlich gestimmt duschte sie, zog sich an und wollte sich ein kleines Frühstück bereiten, als ihr Handy läutete und Dora sie dazu einlud.

Beim Treffen in einem Café mit Dora und Meike erzählte sie von ihrer Nacht mit Gerald, was die beiden zu spontanen Quietsch- und Kicheranfällen bewegte. Um sie wieder ein bisschen runterzuholen, erzählte sie auch von dem Notar. „Endlich kann ich meine Schulden bei euch bezahlen.“

„Ach, lass gut sein. Dafür sind Freunde da“, meinte Meike.

„Danke, dass ihr immer für mich da seid, das bedeutet mir sehr viel.“

„Jetzt nur nicht sentimental werden.“ Meike lächelte warmherzig. „Was hat eigentlich dein Vater beruflich gemacht?“

Ein unangenehmeres Terrain, weil sie lügen musste. „Er war eine Art Privatdetektiv, ein verdeckter Ermittler für spezielle Fälle.“ Wie immer, wenn es ihr unangenehm war, wich sie Meikes Blick aus und schaute aus dem Fenster.

Da sah sie ihn.

Den Mann mit der Glatze.

Er wirkte verändert. Seinen Anzug hatte er gegen zerrissene Jeans und eine alte Jacke getauscht. Seinen glatt rasierten Kopf verbarg er unter einer Kapuze und eine Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Dennoch erkannte sie ihn wieder. Die Maskerade nützte ihm nichts, er war der Mörder ihres Vaters.

„Was waren das für Fälle?“, bohrte Meike nach.

„Entschuldigt ihr mich kurz?“ Sie sprang auf und lief zur Tür.

Wie jemand, der vorhatte, etwas zu stehlen, schlich der Glatzkopf über den Platz und schlängelte sich durch die Menschenmassen. Seiner Verkleidung nach zu urteilen, war er kein Jäger, wie sie zuerst geglaubt hatte, sondern ein Vampir, der sich vor dem Tageslicht schützte. Doch warum hatte ihn Gerald nicht erkannt? Sie lief dem Mann hinterher. Er schien nicht zu merken, dass sie ihn verfolgte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte Dominiks Nummer. Nach dem ersten Rufzeichen ging er dran.

„Ist Wilhelm bei dir?“

„Ja, ist gestern Nacht noch aufgetaucht, nachdem ich Julius von deinem verrückten Plan erzählt habe. Wir haben uns verdammt noch mal Sorgen um dich gemacht und die halbe Nacht damit verbracht, dich zu suchen.“

„Ich bin wohlauf.“ Sie hielt einen Sicherheitsabstand, damit der Fremde sie weiterhin nicht bemerkte.

„Dann bin ich beruhigt“, antwortete Dominik.

„Verfügen wir über Patronen, die einen Vampir nur betäuben und nicht sofort töten?“ Der Mann bog vor ihr ab. Sie schlich bis zur Ecke, wartete, bis er wieder ein Stück zurückgelegt hatte, dann nahm sie die Verfolgung erneut auf.

„Ja, dein Vater hat genau solche entwickelt, um den Mörder deiner Mutter in diese Kammer zu sperren. Aber sie wurden noch nie an einer dieser Kreaturen getestet.“

„Dann macht euch bereit, das zu tun. Wir werden den Mörder meines Vaters fangen.“

„Jetzt? Bei Tag? Bist du sicher?“

„Ich bin ihm gerade auf der Spur. Er geht in ein verwahrlostes Lokal.“ Er klopfte vier Mal abwechselnd kurz und lang. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür.

„Verflucht, Sophie, diese Alleingänge sind gefährlich.“ Sie ist wie ihr Vater, Wilhelm, hörst du, wie ihr Vater, hörte sie ihn flüstern.

„Beeilt euch lieber. Ich werde mich dort drinnen mal umsehen.“

„Wir haben die Position deines Handys. Es ist nicht weit. Warte wenigstens, bis wir da sind. Hörst du?“

Sie legte auf, dachte nach, ob sie wirklich warten sollte, bis Dominik und Wilhelm auftauchten. Womöglich verlor sie die Spur, wenn sie die Zeit hier draußen vertrödelte, um auf die beiden Streithähne zu warten. Sie wusste nicht, was sie hinter der Tür erwartete. Es konnte ein Lokal sein, aber auch ein Vampirhort, in welchem diese Parasiten nur darauf warteten, bis jemand wie sie ins Nest gestolpert kam. Du bist verrückt, rügte sie sich. Jeder Vampir würde sofort riechen, dass sie ein Mensch war. Sie zögerte, dann schritt sie entschlossen auf die Tür zu, klopfte im selben Rhythmus, wie sie es zuvor bei dem Mann gesehen hatte.

Schlechte Luft nach billigem Rasierwasser, Alkohol und Ausdünstungen schlug ihr entgegen, als sich die Tür öffnete und ein Mann mit fahler Gesichtsfarbe und braunen Zähnen erschien. Er trug Jeans und ein verdrecktes Unterhemd.

„Guten Abend“, grüßte er in überraschend freundlichem Ton, musterte Sophie von Kopf bis Fuß und lächelte. „Was führt dich hierher?“ Er öffnete seinen Mund, die Spitzen seiner Fänge schoben sich langsam hervor.

„Jemand hat mich hergebeten … ein Mann. Er meinte, hier seien wir ungestört.“ Sophie versuchte, locker zu wirken.

„Das stimmt“, antwortete er. „Wie schade, dass du schon verabredet bist.“ Mit seiner grauen Zunge fuhr er sich über die Lippen. Unter der Jeans beulte sich seine Erregung. „Aber komm doch rein.“ Er schaute an ihr vorbei, während sie in den beengten Vorraum trat. Der Mann ließ seinen Blick aufmerksam über die Straße schweifen, ehe er die Tür schloss. „Man kann nie wissen, wer dort draußen auf uns lauert. Hier geht es nach unten, meine Süße, amüsier dich.“

Er zeigte auf die Treppe, die am Ende des Vorraumes steil nach unten führte. Heavy Metal Musik und Licht, dass seine Farbe in kurzen Abständen wechselte, fielen durch die Tür am Ende der Treppe.

„Nur keine Scheu, Kleines. Hier beißt niemand.“

Sein Grinsen explodierte vor Ironie und sie bereute bereits, nicht auf Dominik gehört zu haben. Unbewaffnet in die Höhle des Löwen zu gehen, war nicht sonderlich schlau, aber nun gab es kein Zurück mehr. Vorsichtig stieg sie die Stufen nach unten. Sie spürte den Blick des Türstehers in ihrem Rücken. Kleine gierige Augen, die sich nach ihrem Blut sehnten und nur darauf warteten, dass sie kehrt machte. Diesen Gefallen würde sie dem Kerl nicht tun.

Am unteren Ende der Treppe lagen die Räumlichkeiten einer Bar vor ihr. Grobschlächtige Möbel und schummriges Licht, in dem sie nur auf wenige Meter etwas erkannte, verliehen dem Ort einen alles andere als einladenden Eindruck. Am Tresen lümmelten sich einige zwielichtige Gestalten. Dahinter stand eine vollbusige Bardame mit kahl geschorenem Kopf. Sie war nur spärlich bekleidet, mit weitmaschigen Netzstoffen, die nichts verhüllten und den Körper in ein Gitternetz unterteilten.

Es stank, als sei hier das letzte Mal vor dem Zweiten Weltkrieg gelüftet worden. Wie durch eine unsichtbare Wand tauchte sie ein in diese fremde Welt. Umhüllt von schallendem Heavy Metal Lärm, ging sie an den Tischen vorbei. Die Blicke der Gäste schwangen in ihre Richtung, hafteten auf ihr.

Sie fragte sich plötzlich, was sie eigentlich tun würde, wenn sie dem Mann gegenüberstand. Heiß und kalt überlief es sie, als ihr klar wurde, dass sie es nicht wusste. Bei Gott, sie konnte ihn kaum bitten, mit ihr vor die Tür zu gehen. Okay, zumindest wusste sie nun, dass der Glatzkopf ein Vampir und kein Jäger wie Gerald war. Wusste er es nicht? Schwer zu sagen, denn auch ihr Vater hatte oft Monate recherchiert, um einen Vampir zu enttarnen.

„Hey Schätzchen, wie wär’s mit uns beiden“, schnurrte sie ein Kerl an, während sie sich an ihm vorbeischob.

Sie antwortete mit einem gezwungenen Lächeln. „Schon verabredet …“, rief sie ihm zu, formte einen Schmollmund und ging weiter.

Mehrere Hände fassten nach ihr, berührten sie an Stellen, wo sie jedem normalen Mann die Finger gebrochen hätte. Sie ließ sie gewähren, ging immer nur weiter und schaute dennoch in jedes Gesicht, in der Hoffnung, den Mann zu finden.

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Mit nervösen Schritten lief Gerald in seinem Büro umher, wartete auf die nächste Botschaft von Clement. Als es in den Schläfen brannte, schloss er die Augen und empfing die Stimme seines Bruders.

„Der Kerl hatte recht. Scheint eine Bar der freien Liga zu sein.“ Seine Stimme klang unendlich weit entfernt. „Als hätte sich der ganze Abschaum Wiens hier versammelt.“

Die Verbindung brach ab. Gerald hatte kein gutes Gefühl, Clement allein diese Bar observieren zu lassen. Einzeln waren die Vampire der freien Liga keine Gegner, aber in der Gruppe würde Clement gegen sie keine Chance haben.

Erneut brannte es in seinen Schläfen. „Was ist passiert?“

„Richters Tochter ist hier. Verdammt. Sie muss mir gefolgt sein.“

Das Blut gefror in seinen Adern. „Ich komme.“

„Nein, bleib, wo du bist. Hier sind zu viele, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dich in die Finger zu bekommen. Ich werde sie hier rausbringen.“

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Sophie war mittlerweile so weit in den unterirdischen Komplex der weitläufigen Bar vorgedrungen, dass sie die Orientierung verloren hatte. Von außen hatte sie es für eine kleine Hinterhofbar gehalten, doch in Wirklichkeit war es eine Anlage mit mehreren Räumen, die durch türlose Durchgänge verbunden waren. Die Wände waren nur schlampig verputzt und die Decke stützten dicke Holzbalken und Fachwerkkonstruktionen. In einigen Räumen gab es nur Tische, in anderen eine weitere Bar und ein Bereich verfügte über eine Bühne mit Bänken davor. Es waren wenige Gäste anwesend. Nicht alle waren Vampire. Unter ihnen befand sich eine leicht bekleidete Frau, die sich stöhnend beim Kuss eines Vampirs rekelte. Ein dünnes Rinnsal des roten Lebenssaftes floss von ihrem Hals über das Dekolleté.

Allmählich gab Sophie die Hoffnung auf, den Glatzkopf hier unten zu finden. Sie wollte nur noch hier raus. Als sie sich umdrehte, um den Weg zurückzugehen, versperrte ihr ein in Leder gekleideter Kerl die Sicht.

„Wohin willst du, Süße?“ Er berührte ihre Wange, ihren Hals. „Keine Narben“, hauchte er ihr ins Ohr.

„Lass mich, ich bin schon verabredet.“

„Ja, mit mir.“ Er grinste und entblößte seine mörderische Zahnpracht.

Sie wollte an ihm vorbeischlüpfen, doch er hielt sie zurück, packte sie an den Haaren und zog sie an sich. „Bevor ich nicht wenigstens einen Kuss bekomme, gehst du nirgendwo hin.“

Einige der Gäste betrachteten das Schauspiel mit Interesse. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich eine dieser Blutbestien ihrer annahm.

„Ach, da bist du ja“, hörte sie jemanden hinter sich. „Pfoten weg, sie gehört mir!“

„Sagt wer?“, fauchte der Vampir, fletschte die Zähne und zog Sophie enger an sich.

„Ich.“ Schockiert sah sie den Mörder ihres Vaters, der sich an ihr vorbeischob. „Willst du Ärger?“ Glatzkopf packte den Lederclown, drückte ihn gegen die Wand und stellte sich schützend vor sie, wobei sie nicht wusste, ob sie damit in Sicherheit war oder ob er sie wiedererkannt hatte und die Chance nutzten wollte, sie auch noch um die Ecke zu bringen.

„Schon gut, schon gut.“ Der Kerl hob die Hände. „Nimm sie, ist sowieso nicht mein Typ, ein Knochengerüst mit zu kleinen Titten.“ Der Mann wich zurück, als ihr Retter erneut die Fäuste zum Kampf erhob.

„Das ist kein Ort für Sie“, flüsterte der Glatzköpfige mit ruhiger Stimme, nachdem der Ledervampir verschwunden war, und verwirrte sie vollends.

Er packte sie am Arm und zog sie hinter sich her, wobei er zielsicher an den Tischen vorbei in Richtung Treppe steuerte. Er geleitete sie die Stufen hinauf, zog sich die Kapuze weit in die Stirn und setzte die Sonnenbrille auf. Dem Türsteher nickte er kurz zu.

Gemeinsam verließen sie die Bar. Ihr unerwarteter Retter machte keine Anstalten, in die Bar zurückzukehren, sondern wartete, bis die Tür geschlossen war, ehe er sich ihr mit finsterem Blick zuwandte.

„Wie kommen Sie auf die verrückte Idee, in diese Bar zu gehen?“ Seine Rüge klang, als wolle er seine eigene Schwester belehren.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte sie.

Er wollte antworten, kam jedoch nicht dazu. Dominik und Wilhelm stürmten mit Pistolen im Anschlag herbei. Die Reaktion des Mannes war anders als erwartet. Anstatt zu fliehen oder sich auf die Jäger zu stürzen, wandte er sich blitzartig um und stellte sich schützend vor sie.

Was ging hier vor?

Durch den Spalt zwischen Gesicht und Brille sah sie die Augen des Mannes, die sich raubtierartig veränderten. Seine Fänge traten hervor. Er war zweifellos ein Vampir. Aber warum beschützte er sie?

Bevor sie dazu kam, die Situation zu begreifen oder der Glatze zu erklären, wer die Männer waren, fielen zwei Schüsse. Die Kugeln trafen den Vampir in Oberschenkel und Schulter, ohne dass dieser sich bewegte. Nach ein paar Schrecksekunden, in denen keiner der Männer sich rührte, stürzte sich der Vampir auf die Jäger, riss sie von den Beinen. Die Szenerie verschwamm zu einem grauen Schemen. Es dauerte nicht lange, bis der Inhalt der betäubenden Patronen, die sie Dominik aufgetragen hatte, seine Wirkung tat und der Glatzkopf bewusstlos zu Boden sank. Wilhelm, dessen Gesicht blutüberströmt war, richtete sich auf und zog seinen Degen, um es wie ein Jäger zu Ende zu bringen.

„Nein, warte!“ Sie beugte sich schützend über den Vampir. Zuerst hatte sie daran gedacht, ihn zum Verhör in die Zelle zu bringen. Nun aber wollte sie verstehen, warum er sich vor sie gestellt hatte. Sie zweifelte an ihrer Vorverurteilung des Mannes. War sie dem Falschen gefolgt? „Wir bringen ihn ins Quartier.“

„Aber wir wissen nicht, ob die Zelle deines Vaters funktioniert. Wenn etwas schiefgeht, sind wir alle tot.“ Wilhelm schob die Waffe zurück in die Scheide und wischte mit einem Tuch über die blutende Schnittwunde über seinem Auge.

„Ich möchte es so.“

„Wie du wünschst, du bist der Boss.“ Wilhelm hob mit Dominiks Hilfe den reglosen Vampir hoch.

„Wir müssen uns beeilen“, drängte Dominik, den es weit schlimmer als Wilhelm erwischt hatte. Der Angriff des Vampirs war kurz, aber gezielt gewesen. Dominiks Kleidung hing in Fetzen, er hatte blutende Schnitt- und Platzwunden und so, wie er sich die Seite hielt, schätzte sie, er hatte mindestens eine gebrochene Rippe. „Ich glaube nicht, dass unsere Tat unbemerkt geblieben ist.“ Im Gegensatz zu Wilhelm schien er nicht enttäuscht über Sophies Wunsch zu sein, den Vampir in die Zelle zu bringen, sondern akzeptierte ihre Entscheidung. „Kommt, schnell.“

Passanten am Ende der Gasse verfolgten mit schockiertem Blick und der Hand vor dem Mund, wie sie den Vampir schleppten. Wenigstens zwei telefonierten mit Handys.

„Hier rein“, rief Dominik und zeigte auf eine Tür zu einem ungepflegten Haus. „Hier gibt es einen Zugang zum U-Bahn Netz.“

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„Clement!“

Geralds telepathischer Ruf blieb einmal mehr unbeantwortet. Er öffnete die Augen, atmete tief, versuchte, die Erschöpfung der vergeblichen Versuche, Clement zu erreichen, abzuschütteln. Die Distanz von der Agentur bis in die Innenstadt kostete Kraft. Seit die Verbindung abgebrochen war und Clement versprochen hatte, Sophie aus der Bar zu bringen, hatte er sich nicht mehr gemeldet. Etwas stimmte nicht.

Wäre Clements Aktion nach Plan verlaufen, hätte er Gerald benachrichtigt. Erneut schloss er die Augen, rief Clements Namen. Die Angst, die ihn seit Monaten plagte, nach Romain auch noch Clement zu verlieren, hatte ihn wieder im Griff und dazu gesellte sich nun noch die um Sophie. Er hätte Clement niemals erlauben dürfen, diesen Ort allein unter die Lupe zu nehmen.

Nun hatte er genug Zeit und Energie mit dem telepathischen Weg verschwendet. Er machte sich auf den Weg zum Stadtpark. Er zog den Ledermantel an und verbarg sein Gesicht hinter einem schwarzen Bikerkopftuch und einem Mundschutz.

Es war helllichter Tag, und obwohl dunkle Wolken am Himmel hingen, spürte er bereits nach wenigen Metern, wie das Licht auf seiner Haut brannte. Mit gesenktem Haupt eilte er zu der Adresse, die ihm Clement gesagt hatte. Er lief von Schatten zu Schatten. Es schützte ihn nur wenig vor der Sonne.

Als er sein Ziel erreichte, pochten seine Wangen vor Schmerz. Vor der Tür zur Bar hielt er inne, lauschte und atmete tief ein. Er roch das Blut eines Vampirs, und als er die Blutspritzer auf dem Asphalt vor der Bar entdeckte, lief es ihm eiskalt über den Rücken. Mit dem Zeigefinger fuhr er über die feinen Blutspritzer.

Clement. Verdammt. Sein Herz zog sich zusammen. Mit der Faust schlug er auf den Boden. Dann stemmte er sich hoch, trat an die Tür und hämmerte mit festen Schlägen den Takt in das Holz, den Clement von dem toten Moratischergen bekommen hatte.

Der Zugang öffnete sich. Ohne zu zögern, packte Gerald den Mann im Eingang und schob ihn in den Vorraum.

„Was habt ihr mit den beiden gemacht?“ Sein Blut kochte vor Wut. Die Angst um Clement und Sophie machte ihn rasend. „Rede!“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, presste der Mann hervor.

Gerald schaute in die weit aufgerissenen Augen des Mannes, drang in seinen Geist ein, um sich zu nehmen, wonach er suchte. Der Türsteher versuchte, sich zu wehren. Dennoch drang Gerald weit genug vor. Er sah, wie er Sophie anmachte, als sie Clement in die Bar gefolgt war und wie kurz darauf sein Bruder Sophie hinausgeleitete und die Tür sich schloss. Der Türsteher schien die Wahrheit gesagt zu haben. Gerald ließ von dem Mann ab, der kreidebleich auf einen wackligen Holzstuhl sank.

„Glück gehabt.“ Er mied es, die Treppe hinunter in die Bar zu gehen. Er zweifelte nicht an seiner Stärke, aber er war auch kein Verrückter, sondern wusste, wo seine Grenzen lagen. Stattdessen machte er kehrt, eilte in die kühle Dunkelheit seines Autos zurück. Erneut versuchte er, Clement aufzuspüren. Verdammt, er musste nach den beiden suchen.

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Dominiks Wissen über unterirdische Tunnel und Verbindungen, die den historischen Stadtkern Wiens durchzogen, brachte sie sicher zurück in das Hauptquartier des Ordens und sie konnten den Vampir in die Zelle bringen, bevor die Wirkung der Patronen nachließ. Der Raum glich einem Panzertresor mit verkleideten Wänden aus mehrschichtig aufgebauten Elementen gehärteter Edelstahlbleche und Trägern. Er verfügte über eine Metalltoilette, ein Waschbecken und eine Liege. Wilhelm und Dominik packten den Vampir hinauf, zogen die Fesseln aus reißfester Aramidfaser fest. Sophie wollte sie zuerst davon abhalten, doch die beiden Jäger bestanden darauf und ihre Verletzungen waren ein überzeugendes Argument.

„Das ist kein gewöhnlicher Gossenvampir“, meinte Wilhelm nach genauerer Betrachtung. „Wenn du dir seine Zähne und sein Gesicht ansiehst, könnte man meinen, dass er ein Reinblüter ist, also ein Vampir, der als solcher geboren wurde.“

Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete, sie hatte sich nie für Unterscheidungen innerhalb der Vampirgesellschaft interessiert.

„Verdammt, du scheinst recht zu haben.“ Dominik öffnete die Lider des betäubten Vampirs und betrachtete die geweiteten Pupillen. „Ich habe mit Jonathan Firenze auf der Beerdigung gesprochen. Er ist auf der Suche nach einem Vampir reinen Blutes, um ein Experiment zu vollenden.“ Er zog die Lippen des Vampirs mit hoch, als kontrolliere er das Maul eines Hundes.

„Nein, Jonathan Firenze wird nichts von ihm erfahren. Habt ihr mich verstanden?“ Ihre Stimme hallte im Befehlston durch den Raum. Niemals durfte dieser Kerl etwas von dem Vampir erfahren. Sie traute ihm kaum mehr als diesen Kreaturen.

„Wie du wünschst.“ Dominik nickte.

Wilhelm reagierte nicht auf ihre Worte, sondern starrte Dominik finster an, ehe er sich umwandte und die Zelle verließ.

„Warte“, rief ihm Sophie hinterher.

Er hielt inne, schaute mit fragendem Blick zu ihr.

„Hast du mich verstanden, Wilhelm? Weder Jonathan Firenze noch irgendwer anders erfährt davon.“

Er schüttelte den Kopf, ohne zu antworten und verschwand.

„Verdammter Starrkopf“, fluchte sie und erinnerte sich an das Papier auf Wilhelms Schreibtisch mit Jonathans Nummer.

„Er war schon immer etwas eigenartig.“ Dominik kam aus der Zelle, schloss die Tür und hinkte zur Bar. Zischend vor Schmerz lehnte er sich gegen einen Barhocker. Er griff nach einer Flasche Schnaps, nahm einen kräftigen Schluck und schnappte sich ein schmutziges Tuch, das er mit der farblosen Flüssigkeit tränkte.

„Warte, ich mach das.“ Sie nahm ihm die Sachen aus den Händen. „Das ist ja barbarisch.“ Sie stellte das Zeug beiseite und holte den Verbandskasten aus dem Labor. „Zieh das Hemd aus.“

„Es geht schon.“ Dominik schüttelte den Kopf.

„Wenn sich das entzündet, geht’s morgen ins Krankenhaus oder schlimmer.“

Seufzend knöpfte er das Oberteil auf. Ein knochiger Oberkörper kam zum Vorschein, von Narben und faltiger Haut überzogen. Er hatte tiefe Risswunden und überall Blutergüsse. Anhand seiner langsamen, schmerzverzerrten Bewegungen verstärkte sich Sophies Verdacht, dass Rippen gebrochen waren.

„Verdammt“, fluchte er, als sie mit dem Desinfiziermittel über seine Wunden tupfte. „Das ist barbarisch.“

„Mag sein, aber zumindest desinfizierend.“ Sie reinigte jede offene Wunde und verband sie. „Willst du nicht wenigstens deine gebrochenen Rippen von einem Arzt untersuchen lassen?“

„Vergiss es. In all den Jahren hab ich nie einen Arzt gebraucht und ich hatte schon schlimmere Verletzungen.“ Er biss die Zähne zusammen und harrte aus, bis auch der letzte Schnitt unter einem weißen Wickel verschwunden war.

„Wie du meinst.“ Dora hätte das bestimmt tausendmal besser gekonnt, aber sie hätte auch nicht gezögert, Dominik wenigstens in eine Ambulanz zu bringen. „Von welcher Art Experiment hat Jonathan Firenze gesprochen?“

„Er hat sich in Schweigen gehüllt, was das betrifft.“ Dominik zog sich ein frisches Hemd an und rundete Sophies Erste Hilfe mit einem weiteren Schluck Pflaumenschnaps ab.

„Woher kennst du ihn?“

„Er … er hat mich auf der Beerdigung angesprochen.“

„Ich traue ihm nicht und Vater hat es auch nicht getan.“ Sie stellte den Verbandskasten auf den Tresen und warf die blutigen Wundtücher in einen Müllbeutel.

„Kann ich nicht beurteilen“, entgegnete Dominik und schüttelte den Kopf. „Seine Pläne, die verbleibenden Jägerorden an einen Tisch zu bringen, waren hingegen äußerst interessant. Was meinst du, sollten wir seiner Einladung folgen, von der er gesprochen hat?“

Dominiks Worte stimmten sie nicht um, aber sie halfen, die Sache objektiver zu sehen. „Es ist nichts verloren, wenn wir uns anhören, was er zu sagen hat.“

In diesem Moment unterbrach ein markerschütternder Schrei die Unterhaltung.

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Stundenlang suchte Gerald nach Clement, rief ihn immer wieder telepathisch, ohne eine Antwort zu bekommen oder eine Spur zu finden. Bis auf die wenigen Blutspritzer vor dem Zugang zur Bar gab es praktisch nichts, was ihm einen Anhaltspunkt gab. Er war auch bei Sophies Wohnung gewesen, hatte versucht, sie anzurufen, doch sie war ebenso wie sein Bruder spurlos verschwunden.

Er war halb wahnsinnig vor Sorge und jeder Quadratzentimeter seiner Haut brannte wie Feuer, als er in das Hauptquartier der Agentur zurückkam. Erschöpft kroch er aus dem Auto, schleppte sich durch den Tunnel zu seinem Quartier. Zwei der neuen Agenten, die gerade mit Alexandre Montiel vom Training kamen, betrachteten ihn fragend. Alexandre kam herbeigeeilt, Gerald zu stützen.

„Mein Gott, wo warst du, ist was geschehen? Brauchst du Hilfe?“

„Danke, ich komme zurecht. Ich brauche nur Blut und Ruhe. Zu viel Tageslicht. Ich habe Clement gesucht. Er ist nicht von seiner Erkundungstour zurückgekehrt.“ Er berichtete Alexandre in Kurzfassung, was geschehen war.

„In Ordnung, mach dir keine Sorgen, ruh dich aus. Ich kümmere mich inzwischen um alles und schicke Dave und Slatko, nach Clement zu suchen, wenn du es erlaubst.“

„Das wäre eine Hilfe.“ Damit setzte Gerald den Weg zu seinem geräumigen Ruhezimmer fort. Er schloss die Tür, fiel gegen die schalldichte Wand und atmete tief durch. Dieses Mal hatte er zu sehr mit dem Feuer gespielt. Er betrachtete sein Gesicht ihm Spiegel. Die Haut war dunkelrot und warf an einigen Stellen Blasen.

Ohne zu zögern, riss er die beheizte Minibar auf und trank drei Konserven Blut mit einem Zug. Dann stieg er unter die eiskalte Dusche, um seine Haut zu kühlen. Es dämpfte den Schmerz, aber die Ruhe des Zimmers und die Entspannung des Wassers ließen die Erschöpfung noch mehr über ihn hereinbrechen. Als er das Badezimmer verließ, musste er sich erst einmal aufs Bett setzen. Der Raum begann, sich zu drehen und Übelkeit erfasste ihn. Als er die Augen schloss, hatte er das Gefühl, zu fallen, sah Clements Gesicht vor sich, dann erschien Romains, und schließlich starrte er auf die niedergebrannte Ruine eines Schlosses. Der Anblick des Gebäudes zog ihn tiefer in seine Erinnerung, ließ ihn durch einen Tunnel aus Bildern fallen.

Es war dunkel. Er hörte Knacken und Knistern und roch den beißenden Gestank von verbranntem Holz.

Er riss die Augen auf. Das Zimmer war in dicke Wolken aus grauem Rauch gehüllt. Hustend richtete er sich auf. Der Rauch brannte wie Feuer in seinen Augen. Alles drehte sich. Stolpernd kam er auf die Beine, tastete sich durch den Raum zum Fenster. Der dünne, weiße Lichtstreifen zwischen den Fensterläden ließ erahnen, dass es Tag sein musste. Er mied es, das Fenster zu öffnen, wollte das Feuer nicht durch den Luftzug nähren.

Jemand riss die Tür auf. „Gerald … bist du wach?“ Romain rannte in den Raum.

„Ja.“

„Komm, wir müssen raus hier!“ Sein Bruder packte Geralds Arm und zerrte ihn auf den Gang. Lodernde Flammen versperrten eine Seite des Ganges. „Der Westflügel steht komplett in Flammen.“

„Was ist geschehen?“ Gerald war noch immer verwirrt. Die jähe Rückkehr aus dem Vampirschlaf lähmte seinen Gedankenfluss.

„Jäger, sie überfallen das Schloss.“

Schüsse krachten und Scheiben barsten. Gerald blickte über die Schulter in die Flammen. Die Erkenntnis lähmte ihn. Im Westflügel befanden sich etliche Zimmer und wem immer die Flucht nicht gelungen war, für den käme jede Hilfe zu spät.

Sie liefen die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Clement wartete mit fünf weiteren Mitgliedern seines Clans und inmitten der Vermonts sah er André Barov in voller Kampfmontur.

„Wo ist der Rest?“, fragte Gerald. „Wo sind Mutter und Vater?“

Clement senkte den Blick. „Eingeschlossen in den Flammen.“

Nein!

Gerald schaute hoch. Flammen peitschten nun aus beiden Flügeln des lang gezogenen Schlosses. Er hörte Schreie, die schnell verstummten. Ihm war, als würde ihm alle Luft genommen. Er wollte hinrennen, seine Eltern retten.

Eine Hand legte sich behutsam auf seine Schulter.

„Es hat keinen Sinn, Gerald. Wir müssen durch den Tunnel in die Stadt fliehen“, hörte er André sagen. „Es tut mir leid. Als ich von den Plänen der Jäger erfuhr und niemanden auf telephatischem Weg erreichte, bin ich die Nacht durchgeritten. Ich kam zu spät.“

Gerald schluckte schwer. Er fühlte sich von einer unsichtbaren Last erdrückt. Ein eisig prickelnder Strom lief durch seine Glieder, als sein Blick noch einmal auf die peitschenden Flammen fiel, die seine Familie verschlangen. Es erschien alles irreal, als schaue er durch die Augen eines Fremden und doch war es die Wirklichkeit.

„Du hast uns dennoch gewarnt, André. Und du hast dein Leben für unseren Clan riskiert. Dafür stehe ich auf ewig in deiner Schuld.“

Eine heftige Explosion riss das Schlosstor aus den Angeln.

„Wir müssen los“, rief Romain. „Uns bleibt kaum noch Zeit.“ Schüsse surrten von draußen herein.

Gemeinsam liefen sie zur Kellertreppe und hinab in den Weinkeller. Der Zugang zum Tunnel lag in einem leeren Weinfass. Clement und Romain hoben den locker sitzenden Deckel beiseite. Dahinter offenbarte sich ihnen ein grob in Fels und Erdreich geschlagener Tunnel, der knietief mit Wasser geflutet war. Sie stiegen in das Weinfass, als eine weitere heftige Erschütterung das Schloss erfasste. Es bildeten sich bereits Risse in der Kellerdecke und ein Teil stürzte zusammen. Der Weg nach oben war verschüttet.

Das Schloss war verloren.

Gerald riss die Augen auf. Für den Moment gelang es ihm, sich von den Fesseln dieser grausamen Erinnerung zu befreien. Immer wenn er erschöpft war, überkamen ihn die Bilder jener Nacht. Wenn Clement etwas zugestoßen war, dann gab es nur noch ihn, den letzten Ast des Stammbaumes der Vermonts. Welche Berechtigung hatte er dann noch, sich Clan zu nennen, welches Recht, im inneren Rat zu sitzen und über die Agentur zu bestimmen?

Aber das war jetzt Nebensache. Noch hatte er keine Gewissheit über Clements Tod, ebenso wenig wusste er, was mit Sophie geschehen war. Der Gedanke, nur eine geliebte Seele von beiden zu verlieren, war unerträglich. Er würde den Mörder bis ans Ende der Welt jagen.

Es war an der Zeit, mit André über seinen Clan zu sprechen und vielleicht konnte ihm sein Freund auch einen Ratschlag geben, wie er mit seinen Gefühlen für Sophie umgehen sollte. André hatte im letzten Sommer Ähnliches durchgemacht, als Natalie Adam in sein Leben getreten war und er hatte sich trotz aller Gesetze für Natalie entschieden. Was Sophie betraf, war die Sache wesentlich komplexer. Sie war keine Unwissende wie Natalie, sie wusste über sein Volk Bescheid und nicht nur das, sie hasste es.

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Der Schrei des Vampirs hallte durch den Saal und ging ihr unter die Haut. Es war ein Schrei voller Zorn. Sophie schaute zu Dominik, der mit den Schultern zuckte.

„Unser Gast ist erwacht“, sagte er gelassen. „Nun wird sich zeigen, ob dein Vater sich mit dieser Zelle ein Denkmal gesetzt hat.“

„Dann werde ich mal nach ihm sehen.“ Sie stand auf, trat vor die Tür der Zelle.

„Soll ich mitkommen?“

„Ich gehe erst mal allein rein“, entgegnete sie, denn sie musste das jetzt durchziehen. Sie hatte Angst, aber es ging hier um mehr als ihre Gefühle.

„Die Zelle wurde noch nie getestet.“

„Er wird mir nichts tun.“ Diese Schlussfolgerung entsprang mehr einem Wunschdenken als der Wahrheit. Sophie wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn er sie zu Gesicht bekam, jetzt, da sie ihn eingesperrt hatten.

Dominik griff vorsorglich nach seiner Waffe und stand auf. „Ich warte hier, schrei, wenn es Probleme gibt.“

„Das werde ich.“

Vorausgesetzt, sie kam noch dazu. Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch nahm zu, als sie den Code eintippte. Die Hydraulikzylinder öffneten sich der Reihe nach, dann setzte ein Elektromotor die schwere Tür in Gang, die in den schmalen Vorraum der Zelle führte, der mit einer einseitig durchlässigen Spiegelwand von der eigentlichen Zelle getrennt war.

Mit hochrotem Kopf, zornverzerrter Miene und fingerlangen Reißzähnen, die wie tödliche Klingen wirkten, versuchte der Vampir, sich gegen die Fesseln zu stemmen, ohne dass sich diese auch nur einen Millimeter dehnten.

„Ich schließe jetzt die Tür“, sagte sie zu Dominik.

Die Metalltür rastete ein und die Hydraulikzylinder schoben ihre Kolbenstangen in die Vertiefungen des Türrahmens. Nun war sie hier gefangen. Sollte er sich losreißen, würde sie der Zelle nicht schnell genug entkommen können. Sie atmete tief durch und versuchte, die aufkommende Unruhe zu unterdrücken. Die Anspannung und die warme, stickige Luft in diesem Raum trieben ihr Schweiß auf die Stirn.

An der Wand aus dickem Spiegelglas sträubte sich alles in ihr, die Zelle zu betreten. Nicht nur, weil sie Angst vor dem Vampir hatte, sondern ihm unter die Augen zu treten, nachdem er ihr geholfen hatte. Ohne ihn würde sie nun blutleer wie vergewaltigt in einer Gasse liegen, nur weil sie ohne nachzudenken in diese Bar gegangen war. Nach ihrem Erlebnis in der Pathologie hätte sie es besser wissen sollen, was Alleingänge betraf. Sie war keine Jägerin, nur ein Lehrling, der seine Ausbildung abgebrochen hatte.

Wenige Sekunden stand sie hinter der Glaswand, da beruhigte der Vampir sich, hob den Kopf und schaute in ihre Richtung.

„Ich sehe dich nicht, aber ich weiß, dass du da bist, ich fühle es, ich rieche es …“ Er brach ab, sog die Luft tief ein und starrte ihr aus weit aufgerissenen Augen entgegen.

Sein Blick ließ sie erzittern, lief ihr eiskalt den Rücken hinunter.

Sophie hielt es nicht länger aus, sich zu verstecken. Es hatte ohnehin keinen Zweck. Die verspiegelte Glaswand schien keine Wirkung auf die Sinne eines Vampirs zu haben. Hoffentlich funktionierten die anderen Sicherheitsvorkehrungen besser. Sie öffnete die Schlösser der gläsernen Verbindungstür, die der Schließmechanik der Metalltür in nichts nachstand. Mit bleiernen Schritten betrat sie die Kammer. Er folgte ihr mit seinen Augen, ohne ein Wort zu sagen. Selbst als sie stehen blieb, blieb er stumm, musterte sie und sie erkannte an seiner versteinerten Miene nicht, ob er verwirrt war oder sie auf der Stelle töten wollte.

„Überrascht?“, fragte sie ihn. Sophie versuchte, an das Video und die Stelle zu denken, als er aufgetaucht und ihr Vater zusammengebrochen war. Es machte es einfacher, schürte den Schmerz und die Wut, die sich wie ein schützender Mantel um sie legten und alle anderen Gefühle abblockten.

Der Glatzkopf antwortete nicht, sondern atmete tief durch und entspannte seinen Zorn. Sein Gesicht verwandelte sich in das eines Menschen und seine Reißzähne schoben sich zurück in den Kiefer. Okay, er schien sich erst mal zu beruhigen. Oder war das eine Falle?

„Du fragst dich bestimmt, warum du hier bist.“

„Eine Art Dank, dass ich dich aus der Bar gerettet habe?“ Der Sarkasmus war nicht zu überhören. Er stemmte sich gegen die Fesseln. Sein Bizeps unter der Jacke spannte sich auf die Größe eines mittleren Baumstamms. „Beeindruckende Fesseln“, knurrte er.

„Mein Vater hat die Zelle gebaut. Du kennst ihn bestimmt.“

Sophie hatte mit Wut und Aggression gerechnet, aber seine ruhige Art, sie anzusehen, brachte sie aus dem Konzept.

„Vielleicht erinnerst du dich, wenn ich sage, dass du dabei warst, als er starb.“ Jedes einzelne Wort kostete sie Überwindung, erinnerte an die letzten Szenen der Aufzeichnung.

„War ich das?“

Er starrte sie aus dunklen Augen an und sie glaubte, zu spüren, wie er versuchte, in ihre Gedanken einzudringen. Ein auf akustischen Wellen gestütztes System sollte diese Fähigkeit in dem Raum blocken und es funktionierte allem Anschein nach, denn sonst wäre sie längst auf dem Boden.

„Du warst auch der Einzige, der sah, wie er starb. Mit Ausnahme einer Kamera, die den Augenblick mitgefilmt hat.“ Sophie setzte sich auf einen Hocker, beobachtete, wie ein Schatten über sein Gesicht huschte, ehe er sich wieder in der Gewalt hatte.

„Was denkst du, ist passiert?“, fragte er.

„Das wollte ich dich fragen. Deshalb bin ich dir in die Bar gefolgt.“

Ihre Antwort brachte ihn ein weiteres Mal aus der Fassung, wandelte seine steinerne Miene in eine nachdenkliche. „Du glaubst, ich hätte ihn getötet.“

„Ich weiß nur, was ich gesehen habe.“

„Und das wäre?“

„Einen Mann, der aussah wie du. Er hat die Hand gehoben und mein Vater ist tot umgefallen.“ Das auszusprechen gab ihr einen Stich und sie hielt einen Moment die Luft an, bis das Ziehen in ihrer Brust nachließ. Sie durfte jetzt nicht ihren Gefühlen nachgeben, sie musste stark sein.

„Das passt natürlich wunderbar zusammen.“ Der Vampir nickte, verzog nachdenklich die Lippen. „Was passiert nun? Wirst du mich töten oder hier verhungern lassen? Sag schon, welchen grausamen Tod habt ihr Jäger euch für mich ausgedacht, damit mein Schädel bald eine Wand zieren kann?“

Dabei musste sie an das Zimmer ihres Vaters denken und die fürchterlichen Trophäen an der Wand. Ihr Magen krampfte sich zusammen. „Ich stehe nicht auf so etwas. Ich möchte nur wissen, was an diesem Abend passiert ist und warum du ihn getötet hast.“

„Und danach lässt du mich einfach so gehen? Durch diese Tür da in die Freiheit? Was werden deine Jägerfreunde dazu sagen?“

Seine ruhige, sarkastische Art machte sie wütend. Wenn er ihren Vater nicht ermordet hatte, steckte sie in einer Zwickmühle. Sie konnte ihn nicht einfach freilassen. Zweifellos würde er sich rächen und wenn nicht, konnte sie ihn nicht vor Dominiks Augen zur Tür hinausspazieren lassen. Verdammt, er war ein Vampir, sie musste vernünftig sein. Er war eine Bestie, ein Parasit und Blutsauger, nicht mehr und nicht weniger. Kein kultiviertes Wesen.

Und doch hatte er sich so benommen, als er sich vor sie gestellt hatte. Ihr war zum Schreien zumute. Himmel, es passte einfach nichts zusammen.

„Auch wenn du mir sowieso nicht glaubst, ich habe deinen Vater nicht getötet.“

„Lüge!“

„Natürlich.“ Er atmete scharf ein. „Wie ich schon sagte, es passt alles zusammen. Aber nur zu, ich fürchte den Tod nicht.“

„Verdammt noch mal.“ Ihr riss endgültig der Geduldsfaden. Sie sprang auf, trat nach dem Hocker, der quer durch den Raum flog. „Schluss mit diesem Sarkasmus, ich will die Wahrheit und ich weiß, dass mein Vater nicht an Herzversagen gestorben ist.“

„Okay.“ Er schloss die Augen, als wolle er gedanklich diesem Raum entfliehen. Erneut zerrte er an den Fesseln, ehe er sich tief atmend wieder entspannte und das Gesicht in ihre Richtung drehte. „Soll ich dir sagen, was wirklich passiert ist?“

Sie hob lediglich eine Augenbraue, hatte die Spielchen satt. Sie griff nach dem Hocker, setzte sich wieder, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.

„Auch wenn du es nicht glauben wirst, er wurde vergiftet.“

„Vergiftet? Womit?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Mediziner, kann es nicht genau erklären. Aber sein Blut enthielt Spuren der DNS eines Assassinen. Du weißt, was ein Assassine ist?“

„Ja.“ Vater hatte ihr von diesen Wesen erzählt. Assassinen waren mutierte Kreaturen, der Ursprung aller Horrorgeschichten über Vampire und Werwölfe. Selbst hatte sie noch nie einen zu Gesicht bekommen.

„Diese DNS hat ihn verändert, ihn für wenige Stunden körperlich gestärkt. Doch letztendlich wurde er, sagen wir, von innen aufgefressen und getötet“, erklärte er. „Das geschah in dem Moment, als ich erschien.“

Mein Gott, der Kerl schien die Wahrheit zu sagen. Auf dem Video hatte Vater in der Tat übernatürlich schnelle Bewegungen ausgeführt, mit denen er dem Angreifer ausgewichen war. Doch wer sollte ihm die DNS verabreicht haben und vor allem, wie? Sie musste unbedingt dieses Video noch einmal ansehen, den Moment des Kampfes.

Sie wandte sich zum Gehen.

„Hey, Lady! Bindest du mich wenigstens los?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. So leid es mir tut. Ich kann dir nicht vertrauen. Noch nicht.“

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Gerald hatte den Tag in seiner Unterkunft verbracht und war erneut in tiefen Schlaf verfallen. Die körperlichen Anstrengungen forderten ihren Preis. Er war bei Sonnenuntergang erwacht und quälte sich noch immer erschöpft aus dem Bett. Er trank eine Konserve und schlüpfte nach einer ausgiebigen Dusche in einen frischen Anzug. Seine Haut glänzte rot und verriet die Überdosis Tageslicht.

Als er zu den Büros zurückkehrte, erwartete ihn Alexandre bereits. Der erfahrene Agent hatte inzwischen glänzende Arbeit geleistet.

„Während du geschlafen hast, sind Meldungen und Berichte von unseren Agenten eingegangen“, sagte er, als Gerald den Raum betrat. „Die freie Liga ist in London und Paris aktiv geworden.“ Alexandre legte die ausgedruckten Berichte auf Geralds Schreibtisch.

„Hast du die beiden Neuen losgeschickt?“

„Sie sind auf dem Weg, Clement zu suchen.“

„Ich danke dir, Alexandre. Könntest du bitte weiter die Stellung halten? Ich möchte André einen Besuch abstatten.“

Nachdem er mit Barov über den Zustand des Clans gesprochen hatte, würde er sich wieder auf die Suche begeben.

„Du kannst auf mich zählen.“

Nicht umsonst gehörte Alexandre zu den Anwärtern, die seinen Platz einnehmen sollten, falls ihm etwas zustoßen oder er das Handtuch werfen sollte. So war es mit dem Rat vereinbart. Einst hatte Alexandre, ein Muskelpaket mit langen blonden Haaren, im Kriegerorden gedient und war mit Gründung des Rates zur Agentur gekommen.

„Was geschieht mit den gefangenen Morati in den Zellen?“

„Die bleiben, wo sie sind“, sagte Gerald. „Der Rat kann im Moment nicht über sie bestimmen, und wenn wir sie freilassen, riskieren wir einen Krieg, bevor die Agentur stark genug ist.“

„Wenn es darum geht, zu kämpfen, bin ich dabei.“ Alexandre grinste breit, klopfte sich auf die Brust. „Dann können wir endlich diese Anzüge ablegen und anständige Kleidung tragen.“

Gerald zwang sich zu einem Lächeln „Ich werde nicht vor Mitternacht zurück sein.“

André Barovs Penthouse, das im Zentrum Wiens unweit des Stephansdoms lag, hatte sich seit letztem Sommer verändert. Mit dem Tag, als Natalie Adam bei ihm eingezogen war, hatte die Etagenwohnung an Farbe gewonnen und war heimeliger geworden, mit Pflanzen, Teppichen und Wandstoffen in warmen Farben.

Natalie empfing Gerald. Sie hatte ihr feurig rotes Haar zu einem Zopf gebunden und trug einen Bademantel. Seit ihrer Metamorphose zur Vampirin war sie noch hübscher geworden.

„Störe ich?“, fragte er.

Natalie schüttelte den Kopf. „Komm rein. André ist oben und erwartetet dich.“

Er betrat das Foyer. Durch die geöffneten Türen zum Wellnessbereich sah er Tina Sommer, Natalies Geschäftspartnerin, die in einem viel zu knappen Badeanzug auf einem Liegestuhl am Poolrand saß.

„Weiß sie es?“

„Ja“, antwortete Natalie.

„Wie hat sie es aufgenommen?“

„Zuerst wollte sie mich in eine Klinik bringen, weil sie dachte, ich hätte Burn-out-Symptome.“ Natalie grinste. „Aber die Zähnchen sind immer sehr überzeugend, praktisch, besonders, wenn man sie zum Wachsen bringen kann.“

„Das ist wahr.“ Manchmal aber auch störend, wenn man sie daran hindern muss.

„Richtig ausgeflippt ist sie erst, als ihr zu Bewusstsein kam, dass sie schon mit einigen Halbblütern Sex hatte. Glaubt sie zumindest. Aber nun hat sie den Schock überwunden. Ich musste ihr nur versprechen, sie irgendwann einem von Andrés Freunden vorzustellen.“ Natalie zwinkerte.

„Ich hoffe, ihr habt dabei nicht an mich gedacht.“ Sein Herz gehörte einer anderen. Auch wenn es kein glückliches Ende geben sollte, konnte er sich nicht vorstellen, in der Gegenwart einer anderen Frau jemals wieder so zu fühlen. Der Gedanke an Sophie drückte auf seine Stimme, brachte die Ungewissheit zum Brodeln. Wenn es Clement nicht gelungen war, sie aus dieser Bar zu bringen, dann war sie unter Umständen bereits in den Händen eines Moratis, der sie zu seiner Blutsklavin machte. Aber auch das alles behielt er für sich.

„Spielverderber.“ Natalie schmollte gespielt. „Oder gibt es schon jemanden, dem du dein Herz geschenkt hast?“

Er räusperte und versuchte sich an einem neutralen Gesichtsausdruck. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss dringend zu André.“

„Natürlich.“ Natalie lächelte, als könne sie direkt in ihn hineinschauen. Ihr Blick spiegelte Ernsthaftigkeit. „Ich hoffe, du folgst deinem Herzen und quälst dich nicht unnötig.“

Er war ein offenes Buch für Nathalie. „Danke für deinen Rat.“

Nachdem sich Natalie wieder ihrem Besuch am Pool zuwandte, ging er die Treppe hinauf in die obere Etage.

André saß an dem grobschlächtigen Holztisch im verglasten Wohnzimmer und erhob sich von seiner Arbeit, als Gerald den Raum betrat. „Was ist mit deinem Gesicht passiert?“

„Das Sonnenbad ist mir nicht bekommen.“ Gerald schüttelte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

Er nickte langsam. Eine Lektion über Unvorsichtigkeit hatte Gerald von seinem Freund nicht zu erwarten. Dafür kannten sie sich zu gut und André ahnte, dass er seine Gründe gehabt hatte, sich das Fell zu verbrennen. Daher grinste er nur. „Hast du heute schon etwas zu dir genommen oder darf ich dir etwas anbieten?“

„Mehr als ich an einem Tag sollte, um das hier zu regenerieren.“ Er deutete auf sein Gesicht.

„Dann etwas anderes? Wasser, Kaffee, Whiskey? Ich habe einen edlen Tropfen aus den Staaten. Nichts, was man im Laden kaufen kann, stammt aus einer Privatbrennerei im Besitz unserer geschätzten Ratsvampirin Alyssa Blackrose.“

Er entschied sich für Alyssas Mitbringsel. Die Schärfe des Destillats brannte angenehm in seiner Kehle. „Ich bin hier, um über meine Position im Rat zu sprechen.“

„Wie darf ich das verstehen?“, fragte André überrascht. „Du weißt, dass ich eine hohe Meinung von dir habe. Ich würde deine Position nie hinterfragen, egal, was geschieht und vorgefallen ist.“

„Wenn du wüsstest.“

André hob die Augenbrauen.

Gerald sank in den gepolsterten Stuhl, trank einen zweiten Whiskyschluck. „Ich habe dir verschwiegen, wie es um meinen Clan steht. Nun sind in den vergangenen Tagen einige Dinge geschehen, die ich nicht hinnehmen kann, ohne mit dir zu sprechen.“ Gerald sah über André hinweg durch die verglaste Scheibe auf das Lichtermeer der Stadt, denn so fiel es ihm leichter, Worte zu finden. „Clement ist verschwunden, und wenn er nicht wieder auftaucht, gibt es nur noch einen einzigen Vermont.“

André lachte leise, wenig überrascht. „Mein Freund, das ist kein Grund, dem Rat den Rücken zu kehren. Denkst du, ich wusste das nicht? Du hast so viel für unsere Sache geopfert. Vielmehr quält mich die Sorge um Clement. Erzähl mir, was passiert ist.“

Gerald erzählte alles und schloss mit der Beichte über seine Gefühle für Sophie. Er verschwieg auch nicht, dass es nicht das erste Mal war, dass er ihr begegnet war und sein Herz an sie verloren hatte. „Nun weiß ich, wie du dich letztes Jahr gefühlt hast, André.“

„Richters Tochter?“ André strich über sein Gesicht. „Weiß sie, was du bist?“

„Nein, natürlich nicht, dann würde ich wahrscheinlich nicht mehr leben.“

„Ich sagte beobachten, Gerald, nicht verlieben.“ Andrés Blick war zunächst todernst, dann entspannte es sich und er lachte. Er klopfte Gerald auf die Schulter und schenkte ihm einen weiteren Whiskey ein. „Kompliment, du hast meine Komplikationen in Sachen Liebe soeben getoppt. Eine Jägerin, Gerald? Eine Jägerin!“ Er legte den Kopf zurück und lachte schallend.

Gerald war erleichtert, dass André die Komik darin sah, aber der Ernst der Sache blieb. „Wenn du willst, dass ich von meiner Position zurücktrete, steht es dir frei, so zu entscheiden. Ich verstoße gegen die Gesetze, die ich vertreten soll und die Bezeichnung Clan mag wohl auch nicht mehr auf mich zutreffen.“

André lächelte milde. „Wenn ich eins durch Natalie gelernt habe, dann, dass man die Liebe nicht in Schranken weisen oder durch Gesetze verbieten kann. Als wir den Rat gründeten, haben wir Fehler gemacht, aus guter Absicht wohlgemerkt. Aber es wird Zeit, einige Gesetze zu überarbeiten.“

„Du denkst also, ich soll meinen Gefühlen für die Jägerin freien Lauf lassen?“ Das wäre himmlisch, aber auch verrückt.

„Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Bedenke, sie hasst Vampire von ganzem Herzen. Vorausgesetzt, wir finden sie, wirst du einen Weg finden müssen, mit ihr fertig zu werden.“ Er lachte wieder leise und schüttelte amüsiert den Kopf.

Gerald konnte nicht anders als mitzulachen. Das Ganze war das Peinlichste, das er je erlebt hatte, aber er war froh, in André einen Leidensgenossen gefunden zu haben und sich dessen Unterstützung sicher zu sein. Mit dem Whiskey in seinem Blut und André im Rücken kam eine tiefe Erleichterung über ihn. Die Sache war vielleicht nicht so aussichtslos, wie er gedacht hatte.

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Wieder in Venedig verglich Jonathan seine Übersetzung mit der des Originaltextes aus Rom. Er fragte sich, wie Arthur von Haineck in der Lage gewesen war, dieses Serum ohne die Hilfsmittel, die heute zu Verfügung standen, herzustellen. Es war kein einfaches Rezept, das man in einem Glaskolben zusammenmischte, wie er bisher geglaubt hatte. Alles deutete darauf hin, dass dieser Alchemist seiner Zeit um Jahre voraus gewesen war. Wahrscheinlich endete das Leben des Alchemisten deshalb auf dem Scheiterhaufen. Und seine Unterlagen in den Archiven Roms. Es musste sich um die Texte eines Inquisitors handeln, der das dämonische Handeln des Alchemisten aufgezeichnet hatte.

Neben dem Genetiker, der sich um die Zusammenführung der Bestandteile kümmern musste, fehlten Jonathan noch immer zwei Zutaten, um es zu vollenden. Das Blut eines reinblütigen Vampirs. Es gab in den Aufzeichnungen nur zwei Clans, die im Zwanzigsten Jahrhundert dafür infrage kamen, den der Barovs und der Vermonts. Keine andere Linie war über mehr als fünf Generationen nachweislich unverfälscht. Es war immer ein menschliches Dienstmädchen oder ein halbblütiger Knecht im Spiel gewesen.

Die andere Zutat stellte ihn vor ein Rätsel. Das Blut eines unverwandelten Mischlings, lautete die Zeile. Anfangs hatte er den Text mehrfach überprüft und den Fehler in seiner Übersetzung gesucht. Er wusste über die verschiedenen Erscheinungen Bescheid, die durch Vermischung unterschiedlicher humaner und tierischer Gene entstanden. Von einem unverwandelten Mischling hatte er allerdings noch nie gehört.

„Dann schau in den Spiegel“, sagte eine Stimme in seinem Kopf.

Jonathan wandte sich um, sah den Assassinen hinter sich, der wie üblich aus dem Nichts auftauchte.

„Was meinst du damit?“

Jede Begegnung mit dem Assassinen war ein Kampf mit seinem Verstand. Sein Vater kam und verschwand, wie es ihm passte, tauchte für Tage unter, um dann plötzlich hinter ihm zu stehen. Eigentlich war er froh darüber, denn die Anwesenheit eines Assassinen, auch wenn es sein Vater war, beunruhigte ihn. Er zweifelte seit der ersten Begegnung, ob dieses entstellte Wesen wirklich der Vater war, den er gekannt hatte oder ob nur noch die wenigen vertrauten Gesichtszüge an ihn erinnerten. Als wäre er von der Dunkelheit dieser Kreatur aufgesaugt und verzehrt worden.

„Schau in den Spiegel, mein Sohn.“

Lautlos, als schwebe er über den Boden, bewegte sich der Assassine durch den Raum. Jonathan folgte seiner Anweisung und betrachtete sich im Spiegel. Er sah sein Gesicht, wie er es gewohnt war.

„Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.“

„Wie alt bist du?“

Er musste überlegen. Er hatte irgendwann aufgehört, die Jahre zu zählen.

„Fünfundsechzig?“

„Sieht so das Gesicht eines Fünfundsechzigjährigen aus?“

Jonathan betrachtete sein nahezu faltenloses Gesicht und das volle blonde Haar. Ein eisiger Schauder lief über seinen Rücken, als die Worte seines Vaters zu ihm vordrangen.

„Du müsstest ein alter Mann sein, Jonathan, ein alter Mann.“ Er hob die Arme, flatterte wie eine Fledermaus mit den Ärmeln der Robe. Das Bild im Spiegel veränderte sich.

„Was zum Teufel?“ Jonathan wich zurück, blickte in das faltige Gesicht.

„Ganz ruhig … es ist nur eine Illusion.“ Als der Assassine seine Arme senkte, stand Jonathan wieder dem gewohnten Spiegelbild gegenüber.

„Du bist ein ganz besonderer Bastard, nicht einzigartig, denn es gibt noch weitere wie dich. Genau wie du, wissen auch sie nichts von ihrem wahren Ich. Du bist beinahe das, was dieses Serum erschaffen soll.“

Allmählich verstand er gar nichts mehr. Er blickte in den Spiegel, schaute zu seinem Vater und wieder in den Spiegel.

„Erinnerst du dich an deinen Tod? Nein, natürlich nicht, ich habe dir jegliche Erinnerung daran genommen.“

Für einen Augenblick versank Jonathan in einen kurzen tranceartigen Schlaf. Er fand sich in den Straßen von Venedig wieder, vor ihm ein Mann mit schwarzem Kurzhaarschnitt, der sich auf ihn stürzte, ihn zu Boden riss.

„Stirb den Tod der Rache“, herrschte ihn der Fremde an, rammte die Fänge tief in seinen Hals. Schmerzen zuckten durch seinen Körper, als der Vampir mit gnadenlosen Zügen das Leben aus ihm hinaussaugte. Das Bild verschwamm, er fiel zu Boden.

Sein Herz raste, als er die Augen aufschlug und sich in der Gegenwart befand.

„Romain Vermont hat dich getötet, aus Blutrache für einen Überfall auf das Schloss der Vermonts, an dem die Vorfahren unseres Ordens einst beteiligt waren“, sagte sein Vater. „Doch du warst nicht tot. Sein Blut hat dich verunreinigt, hat so lange einen Funken Leben in dir gehalten, bis ich dich fand und dich zurückbrachte. Aus einem Grund, den ich dir nicht nennen kann, setzte die Metamorphose bei dir nie ein. Du bist weder Mensch noch Vampir, Jonathan, du bist ein unverwandelter Mischling, wie Arthur von Haineck es bezeichnete.“

„Ein Mensch, der nicht altert?“

„Nicht nur das. Du brauchst kein Blut wie ein Vampir. Dein Körper ernährt sich von seinem eigenen Blut und du bist einem Vampir in Sachen Schnelligkeit beinahe ebenbürtig. Arthur von Haineck war wie du, nur hatte er einen Weg gefunden, dieses Dasein noch zu stärken und auch andere Menschen zu dem zu machen, wonach er strebte. Er wollte diese Macht vollenden. Ich wusste um diese Zutat in den Aufzeichnungen des Alchemisten, und als du zu dem wurdest, nachdem ich so lange suchte, begann ich, meine Rache zu planen.“

Nun verstand er, weshalb sein Vater dieses Serum begehrte und er glaubte auch, zu verstehen, welche einzigartige Rolle er in diesem Plan spielte. Es war die perfekte Rache und mit nur einer Handvoll Jägern an seiner Seite würde er diesen seit Jahrtausenden tobenden Krieg zwischen Jäger und Vampiren zu einem siegreichen Ende führen können.

„Nein, wir wollen sie nicht alle töten, wir wollen sie unterwerfen“, sagte sein Vater.

Das Klingeln des Telefons unterbrach das Gespräch. Jonathan nahm den Anruf entgegen. Die Verbindung war schlecht, rauschte, knackte und brach zwischendurch immer wieder ab, dennoch verstand er die Botschaft seines Verbindungsmannes. Sophie Lacoste hatte einen Reinblüter gefangen und nicht nur das, es war Clement Vermont.

„Ich denke, wir haben die letzte Zutat gefunden, um das Rezept zu vollenden, Vater.“ Wenn er erst über die Macht dieses Jungbrunnens verfügte, würde er Richters Tochter zu seiner Braut machen. Bei dem Gedanken an sie erwachte das Leben in seiner Leistengegend. Bis er so weit war, dass er sie in seinen Händen halten konnte, würde er seine Lust auf andere Weise befriedigen müssen und die Offenbarung seines Vaters brachte ihn auf eine Idee.

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Dominik schlief auf einer Couch, als Sophie aus der Zelle kam, um erneut nach dem Video zu suchen. Sie beschloss, ihn zu wecken. Er schreckte hoch, fluchte und hielt sich die Rippen.

„Es tut mir leid, dich wecken zu müssen, aber ich suche das Video.“

Dominik hustete, schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wo es ist. Vielleicht hat Wilhelm es wieder an sich genommen.“

„Verdammt, ich muss ihn finden.“

„Vielleicht ist er im Schwarzen Topf.“ Dominik verzerrte das Gesicht.

„Kann ich dich allein lassen?“

„Ich komm klar.“ Er stemmte sich hoch und ging zur Bar, wo er sich ein Bier gönnte. „Vitamine bringen die Knochen zum Heilen.“

Sophie überließ Dominik seinen Schmerzen und dem Alkohol, von dem der Mann zu viel trank. Zumindest gehörte er nicht zu denen, die unter dem Einfluss der legalen Droge zu Berserkern wurden, sondern schlief nur ein.

Draußen schlug ihr die eisige Nachtluft entgegen. Zu Fuß machte sie sich auf den Weg quer durch die Wiener Innenstadt. Vor ihrer Begegnung mit der Welt ihres Vaters war ihr ein Spaziergang durch die nächtliche Stadt leichter gefallen. Nun vermisste sie ihre Jägerverkleidung und vor allem die Waffen. Beides lag in ihrer Wohnung, wo sie es nach ihrer Nacht mit Gerald zurückgelassen hatte. Sie fühlte, wie sich ihr Gesicht bei dem Gedanken an ihn entspannte, und lächelte unweigerlich. Sie schloss für einen Moment die Augen, glaubte, ihn vor sich zu sehen, seine Hände zu spüren und seinen Duft einzuatmen. Sie hoffte so sehr, dass seine Nachricht mehr als nur lose Worte waren und sie ihn bald wiedersah. Dann nahm sie sich vor, so unangenehm es auch war, ihn nach dem Vampir zu fragen. Plötzlich jagte ein Schreck Adrenalin durch ihre Adern. Herrn Julius’ Leichenwagen. Er stand noch immer in der Tiefgarage bei der Gerichtsmedizin. Sicher war er längst gefunden worden und der Besitzer ausfindig gemacht. Oh, Gott. Sie musste mit Julius Kontakt aufnehmen.

Zu dem vereinbarten Frühstück mit ihren Freundinnen hatte sie lediglich etwas Geld und ihr Handy mitgenommen. Sie wählte die Nummer des Bestatters. Er meldete sich auch nach dem zwanzigsten Klingeln nicht. Betrübt legte sie auf. Auf dem Handy leuchteten mehr als zehn nicht beantwortete Anrufe und fünf SMS. Von Herrn Julius war keiner dabei. Nach ihrem fluchtartigen Verlassen des Cafés hatte sie vollkommen vergessen, Dora und Meike zu verständigen, was sie nun per SMS nachholte. Das Tippen der Nachricht lenkte sie etwas von ihrem mulmigen Gefühl ab, das hinter jeder Ecke einen Vampir vermutete, der sie für den Mord auf dem Friedhof bestrafen wollte.

Unbeschadet erreichte sie den Eingang zum Schwarzen Topf. Ihre Gedanken an Julius und den Leichenwagen rückten in den Hintergrund. Die Schenke war bis zum letzten Platz gefüllt. Beißender Rauch hing drückend im Raum. Sie sah keine Spur von Wilhelm.

„Kann ich Ihnen etwas bringen?“, fragte der Wirt.

„Ich suche nur nach einem Bekannten. Wilhelm Wiesenburg ist sein Name.“

„Wilhelm, den hab ich seit Jahren hier nicht mehr gesehen. Sie sollten mit Dominik Herzog sprechen. Die beiden haben zusammengearbeitet.“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Einmal mehr war sie froh, diese Gaststätte wieder verlassen zu können. Trotzdem musste sie Wilhelm finden. Dabei dachte sie an Herrn Julius und bekam ein schlechtes Gewissen. Seit sie den Wagen geborgt und ihn verletzt in seinem Haus zurückgelassen hatte, war ein Tag vergangen und sie hatte nicht einmal daran gedacht, nach ihm zu sehen. Sie wählte erneut seine Nummer, ohne Erfolg. Vielleicht brauchte er ihre Hilfe wie sie seine. Kurzerhand beschloss sie, ihm einen Besuch abzustatten. Nur er konnte ihr jetzt noch helfen, Wilhelm zu finden.

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„Es tut mir leid, ich kann ihn nicht aufspüren“, sagte André mit angestrengtem Blick.

Mehr als zwanzig Minuten hatte er in dem tranceartigen Zustand verharrt und telepathisch die ganze Stadt nach Clement abgesucht.

„Du hast es versucht. Mehr können wir nicht tun“. Gerald trat ans Fenster, kippte es, um etwas kühle Nachtluft zu atmen. „Dann kann ich nur hoffen.“ Die Enttäuschung traf ihn wie eine eisige Welle.

„Wenn sie ihn erkannt haben, werden sie ihn nicht töten, denn die freie Liga wird ihn benutzen, uns zu erpressen.“

„Sollten diese Rebellen ihm etwas angetan haben, werde ich von meiner Position zurücktreten und jeden einzelnen von ihnen jagen.“ Es war ihm ernst.

„Ich würde dich nicht hindern.“ André trat neben ihn an die Glasfront. „Wie schreitet die Rekrutierung neuer Agenten voran?“

„Frag nicht.“ Gerald unterdrückte den Frust nicht, der in seiner Stimme mitschwang. „Es sind zu wenige, meist nur Draufgänger, rohe Schlägertypen oder solche, die auf einen ruhigen Schreibtischjob hoffen. Aber welche Wahl haben wir schon.“

„Wir hätten den Kriegerorden niemals auflösen dürfen.“ André seufzte tief. „Versteh mich nicht falsch. Ich schätze eure Arbeit. Die Agentur ist gut, um die Gesetze in Friedenszeiten zu wahren. Aber das Aufbegehren der Jäger und der Konflikt mit der freien Liga bedeuten das Ende der friedlichen Jahre.“

„Du willst die schwarze Lilie wieder zum Erblühen bringen?“

In Andrés Augen lag ein Glänzen. „Wenn sich die Lage weiter verschlimmert, wäre es eine Option.“

„Der Gedanke ist verführerisch.“ Er atmete tief, sog die Nachtluft ein, die einen Duft mit sich trug, der sein Herz schneller schlagen ließ. Er blickte nach unten auf die Straße. Er sah sie nicht, aber wusste, dass sie da war.

„Was ist los?“ André entging nichts.

„Riechst du das?“ Diesen Duft, wie nach einem Sommerregen?“

André schüttelte den Kopf. „Ist sie es?“

„Sie muss da unten sein.“

„Worauf wartest du noch? Wenn sie am Leben ist, ist es vielleicht auch Clement.“

Gerald traute seinen Sinnen nicht. Er suchte sie überall und nun spazierte sie einfach vor seine Nase?

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Als Sophie am Karlsplatz in die U-Bahn stieg und sich die Türen schlossen, glaubte sie, Gerald zu sehen, wie er die Rolltreppe zum Bahnsteig herabeilte. Der Zug tauchte jedoch zu schnell in den Tunnel ein, sodass sie sich nicht vergewissern konnte.

Es war nicht einmal vierundzwanzig Stunden her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte und doch erschien es ihr wie eine Ewigkeit. Der bloße Gedanke, was dieser Mann alles mit ihr angestellt hatte, genügte, die Temperatur ihrem Schoß um mindestens hundert Grad anzuheben. Doch es war nicht nur der Sex. Im Spiegelbild der Glasscheibe sah sie ihr Gesicht, sah sich lächeln. Sie wollte diesen Mann, sie wollte ihn so sehr und dennoch war da die Ungewissheit, die blieb. Dieser undurchsichtige Mantel des Geheimnisses, der Gerald umgab. War sie nur ein weiterer Eintrag in seinem schwarzen Buch oder bedeutete sie ihm etwas? Sie wusste es nicht. Doch wusste man das jemals? War die Liebe nicht immer ein Risiko, belogen zu werden, getäuscht durch die rosarote Brille, mit der man sein Gegenüber betrachtete? Ein Spiel mit der mächtigsten Waffe auf Erden. Der Liebe. Konnte das Liebe sein? Sie hatte noch nie geliebt. Bisher war sie es immer gewesen, die jeden Mann abgewimmelt hatte. Oft hatte sie ihren Verehrern eine falsche Nummer gegeben oder den wenigen, mit denen sie mehr als nur geflirtet hatte, bereits nach der ersten Nacht Adieu gesagt. Dieses Mal war es anders, aber auch um ein Vielfaches komplizierter.

Vier Haltestellen später stieg sie am Margaretengürtel aus und machte sich auf den Weg zu Julius’ Firma. Das Anwesen des Beerdigungsunternehmens lag unbeleuchtet vor ihr. Die Gittertore der Zufahrt zum Hinterhof waren aus den Angeln gerissen und dicke Reifenspuren klebten auf dem Asphalt sowie blaue Lackspuren an der Hauswand. Sie ging in den Hinterhof und fand den zweiten Leichenwagen als Trümmerhaufen.

Die Tür zum Geschäftslokal, in dem Särge, Grabsteine und andere Trauerfestrequisiten ausgestellt waren, lag am Boden, ebenso verhielt es sich mit der Haustür. Sie rief nach Julius, während sie in die Werkstatt eilte. Als sie das Licht einschaltete, offenbarte sich das Ausmaß der Zerstörung. Zertrümmerte Ware, umgekippte Regale, zerrupfte Blumenkränze und überall Glassplitter von zerschlagenen Schaukästen.

In der Schreinerwerkstatt und dem Lager erwartete sie kein besseres Bild. Auch hier hatten die Täter ganze Arbeit geleistet, indem sie alles kurz und klein geschlagen hatten.

Nachdem sie keine Spur von Julius fand, ging sie nach draußen und die Treppe zur Wohnung hinauf. Erneut rief sie nach ihm. Die Tür am oberen Ende des Aufgangs hing in Fetzen, dahinter zog sich das Bild der Zerstörung fort, als wäre ein Wirbelsturm durch die Wohnung gefegt.

Dann entdeckte sie Blutspuren an der Wand und am Boden. Ihre Schritte verlangsamten sich, während sie der Spur folgte. Sie hatte Angst, weiterzugehen, Angst vor dem, was sie finden würde. Die Spur führte quer durch die Wohnung und kurz darauf fand sie eine Leiche mit faustdicken Löchern in Brust auf dem Boden des Wohnzimmers, von einer umgeworfenen Vitrine begraben. Es war ein Vampir, klein, schmächtig und unscheinbar. Seine Fänge waren ausgefahren und seine Augen hatten das Entsetzen des grausamen Säuretodes festgehalten. Furchtbar. Sie würde sich wahrscheinlich nie an den Anblick eines Toten gewöhnen. Ihr Magen revoltierte bei dem Gestank süßlich-saurer Verwesung.

Draußen auf dem Gang hielt sie sich den Ärmel vor ihre Nase. Eigentlich hatte sie genug gesehen, aber sie musste Julius finden.

Die Blutspur verstärkte sich. An einigen Stellen waren die Tropfen von Schuhen zertreten, deren Profil darin angetrocknet und verewigt war. Schließlich erreichte sie die Tür am Ende des Ganges. Wie alle anderen Türen war sie nur noch ein wackeliges Gebilde aus zerschlagenen Werkstoffplatten. Dahinter lag eine schmale Wendeltreppe, die zum Dachboden führte.

Ihr Magen zog sich zusammen, als sie den schweren Gestank des Todes aufnahm. Alles in ihr sträubte sich, den Speicher zu betreten. Sie zwang sich Stufe für Stufe nach oben und dort sah sie ihn. Mit Stricken an den Unterarmen an zwei Holzpfeiler gespannt, blutleer und zu Tode gefoltert.

Oh, Gott. Julius. Sie ertrug seinen Anblick nicht. Trauer und Entsetzen ließen sie zurückweichen. Auf der Treppe stolperte sie, fiel die letzten zwei Stufen hinunter und knallte mit dem Kopf auf den Fliesenboden. Für einen Moment tat sich Schwärze vor ihren Augen auf. Dennoch stemmte sie sich hoch und schleppte sich, so schnell sie ihre Füße trugen, nach draußen. Sie atmete tief, kämpfte gegen den Brechreiz an und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich einigermaßen in der Gewalt hatte.

Anschließend zog sie das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Wiener Polizei.

„Kriminalpolizei Wien, Hauptkommissar Montiel am Apparat.“

Sophie schilderte, was geschehen war. Er würde seine Leute schicken. Als sie auflegte und das Handy zurück in die Tasche schieben wollte, läutete es. Doras Nummer erschien auf dem Display. Sophie hob ab. Nach kurzem Schweigen erklang Doras Stimme.

„Bist du da Sophie?“, fragte sie, seltsam hohl und fremd.

„Ja, ich bin’s.“

„Was machst du gerade?“, fuhr Dora fort, mit einem Klang, als würde sie einen auswendig gelernten Satz herunterstottern.

„Warum fragst du?“ Sophie hielt den Atem an, konzentrierte sich auf das Telefonat und die Geräusche im Hintergrund. Sie glaubte, ein unterdrücktes Wimmern zu hören und das Räuspern einer Männerstimme.

„Ist jemand bei dir?“

„Nur Meike.“ Dora schnaufte, als sei sie gerade gelaufen. „Sie möchte auch, dass du zu mir kommst.“

„Jetzt sofort?“ Was zur Hölle war hier los? Die Stimme gehörte eindeutig Dora, aber es klang, als würde jemand anderes damit sprechen.

„Ja, bitte.“

„Was ist los mit dir?“

„Du kommst jetzt sofort hierher, verstanden?“, knurrte jemand ins Telefon. Ein schriller Schrei ertönte im Hintergrund. Meike. „Deine Freundin kann es kaum erwarten, intimere Bekanntschaft mit uns zu machen.“ Schallendes Gelächter folgte. „Du hast dreißig Minuten.“

Dann brach das Telefonat ab. Sophies Gedanken überschlugen sich. Sie sah Julius vor sich, dann hingen Meike und Dora an seiner Stelle. Ihr Magen krampfte sich erneut zusammen. Verdammt, wenn den beiden etwas zustieß, würde sie damit nicht leben können, da sie wusste, dass diese widerlichen Bestien nur sie wollten. Auch wenn es eine Falle war, sie musste dorthin. Und sie musste einen fahrbaren Untersatz finden.

Der makabre Gedanke, dass sie sich Julius gegenüber nicht mehr für den Verbleib des Leichenwagens rechtfertigen musste, durchzuckte sie. „Verzeihen Sie mir bitte, Herr Julius.“ Sie sprach die Worte laut aus, als schwebten sie zu ihm hinauf auf den Dachboden. Sophie hoffte nur, dass sein Tod nicht auch mit ihrem mittlerweile offenen Kampf gegen den Vampirclan zu tun hatte, aber tief in ihrem Inneren wusste sie es besser. Das Gewissen schnürte ihr die Kehle zu. Verdammt, sie durfte nicht zwei weitere Leben in Gefahr bringen. Dieses verdammte Katz- und Mausspiel musste ein Ende haben, und wenn es das ihre bedeutete. Nur ihre Freundinnen durften auf gar keinen Fall zu Schaden kommen.

Der schwarze Kombi im Hof war Schrott, dahinter in einem Geräteschuppen entdeckte sie jedoch ein altes Motorrad. Der Schlüssel steckte und im Tank war noch Benzin. Nicht viel, aber sie hoffte, dass es genügte. Sie schob es aus dem Unterstand und versuchte, es zu starten. Sie hatte Mühe, den altmodischen Kickstarter nach unten zu treten. Zweimal rutschte sie ab, doch beim dritten Mal sprang der Motor mit einem fürchterlichen Geräusch an. Sie stellte das laufende Motorrad auf seinen Ständer.

Obwohl sich alles in ihr sträubte, die Wohnung noch einmal zu betreten, tat sie es. Sie eilte hinauf auf den Dachboden. Julius hatte einen der Vampire erschossen, also musste irgendwo eine Waffe sein. Tatsächlich fand sie sie, mit noch fünf Patronen im Magazin. Das musste genügen.

Von der Kraft der Wut gestärkt, versprach sie dem geschändeten Leichnam des alten Mannes, dass wenigstens einer dieser Dreckskerle heute sterben würde. Eine scheiß Angst begleitete sie, weil sie wusste, dass sie es vielleicht nicht überleben würde.

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Nachdem Gerald Sophie um Haaresbreite verpasst hatte, kehrte er um und holte seinen Wagen aus der Tiefgarage. Sie war am Leben! Gott sei Dank!

Er stieg in den Wagen, als die Nummer des Hauptquartiers auf dem Handydisplay aufleuchtete. Alexandres besorgte Stimme erklang.

„Uns wurde ein Mord an einem Wiener Bestattungsunternehmer gemeldet, Julius ist sein Name.“

„Waren Vampire beteiligt?“

„Kann ich nicht sagen. Der Anruf kam von Sophie Lacoste. Ihr Telefonat wurde automatisch an die Agentur weitergeleitet. Ich habe es nachgeprüft.“

Er selbst hatte die Weiterleitung sämtlicher Notrufnummern von ihrem Handy an die Agentur eingerichtet. „Wo hat man Julius ermordet?“

„Ich schicke die Daten auf dein Navi. Brom ist informiert und auf dem Weg.“

Kurz darauf tauchte der Punkt auf dem Schirm auf und er verlor keine Zeit.

Broms Wagen und zwei Autos der Streifenpolizei standen vor der Einfahrt zum Gelände des Bestattungsunternehmens, als er eintraf. Die Polizisten waren riegelten den Tatort bereits ab. Gerald zog seinen Dienstausweis und eilte an den Männern vorbei in den Hinterhof und traf auf Brom.

„Warst du schon drin?“, fragte Gerald.

Brom nickte, stieß die Luft aus. „Ein Schlachtfeld.“ Er schüttelte den Kopf. „Zwei Leichen. Der Chef des Unternehmens hängt auf dem Dachboden. Einer der Täter, ein Vampir der Morati, liegt im Wohnzimmer. Seine Kumpanen haben ihn zurückgelassen.“

„Womöglich als Warnung für uns.“ Gerald stieg über die Trümmer die Treppe nach oben. „Wo ist Richters Tochter?“

„Es war niemand hier.“

Brom folgte ihm durch den Korridor in die erste Etage. Sophie war eindeutig hier gewesen. Er roch die feinen Nuancen ihres Duftes, den selbst der Gestank der Verwesung nicht verdrängte. Die eingesetzten Waffen der Jäger beschleunigten den Prozess um ein Vielfaches.

Im Wohnzimmer fand er die Leiche, untersuchte das Gesicht, die Augen. Die nach Batteriesäure stinkenden Wunden stammten von der Waffe eines Jägers, waren aber mehrere Stunden alt. Es hatte einen Kampf gegeben, und wie es schien, war der ermordete Bestatter kein Unwissender.

Gerald folgte dem Flur bis zur Tür am Ende. An dieser Stelle war Sophies Duft unglaublich stark. Er blickte sich um. Frische Blutspuren am Boden unterschieden sich von den anderen. Er bückte sich, strich mit dem Finger darüber. Verdammt, sie hatte sich verletzt, doch es gab keine Anzeichen eines Kampfes.

Er ging zum Dachboden hinauf. Der Leichnam hing mitten im Raum, leer getrunken und geschändet von Tätern, die ihn anwiderten und für deren Existenz er sich schämte, ein Vampir zu sein. Gerald gehörte nicht zu jenen Reinblütigen, die auf ihre halbblütigen Brüder und Schwestern herabsahen, wahrlich nicht. Er verabscheute jene, die wie Tiere lebten und zu Bestien geworden waren.

Aus der Nähe betrachtet erkannte er den Mann wieder. Er hatte ihn bei Richters Beerdigung auf dem Friedhof gesehen. An der verätzten Haut an seinen Händen erkannte er, dass es Julius war, der die Jägerwaffe abgefeuert hatte. War er ein Jäger oder stammte sein Wissen über Vampire aus der Bekanntschaft zu Richter?

„Was wissen wir über den Mann?“

Brom schüttelte den Kopf. „Nicht viel. Seine Akten sind unvollständig, als habe sein Leben erst mit fünfzig begonnen, nachdem er dieses Unternehmen gegründet hat. Interessant ist, dass Richter mit neunundvierzig Prozent an der Firma beteiligt war.“

„Also ist sein Besitz nach dem Tod auf seine Tochter übergegangen.“

„Wie es aussieht, ja.“

Deshalb war sie hier und möglicherweise hatten die Täter genau aus diesem Grund den Bestatter besucht. Es konnte sein, dass sie ihr eine Falle stellen wollten. Gerald eilte die Treppe hinunter und schaute sich im Innenhof um, auf der Suche nach Hinweisen für ihr Verschwinden. Dabei bemerkte er die frischen Reifenspuren eines Motorrades auf dem groben Asphaltbeton. Ob sie von Sophie stammten, wusste er nicht, aber wenn es so war, dann schien sie es aus irgendeinem verdammten Grund eilig gehabt zu haben.

„Hast du etwas entdeckt?“, fragte Brom.

„Ich bin nicht sicher. Kümmere dich um den Tatort. Alexandre soll die beiden Neuen zur Unterstützung schicken.“

Er kehrte zum Wagen zurück. Über den Touchscreen des Navigationssystems gelangte er in den Datenbankserver der Agentur. Es kostete ihn nur ein paar Sekunden, dann erschien Sophies Handynummer auf dem Bildschirm, samt sämtlicher SMS und Telefonate, die sie mit dieser Nummer getätigt hatte. Verdammt, er hatte sich nicht geirrt. Nachdem sie über die von ihm gelegte Rufumleitung mit der Zentrale telefoniert hatte, war ein Anruf von dem Handy ihrer Freundin Dora eingegangen. Und nachdem Gerald die Umleitung so eingestellt hatte, dass der erste Anruf nach einem umgeleiteten Notruf gespeichert wurde, brauchte es nur einen Klick und er wusste, was geschehen war.

Seine Emotionen wollten ihn überwältigen und die Erleichterung, dass sie lebte, verschwand in der nächsten Sorge. Diese Frau hatte ein Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Und doch bewunderte er ihre Stärke. Sie leistete sich keinen Zusammenbruch, zeigte keine Schwäche, rief ihn nicht zu Hilfe, obwohl sie ihn über einen Anruf bei der Polizei hätte finden können. Wahrscheinlich ließ ihr Stolz das nicht zu. Darin war sie ihm ebenbürtig. Sie musste eine clevere und eiskalte Jägerin sein, was es umso ungefährlicher machte, ihr die Wahrheit zu gestehen.

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Jonathans Herz schlug aufgeregt. Er folgte der jungen Frau, die aus dem Café am Markusplatz gekommen war. Vampire zu jagen war eine Sache, etwas, das er perfektioniert hatte. Das hier brach jedoch den Eid, den er als Jäger geschworen hatte. Doch er musste es wissen. Wenn es stimmte, was sein Vater erzählte, war er ein Zwitterwesen, das nicht von Blut abhängig war. Aber was geschah, wenn er es dennoch trank? Würde die Energie des Blutes auf ihn übergehen, wie es bei einem Vampir geschah?

Der Gedanke, über sie herzufallen, sie in eine Ecke zu zerren und ihr Blut zu trinken, erregte ihn, ließ ihn hart werden. Nein, er wollte nicht nur ihr Blut trinken, er wollte mehr, wollte seine Lust befriedigen, die er so lange unterdrückt hatte.

Die Frau bog um die Ecke in eine schmale Gasse. Ihr graziler Körper und die schnellen Schritte ihrer Beine verschmolzen in einer Einheit. Niemand würde ihn hier sehen oder sie hören, wenn er schnell genug handelte. Er stieß vor, packte sie, hielt seine Hand vor ihren Mund. In ihren Augen lag Angst, Panik. Herrlich.

Was machst du da? Der Jäger in ihm sträubte sich, sein zweites Ich, das immer für Ehre gekämpft hatte, bäumte sich auf. Nun handelte er wie jene, die er immer gejagt hatte und es gefiel ihm.

Er drückte sie gegen die Wand, presste sich an sie, bis er ihre Brüste unter dem dünnen Stoff des Abendkleides spürte. Mit der freien Hand griff er nach dem Messer an seinem Gürtel. Er verfügte nicht über die Art von Zähnen, die diesen Job verrichteten. Bei dem Anblick der Klinge begann die Frau, heftig zu zittern. Ihre Stimme war nur noch ein gedämpftes Wimmern. Er presste sie noch heftiger gegen die Wand, setzte ihr das Messer an den Hals und führte den kleinen Schnitt aus. Schnell, nicht tief, aber genug, um den Strom des Lebens freizulegen. Er legte seine Lippen auf die Wunde, empfing den salzig-metallischen Strom mit jedem Herzschlag. Während ihm das Blut die Kehle hinunterlief, war es, als würde sein Körper ihre Lebensenergie in sich aufnehmen.

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Es war zum Verzweifeln. Das alte Motorrad gab eine Straße vor Doras Wohnung den Geist auf. In einer Wolke aus beißendem Gestank hauchte das antike Vehikel sein Leben aus. Sophie sprang vom Sattel und rannte die letzten Meter.

Vor der Einfahrt zum Innenhof parkte ein blauer Audi mit zerbeultem und zerkratztem Blech auf der Fahrerseite und einem zerschlagenen Scheinwerfer. Es musste derselbe Wagen sein, der die Einfahrt zum Bestattungsunternehmen gerammt und die Wand des Gebäudes entlanggeschliffen war.

An der Durchfahrt stoppte sie, schaute möglichst unauffällig um die Ecke. Sie zog die Waffe aus der Tasche. Noch immer hatte sie weder einen Plan noch annähernd eine Vorstellung, wie sie ihre Freundinnen befreien sollte. Aber niemand würde es für sie tun. Hier konnte sie nicht einfach die Polizei rufen. Abgesehen davon, dass die Justiz längst von diesen Kreaturen unterwandert war, hätten gewöhnliche Polizisten nicht die geringste Chance, gegen diese Bestien zu bestehen. Ihr blieb keine andere Wahl als es selbst zu tun.

Gerald fiel ihr ein. Die Polizisten würden ihr sagen, wie sie ihn erreichte. Aber sie wollte ihn nicht auch noch in Gefahr bringen. Ob er ein Jäger war, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Viele seiner Handlungen passten nicht ins Bild. Da sie ihm in dieser Sache ebenfalls nicht vollends traute, entschied sie sich dagegen.

Dummheit, sagte ihre innere Stimme. Halt den Mund, antwortete sie. Sie hatte diesen Job geerbt, in dessen Beschreibung nicht stand, sich in brenzligen Lagen die Hilfe von ihrem fantastisch aussehenden Liebhaber zu holen. Sie musste sich beweisen, dass sie es allein schaffen konnte.

Mit eingeredetem Mut und gestrafften Schultern schlich sie in den Hof und schaute nach oben. Doras Wohnung war beleuchtet. Durch die Vorhänge sah sie die Umrisse mehrerer Gestalten. Ihre Hände zitterten und die Waffe wurde schwer, als ihr das Blut in die Füße sackte.

So viel zur Selbstmotivation.

Vater, hilf mir, betete sie. Wegen dir muss ich das machen, da kannst du mir ruhig ein bisschen helfen.

Fünf Kugeln im Magazin würden nicht genug sein, aber wenn sie Dora und Meike genug Zeit verschaffte, um zu fliehen, hatte sie bereits ihr Ziel erreicht.

Die Haustür war nur angelehnt, also schob sie sich in den Flur. Sie hörte Stimmen und ein unterdrücktes Schluchzen. Warum war sie damals nicht bei ihrem Vater geblieben, um ihre Ausbildung abzuschließen? Aber selbst all das Wissen hätte ihr nichts genutzt, wenn sie gleich mehreren Vampiren gegenüberstand. Ein Jäger konnte nur durch das Überraschungsmoment gegen die Bestien bestehen. Bisher hatte sie nur das Glück gehabt, unterschätzt worden zu sein. Noch mal würden ihre Gegner diesen Fehler nicht begehen.

Wie die Haustür war auch die Tür zu Doras Wohnung angelehnt. Die Bestien wähnten sich in Sicherheit. Meike betete mit zittriger Stimme.

„Lass den Scheiß, dein Gott kann dir nicht helfen“, sagte die raue Stimme eines Mannes. „Bete lieber, dass sie auftaucht, ansonsten werden wir mehr tun als euer Blut trinken.“ Er lachte schallend, hielt plötzlich inne. „Ich glaube, wir haben Besuch, Freunde.“

Sophie blieb beinahe das Herz stehen. Diese dreckigen Schweine waren bereits über Meike und Dora hergefallen und hatten sie gebissen.

Jemand riss die Tür auf. Ohne nachzudenken, trat Sophie zu, riss eine leicht bekleidete Dame von den Beinen, legte die Pistole an und wollte abdrücken. Doch die Vampirin war längst wieder auf den Beinen, stand hinter ihr und krallte sich ihre Haare.

„Lass das, Schlampe“, fauchte die Vampirin und riss Sophies Kopf nach hinten. Lange, zierlich schlanke Fänge ragten über die kirschroten Lippen. „Komm mit, Bruce will dich sehen.“

Sie umfasste Sophies Waffenarm so fest, dass der Schmerz die Hand öffnete und die Pistole zu Boden glitt. In dieser festen Umklammerung zog die Lady sie ins Wohnzimmer. Sie erblickte einen großen, breitschultrigen Mann in Kleidung aus Leder mit dornenartigen Nieten. Daneben stand ein weiterer Kerl und ein dritter kümmerte sich um Dora und Meike, die am Boden in einer Ecke kauerten. Meike war so bleich wie ihre weiße Bluse, eine Bisswunde klaffte an ihrem Hals und sie zitterte am ganzen Leib.

Anders war es Dora ergangen. Die Monster hatten sich nicht nur mit einer Bisswunde begnügt. Geschockt und reglos lehnte Dora neben Meike, als wäre sie in dieser Position erstarrt und Sophie fühlte sich an den Blutsklaven in Polizeiuniform erinnert. Heiß und kalt lief es ihr über den Rücken.

„Endlich lernen wir uns kennen.“ Der dornenbewehrte Riese hob ihren Kopf mit dem Zeigefinger an ihrem Kinn an. Er starrte sie aus blutroten Augen an. „Du bist wahrlich schwer zu fangen, Süße. Du weißt, warum ich nach dir suche?“

„Keine Ahnung, Arschloch.“ Das war sicher nicht der Umgangston, in dem ihr Vater seinen Job bestritten hatte, aber brennende Wut verdrängte jedes Gefühl von Panik. Das war gut, denn sie durfte nicht eine Sekunde ein schwächelndes Weibchen für diese Kerle darstellen. Dann wäre sie verloren.

Er lachte abfällig. „Dein Mut gefällt mir. Du würdest gut in meine Sammlung passen.“ Sein Griff wurde grober, als wolle er ihr den Kiefer nur mit Daumen und Zeigefinger brechen. „Doch leider hast du jemanden getötet, der mir sehr viel bedeutet.“

„Du meinst dieses stinkende Skelett vom Friedhof?“

Jetzt zuckte sein Auge und er knurrte wütend. „Meine Neue hört es zwar nicht gern“, er deutete mit einer flüchtigen Kopfbewegung auf die Vampirin hinter Sophie, „aber du hast mein Mädchen getötet. Niemand konnte so gut ficken wie sie.“

Sein Flüstern hatte den Zweck nicht erfüllt, denn die Vampirfrau riss zum Dank noch fester an Sophies Haar. „Dann hätte sie sich besser einen anderen Gegner gesucht. Pech für sie“, entgegnete Sophie. Der Typ drückte fester zu, nahm ihr die Luft zum Atmen. „Was willst du nun machen, mich töten?“ Ihre Stimme war ein Krächzen.

„Noch nicht, kleine Jägerin. Der Tod ist nur die Erlösung von dem, was auf dich wartet.“

Er nickte dem Aufpasser der Frauen zu. Dieser grinste dreckig, griff nach Meike und zog sie an den Haaren hoch. Er rammte seine Fänge in ihren Hals. Der Anblick ließ Sophies Magen rotieren.

„Feiges Pack! Was anderes fällt euch nicht ein? Was genau wollt ihr von mir? Lasst meine Freundinnen da raus!“

„Das werde ich nicht. Sie sollen sterben wie du. Langsam und qualvoll soll meine Rache sein.“

Er holte aus, schlug zu. Instinktiv duckte sich Sophie unter dem viel zu langsam ausgeführten Schlag hinweg und so traf er seiner Vampirfreundin mitten ins Gesicht. Wäre es nicht um Leben und Tod gegangen, wäre es komisch gewesen.

Die Vampirfrau stürzte nach hinten, riss Sophie mit sich in den Gang. Der Körper der Frau dämpfte den Aufprall. Plötzlich war Sophie frei und die Waffe lag in Griffweite. Ohne zu zögern, hob sie die Pistole und drückte ab. Ihr erster Schuss ging daneben, der zweite und dritte traf den Vampir, der sich an Meike verging in Schulter und Hals. Kreischend ließ die Bestie Meike fallen, griff sich an die Wunden. Der dritte Vampir beobachtete die Szenerie noch unschlüssig.

„Worauf wartest du, schnapp dir die Hure!“, brüllte ihr Boss.

Sophie wollte die letzten beiden Patronen abfeuern, doch die Vampirin war plötzlich über ihr, schlug ihr die Waffe erneut aus der Hand. Wie eine Furie ohrfeigte sie Sophie. Nun war auch der andere Vampir bei ihr. Zu zweit hoben sie Sophie hoch, hielten sie fest.

„Genug!“ Der Anführer kochte vor Wut.

Er stürzte sich auf sie und schob sie quer durch den Raum gegen die Wand. Stechender Schmerz explodierte in ihrer Brust, die Luft wich aus ihren Lungen. Schwindel und Übelkeit brachen über sie herein. Während das Bewusstsein langsam in Dunkelheit schwand, bemerkte sie eine Bewegung an der Tür.

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Gerald packte den Anführer der Morati-Vampire dort, wo sein Schneider vergessen hatte, Dornen anzubringen. Vom Erscheinen des Gegners überrascht, ließ der Kerl von Sophie ab, die zu Boden sank. Gerald riss ihn herum und fegte dabei auch die beiden Begleiter von den Beinen.

„Vermont?“, fragte der Morati irritiert.

„Überrascht?

„Ich hätte nicht gedacht, dass du aus deinem Loch kriechst und dich zeigst. Mein Clan ist Teil der freien Liga. Ich unterliege nicht mehr den Gesetzen deines Rates.“

„Dann ist dies die Kriegserklärung an die freie Liga.“

„Du bist zu feige, zu kämpfen, Gerald. Ansonsten würdest du dich nicht vor den Menschen verstecken. Diese Welt gehört uns! Darum hat Gott uns mit unseren Kräften gesegnet.“

„Du bist kein Segen, Bruce, du bist ein Versehen.“

Als Bruce sich zu befreien versuchte, packte ihn Gerald noch fester und schleuderte ihn quer durch den Raum gegen den Türrahmen, der unter der Wucht des Aufpralls zersplitterte. Bruces Begleiter stürzten sich auf Gerald, schlugen und stachen mit Messern nach ihm. Er wehrte beide ab, packte auch die Hand der geifernden Vampirin, drehte sie um, bis sich die Finger öffneten und die Klinge fiel. Er legte die Hand auf ihre Stirn und wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hat, fiel sie bewusstlos zu Boden. Der telepathische Stromstoß würde sie für einige Zeit ruhigstellen.

Bruce war unterdessen wieder auf den Beinen, schüttelte sich und griff nach einer Pistole, die vor ihm am Boden lag. Gerald reagierte zu spät, als ein Schuss aus der Mündung brach. Die Kugel traf ihn am Bein, streifte den Unterschenkel und schnitt eine Furche in sein Fleisch, ehe sie samt tödlichem Inhalt an der Wand hinter ihm zerplatzte.

Der Schmerz in seinem Fuß lähmte ihn für eine Sekunde. Er stolperte und spürte den Luftzug, als die Arme von Bruces Begleitern ins Leere griffen und der zweite Schuss aus der Pistole den Falschen traf. Letztlich erklang nur noch das Klicken eines leeren Magazins. Er stürzte sich auf den Vampir, drückte ihn zu Boden, schlug auf ihn ein, bestärkt von dem Nachgeschmack, wie dieser Kerl Sophie behandelt hatte.

Bruce wehrte sich. Er war wesentlich stärker als seine Begleiter. Gerald hatte Mühe, ihn festzuhalten und es gelang dem Riesen, sich mithilfe seiner spitzen Nieten aus Geralds Umklammerung zu befreien, indem er ihm mit einer raschen Bewegung die Schulter in die Brust rammte.

Mehr als zwei Dutzend zentimeterlanger Stacheln bohrten sich in seine Brust. Gerald biss die Zähne zusammen, als ein grausamer Schmerz in seiner Brust explodierte. Bruce war schnell auf den Beinen, griff nach den am Boden liegenden Dolchen seiner Kumpane, um sich auf Gerald zu stürzen.

Mit einer Drehung wich er dem heranstürmenden Mann aus und verpasste ihm einen Tritt in den Rücken, der in an die gegenüberliegende Wand beförderte. Keuchend stürzte Bruce nach hinten, zuckte und blieb schließlich auf dem Rücken liegen. In seiner Brust steckten die beiden Dolche.

Gerald atmete tief durch. Sein Bein und die Brust brannten. Er eilte zu Sophie, sank in die Knie, hob sie hoch und berührte ihren Hals. Ihr Herz schlug und sie atmete. Erleichtert schloss er ihren Körper in die Arme und spürte ihre Wärme. Er legte sie auf die Couch im Wohnzimmer.

Anschließend sah er nach Sophies Freundinnen. Er schaute in die Augen der beiden Frauen. Ihre starren Blicke reagierten auf nichts und ihre Körper waren beinahe leer getrunken, dem Tod näher als dem Leben. In diesem Zustand entstand für gewöhnlich eine Bindung des Wirts an den Vampir, die Menschen zu Blutsklaven machte. Diese Verbindung war nur schwer zu brechen, hielt meist bis über den Tod des Vampirs hinaus an.

Er telefonierte mit Alexandre, bat ihn, sich um den Tatort zu kümmern und ordnete an, die beiden Frauen in das Sanatorium bei Budapest zu bringen. Vielleicht hatten sie noch eine Chance.

Anschließend brachte er Sophie in den Wagen und kehrte zum Appartement zurück, um zu warten, bis Alexandre mit Brom eintraf. Er hatte keine Ahnung, wann die Vampirin zu sich kommen würde und es war zu gefährlich, sie allein aufwachen zu lassen. Es kostete ihn jedes Mal Kraft, jemanden auf diese Art ruhigzustellen und jeder reagierte anders darauf.

„Scheint eine heiße Nacht zu sein“, meinte Brom beim Anblick der Wohnung. „Ist das Bruce, der Morati-Boss?“

Gerald nickte. „Aber wir wissen nicht, wie sehr wir sie dadurch getroffen haben.“

Alexandre kümmerte sich unterdessen um die beiden Frauen. „Macht es bei den beiden noch Sinn? Sie haben viel Blut verloren.“

„Wir sollten es versuchen“, antwortete Gerald.

„Okay. Sie sind nicht die einzigen Opfer in dieser Nacht. Marc Leclerc hat mit seinen Leuten eine Party in Paris beendet. Elf Tote, darunter ein Agent, sechs Vampire der freien Liga und vier Menschen. Die überlebenden Gäste wurden in die Bretagne gebracht.“

„Sagte ich nicht, nur beobachten?“ Er atmete tief durch, verdrängte die aufkommende Wut. Es tat ihm leid, wie er auf die Nachricht reagiert hatte. Seine Agenten taten wirklich ihr Bestes.

„Er hatte keine Wahl, nachdem ihre Tarnung aufgeflogen war.“

„In Ordnung. Bitte kümmert euch um den Tatort und ordert Handwerker, um die Wohnung in Ordnung zu bringen. Nichts soll auf diesen Überfall hindeuten.“

„Verstanden“, sagte Alexandre nickend.

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Satt und befriedigt kehrte Jonathan in das Hauptquartier zurück. Das Blut der Frau floss wie ein reißender Strom durch seine Adern, breitete sich bis in die letzte Faser seines Körpers aus und erfüllte ihn mit einer Energie, wie er sie nie gefühlt hatte. Er hatte jeden Schluck genossen und ihr leises Stöhnen. Es hatte ihn so erregt, dass er sie nahm, während seine Lippen auf ihrer Ader lagen.

„Wo warst du?“, fragte sein Vater.

„Ich musste etwas herausfinden“, antwortete Jonathan, ging die Treppe hinauf in die oberste Etage des alten Hotels.

„Du hast getrunken und gemordet!“

„Und wenn schon.“ Jonathan betrat die geräumige Dachkammer, die er zu einem Labor umfunktioniert hatte.

„Wie fühlt es sich an?“

„Unglaublich.“ Jonathan setzte sich auf einen Lehnstuhl und griff nach seinen Aufzeichnungen. Nur noch eine Zutat fehlte ihm jetzt noch für die Vollendung dieses Serums. Er schaute auf die Uhr. Pünktlich wie vereinbart klingelte das Telefon. „Haben Sie Neuigkeiten?“, fragte er den Verbindungsmann, noch bevor dieser sich zu Wort meldete.

„Ja.“ Die Stimme des Mannes klang heiser. „Sie hat das Quartier verlassen.“

„Worauf warten Sie dann noch?“

„Verzeihen Sie, aber ich brauche Hilfe, wenn ich den Vampir aus der Zelle bis nach Venedig bringen soll.“

Amateur. Wütend trat er gegen den Beistelltisch. Er unterschätzte die Kraft, die ihm das Blut verlieh. Das Möbelstück flog quer durch den Raum und zerschellte an der Wand.

„Halten Sie mich auf dem Laufenden, sollte sie wieder eintreffen. Ich werde mich auf den Weg nach Wien machen. Und vergessen Sie nicht, wir brauchen diesen Vampir lebend. Tot ist er wertlos.“ Er knallte den Hörer auf die Gabel. „Unfähiger Trottel.“

„Ich komme mit dir. Clement ist ein Vampirkrieger. Ihr werdet mich brauchen, sollte er wach werden.“

Wie er sich im Moment fühlte, brauchte er keine Hilfe. Nie wieder.

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Langsam kam Sophie zu sich. Sie fand sich auf dem beinahe schon vertrauten Beifahrersitz von Geralds Auto wieder und beobachtete, wie er um den Wagen herumging und einstieg.

Nun hatte er sie schon wieder retten müssen. Wie peinlich. Sie war vielleicht eine Jägerin. Hilflos ihren Feinden ausgeliefert gewesen. Ihr Vater drehte sich wahrscheinlich soeben im Grab um.

„Hallo Gerald.“ Sie brachte ein Lächeln zustande. „Danke für deine Hilfe. Was ist passiert? Wo sind Meike und Dora?“

„Am Leben und in Sicherheit.“ Gerald betätigte die Zündung. „Ich bring dich nach Hause. Dort kannst du dich erst mal ausruhen.“

„Weich mir bitte nicht aus. Ich will mich jetzt nicht ausruhen. Wo sind sie und was ist mit den Kerlen und der Vampirin?“

„Ich habe deine Freundinnen nach Budapest bringen lassen.“

„Was? Wieso?“

„Es gibt dort eine Klinik für solche Fälle.“ Er schaute zu ihr und wirkte traurig.

„Wie ist ihr Zustand?“, fragte Sophie. Sie schluckte und atmete tief durch, um gegen die nächste Welle des eisigen Schauders anzukämpfen.

„Sie sind dem Tod näher als dem Leben.“

„Oh, Gott, nein!“ Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. Das durfte alles nicht wahr sein. Nur durch ihre Schuld waren die beiden da reingeraten.

Gerald hielt den Wagen an. Sanft sah er ihr in die Augen. „Es gibt Hilfe. Wenn sie dir etwas bedeuten, musst du mir vertrauen.“ Zärtlich strich er über ihr Kinn. „Du musst mir vertrauen, hörst du? Ich kann das jetzt nicht alles erklären. Du musst mir glauben.“

Der Ton seiner Stimme wärmte sie und wie schon so oft umgarnte seine Anwesenheit sie mit Geborgenheit, als könne ihr in seiner Nähe nichts passieren.

„Das tue ich. Ich vertraue dir.“ Sie wusste nicht, welche Art von Klinik das sein sollte und hatte nie davon gehört. Aber da war so vieles, was nur ihr Vater gewusst hatte. Etwas in ihr ließ sie an Gerald glauben. Nicht nur, weil er ständig auf mysteriöse Weise aus dem Nichts auftauchte und ihr das Leben rettete, sondern wegen dieses Gefühls, das sie von Anfang an gehabt hatte. Unweigerlich war damit ein Vertrauen ihm gegenüber verankert, das sie nie einem anderen Menschen gegenüber empfunden hatte. Nicht einmal ihrer Mutter, weil diese sie als junges Mädchen allein gelassen hatte. Allein mit diesem verrückten Leben, ihren Problemen und Ängsten und auch, weil sie ihr nie die Wahrheit über ihren Vater gesagt hatte.

„Werden sie wieder so leben können wie früher?“, fragte sie.

„Die Ärzte dort sind mit so etwas vertraut. Dora und Meike werden sicher wieder gesund, aber sie werden sich nicht mehr an diese Nacht erinnern.“

Machten die dort Hypnose oder so etwas? Weitere Erklärungen gab Gerald nicht und langsam kroch Erschöpfung durch ihre Knochen. Das Adrenalin hatte sich abgebaut. Während sie Gerald von der Seite betrachtete, kam ihr wieder dieser eine Gedanke. Wer in Gottes Namen war er? Dass er ein Vampirjäger war, wurde immer wahrscheinlicher, aber welchen Motiven folgte er und welche Verbindungen hatte er, dass er sogar Spezialkliniken für Vampiropfer kannte? Es ist ein riesiges Netzwerk, sagte Julius Stimme in ihrem Kopf. Wohl wahr.

„Gerald, woher wusstest du, wo ich war? Wieso bist du überhaupt gekommen? Ich habe dich an der U-Bahn gesehen …“ Langsam kam eins zum anderen, doch kein Puzzleteil passte an sein Gegenstück.

„Ich habe eine Spur verfolgt und dabei bist du mir über den Weg gelaufen.“

„Aber woher wusstest du, dass ich in die Wohnung gefahren bin?“

„Nachdem du nicht zu Hause warst, war das naheliegend.“

Das erklärte nicht, weshalb er ihr überhaupt gefolgt war. In ihrem Kopf herrschte Chaos, sie musste das später sortieren. „Als du verschwunden bist, habe ich nicht geglaubt, dich so schnell wiederzusehen“, sagte sie stattdessen und wechselte das verwirrende Thema.

Er grinste schelmisch. „Enttäuscht?“

„Nicht mehr.“

„Du dachtest, ich bin ein Frauenheld? Jemand, der nach einem One-Night-Stand auf Nimmerwiedersehen verschwindet.“

„Im ersten Augenblick, ja. Wir kennen uns kaum und hatten eine unglaubliche Nacht, und dann ist es etwas irritierend, wenn der Lover einfach verschwindet.“

„Das stimmt wohl und es tut mir leid. Kein gutes Benehmen. Aber ich musste weg und habe ja wenigstes eine Nachricht hinterlassen.“ Er grinste.

„Ja, danke. Das war dann doch noch sehr nett.“ Sie erwiderte das Grinsen. „Daher habe ich dir auch verziehen.“

Er stieß ein erleichtertes Seufzen aus. „Oh, gut. Das beruhigt mich.“

Sie dachte an die Signatur der Nachricht. In Liebe. Sie konnte das immer noch nicht richtig einordnen. Vielleicht war es nur eine Floskel.

„Ich möchte noch nicht nach Hause. Ich brauche einen klaren Kopf. Können wir irgendwo ein Stück gehen?“

„Okay. Was hältst du von Schönbrunn?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wendete Gerald den Wagen und setzte die Fahrt in entgegengesetzte Richtung zu Sophies Wohnung im Südwesten Wiens fort.

Der Park breitete sich dunkel und verlassen vor ihnen aus. Ein kalter Wind strich über die ungemütliche Winterlandschaft. Im fahlen Licht, das aufgrund der zahlreichen Straßenbeleuchtungen und Reklametafeln über Wien lag, wirkten die kahlen Bäume und Sträucher wie skelettartige Ungeheuer. Es fröstelte sie nach wenigen Minuten. Gerald ging stumm neben ihr, groß und muskulös, wie er war, wirkte er in seinem Anzug, der durch den Kampf in Mitleidenschaft gezogen war, wie ein Bodyguard. Als er bemerkte, wie sie fror, schlüpfte er aus seinem Sakko und legte es ihr um die Schultern. Sanft legte er einen Arm um sie und zog sie heran. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter.

„Wo warst du mein ganzes Leben“, flüsterte sie.

„Immer in deiner Nähe.“

„Wie meinst du das?“

„Nur so eine Redensart.“

Eine Weile wanderten sie ziellos die Wege entlang, doch plötzlich hielt Gerald inne. Sein Körper versteifte sich und er blickte auf einen Punkt in der Ferne.

„Was ist los?“

„Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Vielleicht ist es besser, wenn wir umkehren.“

„Okay.“

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Mit Sophie im Arm ging Gerald zurück zum Wagen. Vielleicht hatte er sich geirrt. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sophie hatte für diesen Abend genug erlebt und gesehen, da musste er sie nicht auch noch mit dem Hirngespinst eines Assassinen beunruhigen, der nicht unweit von ihnen aufgetaucht war und sie beobachtet hatte. Er war vermutlich nicht real, nur eine Ausgeburt seiner Fantasie, seiner Erschöpfung entsprungen. Er hatte versucht sich auf dieses Wesen zu konzentrieren, seine Sinne auf diesen Punkt zu richten. Tatsächlich hatte er etwas gespürt, die Anwesenheit eines Lebewesens. Doch ein Assassine strahlte eine andere, dunkle Aura aus, deren Kälte man selbst über Kilometer hinweg spürte. Diese Erscheinung aber war fremdartig gewesen. Wie eine unbekannte Lebensform. Hirngespinst oder Realität, er wollte es nicht darauf ankommen lassen, Sophie in dieser Nacht auch noch mit einem der schrecklichsten Wesen, die über diesen Planeten wandelten, zu konfrontieren.

Auf dem Weg zum Wagen blickte er sich immer wieder um, wenn er glaubte, sie bemerke es nicht.

„Ich möchte heute Nacht nicht allein sein.“ Ihr Blick war entschlossen und ängstlich zugleich.

Führe mich nicht in Versuchung. Verdammt, ihn verlangte es nach ihr, doch er konnte ihren Wunsch nach Nähe nicht so schamlos ausnutzen. Beinahe vergaß er, aus welchem Grund er ihr gefolgt war.

„Wenn du nicht möchtest, ist das in Ordnung.“ Sie missdeutete sein Schweigen und stieg in den Wagen.

„Nein, das ist es nicht. Nichts würde ich lieber tun, als diese Nacht bei dir zu sein. Jede Nacht. Ich will dich wie nichts anderes auf dieser Welt. Ich muss nur leider an Dinge denken, die nichts mit uns zu tun haben und über die ich nicht sprechen kann.“

„Ich verstehe das“, antwortete sie, strich mit ihrer Hand über seine Wange, als wolle sie die bösen Gedanken wegwischen. „Wir alle haben unsere Geheimnisse. Dinge, über die wir lieber nicht sprechen sollten.“

„Wie wahr.“ Er senkte den Kopf, um sie zart zu küssen. Sie sank gegen ihn und seufzte unwiderstehlich. Er brauchte alle Kraft seines sturen Willens, sich von ihr zu lösen. „Danke für dein Verständnis.“

Sie sah ihn forschend an. Wollte mehr wissen, entschied aber offenbar wie er, dass heute Nacht nicht der richtige Zeitpunkt war.

Irgendwann würde er diesem Blick nicht mehr ausweichen können, musste ihr die Wahrheit sagen. Doch nicht heute Nacht. Er würde sie nach Hause bringen, sie noch einmal küssen, halb irrewerden vor Verlangen, und sich wieder seiner Aufgabe widmen. Clement musste gefunden werden. Erst dann durfte er sich wieder von Sophies Duft den Verstand rauben lassen.

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