Cal dachte viel über die Rankins nach. Er hatte Libby gefragt, ob das die durchschnittliche amerikanische Familie sei, worauf sie gelacht hatte. Wenn es so etwas überhaupt gäbe, hatte sie geantwortet, dann passten die Rankins wohl einigermaßen ins Bild.
Die Leute interessierten ihn, weil er einige Parallelen zwischen ihnen und seiner eigenen Familie sah. Sein Vater, der zwar ein vollkommen anderer Typ war als der massige, ewig strahlende Jim, hatte immer eine große Vorliebe für unverdorbene Natur und für Familienausflüge an den Tag gelegt. Wie die Rankin-Jungen hatten auch Cal und sein Bruder Jacob auf solchen Unternehmungen sehr oft geschmollt, gejammert und die Augen verdreht. Und wenn die Grenze des Erträglichen erreicht war, dann war es immer Cals Mutter gewesen, die schließlich die Richtung bestimmt hatte.
Das Familienleben, dachte Cal, ist eben zeitbeständig. Ein tröstlicher Gedanke.
Nach ihrer Heimkehr zur Hütte hatten Cal und Libby ihr Kaminfeuer und ihren Brandy wie vorgesehen gehabt und waren dann, weil Libby darauf bestanden hatte, hinauf zu ihrem Computer gegangen und hatten den Bericht für die Zeitkapsel fertig gestellt, und zwar mit drei Kopien: eine für die Kapsel, eine für das Schiff beziehungsweise für Cal und die dritte für Libbys Unterlagen.
An dem Text hatte sie lange herumgefeilt und sich mit dem Ergebnis Cals Hochachtung verdient. Die technischen Einzelheiten hatte sie von ihm übernommen.
Im Anschluss an diese Arbeit hatte sie darauf bestanden, dass er sie wie versprochen über das Leben in der Zukunft aufklärte, und je mehr Fragen Cal ihr beantwortete, desto mehr neue fielen ihr ein. Mitten in einer seiner Antworten schliefen sie aneinander gekuschelt auf dem Bett ein.
Am nächsten Morgen stellten sie den Inhalt der Zeitkapsel endgültig zusammen und legten ihn in eine luftdicht verschließbare Kassette, die Libby in der Stadt gekauft hatte.
Unter den Gegenständen befanden sich natürlich die Kopie des Berichts, dann eine von Caroline Stone hergestellte Webmatte, eine Tonschale, die William vor vielen Jahren geformt hatte, eine Tageszeitung, eine Wochenzeitschrift und auf Cals ausdrücklichen Wunsch auch ein hölzerner Rührlöffel aus der Küche. Dazu legte Libby eines der beiden Fotos, die sie vom Schiff gemacht hatte.
„Wir brauchen aber noch mehr", meinte sie.
„Ja, dies hier." Cal hielt eine Tube Zahnpasta hoch. „Und ich hoffte, du würdest auch ein Stück Unterwäsche von dir opfern."
„Die Zahncreme - okay. Die Unterwäsche - nein."
„Es ist doch für die Wissenschaft", beharrte Cal.
„Kommt überhaupt nicht in Frage. Wichtig wäre ein Werkzeug. Bei unseren Ausgrabungen sind wir immer sehr glücklich, wenn wir auf Werkzeuge stoßen." Libby suchte in diversen Schubladen herum und präsentierte schließlich einen Schraubenzieher und einen Hammer.
Cal wählte die Zange. „Und wie wäre es mit einem Buch?"
„Ja, natürlich." Libby lief sofort ins Wohnzimmer und durchsuchte die Regale nach passender Literatur. Die ausgewählten Bücher trug sie in die Küche und legte sie in die Kassette. „Wenn die Wissenschaftler deiner Zeit die entsprechenden Untersuchungen durchführen, können sie das Alter aller dieser Gegenstände bestimmen, und das wird dann deine Geschichte bestätigen. So, und nun komm mit nach draußen. Wir wollen noch ein paar Fotos machen."
Weil Cal sich die Kamera als Erster schnappte, bestand er darauf, auch die ersten Bilder zu schießen. Er fotografierte die Hütte, Libby vor der Hütte, Libby neben ihrem Geländewagen, Libby in dem Geländewagen, Libby, die ihn, Cal, auslachte, und Libby, wie sie mit ihm schimpfte.
„Weißt du eigentlich, wie viel Filmmaterial du verschwendet hast?" Sie riss eine neue Packung auf. „Die Bilder kosten fast einen Dollar pro Stück! Anthropologie ist eine faszinierende Sache, die aber lausig bezahlt wird."
„Entschuldige bitte." Cal trat auf Libby zu, aber sie winkte ihn zurück. „Ich habe nie danach gefragt", sagte er. „Wie hoch ist dein Kreditindex?"
„Keine Ahnung." Sie machte eine Aufnahme von ihm, wie er dastand und die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner geliehenen Jeans hängte. „So etwas kennen wir heute nicht. Oder wir verstehen unter dem Begriff etwas anderes. Kreditindex oder Kreditwürdigkeit fasst solche Dinge zusammen wie Jahreseinkommen, Vermögen, Besitz und dergleichen. Und jetzt setz dich mal auf dein Flugrad, ja?"
Das tat Cal. „Libby, ich habe keinerlei Möglichkeit, für alles, was du für mich getan hast, in der hier gültigen Währung zu bezahlen."
„Nun sei aber nicht albern!"
„Und es gibt noch eine Menge mehr, das ich in überhaupt keiner Währung bezahlen könnte."
„Du hast nichts zu bezahlen." Sie brachte die Kamera in Anschlag. „Und schau mich gefälligst nicht so an. Ich habe keine Lust, ernst zu werden."
„Uns bleibt nicht mehr viel Zeit."
„Das weiß ich auch." Libby hatte zwar nicht alle technischen Daten verstanden, die Cal ihr gestern Abend diktiert hatte, doch sie hatte begriffen, dass er morgen vor Sonnenaufgang fort sein würde. „Also dürften wir uns nicht die Zeit verderben lassen, die wir noch gemeinsam haben." Libby machte eine kleine Pause, um ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. „Zu schade, dass dieser Apparat keinen Selbstauslöser hat. Es wäre doch nett, wenn wir ein paar Fotos von uns beiden zusammen hätten."
„Warte mal." Cal ging um das Haus herum und kam einen Augenblick später mit einer Gartenhacke zurück. „Setz dich auf die Verandastufen." Er befestigte die Kamera auf dem Sattel seines Flugrads und richtete sie so ein, dass er Libby im Sucher hatte.
Zufrieden mit sich selbst, lief er zu ihr zurück und setzte sich neben sie. Er legte ihr den Arm um die Schultern. „Jetzt musst du lächeln."
Das tat Libby bereits seit langem.
Mit dem Stiel der Gartenhacke drückte Cal auf den Auslöser und grinste vergnügt, als er das Klicken des Verschlusses hörte. Der Abzug glitt aus dem Apparat.
„Sehr erfindungsreich, Hornblower."
„Nicht bewegen!" Er holte sich das erste Bild, setzte sich wieder neben Libby und vollführte denselben Trick noch einmal. „Eins für dich, eins für die Kapsel." Er legte beide Bilder aus der Hand. „Und eins für mich." Er hob Libbys Kopf mit einem Finger an und küsste sie.
„Du hast das Fotografieren vergessen", flüsterte sie einen Moment später.
„Ach ja, stimmt." Er küsste sie noch einmal und brachte es fertig, gleichzeitig mit dem langen Hackenstiel den Auslöser zu betätigen.
Libby betrachtete die erste Aufnahme. Wir sehen glücklich aus, dachte sie, wie ganz normale, glückliche Menschen. Sie wusste, dass das später einmal für sie sehr wichtig werden würde. „Und jetzt sollten wir die Zeitkapsel vergraben."
Sie befestigten die Kassette auf dem Flugrad. Am Bach angekommen, betrachtete Cal ohne viel Begeisterung die Schaufel, die Libby ihm reichte. Ihm war anzusehen, dass er keine Lust hatte zu graben.
„Ein ziemlich primitives Werkzeug. Gibt es nichts Bequemeres?"
„Nicht in diesem Jahrhundert, Hornblower." Libby deutete auf den Boden. „Los, grabe."
„Ich lasse dir den Vortritt."
„Danke, sehr freundlich, aber nicht nötig." Sie setzte sich auf den Boden. „Ich will dich doch nicht deines Vergnügens berauben."
Sie schaute zu, wie Cal sich anstrengte. Womit würde er die Kassette später wieder ausgraben? Was würde er empfinden, wenn er sie öffnete? Libby hoffte, er würde hier an dieser Stelle sitzen und den Brief lesen, den sie in die Kassette geschmuggelt hatte. Ein einziger Bogen Papier nur, aber sie hatte ihr ganzes Herz in diesen Brief gelegt, und sie erinnerte sich an jedes einzelne Wort.
Cal, wenn du dies liest, bist du wieder daheim, du sollst wissen, wie sehr ich mich für dich freue, dass du wieder da bist, wo du hingehörst und wo du sein willst.
Ich glaube, ich kann dir nicht erklären, was unsere gemeinsame Zeit mir bedeutet. Ich liebe dich so sehr, Caleb. Kein Tag wird vergehen, an dem ich nicht an dich denke. Aber ich werde nicht unglücklich sein. Was du mir in diesen wenigen Tagen geschenkt hast, ist mehr, als ich mir hätte vorstellen können, und alles, was ich je gebraucht habe. Immer wenn ich zum Himmel hinaufschaue, werde ich dein Bild sehen.
Ich werde weiterhin die Vergangenheit studieren und zu verstehen versuchen, warum der Mensch so ist, wie er ist. Nachdem ich dich kennen gelernt habe, weiß ich, wie er in der Zukunft sein kann.
Sei glücklich. Ich wünsche mir, ich wüsste sicher, dass du es bist. Und vergiss mich nicht. Ich wollte dir ein Vergissmeinnicht mit in die Kapsel legen, aber vermutlich würdest du dann nur Staub vorfinden. Such dir selbst eines und denke an mich. Bitte vergiss mich nicht. Libby.
„Libby?" Cal stützte sich auf den Spaten und beobachtete sie.
Ja?"
„Wo warst du?"
„Ach, gar nicht so weit weg." Sie betrachtete den Boden. „Nun, ich wusste ja, dass ein kräftiger Mann wie du ein Loch graben kann."
„Ich glaube, ich habe eine Blase."
„Du Armer." Libby stand auf und küsste die gerötete Haut zwischen seinem Daumen und dem Zeigefinger. Jetzt stellen wir die Kassette hinein, und dann darfst du zuschauen, wie ich das Loch wieder zuschaufle."
„Sehr gut." Sofort übergab Cal die Schaufel. Libby betrachtete sie und den Haufen Sand, der zu bewegen war.
„Cal?" Sie begann zu schaufeln. „Ich habe dir ja schon viele Fragen zur Zukunft gestellt, und da handelte es sich um die großen, allgemein wichtigen Dinge. Dürfte ich dich auch etwas Persönliches fragen?"
„Bitte."
„Würdest du mir etwas über deine Familie erzählen?"
„Was möchtest du denn gern wissen?"
„Was es für Menschen sind, zum Beispiel." Sie schaufelte in gleich bleibendem Rhythmus weiter. „Ich würde sie mir gern etwas besser vorstellen können."
„Mein Vater ist Forschungs- und Entwicklungstechniker. Er arbeitet im Labor, ist sehr gewissenhaft und zuverlässig. Daheim liebt er das Gärtnern. Er züchtet Blumen und macht alles in Handarbeit." Cal nahm den
Geruch der Erde wahr, die Libby so fleißig ins Loch schaufelte, und konnte beinahe seinen Vater bei der Gartenarbeit vor sich sehen. „Er malt auch. Miserable, wirklich entsetzliche Landschaftsbilder und Stillleben. Er weiß selbst, dass seine Gemälde schlecht sind, aber er behauptet, Kunst muss nicht unbedingt schön sein, um Kunst zu sein. Er droht immer damit, seine Werke im Haus aufzuhängen. Er ist ein sehr ausgeglichener Mensch. Ich glaube, in meinem ganzen Leben habe ich ihn nicht mehr als zehnmal die Stimme erheben hören. Trotzdem hört man ihm zu. Er ist der Klebstoff, der die Familie zusammenhält."
Cal streckte sich im Gras aus und blickte zum Himmel hinauf. „Mutter ist ständig - wie hast du das einmal genannt? - aufgedreht. Sie besitzt so viel Energie und Geist, dass es schon beinahe beängstigend ist. Sie schüchtert viele Menschen ein. Darüber amüsiert sie sich immer. Zwar schreit sie eine ganze Menge herum, aber hinterher tut es ihr immer Leid. Ich glaube, innerlich ist sie so weich wie Butter. Jacob und ich haben ihr das Leben ziemlich schwer gemacht." Er lächelte bei der Erinnerung. „In ihrer freien Zeit liest sie entweder spannende Romane oder wahnsinnig technische Bücher. Sie ist Chefberaterin des Vereinten Sekretariats der Nationen, und deshalb brütet sie die meiste Zeit über dicken Aktenstapeln."
„Vereintes Sekretariat der Nationen?"
„Ich glaube, man kann es eine Fortentwicklung der Vereinten Nationen nennen. Es entstand, nachdem die ersten Kolonien und Siedlungen gegründet wurden."
„Dann bekleidet deine Mutter ja einen hoch renommierten Posten." Libby war schon jetzt ganz eingeschüchtert.
„Ja, sie geht völlig darin auf. Und lachen kann sie! Ihr Lachen füllt ganze Räume. Sie und mein Vater haben sich in Dublin kennen gelernt. Sie war dort als Anwältin tätig, und er machte gerade Ferien. Sie fügten sich zusammen und endeten in Philadelphia."
Libby trat den Boden fest. Es war unmöglich, nicht die Zuneigung aus Cals Stimme herauszuhören, und ebenso unmöglich, sie nicht zu verstehen. „Und dein Bruder?"
„Jacob ist ein starker Typ. Er hat den Verstand meiner Mutter geerbt und das aufbrausende Temperament von ihrem Großvater, wie sie behauptet. Bei Jacob weiß man nie so genau, ob er einen angrinst oder einem gleich eins ans Kinn gibt. Er studierte Jura, und als er davon genug hatte, stürzte er sich in die Astrophysik. Er sammelt Probleme, damit er sie dann auseinander sortieren kann. Er ist ein elender Schuft", sagte Cal liebevoll, „aber er hat denselben unerschütterlichen und unschätzbaren Sinn für Loyalität wie mein Vater."
„Magst du deine Familie?" fragte Libby. Als Cal aufschaute, erläuterte sie ihre Frage etwas genauer. „Was ich meine - die meisten Menschen lieben ihre Familie als Ganzes, aber sie müssen die einzelnen Mitglieder deshalb nicht unbedingt mögen."
„Doch, ich mag sie." Cal schaute zu, wie Libby den Spaten wieder auf dem Flugrad befestigte. „Und sie würden dich auch mögen."
„Wenn du mich mitnähmst, könnte ich sie kennen lernen." Libby biss sich auf die Lippe und schaute Cal lieber nicht an. Sie hätte diesen Gedanken nicht aussprechen sollen.
„Libby ..." Cal stand auf, trat hinter sie und hielt die Hände über ihre Schultern, ohne sie zu berühren.
„Ich habe die Vergangenheit studiert", sagte sie schnell. Sie drehte sich um und fasste seine Unterarme. „Wenn du mich mitkommen ließest, hätte ich die Möglichkeit, auch die Zukunft zu studieren."
Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Tränen schimmerten in Libbys Augen. „Und deine Familie?"
„Sie würde verstehen. Ich würde einen Brief hinterlassen und alles erklären."
„Deine Eltern würden dir nicht glauben", wandte Cal ein. „Sie würden jahrelang nach dir suchen und sich fragen, ob du überhaupt noch am Leben bist. Libby, merkst du denn nicht, dass dies das Problem ist, das mich zerreißt? Meine Leute wissen nicht, wo ich bin und was passiert ist. Ich weiß genau, dass sie inzwischen darauf warten zu hören, ob ich noch lebe oder nicht."
„Ich würde es schaffen, meine Eltern zu überzeugen." Libby merkte selbst, wie verzweifelt ihre Stimme klang. „Wenn sie wissen, dass ich glücklich bin und das tue, was ich tun will, dann werden sie es verstehen."
„Vielleicht. Ja, wenn sie Gewissheit haben. Aber ich kann dich nicht mitnehmen, Libby."
Libby ließ die Hände sinken und trat einen Schritt zurück. „Nein, natürlich nicht. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich glaube, ich habe mich da wohl in etwas hineingesteigert, das ..."
„Nicht doch, Libby." Er fasste ihre Arme und zog sie zu sich heran. „Glaube nicht, ich wollte dich nicht mitnehmen. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist keine Entscheidung zwischen richtig und falsch, Libby. Wenn ich sicher sein könnte, und wenn keine Risiken zu befürchten wären, dann würde ich dich sogar gegen deinen Willen an Bord schleppen."
„Risiken?" Libby erschrak. „Was für Risiken?"
„Nichts ist narrensicher."
„Rede mit mir nicht wie mit einer Närrin! Welche Risiken?"
Es gab ein Berechnungsergebnis, das er Libby gestern Abend nicht genannt hatte. „Der Wahrscheinlichkeitsfaktor für den reibungslosen Ablauf der Zeitreise beträgt 76.4."
„76.4", wiederholte Libby. „Man braucht kein Rechengenie zu sein, um herauszubekommen, dass der Wahrscheinlichkeitsfaktor für das Misslingen 23.6 beträgt. Was geschieht, wenn das Experiment fehlschlägt?"
„Das weiß ich nicht." Aber vorstellen konnte er es sich. Ins Schwerefeld der Sonne gezogen zu werden und dort zu verglühen wäre noch das Schmerzloseste. „Jedenfalls werde ich es nicht darauf ankommen lassen, so gern ich dich auch mitnehmen würde."
Libby wollte nicht hysterisch werden, denn das würde ja auch nichts nützen. Also holte sie dreimal tief Luft, und dann hatte sie sich wieder einigermaßen im Griff. „Caleb, würdest du die Erfolgsaussichten verbessern können, wenn du dir noch ein wenig mehr Zeit ließest?"
„Möglicherweise. Wahrscheinlich", gab er zu. „Aber, Libby, für mich wird die Zeit knapp. Das Schiff liegt hier schon seit fast zwei Wochen offen herum. Dass wir die Rankins gestern abblocken konnten, war reiner Zufall. Was wäre deiner Meinung nach geschehen, wenn sie es entdeckt hätten? Wenn ich entdeckt worden wäre?"
„Bevor die eigentliche Ausflugssaison anfängt, vergehen noch Wochen. Außerdem kommen nie mehr als zehn, zwölf Wanderer im Jahr hierher."
„Einer könnte schon zu viel sein."
Cal hatte natürlich Recht. Von Anbeginn an hatten sie beide von geliehener Zeit gelebt. „Ich werde es nie erfahren, nicht wahr?" Mit einer Fingerspitze zeichnete sie die verblassende Narbe an seiner Stirn nach. „Ob du es geschafft hast, meine ich."
„Ich bin ein guter Pilot. Du kannst mir vertrauen." Er küsste ihre Finger. „Und mir wird die Konzentration leichter fallen, wenn ich mich nicht um dich sorgen muss."
„Gegen solche vernünftigen Argumente kann man schlecht etwas einwenden." Libby brachte ein Lächeln zu Stande. „Du sagtest, du hättest im Schiff noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. Ich werde jetzt zur Hütte zurückkehren."
„Ich bleibe nicht lange."
„Lass dir Zeit." Libby brauchte auch ein wenig Zeit für sich. „Ich bereite uns ein schönes Abschiedsessen zu." Sie drehte sich um und machte sich mit federnden Schritten auf den Weg.
„Ach Hornblower", rief sie noch über die Schulter zurück. „Pflück mir ein paar Blumen."
Cal pflückte einen ganzen Arm voll Blumen. Damit saß es sich allerdings nicht besonders gut auf dem Flugrad, und außerdem verstreuten sich die rosa, weißen und hellblauen Blüten auf dem Pfad unter ihm.
Während der Stunden an Bord war ihm ein Gedanke immer wieder durch den Kopf gegangen: Libby hatte mit ihm gehen wollen. Sie war bereit gewesen, ihr Daheim aufzugeben. Nein, nicht nur ihr Daheim, sondern ihr bisheriges Leben.
Vielleicht war das nur ein unüberlegter Augenblickseinfall von ihr gewesen. Trotzdem wollte sich Cal an dem Gedanken festhalten. Libby hatte mit ihm gehen wollen.
Als er sich jetzt der Hütte näherte, sah er nur sehr schwaches Licht hinter dem Küchenfenster schimmern. Vielleicht hatte sich Libby ein wenig hingelegt oder erwartete ihn im zur anderen Hausseite hinausgehenden Wohnzimmer beim Kaminfeuer.
Er sah ihr Bild vor sich: Libby lag zusammengerollt unter einer der wunderbaren Webdecken ihrer Mutter auf der Couch und las ein Buch. Ihre Augen hinter der Brille waren ein wenig verschlafen ...
Cal stellte sein Flugrad ab und sortierte die noch verbliebenen Blumen. Dann trat er ins Haus und fand dort ein ganz anderes Bild als das erwartete vor.
Libby wartete auf ihn, und zwar bei Kerzenlicht. Sie war noch immer damit beschäftigt, Kerzen anzuzünden, Dutzende weißer Kerzen. Der Tisch war für zwei gedeckt, und in einem Kühleimer stand eine Flasche Champagner. Der Raum duftete nach Kerzenwachs, nach Kochgewürzen und nach Libby.
Sie wandte sich zu ihm um und lächelte. Cals Knie wurden weich.
Libby hatte das Haar aufgesteckt, so dass er ihren schlanken, zarten Nacken sehen konnte. Sie trug ein Gewand von der Farbe des Mondlichts. Es ließ die Schultern frei, schmiegte sich beinahe zärtlich um ihre
Hüften und Schenkel, und auf dem Oberteil schienen Sterne zu funkeln.
„Du hast daran gedacht." Sie trat auf ihn zu und streckte die Arme nach den Blumen aus. „Sind die für mich?"
Cal bewegte nicht einen einzigen Muskel. „Was? Ja." Wie in Trance reichte er ihr den Strauß. „Als ich losfuhr, waren es noch mehr."
„Es sind noch mehr als genug." Eine Vase stand schon bereit, und Libby ordnete die Blumen darin an. „Das Abendessen ist fast fertig. Ich hoffe, es schmeckt dir."
„Du blendest mich, Libby."
Sie wandte sich zu ihm zurück. Was sie in seinen Augen sah, ließ ihr Herz schneller schlagen. „Das wollte ich auch. Ein Mal nur."
Weil Cal sie nur stumm anstarrte, wurde sie verlegen und spielte mit ihren eigenen Fingern. „Den Champagner und das Kleid habe ich gestern in der Stadt gekauft. Ich wollte für heute Abend etwas Besonderes."
„Ich habe Angst, wenn ich mich bewege, verschwindest du."
„Nein." Sie reichte ihm die Hand und fasste fest zu, als er sie ergriff. „Ich bleibe hier. Vielleicht könntest du die Flasche öffnen."
„Erst möchte ich dich küssen."
Sie schlang ihm die Arme um den Nacken. Ihr ganzes Herz lag in ihrem Lächeln. „Gut. Aber nur ein Mal."
Sie speisten, aber die Mühe, die sich Libby mit dem Mahl gegeben hatte, war eigentlich überflüssig gewesen. Sie wussten nicht einmal, was sie aßen. Der Champagner war ebenfalls überflüssig. Cal und Libby waren schon berauscht voneinander.
Sie trugen einige der schon weit heruntergebrannten Kerzen hinauf ins Schlafzimmer. Das sanfte Licht erfüllte den Raum, so dass die Liebenden einander betrachten konnten.
Sie beschenkten sich mit Zärtlichkeiten und erotischen Liebkosungen, sie steigerten sich zu heißer, drängender Leidenschaft, und sie zeigten einander alle Facetten und Nuancen ihrer Liebe.
Stunden vergingen, Kerzen verlöschten, aber Cal und Libby lösten die Umarmung keinen Augenblick. Und dann, obwohl kein Wort gefallen war, wussten sie, dass dieses nun das letzte Mal sein würde. Noch zärtlicher waren seine Hände, noch sanfter seine Lippen.
Als es vorüber war, fühlte sich Libby so kraftlos, dass sie hätte weinen mögen. Sie schmiegte sich an Cal und betete darum, einschlafen zu können. Ihn fortgehen zu sehen, das würde sie nicht ertragen.
Bis zum Morgengrauen lag Cal wach. Er war dankbar dafür, dass Libby schlief, er wäre niemals in der Lage gewesen, sich von ihr zu verabschieden. Nun stand er auf, stieg in seinen Overall, der schon bereitlag, und versuchte, an möglichst nichts zu denken. Um Libby nicht zu wecken, berührte er nur ganz leicht ihr Haar und verließ dann rasch das dunkle Schlafzimmer.
Erst als das Klicken der Haustür zu hören war, öffnete Libby die Augen. Sie barg das Gesicht im Kopfkissen und ließ den Tränen freien Lauf.
Das Schiff war startbereit, alle Berechnungen erstellt und eingegeben. Cal saß im Cockpit und sah den Tag anbrechen. Es war wichtig, dass der Take-off noch vor Sonnenaufgang stattfand. Die exakte Startzeit stand auf die Millisekunde genau fest. Für Irrtümer war kein Spielraum. Sein Leben hing davon ab.
Cals Gedanken kehrten immer wieder zu Libby zurück. Warum hatte er nicht vorausgesehen, wie weh es tat, sie zu verlassen? Aber es musste sein. Sein Leben, seine Zeit waren nicht hier bei ihr. Trotzdem saß er einfach da, während die kostbaren Sekunden vergingen.
Fertig machen zum Flug in Standard-Umlaufbahn.
„Ja", bestätigte Cal dem Computer geistesabwesend. Instrumente summten. Ganz automatisch bereitete er den Take-off wie geplant vor.
Alle Systeme bereit. Zündung kann eingeleitet werden.
„In Ordnung. Countdown einleiten."
Countdown eingeleitet. Zehn, neun, acht, sieben ...
Libby stand in der Küche an der Hintertür und hörte das dumpfe Grollen. Ungehalten wischte sie sich die Tränen aus den Augen, damit sie etwas sehen konnte. Ein Aufblitzen, ein metallisches Leuchten, das über den langsam heller werdenden Himmel raste. Dann war alles vorüber. In den Wäldern war es wieder ganz still.
Libby fröstelte. Das lag selbstverständlich nur an der Tatsache, dass die Luft kühl und der kurze, blaue Hausmantel so dünn war.
„Sichere Reise", murmelte sie, und dann gestattete sie sich den Luxus einiger weiterer Tränen.
Das Leben ging weiter. Die Vögel begannen zu singen. Die Sonne musste gleich aufgehen. Und Libby wollte sterben.
Unsinn. Sie schüttelte sich einmal kurz und setzte dann den Wasserkessel auf. Sie würde jetzt eine Tasse Tee trinken, dann das Geschirr von gestern Abend abwaschen und sich anschließend wieder ihrer Arbeit widmen.
Sie wollte so lange arbeiten, bis ihr die Augen zufielen, und dann würde sie zu Bett gehen. Morgen würde sie wieder aufstehen und weiterarbeiten, bis ihre Dissertation fertig war. Es sollte die beste Doktorarbeit werden, die ihre Kollegen jemals zu Gesicht bekommen hatten. Man würde ihr, Liberty Stone, den Doktortitel verleihen, und sie würde wieder weite Forschungsreisen machen können.
Und sie würde Cal bis an ihr Lebensende vermissen.
Als das Wasser kochte, goss sie ihren Tee auf und setzte sich mit der Tasse an den Küchentisch. Nach einem Moment schob sie den Tee zur Seite, legte den Kopf auf die gefalteten Hände und weinte wieder.
„Libby."
Beim Aufspringen stieß sie den Stuhl um. Cal stand im Türrahmen. Müdigkeit und Erschöpfung zeichneten sein Gesicht, aber in seinem Blick lag ein seltsames Leuchten.
„Caleb?"
„Warum weinst du?"
Sie hörte ihn sprechen, aber sie verstand nicht, was er sagte, weil sie viel zu benommen war. „Caleb", wiederholte sie. „Wie ... ich habe doch gehört... ich habe doch gesehen ... Du bist doch fort."
„Weinst du schon, seit ich gegangen bin?" Er trat zu ihr, strich aber nur mit der Fingerspitze über ihre tränenfeuchte Wange.
Diese Berührung war keine Illusion. Aber das war doch nicht möglich! „Ich verstehe nicht ... wie kannst du hier sein?"
„Ich muss dich erst etwas fragen." Er ließ die Hände sinken. „Nur eine einzige Frage: Liebst du mich?"
„Ich ... ich muss mich setzen."
„Nein." Er hielt sie am Arm fest. „Ich will eine Antwort haben. Liebst du mich?"
„Ja. Nur ein Dummkopf muss eine solche Frage stellen."
Er lächelte, ließ sie aber nicht los. „Weshalb hast du mir das nie gesagt?"
„Weil ich nicht wollte, dass ... Ich wusste, du musstest mich verlassen." Ihr schwindelte. „Ich muss mich wirklich setzen."
Als er sie endlich freigab, sank sie schwankend auf einen Stuhl. „Ich habe nicht geschlafen", murmelte sie, als spräche sie mit sich selbst. „Möglicherweise habe ich jetzt Halluzinationen."
Er zog ihren Kopf zurück und drückte einen festen, fast schmerzhaften Kuss auf ihre Lippen. „Reicht dir das als Beweis, dass du nicht halluzinierst?"
„Ja", flüsterte sie schwach. „Ja. Aber ich verstehe es trotzdem nicht. Wie kannst du hier sein?"
„Ich bin mit dem Flugrad gekommen."
„Nein, ich meine ..." Ja, was meinte sie denn? „Ich stand an der Tür da. Ich habe dich starten sehen. Ich habe sogar das Schiff am Himmel gesehen."
„Ich habe es heimgeschickt. Der Computer steuert es."
„Heimgeschickt", wiederholte sie leise. „Oh Caleb, warum?"
„Nur ein Dummkopf muss eine solche Frage stellen."
Libby brach wieder in Tränen aus. „Nein! Nicht meinetwegen! Ich könnte das nicht ertragen. Deine Familie ..."
„Ich habe ihnen eine Diskette mit einer Nachricht hinterlassen. Ich habe ihnen alles erzählt, mehr als in dem Report steht, den ich an Bord hinterlegt habe. Falls das Schiff den Rückweg schafft - und ohne mich stehen die Chancen dafür nicht schlechter als mit mir - dann werden sie es verstehen."
„Das kann ich doch nicht von dir verlangen."
„Du hast es ja auch nicht verlangt." Er hielt sie fest, damit sie sich nicht abwenden konnte. „Du wärst mit mir gekommen, nicht wahr, Libby?"
„Ja."
„Ich hätte dich beim Wort genommen, wenn ich sicher gewesen wäre, dass wir das Experiment überleben. Hör mir zu." Er zog sie vom Stuhl in die Höhe. „Ich hatte den Countdown eingeleitet. Ich hatte mir klar gemacht, dass mein Leben dort stattfindet, wo ich herkomme. Es gab ein Dutzend logischer Gründe, weshalb ich dorthin zurückkehren musste. Und es gab einen, nur einen einzigen Grund, weshalb ich hier bleiben musste. Ich liebe dich. Mein Leben ist hier."
Er zog Libby zu sich heran. „Ich bin durch die Zeit zu dir gekommen. Du darfst niemals, niemals denken, ich hätte damit einen Fehler gemacht."
Sie schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nur, du wirst es eines Tages denken."
„Zeit ist... Zeit war ... Zeit ist Vergangenheit", flüsterte er. „Meine Zeit ist in der Vergangenheit, Libby. Bei dir."
Tränen rollten über ihre Wangen. „Ich liebe dich so sehr, Caleb. Ich werde dich glücklich machen."
„Damit rechne ich fest." Er hob sie hoch und gab ihr einen langen, langen Kuss. „Du brauchst Schlaf. Richtigen Schlaf."
„Nein, brauche ich nicht."
Er lachte, und alle Anspannung fiel von ihm ab. Er war genau dort, wo er hingehörte. „Das werden wir ja sehen." Er trug sie die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. „Später unterhalten wir uns dann darüber, wie wir mit dem Rest der Angelegenheit verfahren wollen."
„Mit dem Rest?"
„Mit dem Heiraten und der Familienfrage komme ich schon zurecht."
„Du hast mir überhaupt noch keinen Antrag gemacht."
„Eins nach dem anderen. Jetzt brauche ich erst einmal eine neue Identität. Dann muss ich mir einen Job suchen. Irgendetwas mit einem - wie heißt das noch? - Jahreseinkommen."
„Irgendetwas, das dir Freude macht", berichtigte Libby. „Das ist nämlich entschieden wichtiger als Gehalt und Sozialversicherung."
„Was für eine Versicherung?"
„Schon gut." Sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. „Wahrscheinlich wird Dad dir irgendeine Stellung in seiner Firma verschaffen können, bis du dir alles Weitere ausgedacht hast."
„Ich glaube, ich habe keine Lust, Tee herzustellen." Vor dem Bett blieb er stehen. Er hatte eine Idee. „Sag mal, was muss man machen, um bei euch eine Pilotenlizenz zu erhalten?"