Es war nicht weit dorthin. Nur zwei Minuten von der Redaktion, eigentlich hatte sie schon viel früher gehen wollen. Aber sie hatte keine Kraft gehabt, das riesige Loch in der Häuserfassade anzusehen und sich an die Minuten der Gewissheit zu erinnern, dass Ida Marie dort in den Ruinen gelegen hatte. Ida Marie und ihr ungeborenes Kind.
Das Unglück war nicht eingetreten. Zumindest kein Unglück mit Ida Marie als Hauptperson. Aber ein abgewendetes Unglück war nicht gleichbedeutend mit Glück. Es war unheimlich, wie schnell man sich daran gewöhnte, dass fast alles so war wie zuvor.
Undefinierbarer Baulärm bildete eine Art Hintergrundmusik beim Anblick des verrußten, abgestützten Gebäudes. Sie sah Wagner in Begleitung von Lena Lund den Tatort in der Østergade in seinem schwarzen Passat verlassen. Das Gefühl, das sich tief in ihrem Inneren meldete, erinnerte sie bedenklich an Eifersucht. Fachlicher Natur natürlich, beruhigte sie sich. Ihr gefiel es gar nicht, dass Lena Lund die Ermittlungsarbeit und Wagners Aufklärungsprozess aus nächster Nähe verfolgen konnte. Es gefiel ihr einfach nicht, dass diese Frau neben ihm im Auto saß und sein Vertrauen genoss.
So wie das rot-weiße Absperrband sie und andere Zivilisten vom Tatort fernhielt, stand Lena Lund praktisch buchstäblich zwischen ihr und Wagner und versperrte ihr den Zugang. Sie hatten bisher immer eine irgendwie geartete Zusammenarbeit gehabt, aber auf der letzten Pressekonferenz hatte er abwesend und abweisend auf sie gewirkt und ihr kein einziges Mal in die Augen gesehen. In der Regel hatten sie gegenseitig Nutzen voneinander. Aber sie hatte das ihr so vertraute Wohlwollen nicht entdecken können. Auf der anderen Seite hatte sie auch keine Neuigkeiten geliefert. Vielleicht war sie ja Teil des Problems. Seit langem hatten sie nicht viel mehr als formellen Kontakt gehabt. Und ihre Entdeckung auf Facebook hatte sie auch nur mit Bo geteilt. Sie hatte Ida Marie gegenüber kein Wort über Peter Boutrup geäußert, ihre Freundin hatte keine Ahnung, wer das war.
Auch Wagner wusste nichts von Peter Boutrup. Er hatte keine Ahnung, dass er existierte. Er wusste also auch nicht, dass er Dictes Sohn war. Und so war es ihr im Moment auch am liebsten. Sie sah keine Veranlassung, herumzuerzählen, dass ihr Sohn, den sie als Säugling zur Adoption freigegeben hatte, wieder aufgetaucht war, nachdem er für Totschlag im Gefängnis gesessen hatte. In ihrem Leben gab es genügend Missverständnisse und Fehlschläge, um eine ganze Tafel vollzuschreiben, warum sollte sie die allergrößte Niederlage lautstark verkünden?
»Geht es Ihnen wieder besser?«
Die Stimme kam von hinten. Sie drehte sich um und sah in die freundlichen Augen eines beleibten Handwerkers in einem weißen Overall über einem dicken, dunkelblauen Sweatshirt. Er hatte eine Zigarette in der Hand und nahm einen tiefen Zug.
»Ich erinnere mich an Sie. Ihnen ging es gar nicht gut an dem Tag.«
Er nickte zur anderen Straßenseite hinüber. Da erkannte sie ihn wieder, er war der Bauarbeiter, mit dem sie zusammengestanden hatte, als die Feuerwehrleute die Tote gefunden hatten.
»Ja, danke, ganz gut.«
Hinter ihm erhob sich das Gerüst, das nach wie vor mit Plastikfolie verkleidet war, die im Wind flatterte. Einer seiner Kollegen stand weiter oben auf einer Plattform und reinigte die gelben Backsteine mit einem Sandstrahlgebläse. Das war der Baulärm, der die Straße erfüllte.
»Sie war ein süßes Mädchen«, sagte er unvermittelt.
Dabei betrachtete er gedankenversunken das zerstörte Gebäude.
»Es ist eine Schande, dass so etwas passiert ist«, fügte er hinzu.
Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf.
»Haben Sie eigentlich auch schon mit der Polizei gesprochen? Die sind doch bestimmt überall herumgelaufen und haben die Leute befragt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wir waren noch auf einer anderen Baustelle, die zuerst fertig werden musste. Oben am Marselis-Boulevard. Wir sind erst heute wiedergekommen. Die melden sich bestimmt bei uns, wenn sie etwas wissen wollen.«
»Aber Sie haben doch nichts Besonderes gesehen, oder? Ich meine, an dem Tag selbst?«
Sie hörte, wie neutral ihre Stimme dabei klang.
Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Dicte konnte förmlich sehen, wie er den Rauch bis tief in die Lungen einatmete, eher er ihn wieder ausstieß. Er hielt die Zigarette von sich weg und musterte sie.
»Eigentlich sollte man ganz damit aufhören.«
»Tja …«
»Vor allem wenn man an diese Lungenkrankheit denkt, die sie hatte. Total am Ende war sie. Ging immer irre langsam mit ihren Einkaufstüten die Straße entlang, da haben wir auch mal geholfen.«
»Beim Tragen?«
»Ja, aber nur, wenn wir sowieso Pause gemacht haben. Das war ja nicht auszuhalten. Obwohl es einen Aufzug gab.«
Er senkte die Stimme.
»Ein paarmal hat sie uns als Dankeschön ein Bier ausgegeben. Das dürfen wir eigentlich nicht annehmen, Personalpolitik, Sie wissen schon! Darum haben wir es heimlich getrunken.«
Sein Lächeln war auch in der Stimme zu hören. »Doch, sie war echt in Ordnung.«
»Und an diesem besonderen Tag? Haben Sie die Frau da auch gesehen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und am Tag davor?«
»Na, das war doch das mit den Einkaufstüten. Sie hatte Gäste erwartet, hat sie uns erzählt. Sie sah ganz fröhlich aus.«
»Gäste …«
In diesem Augenblick klingelte Dictes Handy. Bos Nummer stand auf dem Display.
Irritiert nahm sie das Gespräch entgegen. »Ja?«
»Es gibt eine Pressekonferenz um drei«, verkündete er, sie hörte, dass er Auto fuhr. »Außerplanmäßig, es muss Neuigkeiten geben.«
Sie sah auf die Uhr. Es war Viertel vor.
»Ich komme.«
Sie drehte sich um, aber der Bauarbeiter hatte seine Zigarettenpause beendet und sich wieder auf den Weg zum Gerüst gemacht. Er wandte den Kopf und nickte ihr zu.
»Machen Sie es gut.«
»Warten Sie.«
Er blieb stehen. Sie suchte verzweifelt nach einer Formulierung, die nicht nach Journalistin klang.
»Sie wurde ein paar Stunden vor der Explosion umgebracht. Haben Sie davon gehört?«
Erneut schüttelte er den Kopf.
»Ich bin da im Moment nicht so auf dem Laufenden. Die Arbeit hat Vorrang, so viel wie geht. Sie wissen schon, die Krise.«
»Ich dachte ja nur, vielleicht haben Sie oder einer ihrer Kollegen etwas gesehen, was für die Aufklärung des Falles nützlich sein könnte? Eine Person, die in die Wohnung gegangen ist oder wieder herauskam, zum Beispiel.«
Sie warf die Hände in die Luft. »So was in der Art.«
Er starrte in die Luft. Ein Auto hupte, ein Radfahrer fuhr auf den Bürgersteig. Es war ein ganz normaler Tag, und die Straßen waren voll mit Menschen. Sie dachte zuerst, er hätte die Frage vergessen, als er plötzlich antwortete.
»Na ja, da war dieser Typ. Er ist ganz früh morgens aus dem Haus gekommen. Wir hatten gerade angefangen, dann war es wohl so gegen acht? Ich habe mir gedacht, dass er bestimmt der Gast war, von dem sie erzählt hatte.«
»Könnten Sie den beschreiben?«
Er gab eine Beschreibung, die auf jeden zweiten Mann gepasst hätte. Sie warf einen erneuten Blick auf die Uhr.
»Ich muss leider los. Sind Sie morgen auch noch hier?«
Er nickte und ging weiter. Dann rief er ihr über die Schulter zu: »Sie finden uns hier noch die ganze Woche.«
Sie zögerte einen Moment, ob sie ihm ihre Visitenkarte geben sollte, aber darauf stand, dass sie Journalistin war, und das fand sie unpassend. Für ihn war sie bisher nur eine Frau, die Opfer einer Bombenexplosion geworden war.
»Vielleicht sehen wir uns mal wieder«, sagte sie zum Abschied. »Und vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein?«
Er nickte zwar, erwiderte aber nichts.
Die Pressekonferenz war sehr kurzfristig anberaumt worden, deshalb saßen auch nur eine Handvoll Journalisten und Fotografen im Saal des Polizeipräsidiums. Wagner und Hartvigsen performten wie gewohnt. Hinter ihnen hatten sich ein paar ihrer Teamkollegen postiert. Dicte fiel auf, dass Lena Lund einen gewissen Abstand zu ihnen hielt.
Bo war schon da, als sie eintraf. Er hatte in einem vertrauten Gespräch mit der kleinen Renate Rotkäppchen von der Zeitung Stiftens gestanden. Dicte hatte ihr diesen Spitznamen gegeben. Die beiden warfen sich das ausgelassene Lachen wie einen Ball hin und her.
Die Konferenz war ausgesprochen kurz. Wagner eröffnete sie. Dicte sah, dass sie die volle Ausrüstung dabeihatten, mit PowerPoint und Leinwand und allem Drum und Dran.
»Wir haben diese Pressekonferenz einberufen, weil sich neue Erkenntnisse in dem Adda-Boel-Fall ergeben haben.«
Die Zuhörer rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Der Adda-Boel-Fall. Jetzt hieß er nicht mehr der Solarium-Fall, dachte Dicte. Adda Boel war befördert worden und hatte den Status einer wichtigen Leiche erhalten.
»Wir haben die Ergebnisse der DNA-Analysen der Spermaprobe, die wir in der Vagina der Toten, sowie der Speichelprobe, die wir auf ihrer rechten Brust gefunden hatten.«
Speichel und Sperma. Es gab keine Grenzen der Intimsphäre, die Ermittler in einem Mordfall einhalten mussten. Jedes noch so private Detail wurde enthüllt. Dicte hoffte tief im Inneren, dass sie in Frieden sterben durfte, wenn der Tag der Tage gekommen war. Und dass ihr Körper nicht von allen Seiten betrachtet werden würde, was eine Obduktion unweigerlich mit sich brachte. Wenn sie nicht ohnehin schon vorher vor Wut über Bos hemmungsloses Flirten krepierte. Rotkäppchen und er unterhielten sich nach wie vor, hatten aber jetzt ihre Stimmen gesenkt.
»Wir haben einen Treffer in unserer Datenbank gehabt, und darum suchen wir nach diesem Mann.«
Wagner klickte mit der Maus auf dem Bildschirm. Bo und Rotkäppchen verstummten. Dicte starrte auf die Leinwand. Plötzlich gab es keinen Sauerstoff mehr im Saal, sie konnte keine Luft holen. Bitte nicht. Nicht das auch noch.
»Peter Andreas Boutrup«, sagte Wagner. Sie hörte seine Stimme wie aus großer Entfernung und spürte, dass Lena Lund sie eindringlich beobachtete. »Er wurde letzten Mittwoch aus dem Staatsgefängnis von Ostjütland in Horsens entlassen, also am Tag des Mordes an Adda Boel oder am Tag davor. Das ist noch unklar. Seitdem hat ihn niemand gesehen.«
Wagner richtete seinen Blick auf die versammelten Journalisten.
»Wir fahnden nach ihm und stellen die Fotos ins Netz, damit Sie sie runterladen können.«
Mahnend fügte er hinzu:
»Er ist nicht irgendjemand. Er hat gerade vier Jahre wegen fahrlässiger Tötung abgesessen.«
»Wie sicher sind Sie, dass er es war?«, fragte der Kollege von Politiken.
Dictes Puls schlug so laut, dass sie die Antwort kaum verstehen konnte. Da spürte sie den Druck von Bos Hand auf ihrer Schulter.
»Lassen Sie es mich so formulieren: Wir würden uns sehr gerne mit ihm unterhalten.«