Hewlett-Packard

6. KAPITEL

Die Eier schmeckten nach nichts, aber heiß waren sie. Bestrahlt, dachte Libby. Sie hatte von den unterschiedlichen Meinungen über Lebensmittelbehandlung gehört. Mit einem aus dem Mikrowellenherd gekommenen Fertiggericht waren die Eier jedenfalls bei weitem nicht zu vergleichen.

Anscheinend befinde ich mich mitten in einem Science-Fiction-Film, dachte sie. „Für das alles muss es doch noch eine andere Erklärung geben."

Cal aß seine Portion auf. „Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sie gefunden haben."

Unzufrieden stellte sie ihren Teller ab. „Wenn das alles wahr ist, scheinen Sie es ja mit großer Gelassenheit zu tragen."

„Ich hatte ja auch schon ein wenig Zeit, mich daran zu gewöhnen. Essen Sie das da noch auf?"

Libby schüttelte den Kopf. Sie schaute durch den glasklaren Schild hinaus. In ungefähr hundert Metern Entfernung wanderten zwei Hirsche ruhig unter den Bäumen umher. Ein schöner Anblick, aber hier in den Bergwäldern Oregons nichts Ungewöhnliches. Würden diese Tiere die Fifth Avenue in Manhattan entlangspazieren, wären sie noch immer schön, und sie wären auch real, aber die Umgebung nicht normal.

Dass Cal real war, ließ sich nicht leugnen. Wäre es möglich, dass dieses Fahrzeug hier an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit ein ganz normaler Anblick war? Wenn es wahr wäre, wie müsste sich Cal dann fühlen? Libby erinnerte sich an seinen entsetzten Gesichtsausdruck, als er mit dem 1990 erschienenen Taschenbuch zu ihr gekommen war. Sie hatte seine auffallende Blässe, seine Verwirrung und seine merkwürdigen Fragen und Äußerungen mit den Nachwirkungen seiner Kopfverletzung erklärt.

Jetzt jedoch saß sie hier in diesem Schiff, und das konnte sie beim besten Willen nicht „Flugzeug" nennen. Wenn sie also davon ausging, dass es tatsächlich vorhanden und nicht etwa Teil eines ungewöhnlich lebhaften Traums war, dann musste sie auch Cals Geschichte akzeptieren.

„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt."

„Hamlet." Cal musste über Libbys erstaunten Blick lächeln. „Shakespeare lesen wir immer noch. Möchten Sie Kaffee?"

Libby schüttelte den Kopf. Traum oder nicht, sie brauchte Antworten. „Sie sagen, Sie seien von einem schwarzen Loch abgeprallt, ja?"

Cal war unbeschreiblich erleichtert. Libby glaubte ihm. „Ja, das stimmt. Jedenfalls denke ich das. Ich brauche meinen Rechner. Meine Instrumente drehten durch, als das Schiff in das Gravitationsfeld geriet, also habe ich auf Handbetrieb umgeschaltet und eine Kurve gesteuert. Ich erinnere mich an die enormen Kräfte. Ich wurde bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich im freien Fall in Richtung Erde. Ich schaltete auf Autopilot zurück und dachte, ich wäre aus den Schwierigkeiten heraus."

„Das erklärt nicht, wie Sie hier stranden konnten - ich meine, in dieser Zeit."

„Es gibt eine Anzahl Theorien. Ich neige zu der, die sich mit dem Raum-Zeit-Kontinuum auseinander setzt. Man kann sich das wie eine Schüssel vorstellen." Cal legte die Handflächen zusammen, um das zu demonstrieren. „Mathematisch gesehen, ist die Schüssel weder Raum noch Zeit, sondern eine Kombination von beidem", fuhr er fort. „Alles, was sich darin befindet, bewegt sich durch Raum und Zeit. Die Schwerkraft ist die Krümmung der Schüssel, sie zieht alles an. Auf der Erde fühlt man dieses Schwerefeld nicht so stark. Man merkt es nur, wenn man beispielsweise von einer Klippe fällt. Aber um die Sonne herum, um ein schwarzes Loch herum ..." Er legte seine Handflächen zu einer tieferen „Schüssel" zusammen.

„Und Sie wollen sagen, Sie seien in dieser Krümmung gefangen gewesen?"

„Wie eine Spielkugel, die in einer Schüssel, und zwar an deren oberem Rand, herumgeschleudert wird. Irgendwie, irgendwann in diesem Wirbel muss mein

Schiff über den Schüsselrand hinausgeschossen sein. Die Geschwindigkeit, die Flugbahn schickte mich nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit."

„Wenn Sie das so sagen, klingt es beinahe plausibel."

„Jedenfalls ist es die einzige passende Theorie, die mir vorliegt. Vielleicht wird sie noch plausibler, wenn wir sie uns genauer ansehen." Er beugte sich vor und drehte an einer Wählscheibe. „Computer!"

Ja, Cal.

Als Libby die sanfte, recht erotische Stimme hörte, hob sie eine Augenbraue. „Seit wann sind Computer groß, blond und vollbusig?"

Cal grinste amüsiert. „Auf intergalaktischen Touren kann man sich reichlich einsam fühlen", meinte er. „Computer, gib mir die Logaufzeichnung 02-05 auf den Bildschirm."

Ein kleiner Bildschirm hob sich aus der Konsole. Cal beugte sich näher heran. Leidenschaftslos beobachtete er, wie sein eigenes Bild darauf erschien.

Von ihrem Sitz aus schaute Libby gebannt auf den Monitor. Das Bild zeigte Cal, der genau dort saß, wo sie sich jetzt befand. Lampen blitzten auf, Summer ertönten. Das Cockpit bebte. Cal legte einen Sicherheitsgurt an. Libby sah die Schweißperlen auf seinem Gesicht, als er darum kämpfte, die Kontrolle über sein ausbrechendes Schiff zurückzugewinnen.

„Größerer Bildausschnitt", befahl Cal.

Jetzt sah Libby, was er durch den transparenten Schild gesehen hatte. Der unendliche Raum war verlockend, verführerisch, bezwingend. Sie sah Sterne, ganze Sternenhaufen und einen entfernten Planeten und Schwärze, absolute Schwärze, die sich scheinbar endlos ausdehnte. Das Schiff schien direkt darauf zuzustürzen.

Sie hörte Cal fluchen und sah, wie er an einem Hebel zerrte. Das Geräusch zerreißenden Metalls wurde zwar nur von dem Gerät wiedergegeben, hörte sich aber an, als fülle es die ganze Kabine. Das Cockpit drehte sich mit Schwindel erregender Geschwindigkeit. Und dann wurde der Bildschirm dunkel.

„Computer, nicht unterbrechen! Aufzeichnung weiter abspielen!"

Datenspeicher beschädigt. Keine weitere Abspielung möglich.

„Na großartig." Cal wollte einen weiteren Befehl eingeben, doch da fiel sein Blick auf Libby. Vollkommen schlaff saß sie in ihrem Sessel, ihre Wangen waren leichenblass und ihre Augen glasig.

„He!" Er sprang auf und beugte sich über sie. „Immer mit der Ruhe." Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und drückte seine Daumen leicht an ihren Hals.

„Es war, als wäre ich dabei gewesen ..."

Cal nahm ihre eiskalte Hand in seine, um sie zu wärmen. Das hätte ich voraussehen müssen, schalt er sich. Er hatte nur an sich selbst gedacht und daran, dass er sehen wollte, was geschehen war. „Es tut mir so Leid."

„Es war schrecklich." Alle ihre Zweifel hatten sich während der Abspielung aufgelöst. Sie blickte zu Cal hinauf. „Es war entsetzlich für Sie."

„Nein." Er strich mit den Fingern durch ihr Haar. „So schlimm war es gar nicht." Sanft, zärtlich legte er seine Lippen an ihre und ließ sie dann zu ihrem Kinn hinabgleiten.

Libby legte ihre Hand an seine Wange, als wolle sie trösten und gleichzeitig selbst Trost empfangen. „Was werden Sie denn jetzt machen?"

„Ich werde einen Rückweg suchen."

Ein unerwartet heftiger Schmerz durchfuhr sie. Natürlich konnte Cal nicht bleiben. Sie zog ihre Hand zurück und ließ sie sinken. „Wann gehen Sie?"

„Eine kleine Weile wird es schon noch dauern." Er richtete sich auf und blickte sich in der Kabine um. „Ich muss einige Reparaturen am Schiff durchführen, und dann sind umfangreiche Berechnungen anzustellen."

„Ich würde Ihnen gern dabei helfen." Ratlos breitete sie die Hände aus. „Ich weiß nicht, wie."

„Ich würde mich freuen, wenn Sie hier blieben, während ich arbeite. Ich weiß, Sie haben viel zu tun, aber hätten Sie ein paar Stunden für mich Zeit?"

„Selbstverständlich." Sie brachte ein Lächeln zustande. „Man lädt mich schließlich nicht oft ein, einen Tag in einem Raumschiff zu verbringen." Trotzdem wollte sie sich nicht direkt neben Cal setzen. Falls er sie dann nämlich aus nächster Nähe betrachtete, könnte er möglicherweise erkennen, was ihr eben bewusst geworden war: Wenn er abreiste, würde er ihr das Herz brechen.

„Darf ich mich hier umschauen?"

„So viel und so lang Sie wollen." Cal sah, dass sie noch immer blass war, wenn ihre Stimme auch recht fest klang. Vielleicht brauchte Libby auch nur ein wenig Zeit für sich allein. „Ich werde inzwischen den Computer auf ein paar Berechnungen und Analysen ansetzen."

Libby ließ Cal bei seinem Computer zurück und wanderte durch das Schiff. Was sie sah, prägte sie sich genau ein. Einen engen und unaufgeräumten Raum hielt sie für die Bordküche. Einen Herd gab es hier nicht, aber einen Wandapparat, ähnlich einem Mikrowellengerät. Eine Art Kühlschrank enthielt einige Flaschen. Libby sah, dass sie ganz vertraute Aufkleber und den Namen einer sehr beliebten amerikanischen Biersorte trugen.

Anscheinend haben sich die Menschen doch nicht so sehr geändert, dachte sie und holte sich eine ihr vertraute Limonade heraus. Sie drehte die Verschlusskappe ab, nahm einen Probeschluck und staunte. Sie hätte die Limonadenflasche ebenso gut in ihrem eigenen Kühlschrank gefunden haben können. Mit der vertrauten Flasche in der Hand, setzte sie ihren Erkundungsgang fort.

Sie kam in eine Art riesigen Laderaum. Von ein paar fest gezurrten Kisten abgesehen, war er leer. Hatte Cal nicht gesagt, er hätte sich auf dem Rückweg von einer Liefertour zu einer Marskolonie befunden?

Die Menschen hatten also den Mars erobert. Das hatten die Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts ja auch schon geplant. Cal würde bestimmt wissen, wann die erste Kolonie errichtet worden war und wie die Kolonisten ausgewählt worden waren.

Libby trank einen Schluck aus der Limonadenflasche und rieb sich die Schläfen. Vielleicht erschien ihr in ein, zwei Tagen alles nicht mehr so fantastisch. Vielleicht war sie dann in der Lage, wieder folgerichtig zu denken und die richtigen Fragen zu stellen.

Sie setzte den Weg durch das Schiff fort und fand eine zweite Ebene, die fast nur Schlafräume zu enthalten schien. Kajüten, berichtigte sie sich. Auf Schiffen nannte man so etwas Kajüten. Das Mobiliar war stromlinienförmig, und das Meiste davon war direkt in die Wände integriert. Glatte Plastikformen und strahlende Farben waren wohl sehr in Mode.

Libby fand Cals Raum mehr durch Zufall. Sie hätte auch nicht zugegeben, dass sie danach gesucht hatte. Von den anderen Kajüten unterschied sich diese hier nur durch ihre anheimelnde Unaufgeräumtheit. In einer Ecke lag ein Overall, er sah so aus wie der, mit dem Cal bekleidet gewesen war, als sie ihn gefunden hatte. Das Bett war nicht gemacht.

An einer Wand hing ein Bild. Es war auf geradezu unheimliche Weise dreidimensional und zeigte Cal, der mit einigen Personen beieinander stand. Das Wohngebäude hinter der Gruppe hatte mehrere Stockwerke und bestand fast ganz aus Glas. Es wies viele weiße Terrassen und Balkons auf und war von einem grünen Rasen und hohen, Schatten spendenden Bäumen umgeben.

Dort ist er also daheim, dachte Libby, und das ist seine Familie. Sie betrachtete die Menschen auf dem Bild eingehender. Die Frau war groß und sah blendend aus. Um Cals Mutter zu sein, wirkte sie zu jung. Vielleicht eine Schwester? Aber er hatte doch nur von einem Bruder geredet.

Alle Personen lachten. Cal hatte einen Arm um die Schultern eines anderen Mannes gelegt, der ihm so ähnlich war, dass es sich um den besagten Bruder handeln musste. Seinem Blick nach zu urteilen, schien er ein ziemlich harter Bursche zu sein. Der dritte Mann auf dem Bild schaute ein wenig abwesend drein. Sein Gesicht war nicht so auffallend schön, dafür aber sehr gütig.

Ein Foto hält die Menschen in der Zeit gefangen, ging es Libby durch den Kopf. So wie Cal jetzt auch gefangen war. Fast hätte sie sein Gesicht auf dem Bild gestreichelt.

Sie durfte nie vergessen, dass er sich nur so lange hier aufhalten würde, bis er sich aus dieser Zeitfalle befreien konnte. Er besaß ein anderes Leben in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Was ich für ihn empfinde - unmöglich, dachte sie, genauso unmöglich, wie es eigentlich ist, dass ich hier in einem Raumfahrzeug stehe.

Plötzlich erschöpft, setzte sie sich aufs Bett. Das Ganze war einfach verrückt. Und das Verrückteste war, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben ernsthaft verliebt hatte. Und der Mann, den sie liebte, würde sich bald außer Reichweite befinden.

Seufzend streckte sie sich auf dem kühlen Bettzeug aus. Vielleicht war ja doch alles nur ein Traum.

Mehr als eine Stunde später fand Cal Libby zusammengerollt auf seinem Bett liegend. Sie schlief so, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie jetzt zu betrachten machte ihn seltsam unruhig.

Sie sah reizend aus, aber jetzt war es nicht nur ihre Schönheit, die ihn anzog. Inzwischen kannte er ihre Herzensgüte, ihr Mitempfinden, und ihre Gehemmtheit. Stark war sie und leidenschaftlich. Und so unbeschreiblich ... keusch. Am liebsten hätte er sie jetzt in die Arme genommen und geliebt, so sanft und zärtlich, wie er nur lieben konnte.

Aber Libby war ihm nicht bestimmt. Wenn dies alles doch ein Märchen wäre, wenn Libby doch nur zweihundert Jahre und länger schliefe! Dann könnte er sie aufwecken und sie für sich beanspruchen. Aber er war kein Märchenprinz, sondern ein ganz gewöhnlicher Mann, der in eine ungewöhnliche Lage geraten war.

Leise trat er ans Bett und breitete eine Decke über sie. Libby bewegte sich und murmelte etwas. Cal streichelte ganz leicht ihre Wange. Ihre Augen öffneten sich.

„Cal ... Ich habe so etwas Seltsames geträumt." Plötzlich war sie hellwach und blickte sich in der Kajüte um. „Es war kein Traum."

„Nein." Er setzte sich neben sie. „Wie geht es Ihnen?"

„Ich bin immer noch ein wenig verwirrt." Mit den Fingern kämmte sie durch ihr Haar und hielt es sich einen Moment aus dem Gesicht, bevor sie es zurückfallen ließ. „Entschuldigung, ich hatte vorhin überhaupt nicht bemerkt, dass ich so müde war. Wahrscheinlich brauchte mein Gehirn aber auch nur eine Weile Pause."

„Ja, es war ein bisschen viel auf einmal. Libby?"

„Ja?" Sie schaute sich noch immer in der Kajüte um.

„Entschuldigung. Es muss sein." Er presste seine Lippen auf ihre und genoss, was er fühlte. Libby war noch ganz warm und weich vom Schlaf, und danach hatte er sich gesehnt. Unwillkürlich hob sie eine Hand an seine Schulter, aber sie stieß ihn nicht fort.

Es bedurfte seiner ganzen Willenskraft, sich trotz des heftigen Verlangens zurückzuziehen, doch er schaffte es. „Ich habe gelogen. Es tut mir gar nicht Leid." Er erhob sich und trat ein paar Schritte vom Bett fort.

Libby richtete sich auf und zupfte nervös an ihrem Pullover. „Ist das da Ihre Familie?"

„Ja. Mein Bruder Jacob und meine Eltern."

Es rührte Libby, wie liebevoll er das sagte. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Das da ist Jacob, nicht wahr? Aber die anderen beiden sehen doch viel zu jung aus, um Ihre Eltern zu sein."

„Es ist doch kein Kunststück, jung auszusehen." Er zuckte die Schultern. „Jedenfalls wird es einmal kein Kunststück mehr sein."

„Und das ist Ihr Haus, ja?"

„Dort bin ich aufgewachsen. Es befindet sich ungefähr zwanzig Kilometer außerhalb der Stadtgrenze."

„Dorthin werden Sie zurückkehren." Libby begrub ihre Sehnsucht. Liebe musste immer selbstlos sein. „Und Sie werden ihnen viel zu erzählen haben."

„Falls mich mein Erinnerungsvermögen nicht wieder verlässt."

„Sie dürfen nichts vergessen!" Libby konnte es nicht ertragen sich vorzustellen, dass Cal alles vergaß. „Ich werde es für Sie aufschreiben."

„Das wäre nett. Erlauben Sie, dass ich mit Ihnen zurückkehre?"

Hoffnung erwachte in ihr. „Zurück?"

„Zu Ihrem Haus. Ich habe hier getan, was ich konnte. Morgen fange ich mit den Reparaturen an. Ich hatte gehofft, ich dürfte vielleicht so lange bei Ihnen wohnen, bis hier an Bord alles fertig ist."

„Selbstverständlich." Es war töricht und egoistisch zu hoffen, dass er länger als unbedingt nötig bleiben würde. Sie zwang sich zu einem strahlenden Lächeln. „Ich habe ja auch noch so ungeheuer viele Fragen, dass ich überhaupt nicht weiß, wo ich anfangen soll. Das alles ist so aufregend."

Auf der Rückfahrt stellte Libby keine der angekündigten Fragen. Cal schien geistesabwesend und gedrückter Stimmung zu sein, und ihr selbst schwirrten zu viele Eindrücke und Widersprüche im Kopf herum. Sie fand, es würde vielleicht das Beste sein, eine Weile so zu tun, als wäre alles vollkommen normal. Dann kam ihr eine Idee.

„Hätten Sie Lust, in der Stadt zu Mittag zu essen?"

„Wie bitte?"

„Schalten Sie nicht ganz ab, Hornblower. Wollen Sie in die Stadt fahren? Bisher haben Sie ja nur diese Gegend hier gesehen. Wenn ich plötzlich im achtzehnten Jahrhundert landete, würde ich mir gern so viel wie irgend möglich ansehen wollen. Na, wie wär's?"

Cals Niedergeschlagenheit verflog. Er lächelte. „Darf ich fahren?"

„So sehen Sie aus!" Libby lachte.

Es dauerte länger als eine halbe Stunde, um durch den schmalen und völlig verschlammten Pass auf den Highway zu gelangen. Dort sah Cal dann die Fahrzeuge, die ihn schon beim Fernsehen so fasziniert hatten. Er schüttelte den Kopf, als Libby sich in den Kolonnen ziemlich aggressiv einen Platz erkämpfte. „Ihnen könnte ich innerhalb einer Stunde beibringen, einen Jetbuggy zu fahren", bemerkte er.

„Ist das ein Kompliment?"

„Ja. Man nimmt noch immer - wie nennt man das? - Benzin als Treibstoff?"

„Ja."

„Nicht zu glauben."

„Die Überheblichkeit steht Ihnen gut, Hornblower. Ganz besonders, weil Sie es nicht einmal fertig bekommen haben, meinen Wagen zu starten."

„Ich wäre schon noch drauf gekommen." Cal streichelte über Libbys flatterndes Haar. „Wenn ich zu Hause wäre, würde ich Sie jetzt zum Mittagessen nach Paris fliegen. Waren Sie schon einmal dort?"

„Nein." Sie versuchte nicht daran zu denken, wie romantisch das wäre. „Wir werden uns mit Pizza in Oregon begnügen müssen."

„Damit bin ich sehr einverstanden. Wissen Sie, der

Himmel ist etwas Merkwürdiges. Er ist leer." Ein Wagen zischte vorbei. Der Auspuff röhrte, das Radio dröhnte. „Was war denn das?"

„Ein Auto."

„Zweifellos. Ich meinte, was das für ein Geräusch war."

„Musik. Hard Rock." Libby schaltete ihr eigenes Radio ein. „Das hier ist nicht ,Hard', aber ,Rock' ist es auch."

„Gefällt mir." Mit der Musik in den Ohren betrachtete er die Umgebung. Je mehr sie sich der Stadt näherten, desto dichter wurde der Verkehr. Cal konnte die hohen, rechteckigen Geschäftsgebäude und Wohnsilos sehen - eine unfreundliche Skyline, wie er fand, aber dennoch irgendwie faszinierend. Immerhin arbeiteten und wohnten hier Menschen. Hier herrschte Leben.

Auf einer geschwungenen Ausfahrt verließ Libby den Highway und fuhr in Richtung Innenstadt. „Ich kenne ein nettes italienisches Restaurant. Rot karierte Tischdecken, Kerzen in Weinflaschen, handgemachte Pizza."

Cal nickte geistesabwesend. Er war damit ausgelastet, die vielen Eindrücke in sich aufzunehmen. Ihm kam es so vor, als schaute er sich ein altes Märchenbuch an.

„Nun ja, Paris ist das nicht", bemerkte Libby, nachdem sie auf einen Parkplatz neben einem flachen

Gebäude eingebogen war. „Haben Sie Hunger?" wollte sie wissen.

„Ich bin von Natur aus hungrig." Cal bemühte sich, seine trübe Stimmung loszuwerden. Libby tat das schließlich auch.

Das Restaurant war fast leer. Der Duft von Gewürzen lag in der Luft, und in einer Ecke stand eine Musikbox. Libby führte Cal zu einer Ecknische.

„Die Pizza ist wirklich gut hier. Haben Sie schon einmal Pizza gegessen?"

Er schnippte mit dem Finger gegen das auf der Weinflasche gehärtete Kerzenwachs. „Manche Dinge sind zeitüberschreitend. Pizza gehört dazu."

Die Kellnerin, eine rundliche junge Frau mit einem roten Vorsteckschürzchen, auf dem sich der Name des Restaurants sowie einige Ketschupspritzer befanden, kam heran. Sie legte zwei Papierservietten neben die mit der Landkarte Italiens bedruckten Tischmatten.

„Eine große", bestellte Libby, die an Cals Appetit dachte. „Extra-Käse und Peperoni. Möchten Sie ein Bier?"

„Ja." Cal riss eine Ecke von der Serviette und zerdrückte das Stückchen Papier nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Ein Bier und eine Diät-Cola also."

„Weshalb ist hier alle Welt auf Diät?" wollte Cal wissen, noch bevor die Kellnerin wieder außer Hörweite war. „Fast die gesamte Werbung handelt vom Abnehmen, vom Durstlöschen und vom Reinigen."

Libby nahm den eigenartigen Blick der Kellnerin nicht zur Kenntnis, den diese über die Schulter hinweg zurückwarf. „Unsere Gesellschaft ist besessen von Hygiene, Ernährung und körperlicher Beschaffenheit. Wir zählen Kalorien, treiben Fitness-Sport und essen eine Menge Jogurts. Und Pizza", fügte sie schmunzelnd hinzu. „Die Werbung gibt eben die aktuellen Trends wieder."

„Ich mag Ihre körperliche Beschaffenheit."

Libby räusperte sich. „Besten Dank."

„Und Ihr Gesicht auch." Er lächelte. „Und den Klang Ihrer Stimme, wenn Sie verlegen sind."

Libby seufzte dramatisch. „Hören Sie sich lieber die Musik an."

„Die hat aufgehört."

„Wir können ja noch etwas reinstecken."

„Was - wo rein?"

„Geld in die Musikbox." Lächelnd stand Libby auf und hielt Cal die Hand hin. „Kommen Sie. Sie dürfen sich auch ein Lied aussuchen."

Cal stellte sich vor den bunt glitzernden Apparat und las die Liedertitel. „Dieses hier", entschied er. „Und das. Und das hier auch. Wie funktioniert das Ding?"

„Erst einmal benötigen wir..." Libby nahm ein wenig Kleingeld aus ihrer Börse. Weil Cal die Fünfundzwanzigcentstücke so erstaunt betrachtete, fragte sie: „Benutzt man im dreiundzwanzigsten Jahrhundert keine Münzen mehr?"

„Nein, aber ich habe davon gehört."

„Na, wir hier benutzen sie jedenfalls, und zwar im großen Stil." Leise lachend steckte sie drei Münzen in den Schlitz. „Eine erlesene Auswahl, Hornblower." Eine langsame, romantische Melodie erklang.

„Möchten Sie tanzen?" fragte er.

„Ja. Ich tanze zwar nicht oft, aber..." Sie verstummte, als er sie in den Arm nahm. „Cal..."

„Still!" Er legte seine Wange an Libbys Haar. „Ich möchte den Text hören."

Sie tanzten, genauer gesagt, sie wiegten sich auf der Stelle zu der Musik aus den Lautsprechern. Eine Mutter mit zwei sich kabbelnden Kindern stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und schaute Libby und Cal mit Vergnügen und eindeutigem Neid zu.

„Es ist ein trauriges Lied."

„Nein." Libbys Kopf lag an Cals Schulter, ihr Körper bewegte sich ohne ihr Dazutun, und sie hätte ewig so weiterträumen können. „Es handelt davon, wie die Liebe überlebt." Sie schloss die Augen, und ihre Arme lagen noch immer um Cals Taille, als das Lied zu Ende war und das nächste mit einer Art Urschrei und einem wahren Trommeldonner begann.

„Und wovon handelt dies hier?"

„Vom Jungsein." Libby öffnete die Augen und sah die amüsierten Blicke und das Lächeln der anderen Gäste. Sie löste sich von Cal. „Wir sollten uns wieder setzen."

„Ich möchte aber mit Ihnen tanzen."

„Ein andermal. In Pizzaläden tanzt man normalerweise nicht."

„Na schön." Artig ging Cal zu ihrem Tisch voraus, wo schon die bestellten Getränke warteten. Er fand den vertrauten Geschmack des Biers sehr beruhigend. „Schmeckt wie zu Hause."

„Es tut mir sehr Leid, dass ich Ihnen am Anfang nicht geglaubt habe."

„Ich habe mir ja zuerst selbst nicht geglaubt." Wie selbstverständlich nahm er Libbys Hand. „Sagen Sie mir, was man hier tut, wenn man ein Rendezvous, eine Verabredung hat?"

„Nun, man ..." Libbys Herz schlug schneller, weil Cal mit dem Daumen sehr zärtlich über ihre Fingerknöchel streichelte. „Man geht ins Kino oder in ein Restaurant."

„Ich möchte Sie noch einmal küssen."

Erschrocken blickte sie sich um. „Also, ich glaube nicht, dass ..."

„Sie wollen nicht, dass ich Sie küsse?"

„Wenn sie nicht will...", sagte die Kellnerin und stellte die dampfende Pizza auf den Tisch, „... ich habe nachher um fünf Feierabend."

Cal grinste vergnügt und schob sich ein Stück Pizza auf den Pappteller. „Sie ist sehr freundlich", bemerkte er an Libby gewandt. „Aber Sie gefallen mir besser."

„Na großartig." Libby aß einen Bissen. „Sind Sie immer so unverschämt?"

„Meistens. Aber Sie gefallen mir wirklich sehr." Er machte eine Pause. „Jetzt sollten Sie mir eigentlich sagen, dass ich Ihnen auch gefalle."

Libby nahm noch einen Bissen Pizza und kaute gründlich. „Ich denke darüber nach." Sie tupfte sich mit der Papierserviette den Mund ab. „Von den mir bekannten Personen aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert gefallen Sie mir am besten."

„Gut. Gehen Sie jetzt mit mir ins Kino?"

„Von mir aus."

„Wie bei einer richtigen Verabredung." Er fasste sie wieder bei der Hand.

„Nein." Libby zog ihre Hand zurück. „Wie bei einem Experiment. Wir sollten das Ganze als einen Teil Ihrer Ausbildung betrachten."

Das Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, langsam, strahlend und zweifellos gefährlich. „Und ich werde Sie doch küssen."

Als sie zur Hütte zurückkehrten, war es schon dunkel. In nicht gerade allerbester Stimmung warf Libby drinnen ihre Handtasche von sich.

„Ich habe keine Szene gemacht", beharrte Cal mit leicht gereizter Stimme.

„Ich weiß nicht, wie man das bei Ihnen nennt, wenn man aus dem Kino rausgeschmissen wird, aber hier nennt man so etwas eine Szene."

„Ich habe nur ein paar kleine, vernünftige Anmerkungen zu dem Film gemacht. Gibt es denn hier keine Redefreiheit?"

„Hornblower ..." Libby unterbrach sich und holte den Brandy aus dem Schrank. „Wenn man während der ganzen Vorstellung hindurch behauptet, der Film sei ein Haufen Weltraumschrott, dann hat das nichts mehr mit Redefreiheit zu tun. Dann ist das schlicht eine Ungezogenheit."

Kopfschüttelnd ließ sich Cal auf die Couch fallen und legte die Füße auf den niedrigen Tisch davor. „Also hören Sie mal, Libby! Dieser ganze Blödsinn von den Kreaturen des Planeten Galactica, die die Erde überfallen! Ich habe einen Vetter auf Galactica, und der hat kein Gesicht voller Saugnäpfe."

„Ich hätte Sie nicht ausgerechnet in einen Science- Fiction-Film mitnehmen sollen." Sie trank ihren Brandy aus. Ihr wurde klar, dass sie an dem Vorfall ebenso viel Schuld hatte wie Cal. „Es war Fiktion, Hornblower. Eine Fantasiegeschichte." Sie schenkte sich Brandy nach.

„Schrott."

„Stimmt." Sie reichte ihm auch ein Glas. „Aber in diesem Kino saßen Leute, die dafür bezahlt hatten."

„Und dann dieser Quatsch von den Wesen, die das ganze Wasser aus den menschlichen Körpern saugen. Und dieser Raumjockey, wie der in der Galaxis herumgesaust ist und mit seiner Laserkanone durch die Gegend gefeuert hat!' Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie überfüllt dieser Raumsektor ist?"

„Nein." Libby brauchte noch mehr Brandy. „Ich verspreche Ihnen, beim nächsten Mal sehen wir uns einen Western an. Und stellen Sie nicht aus Versehen ,Star Trek' im Fernsehen an."

,„Star Trek' ist ein Klassiker", erklärte er, worauf Libby lachen musste.

„Wie dem auch sei", sagte sie. „Wissen Sie, ich bin nicht mehr so gut beisammen. Den heutigen Morgen habe ich in einem Raumschiff verbracht, mittags habe ich Pizza gegessen und am Nachmittag einen Film nicht gesehen. Ich glaube, ich verliere langsam die Übersicht."

„Sie werden sie schon wiederfinden." Er berührte ihr Glas mit seinem und legte dann den Arm um ihre Schultern. Alles war sehr schön und heimelig - das sanfte Lampenlicht, die innere Wärme vom Brandy, der Duft der Frau ... meiner Frau, dachte Cal, wenn auch nur einen Moment lang.

„Mir gefällt das hier besser als ein Film. Erzählen Sie mir etwas über Liberty Stone."

„Da gibt es nicht viel zu erzählen."

„Erzählen Sie es mir trotzdem, damit ich es mitnehmen kann."

„Wie ich schon sagte, wurde ich hier geboren."

„In dem Bett, in dem ich schlafe."

„Ja." Sie trank einen Schluck. Ihr wurde sehr warm. Lag das an dem Brandy oder an dem Gedanken daran, wie Cal in dem alten Bett lag? „Meine Mutter hat Webarbeiten gefertigt, Decken, Wandbehänge, Teppiche. Damit hat sie zusätzlich Geld zu dem verdient, was mein Vater mit seinen Gartenprodukten erzielen konnte."

„Waren Ihre Eltern arm?"

„Nein, sie waren Kinder der Sechziger."

„Das sagt mir nichts."

„Das ist auch schwer zu erklären. Meine Eltern wollten dem Land und sich selbst näher sein. Das war ihr Anteil an der Revolution gegen die Macht des Materiellen, gegen weltweite Gewalt, gegen die gesamte gesellschaftliche Struktur der Zeit. Also lebten wir hier, und meine Mutter verhökerte ihre Arbeiten in den umliegenden Kleinstädten. Eines Tages fiel sie einem Kunsthändler auf, der mit seiner Familie hier gerade auf einer Campingtour war." Libby lächelte in ihren Brandy. „Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte."

„Caroline Stone", flüsterte Cal plötzlich.

„Nun ja."

Cal lachte auf, trank sein Glas leer und griff nach der

Brandyflasche. „Die Arbeiten Ihrer Mutter sind in den wichtigsten Museen ausgestellt." Nachdenklich zupfte er an der Couchdecke. „Ich habe sie dort bewundert." Er schenkte Libby Brandy nach.

„Das wird ja immer verrückter." Sie trank, der Brandy konnte das Gefühl der absoluten Unwirklichkeit kaum verstärken. „Sie sind es doch, über den wir sprechen müssen, und ich muss alles begreifen. So viele Fragen ..." Sie konnte nicht länger still sitzen. Mit dem Glas in beiden Händen ging sie im Zimmer auf und ab. „Mir kommen die seltsamsten Ideen. Zum Beispiel haben Sie Philadelphia und Paris erwähnt. Wissen Sie, was das bedeutet?"

„Was?"

„Wir haben diese Städte gebaut." Sie hob ihm ihren Weinbrandschwenker entgegen und leerte ihn dann mit einem Zug. „Und sie sind noch immer da. Gleichgültig, wie nahe wir daran waren, alles in die Luft zu jagen - wir haben es überlebt. In der Zukunft gibt es ein Philadelphia, Hornblower, und das ist das Großartigste, das ich mir vorstellen kann."

Lachend drehte sie sich im Kreis. „Jahrelang habe ich die Vergangenheit studiert und versucht, die menschliche Natur zu verstehen, und nun darf ich einen Blick ins Morgen werfen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll."

Cal brauchte Libby nur anzuschauen, und schon bekam er wieder dieses merkwürdige Bauchweh. Ihre Wangen waren vor Erregung gerötet. Groß und schlank war sie, und sie bewegte sich mit wunderbarer Anmut. Diese Frau zu besitzen war nicht mehr nur ein Begehren, sondern eine Besessenheit.

Er atmete bewusst und tief durch. „Ich freue mich, dass ich Ihnen einen Gefallen tun konnte."

„Ich möchte alles, wirklich alles wissen. Wie die Menschen leben, was sie empfinden, wie sie um jemanden werben, wie sie lieben und wie sie ihre Ehe führen. Was spielen die Kinder?" Sie beugte sich zum Tisch hinunter und schenkte sich noch einen Schluck Brandy nach. „Hat Spielberg je einen Oscar gewonnen? Sind Hot Dogs immer noch das Beste an Baseballspielen? Ist der Montag noch immer der scheußlichste Tag der ganzen Woche?"

„Ich werde eine Liste machen müssen." Cal wollte, dass sie weiterredete, weiterlachte. Ihr zuzuschauen, wie sie vor überschäumender Begeisterung und Freude keine Sekunde still stehen konnte, empfand er als ungeheuer erregend. „Was ich dann nicht selbst beantworten kann, werde ich dem Computer vorlegen."

„Eine Liste, natürlich. Ich stelle ganz hervorragende Listen auf." Sie lachte ihn an, und ihre Augen leuchteten. „Ich weiß, es gibt wichtigere Fragen, solche über nukleare Abrüstung, über Medikamente gegen Krebs oder gegen Schnupfen. Aber ich will auch Unwichtiges wissen."

Sie schob sich das Haar aus dem Gesicht. „Mir fällt jeden Moment etwas Neues ein. Fahren die Leute am Wochenende immer noch ins Grüne? Haben wir den Hunger und die Obdachlosigkeit überwunden? Küssen alle Männer in Ihrer Zeit so wie Sie?"

Cal ließ das eben erhobene Glas wieder sinken und stellte es ab.' „Das kann ich nicht beantworten, weil sich meine bisherigen Erfahrungen nur auf Frauen beschränken."

„Ich weiß nicht, was mir da in den Sinn gekommen ist." Libby setzte ihr Glas ebenfalls ab und rieb sich die plötzlich feuchten Handflächen an den Jeansbeinen. „Ich glaube, ich bin ein bisschen überdreht. Also wirklich, Caleb, Sie bringen mich vollkommen durcheinander, auch ohne diesen ganzen Zukunftskram."

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, Libby."

Sie sah ihn an. Er hatte sich nicht bewegt, aber sie spürte, dass er mit einem Mal innerlich angespannt war. „Komisch", murmelte sie. „Normalerweise bringe ich niemanden durcheinander. Bei Ihnen ist überhaupt alles ganz anders."

Sie nahm ihre Wanderung durchs Zimmer wieder auf, hob ein Kissen von der Couch, warf es wieder zurück, stellte eine Lampe um. „Ich wünschte, ich wüsste, was ich tun und sagen soll. Ich habe einfach keine Erfahrung mit so etwas. Ach, zum Teufel, ich wünschte, Sie würden mich wieder küssen und mich zum Schweigen bringen."

Cal war es, als könne er jeden einzelnen Nerv in seinem Körper vibrieren fühlen. „Libby, Sie wissen, dass ich Sie begehre. Daraus habe ich keinen Hehl gemacht. Aber unter den gegebenen Umständen ... die Tatsache, dass ich in wenigen Tagen nicht mehr hier bin ..."

„Das ist es ja gerade." Plötzlich war ihr zum Weinen zumute. „Sie werden fort sein. Dann möchte ich mich nicht fragen müssen, wie es hätte sein können. Ich will es wissen. Mir ist so ... ach, ich weiß nicht, wie mir ist. Ich weiß nur, dass ich will, dass Sie mich heute Nacht lieben."

Sie erstarrte mitten im Schritt, so geschockt war sie über das, was sie eben laut ausgesprochen hatte und was wahrscheinlich die größte Wahrheit war, die sie jemals gesagt hatte.

Der Schock löste sich, die Nervosität verschwand. Libby war mit einem Mal ganz ruhig und sich ihrer Sache absolut sicher. „Caleb, ich will, dass du heute Nacht mit mir schläfst."

Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und ballte sie zu Fäusten. „Vor zwei Tagen wäre das noch einfach gewesen. Die Dinge haben sich geändert, Libby. Mir liegt etwas an dir."

„Und weil dir etwas an mir liegt, willst du mich nicht lieben?"

„Ich will es so sehr, dass ich es förmlich auf der Zunge schmecken kann." Das war nichts als die reine

Wahrheit. „Ich weiß aber auch, dass du ein wenig zu viel getrunken hast und dass dir von dem heutigen Tag der Kopf schwirrt." Er wagte es nicht, sie zu berühren, aber seine Stimme klang wie eine Liebkosung. „Es gibt gewisse Regeln, Libby."

Für Libby war es der größte Schritt ihres Lebens, als sie auf Cal zutrat und ihm ihre beiden Hände entgegenstreckte. „Brich diese Regeln", sagte sie zärtlich.