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Der Dokumentarfilm trug den Titel Chief Boniface Mbamalu – der Politiker, der Mensch. Die vielen Jahre auf der Bühne, in denen er Botschafter und Industriemagnate und oberste Regierungsbeamte gespielt hatte, zahlten sich eindeutig aus. Cash Daddy saß ruhig da. In einem knielangen Isi-Agu-Kostüm mit roter Mütze. Mit leicht gespreizten Beinen und die Hände auf dem Schoß verschränkt, blickte mein Onkel den Zuschauern offen in die Augen und wiederholte seine bereits gemachten Versprechen. Er habe Strategien entwickelt, um ausländische Investoren anzulocken und damit die Verbesserung der Infrastruktur zu finanzieren. Er sei entschlossen, die Korruption in Abia auszumerzen, und zwar von Grund auf. Er wisse, dass er Feinde habe, die nicht wollten, dass er zum Gouverneur gewählt werde, weil sie die von ihm geplanten Reformen fürchteten, aber er lasse sich von ihnen nicht abschrecken. Ihm gehe es um die Menschen in Abia. Er sei willens, unseretwegen sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Die Filmemacher hatten auch seine Mutter interviewt sowie Leute aus der Gegend seiner Herkunft und Leute, die von seiner Wohltätigkeit profitiert hatten. Mit Bestürzung vernahm ich, dass mein Onkel in den letzten fünf Jahren sämtliche Jurastudenten aus dem Regierungsbezirk Isiukwuato, die an einer nigerianischen Universität studierten, mit Stipendien unterstützt hatte. Er hatte doch mit fast allen seinen Wohltätigkeitsprojekten vor mir geprahlt. Warum hatte er dieses nie erwähnt?
»Warum nur die Jurastudenten?«, fragte Eugene.
»Weil wir die wahren Gelehrten sind«, erwiderte Charity.
»Ach, halt doch den Mund«, sagte Eugene. »Du trägst die Nase so hoch mit deiner Juristerei. Was sollen wir Ärzte da sagen?«
Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei der alle meine Geschwister gleichzeitig bei mir zu Hause Ferien machten. Godfrey lebte schon seit über einem Jahr fest bei mir; Eugene und Charity waren vor ein paar Tagen aus Umuahia gekommen. Die Hochschulen des Landes hatten einhellig beschlossen, dass es ratsam sei, bis zu den Wahlen ihre Tore zu schließen und sie erst danach wieder zu öffnen. Keine von ihnen legte Wert darauf, Unruhen niederzuschlagen, die aus etwaigen Turbulenzen am Wahltag entstanden.
Die Tochter der Nichte meiner Mutter kam aus der Küche.
»Brother Kingsley, das Essen ist fertig.«
Ich überließ meine Geschwister ihrem Hickhack und begab mich ins Esszimmer. Sie hatten bereits gegessen. Als mir aus der exotischen Porzellanschale der Geruch der dickflüssigen Egusi-Suppe mit ihren großen Stücken Hühnerfleisch, Okporokofisch und Beinfleisch vom Rind in die Nase stieg, spürte ich, wie hungrig ich war. Die Haustür ging auf, und es wurde so laut, als wäre auf dem Markt plötzlich ein Streit ausgebrochen.
»Hey, Kings!«, rief Godfrey auf seinem Weg nach oben.
»Hallo«, sagte ich.
Godfrey war fast immer von Freunden umgeben. Jeden Tag tauchte er mit neuen auf. Die beiden Jungs, mit denen er gekommen war, begrüßten mich ebenfalls und folgten ihm nach oben. Sie waren mitten in einem lautstarken Gespräch über ein Fußballspiel in der europäischen Champions League und grölten dabei fast so laut wie die Zuschauer im Stadion. Mein Bruder hatte kürzlich sein Leben dem Arsenal Football Club geweiht. Er ließ sich keines seiner Spiele im Fernsehen entgehen, kannte die Namen und Geburtsdaten sämtlicher Spieler und besaß ihre Mützen, Schals, T-Shirts … Ach, wenn mein Bruder doch bloß verantwortungsvoller mit seiner Zeit und seinem Geld umgehen würde.
Mein Handy klingelte. Es war Merit.
»Hast du daran gedacht, die Doku über Cash Daddy zu gucken?«, fragte ich.
»Nein.«
»Schade. Es war wirklich ganz interessant. Die Leute aus seinem Dorf haben sogar ein Lied komponiert, mit dem sie seine guten Werke preisen.«
Ich sang ein Stück davon und lachte. Mag sein, dass sie mitlachte, vielleicht auch nicht.
»O dighi onye di ka nna anyi Cash Daddy, onye Chineke nyere anyi gozie anyi«, sang ich weiter.
Ich lachte. Sie lachte nicht.
»Merit, ist alles in Ordnung?«
»Kingsley, warum hast du mich belogen?« Der Ton in ihrer Stimme hätte Goliath niederstrecken können.
»Was meinst du damit?«
»Ich bin so sauer auf dich. Ich kann nicht glauben, dass du mich so eingewickelt hast. Hast du wirklich geglaubt, ich würde nicht dahinterkommen? Womit verdienst du dein Geld?«
Ich war wie vom Donner gerührt.
»Womit verdienst du dein Geld?«
»Ich makle Verträge und Investitionen«, erwiderte ich ruhig, obgleich in meinem Kopf Sirenen heulten. »Das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Kingsley, hör auf ! Wie lange wolltest du mich noch belügen?«
»Merit, ganz ehrlich, ich weiß nicht, wovon du redest.« Sie schwieg.
»Merit, ich …«
»Ich bin nicht die Sorte Frau, okay? Ich will mit Typen wie dir nichts zu tun haben. Lass mich von nun an in Ruhe. Bitte.«
Sie hängte ein.
Ich war wie benommen. Ich starrte auf mein Display und lauschte Merits Worten nach und fragte mich, wann ich aus diesem jüngsten Albtraum erwachen würde. Wie konnte eine Beziehung, die dabei war, sich so gut zu entwickeln, so plötzlich schiefgehen?
Ich ließ mich auf meinem Stuhl zurücksinken. Es war alles meine Schuld. Ich hätte wissen müssen, dass sie früher oder später etwas hören würde. Vielleicht wäre Merit nicht so böse gewesen, wenn ich es ihr selbst gebeichtet hätte. 419er oder nicht, war und blieb ich nicht immer noch Kingsley? War ich nicht der Mann, der meine Familie gerettet hatte, nachdem mein Vater gescheitert war? War ich nicht der Mann, der zugunsten meiner Mutter und Geschwister auf seine eigenen Träume verzichtet hatte? War ich nicht der Mann, der sich noch immer dauernd um meine Mutter bemühte, obwohl sie mich stets verurteilte und sich so uneinsichtig zeigte?
Ich warf das Handy auf den Tisch und zischte. Am liebsten hätte ich laut geschrien und sämtliches Geschirr auf dem Tisch an die Wand geschmissen. Stattdessen stützte ich den Kopf in die Hände und stellte die Ellbogen auf den Esstisch.
Die Welt war einfach zu mies. Andere arme Leute fanden Frauen, die sie heirateten, andere 419er waren von verzweifelten Mädchen umlagert. Vielleicht war ich derjenige, der vom Pech verfolgt war – umgeben von Undankbaren und Utopisten. Doch wie dem auch sei, meine Geschwister würden die beste Ausbildung bekommen, die ich bezahlen konnte. Und ich würde nie mehr zu einem Leben der Armut und des Mangels zurückkehren. Für keinen Toten und für keinen Lebenden.
Vielleicht würde Merit das verstehen. Bis morgen früh würde ihr Zorn verraucht sein, und dann würde ich ihr alles erklären. Ich war nicht kriminell. Ich hatte mit 419 angefangen, damit meine Mutter unbeschwert leben konnte und meine Geschwister eine gute Ausbildung bekamen. Ja, ich hätte es ihr erzählen müssen, aber ich wusste nicht, wie ich das Thema hätte anschneiden sollen, und ich schämte mich sehr, dass ich nicht die Wahrheit gesagt hatte. Außerdem würde sich das alles demnächst ändern. Ich würde bald eine Stelle im Ministerium für Energieversorgung, Wasser- und Straßenbau antreten. Ich würde bald eine angesehene Arbeit haben. Ich würde bald in das eine oder andere Geschäft investieren.
Godfrey und seine Freunde beförderten ihren Lärm wieder nach unten.
»Charity, ist Kings immer noch im Esszimmer?«, hörte ich Godfrey auf der Treppe fragen.
Ich hob rasch den Kopf und nahm mir wieder mein Essen vor. Der Appetit war mir gründlich vergangen, aber ich tauchte die Hände in die Suppe und gab vor, in den Genuss vertieft zu sein.
Seine Freunde setzten sich zu meinen Geschwistern ins Wohnzimmer, während Godfrey zu mir hereinstolzierte, sich geräuschvoll einen Stuhl heranzog und Platz nahm. Der Duft seines frisch aufgesprühten Eternity verdrängte jede letzte Spur des Egusi-Aromas aus dem Raum.
»Kings, ich hätte was, worüber ich schon länger mit dir reden wollte«, begann er ohne jede Umschweife.
Ich warf einen Blick auf seine beiden Freunde, die in Hörweite von uns saßen, und sah dann ihn an. Er schien sich an ihrer Gegenwart nicht zu stören, warum sollte ich es tun?
»Kingsley, ich denke schon eine ganze Weile drüber nach. Ich hab beschlossen, mein Studium sausen zu lassen. Ich hab lange darüber nachgedacht, und ich hab beschlossen, dass es sinnlos ist. Ich will wirklich nicht mehr. Ich denke, ich will lieber in die Wirtschaft gehen.«
»Du willst in die Wirtschaft gehen?«
»Ja, ich habe das Studium satt. Ich sehe keinen Grund darin, meine Zeit an der Uni zu verschwenden, wenn man anderweitig so viel Geld verdienen kann. Je eher ich anfange, mein eigenes Geld zu verdienen, desto besser.«
Kein Zweifel, der Junge war verrückt geworden. In meiner Verzweiflung machte ich eine Anleihe bei Cash Daddys Patentsprüchen.
»Godfrey, bist du noch ganz richtig im Kopf ? Hast du getrunken? Hast du Drogen genommen?«
Meine Reaktion schien ihn zu überraschen. Dann straffte er seine Miene, als wollte er mir nun mit gewichtigeren Argumenten kommen.
»Kingsley, lass mich er…«
»Halt den Mund!«, bellte ich. Er klang genauso idiotisch überzeugt wie Azuka. »Vergiss es einfach. Die Diskussion ist beendet. Vergiss es. Da gibt es nichts zu reden. Was du sonst mit deinem Leben anfängst, geht mich nichts an, aber du musst weiter studieren, und du musst deinen Abschluss machen. Ich will nie wieder etwas zu dem Thema hören.«
Godfrey beobachtete, wie ich mir die Hände wusch, mein Handy einsteckte, mein Glas Wasser nahm und aufstand. Als ich weggehen wollte, erhob er sich ebenfalls.
»Kings, du bist der Letzte, von dem ich solche Töne erwartet hätte. Sieh dich doch an. Was ist denn mit deinem Studium? Du fängst doch auch nichts damit an. Wozu war es gut? Meinst du, ich will mein Geld nicht auch selber verdienen? Sei nicht so scheinheilig.«
Der Glasbecher fiel mir aus der Hand und zersprang auf dem Marmorboden. Ich blieb abrupt stehen und mutierte zu einem anderen Wesen. Nach allem, was ich für sie alle getan hatte, besaß mein Bruder doch tatsächlich die Stirn, mir diesen kompletten Blödsinn zu erzählen? War es scheinheilig von mir, ihr Wohlergehen vor meine Bedürfnisse zu stellen? Mit Schwung drehte ich mich um und versetzte ihm einen wohlgezielten Schlag ins Gesicht.
»Meinst du, dies ist das Leben, das mir vorgeschwebt hat? Meinst du, ich hätte eine Wahl gehabt?«
Ich schlug noch einmal zu, krallte meine Hand in seine Hemdbrust und stieß ihn gegen die Wand.
»Ist dir nicht klar, dass ich das Opfer für euch gebracht habe?«
Ich krallte mich fester in sein Hemd, zog ihn zu mir heran und schrie ihm ins Gesicht.
»Ich bin der Opara. Ich habe es für euch getan! Hast du das verstanden?«
Schon von Kindheit an hatte Godfrey eine Veranlagung zum Gangster gehabt. Er jammerte nicht, er versuchte sich nicht loszumachen, er bettelte nicht, dass ich aufhören sollte. Und wegen des Altersunterschieds, der mir automatisch das Recht gab, ihn zu züchtigen, schlug er nicht zurück. Er stand bloß mit zusammengekniffenen Augen da und hielt sich die Arme vors Gesicht, um weitere Schläge abzuwehren.
Mittlerweile waren Eugene, Charity, Godfreys Freunde, mein Koch, mein Waschmann, mein Gärtner und meiner Mutter Nichte Tochter zusammengelaufen. Alle flehten und bettelten und versuchten, sich mir in den Weg zu stellen. Sie verschwendeten ihre Zeit.
»Kings, biiiiittttte! Bitte lass ihn! Bitte lass ihn!«, heulte Charity lauthals.
Ich nahm meinen Bruder beim Hemdkragen und zerrte ihn zur Treppe. Ich drehte mich zu den mitfühlenden Zuschauern um.
»Dass mir keiner nach oben folgt!«, drohte ich.
Mein Koch, dessen Kommunikation mit mir sonst nie über »Ja, Sir!« und »Nein, Sir!« hinausging, rief: »Oga, abeg nich umbringen, abeg nich umbringen!«, und setzte den Fuß auf die erste Stufe. Ich streifte meinen rechten Naturviperleder-Slipper ab und warf ihn nach seinem Kopf. Der Slipper ging vorbei, aber er verstand meine Botschaft.
Ich schleppte Godfrey in sein Zimmer und deponierte ihn auf dem Fußboden wie einen nassen Sack. Ich schloss die Zimmertür und schaute mich um. Das Erste, was mir ins Auge fiel, war eine Stereoanlage neben seiner Kommode. Ich versetzte ihr einen Stoß. Laut krachend fiel sie um.
Mit einer ausladenden Bewegung fegte ich alles, was auf seiner Frisierkommode stand, zu Boden. Die Luft füllte sich mit dem Duft verschiedenster Designerwässerchen. Ich riss den Kleiderschrank auf und schnappte mir eine leere Reisetasche. Ich riss seine Kleider von den Bügeln und stopfte so viele wie möglich in die Tasche. Mir blieb keine Zeit, sie einzeln in tausend Stücke zu reißen, wie ich es gern getan hätte. Ich hängte mir die Tasche über die Schulter und packte Godfrey wieder am Hemdkragen. Im Hinausgehen warf ich mit meiner freien Hand sein CD-Regal um. Die CDs purzelten zu Boden und landeten in einem Haufen. Ich trat fest mit dem linken Fuß zu. Sie knackten bei jedem Stampfen.
Die mitleidige Menge hatte sich vor dem Zimmer versammelt. Da ich Dringenderes zu erledigen hatte, überging ich ihren Ungehorsam und stieg mit meinen beiden Lasten die Treppe hinunter. Dann ging ich geradewegs zu meinem Lexus und schob Godfrey und seine Reisetasche hinein.
»Tor auf !«, schrie ich.
Eilig tat der verängstigte Wächter wie geheißen.
Mein Fuß bewegte sich erst vom Gas, als wir in Umuahia waren. Godfrey schwieg wie betäubt, während ich direkt zur Wohnung in der Ojike Street raste und ihn mit seinem Gepäck vor der Tür absetzte.
»Ich will dich nie wieder in meinem Haus sehen«, drohte ich.
Meine Mutter war noch auf dem Weg nach draußen, als ich schon wieder ins Auto sprang und davonbrauste.