KAPITEL 59

»Lass sie los. Du darfst nichts anfassen.«

Er vernahm ihre Worte, doch er hörte sie nicht. Andere Laute, ein Rauschen erfüllte seinen Kopf. Das Rauschen eines riesigen Meeres der Leere. Das Rauschen von unendlichen, unwegsamen Weiten ohne Leben. Von einem Dasein ohne jeden Sinn. Das Rauschen der Ödnis.

Er umklammerte den Körper, der am Baum hing, weil er sich an etwas festhalten musste und weil er etwas tun musste. Er war so leicht. So federleicht. Die Füße waren nackt und dreckig. Mys kleine Füße, die sie im Schlafsack an seinen gerieben hatte. Jetzt waren sie kalt wie Eis.

»Das ist ein Beweismaterial, Peter. Du hinterlässt Spuren an ihrem Körper.«

Konnte sie nicht einmal den Mund halten? Konnte sie nicht verstehen, dass er das tun musste?

Er ignorierte sie, ließ My los und sah sich suchend nach etwas um, auf dem er stehen konnte. Da entdeckte er den Kasten, der auf der Pferdekoppel lag. Die Kinder aus dem Internat verwendeten ihn wahrscheinlich, um auf die Pferde zu kommen. Er rannte auf die Koppel, holte den Kasten und stürzte zurück. Es war ein Sprudelkasten. Den konnte er gut gebrauchen.

»Wir müssen die Polizei benachrichtigen. Das hier ist ein Tatort.«

Er erwachte aus seinem Dämmerzustand, als hätte ein Wecker neben seinem Ohr geschrillt.

»Du rufst nirgendwo an. Die können dein Handy orten.«

»Dann fahren wir zu einer Telefonzelle in Ry. Die werden früher oder später sowieso auf mich kommen, wenn sie eins und eins zusammenzählen. Aber es verschafft uns Zeit.«

Jetzt sah er sie zum ersten Mal an, senkte aber den Blick sofort wieder. Ihre Augen durchbohrten ihn, wollten zu viel auf einmal von ihm. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er all die Jahre ununterbrochen an sie gedacht und davon geträumt hatte, bei ihr zu sein. In den unendlichen Stunden in der »Kiste« oder auf dem »Pferd« oder an den »Ringen« war sie seine einzige Hoffnung gewesen, an die er sich geklammert hatte. Aber sein Hass darüber, dass sie ihm nicht beigestanden hatte, war ebenso groß. In diesem Moment wünschte er sich nur, dass die Erde sich auftun und sie verschlingen würde.

»Ich kann nicht tatenlos zusehen, wenn ein junges Mädchen ermordet wurde. Denn das hier ist kein Selbstmord, das weißt du, oder?«

Natürlich wusste er das. Das war nicht einmal einer Antwort würdig. Jedem musste sofort klar sein, dass My nicht in der Lage gewesen wäre, auf den Baum zu klettern und sich aufzuhängen. Jemand musste das getan haben. Cato hatte es getan. Cato, der ein Exempel statuieren und sich an ihm rächen wollte, weil er sich geweigert hatte, mitzuspielen. Cato, der von einem Hass erfüllt war, den er offensichtlich nie richtig gesehen hatte. Cato, der Kaj am Baum festgebunden hatte, um sicherzugehen, dass sie My fanden.

Er stieg auf den Kasten und zog sein Messer aus der Hosentasche. Mit einem Schnalzen klappte die Klinge auf und glänzte in der Sonne. Dann packte er den Körper ein zweites Mal, dieses Mal weiter oben. Ganz steif war er. Er streckte den Arm und schnitt das Seil durch, Mys Gewicht sank in seinen Arm, sie war so leicht wie ein überirdisches Wesen aus dem Wald. Vorsichtig, ganz vorsichtig stieg er mit ihr von der Sprudelkiste und hielt sie im Arm, Wange an Wange, als würden sie tanzen. Etwas in ihm zerbrach in diesem Augenblick, als würde eine Schnur zerreißen, wie jene, die er soeben durchgeschnitten hatte. Er wusste, was es war. Es war das Versprechen, das er gegeben und gebrochen hatte und von dem er jetzt ohne seinen Willen erlöst worden war. Er bohrte sein Gesicht in ihr Mäusehaar und murmelte in die verfilzte Strähne an ihrem Kopf: »My, meine My. My, meine My.«

Schweigend stand er eine Weile mit ihr im Arm, bis er sie vorsichtig ins Gras legte. Da knickten plötzlich gegen seinen Willen seine Beine unter ihm weg, und er kauerte neben ihr, während sein Körper die Regie übernahm und die Tränen über seine Wangen laufen ließ. Er versuchte, sich dagegen zu wehren, aber erfolglos.

Er wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte, aber plötzlich spürte er ihre Hand auf seiner Schulter.

»Peter. Du musst sie jetzt loslassen.«

Er ließ sie los, wie er so vieles in seinem Leben losgelassen hatte.

»Sie ist nicht durch das Seil gestorben. Sieh doch. Sie hat einen Schlag auf den Kopf bekommen. Auf die Seite.«

Sie zeigte auf die Stelle, ohne den Körper zu berühren. »Das wird ihren Tod bewirkt haben. Es hat stark geblutet. Das Blut ist zwar getrocknet, aber du hast was abbekommen.«

Er sah an sich herunter, sie hatte recht. Auf seiner Kleidung waren Blutspuren zu sehen. Aber das war ihm nur recht, schließlich hatte er schon vorher ihr Blut an seinen Händen gehabt.

»Das ist noch nicht so lange her«, sagte seine Mutter, die so verdammt vernünftig war. »Jemand hat sie nach ihrem Tod im Baum aufgehängt.«

Sie sah an dem Stamm hoch.

»Was ist mit diesem Baum? Willst du es mir nicht bitte erzählen? Das ist der Baum auf deinen Bildern, stimmt’s?«

Die Esche mit ihrer grauen Rinde. Der Baum, der eigentlich Leben und Lebensfreude symbolisieren sollte, aber in seinem Leben nur als Symbol für den Tod stand. Vernichtung. Demütigung. Erniedrigung.

»Du weißt, was dieser Akt bedeuten soll, oder? Derjenige, der My hierhin gehängt hat, wollte diesen Ort für dich zerstören. Mit Absicht, aber das weißt du besser als ich.«

Sie packte seinen Arm. Ihr Griff war stark. Zum ersten Mal fühlte er sich ihr gegenüber schwach und unterlegen. »Du kannst nicht hierbleiben, wenn du verhindern willst, dass sie dich finden.«

Er erwiderte nichts. Starrte nur wortlos auf den roten Fleck an Mys Schläfe und wünschte sich, er könnte ihn zudecken.

»Wo willst du jetzt hin?«

Er schüttelte den Kopf. Es gab keinen Ort mehr, er hatte alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft.

»Vielleicht hat es jetzt einfach ein Ende.«

Er sah ihr an, dass das die falsche Antwort war.

»Du kommst mit zu mir nach Hause«, sagte sie resolut und zog ihn hoch. »Wir fahren zu einer Telefonzelle, ich rufe die Polizei an, und dann fahren wir zu mir nach Hause.«

Erneut schüttelte er den Kopf, aber ihm fehlte die Kraft, um es mit Nachdruck machen zu können.

»Hör zu, Peter. Sieh mich an!«

Sie drehte seinen Kopf zu sich. Er wusste genau, dass sie die Chance nutzte, um die Oberhand zu gewinnen. Ob sie es genoss? Wie wenn man ein wildes Tier fängt und mit der Zähmung beginnt? Das waren zwar seine Gedanken, aber sie waren weit weg, und er war nicht in der Lage, sie in Worte zu fassen und ihr ins Gesicht zu schleudern.

»Du musst mir alles erzählen. Aber das kannst du machen, wenn wir zu Hause sind und du dich ausgeruht, ein Bad genommen und was zu essen bekommen hast. Du stehst unter Schock.«

Sie hielt seine Oberarme fest und schüttelte ihn.

»Hörst du, was ich sage? Wir müssen uns eine Strategie ausdenken. Die Polizei wird garantiert zu mir kommen und mich befragen. Ich kann Zeit schinden, aber ich werde nicht verhindern können, dass sie dich am Ende doch finden.«

»Du sollst da nicht mit reingezogen werden.«

Er hörte seine kraftlose Stimme.

»Ich bin doch schon längst involviert. Mehr, als ich mir je hätte ausmalen können. Und jetzt ist deine DNA auf Mys Körper, garantiert.«

Sie taten das, was sie gesagt hatte. Er konnte sich nicht dagegen wehren.