Das war ungefähr der letzte Ort auf der Welt, den er wiedersehen wollte. Nein, wenn er es ganz genau nehmen würde, müsste er sagen: der vorletzte Ort.
Miriams kleine Blechkiste war nicht besonders geeignet für die Fahrt an die Küste. Immer wieder hatte er die Befürchtung, vom Wind über die Felder geweht zu werden oder dass der Wagen beim geringsten Kontakt mit einem Schlagloch auseinanderbrach. Ab und zu trommelte ein Regenguss wilde Rhythmen auf das Autodach, und manchmal fühlte es sich an, als würde eine Salve aus dem Schrotgewehr auf ihn niedergehen.
Er kam nur langsam voran.
Damals hatte er alles über Vögel gewusst. Über den Zug der Tauben im April, über Mäusebussarde, Sperber, Wespenbussarde, Rohrweihen, Kornweihen, Merline. Sogar den Fischadler hatte er beobachten können, wie er über das große blaue Meer geschwebt war, während Thor neben ihm gestanden und aufgeregt gesabbert hatte. Er war mit dem Hund spazieren gegangen, durch den Buchenwald in Nederskov und dem Nadelwald in Overskov. Er kannte den Platz bei den Äckern, nordöstlich der Gemeinde, von wo aus man mit Güllegeruch in der Nase den Leuchtturm sehen konnte. Und er hatte in den frühen Morgenstunden Hirsche beobachtet, wie sie in den Ort gezogen waren und alles Essbare auf ihrem Weg verschlungen hatten.
Doch von einem Tag auf den nächsten war es zum verbotenen Land für ihn geworden. Er hatte den Schlüssel im Schloss umgedreht und ihn unter den weißen Stein gelegt. Er hatte alle Rechnungen beglichen. Freunde wussten, dass sie dort jederzeit unterkommen konnten, wenn sie Lust hatten. Sie sollten nur ein bisschen Bares in die Schublade in der Küche legen oder ihm etwas aufs Konto überweisen. Dieses Konto hatte er an seinem ersten Tag in Freiheit sofort aufgelöst.
Eine Zeitlang hatte er das Häuschen an Kumpel vermietet, die gerade aus dem Knast kamen. Einige hatten den Ort geliebt, andere hatten unter Agoraphobie gelitten, wegen der Weite, der vielen Natur und des offenen Meers. So hatte er das Anwesen halten können, ohne jemals zurückzublicken. Er hatte es hinter sich gelassen; hatte sich oft überlegt, es endlich zu verkaufen. Das Geld hatte er mehr als nötig, aber plötzlich waren die Zeiten schlecht dafür, und die Frage drängte sich auf, wie viel er nach einem Kauf tatsächlich in den Händen halten würde.
All diese Gedanken trommelten in seinem Kopf wie der Regen aufs Autodach, als er das Haus an der Klippe erreichte. Hatte My hier Unterschlupf gesucht? Hatte sie die Nase von Miriam und seiner Liebschaft voll gehabt, war sie vielleicht sogar eifersüchtig geworden? Oder gab es einen anderen Grund, weshalb sie sich Kaj geschnappt und die Wohnung in der Anholtsgade so unerwartet verlassen hatte, wie sie im Wald von Ry aufgetaucht war? Ihm fiel kein anderer Ort ein, an dem sie hätte Zuflucht finden können. Denn sie würde niemals freiwillig zurück in das Kollektiv gehen, die Einrichtung für betreutes Wohnen psychisch Kranker, von dem sie ihm voller Abscheu erzählt hatte, aber wo sie während seiner Haft mehrere Male gewohnt hatte. Es wäre für sie unmöglich, alleine im Wald von Ry zu überleben, deshalb war er sich ziemlich sicher, dass sie nicht dorthin gegangen war. Hatte sie sich auf die Suche nach Cato gemacht? Hatte sie gedacht, sie könnte ihm imponieren oder ihm gar auf ihre unbeholfene Art helfen?
Er parkte vor dem Haus und stieg aus. Es regnete noch immer. Er hatte sich nicht vorstellen können, wie einsam und leer es sich anfühlen würde ohne sie. Der Schlüssel lag unter dem weißen Stein, er fragte sich ängstlich, was ihn im Inneren wohl erwarten würde. Die Gardinen waren zugezogen. Von außen sah alles unverändert aus und gleichzeitig auch nicht. Es wäre Zeit für einen neuen Anstrich und ein paar Reparaturen. Immerhin war er vier Jahre lang nicht mehr hier gewesen.
Er schloss auf. Der Gestank war das Erste, was ihm entgegenschlug. Rauch. Es musste jemand vor kurzem im Haus gewesen sein, und zwar ein starker Raucher. Allerdings sah das Wohnzimmer nicht so aus, als hätte sich dieser Jemand dort häufig aufgehalten. Die Möbel standen an ihrem angestammten Platz, alles sah unbenutzt aus, mit Ausnahme einer Decke und eines Kopfkissens mit Troddeln, die zerknüllt auf dem Sofa lagen. Er ließ die Bilder an den Wänden unbeachtet und ging direkt ins Schlafzimmer.
Dort sah es aus wie nach einem Einbruch, hatte die Polizei das Schlafzimmer auf der Suche nach ihm so zugerichtet? Wohl kaum. Er vermutete vielmehr, dass vor den Beamten einfach ein sehr unachtsamer Gast dort gewohnt hatte. Das Bettzeug war dreckig und zerknittert, und es roch noch stärker nach Zigarettenrauch. Neben dem Bett standen überquellende Aschenbecher. Er sah in den Papierkorb und fischte eine leere Schachtel heraus. Camel. Cato war also in seinem Haus gewesen. Warum war er nicht früher auf die Idee gekommen, dass Cato dort eine Zwischenstation auf seinem Feldzug machen würde?
Er ließ sich aufs Bett sinken. Vermutlich hatte er mittlerweile zu viel Distanz zu allem gewonnen, um es mit Catos Plänen in Verbindung zu bringen, wenn er denn welche hatte und nicht einfach nur in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen war. Nichtsdestotrotz. Er war da gewesen und wieder verschwunden. Aber wohin?
Er ging in die Küche, auch hier herrschte Chaos: Gebrauchte Teller lagen übereinandergetürmt, Töpfe mit Essensresten, die am Boden festgebrannt waren, alte Pizzakartons, leere Bierdosen. Aber keine Anzeichen von Drogen. Keine benutzten Spritzen, kein Gummiband, um den Arm abzubinden, kein Silberpapier, keine angekohlten Löffel, auf denen kleine Klumpen Heroin über brennender Flamme aufgelöst worden waren. War Cato am Ende tatsächlich clean geworden?
Er begann aufzuräumen, Teller und Töpfe abzuwaschen, fuhr kurz zum nahegelegenen Supermarkt, kaufte große, schwarze Müllsäcke. Im Wohnzimmer schüttelte er die Kissen und Decken aus und wischte die größten Spinnenweben weg.
Es dauerte, bis er sich an die Bilder gewöhnt hatte. Er hatte lang mit ihnen gelebt, und sie waren ein Teil von ihm gewesen. Jetzt aber waren sie nur noch Fremdkörper und Feinde. Er hatte sie gemalt, um sich zu erlösen. Damals hatte er gedacht, wenn die Esche in Flammen aufging, würden sie alle in die Freiheit entlassen werden. Aber der Baum hatte nicht gebrannt. Er stand nach wie vor an seinem Platz, er hatte ihn selbst gesehen. Und in ihm gab es ihn auch noch, er wuchs beständig. Aber damit hatte er seinen Frieden gefunden. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass in ihm ein Baum wuchs und mit seinen Wurzeln die Eingeweide umschlang. Das hatte er in Horsens gelernt.
Er fand sie, als er die Säcke raustrug und sie neben den Mülleimer stellte. Sie lag hinter dem grünen Mülleimer, als hätte sie jemand weggeworfen. Sie war mit Lehm beschmiert und nass vom Regen. Kaum wiederzuerkennen, trotzdem erkannte er sie sofort. Mys Strickmütze. Die sie sich immer über ihre mausgrauen Haare tief ins Gesicht zog, so dass diese hinterher ganz platt am Kopf lagen. Die Mütze, die sie in den kalten Nächten draußen in Ry gewärmt hatte. Deshalb war sein erster Gedanke auch nicht, wie die Mütze dorthin gekommen war und was das eventuell bedeuten könnte, sondern dass sie frieren könnte, weil sie nichts zum Wärmen hatte. Er konnte sie förmlich hören, wie sie neben Cato auf und ab hüpfte und sich beschwerte:
»Friere. Friere den Kopf.«
Zumindest hoffte er es. Cato hatte nie viel Geduld mit My gehabt. An einem Tag strich er ihr über die Haare und am nächsten trat er mit Füßen nach ihr. Wahrscheinlich weil er sie nie richtig verstanden hatte.
Er schloss das Haus hinter sich ab und legte den Schlüssel an seinen Platz unter dem weißen Stein. Als er im Wagen saß, überkam ihn ein heftiger Schmerz im Herzen, im buchstäblichen Sinne. Er wusste, dass es Sehnsucht war.