KAPITEL 41

Axel Andreasen, der Fraktionsvorsitzende der Opposition in Århus, sah aus wie ein Pokerspieler, der soeben gegen seinen größten Widersacher verloren hatte.

»Ich habe das Einzige getan, was mir möglich war«, sagte Francesca. »Und die Meinungsumfragen bestätigen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«

Die Tageszeitungen lagen vor ihnen auf dem Tisch verstreut: die Sonntagsausgabe der NyhedsPosten mit der exklusiven Skandalmeldung auf Seite eins sowie die von Stiften, deren Lokalreporter die Story seines Lebens schreiben durfte, ein Interview mit der Bürgermeisterkandidatin über ihr Verhältnis zu gekauftem Sex. Daneben lag ferner die Montagsausgabe von Jyllands-Posten Århus, in der die Wählerumfrage veröffentlicht worden war. 58 % der Wähler unterstützten sie nach wie vor und waren der Ansicht, die Presse sei zu weit gegangen und das Sexualleben eines Politikers habe den Bürger nicht zu interessieren. 25 % würden sie nicht wählen, während 17 % unentschieden waren.

»Trotzdem, Francesca«, seufzte der Fraktionsvorsitzende und schüttelte den Kopf. »Trotzdem.«

»Trotzdem was?«

Sie merkte, wie seine Abneigung und Bedenken ihr Kraft gaben. Sie hatten sich bei ihm zu Hause getroffen: ein einstöckiges, von einem Architekten entworfenes Einfamilienhaus in Højberg. Zu fünft saßen sie am Tisch: der Fraktionsvorsitzende, sie, der ehemalige Oppositionsführer Anders Fink, ihr Rivale Erik Balleby sowie die Ortsvorsitzende Eva Frandsen, die aus Christiansborg angereist gekommen war. Sie hatte den unmittelbaren Kontakt zum Staatsminister, der keinen Ärger mit der Fraktion aus Århus haben wollte. Eine Krisensitzung anlässlich der aktuellen Ereignisse.

Francesca sah sich die Mitglieder der Runde an. Was wussten die schon? Die meisten von ihnen gehörten einer anderen Generation oder einem anderen Geschlecht an, wo das öffentliche Interesse an ihren sexuellen Präferenzen von vornherein ausgeschlossen war. Man konnte ohne Probleme schwul sein – mit allen nur erdenklichen experimentellen Variationen – und gleichzeitig Vorsitzender einer Partei oder eines großen Konzerns werden. Da sprach nichts dagegen. Solange man ein Mann war, galten andere Regeln.

Nur Eva Frandsen. Von ihr hatte sie ein bisschen mehr Verständnis erwartet, aber vielleicht klopfte da auch der Neid an? Eva mit den vernünftigen, pragmatischen Schuhen und einem bestimmt genauso vernünftigen und pragmatischen Sexualleben, wenn sie denn überhaupt eines hatte.

Wie schon so oft zuvor war die Bevölkerung den Politikern weit voraus. In diesen neopuritanischen Zeiten schien sich tatsächlich eine Gegenbewegung zu formieren, das konnte sie ganz deutlich spüren. Nicht bei allen, aber bei vielen. Die meisten waren müde, für eine Sache moralische Bedenken zu mobilisieren, bei der es sich um ein einfaches und menschliches Bedürfnis handelte.

»Trotzdem«, sagte der Fraktionsvorsitzende. »Trotzdem darf darüber diskutiert werden, ob das nicht ein Zeichen für mangelndes Urteilsvermögen ist. Überleg mal, Francesca. Du warst zu diesem Zeitpunkt eine vom Volk gewählte Politikerin. Du warst Vorsitzende der Kommission für Soziale Angelegenheiten. Dir muss klar gewesen sein, dass diese Geschichte eines Tages ans Licht kommen würde. Musstest du wirklich unbedingt dieses Extrem wählen?«

Wut stieg in ihr auf. Sie lehnte sich über den Tisch und stieß dabei fast eine Kaffeetasse um. Sie wusste, dass sie jetzt die Worte aussprechen musste, die sie eigentlich niemals hatte sagen wollen.

»Und wie steht es mit dir? Würdest du mir in die Augen sehen und beteuern können, dass du in deinem ganzen Leben noch nie bei einer Nutte warst? Dass du dir noch nie Sex gekauft hast?«

Erschüttert sah er sie an, aber in seinen Augen glitzerte auch ein Funken Unsicherheit. Schließlich gab es ja auch Frau Fraktionsvorsitzende, die den Kaffee gekocht, die Häppchen vorbereitet hatte und in der Küche mit dem Geschirr klapperte.

»Das hat nichts mit dieser Sache zu tun.«

»O doch, das hat es. Für Männer gelten andere Regeln. Die dürfen ihrem inneren Druck Erleichterung verschaffen und ins Bordell gehen und gut ist. Sieh mich nicht so an, denn ich weiß, dass du das auch schon getan hast. Du weißt, dass ich die freie Entscheidung befürworte und gegen die Kriminalisierung der Freier und der Prostituierten bin. Aber was ist mit uns Frauen? Wo sollen wir hingehen?«

Und sie sagte die Wahrheit. Er hatte den einschlägigen Etablissements der Stadt einen Besuch abgestattet, man musste nur die richtigen Leute kennen, um an diese Information zu kommen. Sie versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen, damit sie nicht schrill klang.

»Ich habe nichts anderes getan, als Männer in einer ähnlichen Situation tun würden. Ich war Single. Ich habe viel gearbeitet, und ich war eine öffentliche Person. Das sind erschwerte Bedingungen, wenn man ausgehen will, um sich einen seriösen und diskreten Sexualpartner aufzureißen, wenn die große Liebe gerade nicht vor der Tür steht und anklopft.«

Sie drehte die Handflächen nach oben und registrierte in diesem Moment, dass sie schon wieder viel zu wild gestikulierte. Das italienische Blut. Manchmal verfluchte sie es, denn es grenzte sie aus.

»Ich habe mich so diskret wie nur möglich verhalten. Ich habe mich an einen – wie ich dachte – professionellen Escortservice gewandt. Aber leider Gottes gibt es für so etwas keine Gebrauchsanleitung, und schwache Menschen gibt es überall. Ich hatte ein paar sehr gute Sexualkontakte, und ich würde es wieder tun, wenn ich das Bedürfnis danach hätte.«

»Mit Männern, die über zwanzig Jahre jünger sind als du?«

Das war die sanfte Stimme von Eva Frandsen. Irritation und Neid mischten sich da, dachte Francesca. Es war unglaublich, dass man tatsächlich an allen Fronten kämpfen musste.

»Du kannst dich gerne in dieser Runde umhören, ob die Herren auf die Idee kämen, zu einer Prostituierten in ihrem Alter zu gehen.«

Sie sah Balleby förmlich vor sich, wie er sich mit einer übergewichtigen Fünfzigjährigen abmühte. Sie sah Eva ins Gesicht und versuchte einen Tonfall anzuschlagen, der sie beide zu einem Team machen sollte, zwei gegen die anderen. Die beste Methode war immer, den Feind auf seine Seite zu ziehen und ihn zum Freund zu machen.

»Was ich sagen will, ist, dass alle Menschen, die in der Sexbranche und im Escortbusiness arbeiten, selbstverständlich jung und hübsch sind, wenn sie nicht auf der Straße anschaffen gehen. Und das gilt sowohl für Frauen als auch für Männer.«

Aber die Diskussion, wenn man das so nennen wollte, wurde fortgesetzt. Wie zu erwarten, versuchte Balleby Argumente für eine Neuwahl des Bürgermeisterkandidaten zu sammeln. Aber die anderen zögerten, nicht zuletzt wegen der guten Umfrageergebnisse in der Jyllands-Posten.

»Wir können doch nicht zu einer populistischen Partei mutieren und blind irgendwelchen Wählerumfragen folgen«, protestierte Balleby. »Wir sind eine seriöse liberale Partei und können uns solche Leichen im Keller nicht leisten.«

Sie wartete geduldig, bis alle ihre Vorurteile und verstockten Einstellungen geäußert hatten. Sie hatte es so genossen damals, wirklich genossen. Das Internet war ein Geschenk des Himmels gewesen für eine wie sie, bei der das Blut ab und zu in Wallung geriet und der Druck Erleichterung verlangte. Und die Befriedigung war nur ein Klick entfernt, hatte sie da herausgefunden. Lediglich ein Codewort, eine extra Mailadresse und eine Halbmaske oder hochgesteckte Haare und eine dunkle Sonnenbrille brauchte es dazu. Und schon konnte sie via Kamera mit Männern in Kontakt kommen, denen sie niemals in der Realität begegnet wäre, weil sie keine Zeit hatte und auch gar nicht wusste, wie man das anstellte. Datingseiten, Pornoseiten, Escortservice. Sie kannte alles. Ihr Appetit war groß, und darüber freute sie sich. Denn es hatte auch Zeiten gegeben, in denen der bloße Gedanke an Sex ihr den Magen umgedreht hatte. Paradoxerweise war das in ihrer Ehe so gewesen.

»Du bist doch religiös!«, Balleby formulierte es eher wie eine Frage. »Ist das für eine Katholikin keine Sünde? Oder geht man danach einfach in die Kirche, beichtet eine Runde und kauft sich damit den Sündenerlass?«

Sie wägte kurz ab, ob er überhaupt einer Antwort würdig war. Balleby mit einer Frau, die so übergewichtig war wie der Fraktionsvorsitzende und so unsexy wie Eva Frandsen an einem schlechten Tag.

»Ich bin nicht verheiratet«, sagte sie stattdessen. »Nicht mehr. Ich bin ein erwachsener, verantwortungsbewusster und modern denkender Mensch und betrachte meinen Körper und meine Lust als etwas, worauf ich stolz sein kann.«

Das schien der richtige Augenblick zu sein, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie ließ ihren Blick über die Anwesenden gleiten und hatte mit jedem von ihnen Mitleid. Die Fettleibigkeit des Fraktionsvorsitzenden, Eva Frandsens langweilige Verklemmtheit, Ballebys Mundgeruch und die viel zu eng sitzenden Hemden. Ein jeder von ihnen hatte Angst vor ihrer Sexualität, so wie die Inquisition Angst vor der Ketzerei gehabt hatte. Angst davor, die Kontrolle und Macht über jene zu verlieren, die alles entschieden, nämlich die Wähler.

Sie nickte ihnen freundlich zu.

»Ich gehe davon aus, dass wir hier fertig sind. Ihr wisst, wo ihr mich finden könnt.«

Dann erhob sie sich und ging.