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In den Straßen von Aba häufte sich der Müll. Die stinkenden Abfälle blockierten die Fahrbahnen, so dass sich die Fahrzeuge durch schmale Asphaltlücken zwängen mussten. Falsche Polizisten brüllten aus Leibeskräften und zwangen Lastkraftfahrer zum Anhalten, um ihnen kleine Beträge für erfundene Abgaben abzupressen. Eine splitternackte Schizophrene mit einem Bündel schmutziger Lumpen auf dem Kopf tanzte ausgelassen auf einer T-Kreuzung, und während sich das Okada durch den Verkehrsstau Richtung Unity Road schlängelte, fiel ich fast vom Sitz, als wir an den verkohlten Überresten zweier Menschen vorbeifuhren, die aufrecht am Rand der Hauptstraße saßen.
»Was stellst du dich an wie ein Weib?«, lachte der Okada-Fahrer.
Neben Onitsha war Aba die Hauptstadt der Dschungeljustiz. Die Einwohner von Aba wollten nicht alles dem Staat überlassen. Sie hatten sich den Rat des Edlen zu Herzen genommen und fragten sich, was sie für ihren Staat tun konnten, anstatt sich bloß zu fragen, was ihr Staat für sie tun konnte. Sie hatten beschlossen, ihm bei der Rechtsvollstreckung selbst zur Hand zu gehen. Wenn daher jemand auf frischer Tat ertappt wurde – sei es beim Taschendiebstahl oder bei einer Kindesentführung –, übernahmen es die Leute auf den Straßen, ihn zu verfolgen, holten ihn ein, nahmen ihn gefangen, zogen ihn nackt aus, fesselten ihn in aufrechter Haltung, legten ihm einen alten Autoreifen um den Hals, übergossen ihn mit Benzin und zündeten ein Streichholz an. Der Reifen sorgte dafür, dass die Flammen weiterbrannten, bis von dem Verbrecher nur noch Kohle übrig war.
Meine Tante hatte sich nicht geirrt: Der Okada-Fahrer wusste genau, wo ich Onkel Boniface finden konnte.
»Ach, Sie meinen Cash Daddy?«, fragte er. »Wollen Sie zu seinem Firmensitz oder seinem Hotel oder zu ihm nach Hause?«
»Zu seinem Firmensitz«, erwiderte ich.
Da mein Onkel in diesem Landesteil gewissermaßen eine Berühmtheit war, wusste ich aus Klatsch und Gerüchten mehr über ihn als aufgrund des Umstandes, dass er mein Verwandter war. Und es fiel mir nach wie vor schwer, die Geschichten von seinem kolossalen Reichtum mit dem Taugenichts zusammenzubringen, der vor so vielen Jahren bei uns gewohnt hatte. Dabei hatte Onkel Boniface nicht erst heute angefangen, schmutziges Geld zu scheffeln.
Damals, als er bei uns wohnte, war meine Mutter auf eine ganz neue Idee gekommen. Weil sie es leid war, ihre Mädchen für durstige Kunden Getränke holen zu schicken, während diese darauf warteten, dass ihnen Maß genommen wurde oder dass sie fertige Kleider mitnehmen konnten, an denen noch schnell letzte Änderungen vorgenommen wurden, schaffte sie für ihre Schneiderei einen Kühlschrank an, damit sie gleich etwas zu trinken da hatte, wenn ihren Kunden danach war. Die Idee entwickelte sich zu einer Haupteinnahmequelle, da bald immer mehr Leute von der Straße hereinkamen, um bei ihr kalte Getränke zu kaufen.
Deswegen schlug mein Vater vor, Onkel Boniface könne nach der Schule ins Geschäft gehen und dabei helfen, diese Extrakunden zu bedienen.
Der Junge hatte bald heimlich die Kunst perfektioniert, die milchig grünen Gingerale-Flaschen zu öffnen, ohne die Kronkorken zu verformen. Nachdem er den echten Inhalt an die Kunden verkauft hatte, bewahrte er die Blechkorken auf und füllte die leeren Flaschen mit einem originellen Gemisch aus Wasser, Zucker und Salz. Dann verschloss er sie wieder mit den Kronkorken und verkaufte das aufbereitete Wasser. Die Einnahmen aus den selbstgepanschten Erfrischungsgetränken wanderten natürlich in seine eigene Tasche. Wenn er den Leuten, die gleich im Laden trinken wollten, die Flaschen hinstellte, riss er mit dem Öffner den Kronkorken weg und machte gleichzeitig mit dem Mundwinkel einen Zischton.
Meine Mutter sah, wie sich auf den Gesichtern ihrer Kunden nach dem ersten Schluck Verwirrung breitmachte. Sie bekam immer mehr Beschwerden zu hören, und sie suchte nach einer Erklärung für das Rätsel. Eines Tages prahlte Onkel Boniface in einem Augenblick der Leidenschaft vor einem der Schneidermädchen mit seiner Geschäftstüchtigkeit. Die verliebte Schöne fühlte sich verschmäht, als ihr Auserwählter sich einem anderen Mädchen zuwandte. In einem Anfall weiblichen Zorns verpetzte sie ihn.
Am Tag der schockierenden Entdeckung kam meine Mutter nach Hause und berichtete den Vorfall meinem Vater.
»Bist du sicher, dass dieser Junge ein Mensch ist?«, fragte er entsetzt. »Bist du sicher, dass er normal ist?«
»Ich habe ihm vor allen Leuten im Geschäft eine Tracht Prügel verpasst«, sagte meine Mutter. »Ich bin sicher, er hat seine Lektion gelernt.«
»Eine Tracht Prügel? Du glaubst, Infamie lässt sich mit Schlägen heilen?«
»Ich denke, es ist sein Alter«, entschuldigte meine Mutter ihren Bruder. »Junge Leute neigen nun mal zu dummen Streichen.«
»Der Junge ist böse«, erklärte mein Vater bestimmt. »Das ist das schiere, ungetrübte Werk des Teufels. Mir ist äußerst unwohl bei dem Gedanken, dass er mit unseren Kindern in einem Haus lebt.«
Fortan wurde die Schuld dafür, dass meine Mutter mit dieser Seite ihres Geschäfts Schiffbruch erlitten hatte, vollständig Onkel Boniface angelastet.
Das Okada hielt vor einem unscheinbaren Bungalow, der hinter einem hohen, schmiedeeisernen Tor lag.
»Das ist sein Firmensitz«, sagte der Fahrer. Ich stieg ab und zahlte.
Vor dem Tor warteten sieben Männer und zwei Frauen. An den eisernen Gitterstäben lehnte mit dem Rücken zu ihnen ein Wachposten in militärgrüner Uniform. Auf dem Grundstück standen aufgereiht fünf Jeeps mit Uniformierten am Steuer, an jedem Ende zwei Honda CR-V und in der Mitte ein Toyota Land Cruiser.
Eine der wartenden Frauen trat näher an das Tor heran und stellte sich direkt hinter den Wachposten.
»Bitte«, flehte sie. »Bitte, ich bin den ganzen weiten Weg aus Orlu gekommen. Ich kann nicht zurück, ohne ihn zu sehen.«
Der Wachposten ignorierte sie.
»Bei mir wird’s überhaupt nicht lange dauern«, bettelte einer der Männer. »Bloß fünf Minuten. Ich und Cash Daddy waren Klassenkameraden. Er erkennt mich bestimmt, wenn er mein Gesicht sieht.«
Der Wachposten rührte sich nicht.
»Mein Bruder«, beschwor ihn die zweite Frau, wobei sie die Hände durch die Stäbe streckte und den Wachposten vorsichtig an der Schulter berührte. »Mein Bruder, bitte, ich habe –«
Der Wachposten drehte sich ruckartig um.
»Verschwindet, alle miteinander, und hört auf, mich zu belästigen!«, befahl er barsch. »Cash Daddy kann euch nicht empfangen!«
Er wollte sich schon wieder abwenden, da trat ich vor.
»Entschuldigung«, sagte ich.
»Was ist los?«
»Guten Tag. Bitte, ich würde gern mit Mister Boniface Mbamalu sprechen.«
Der Plebejer genoss sein bisschen Autorität sichtlich. Er rümpfte die Nase und kniff die Augen zusammen, als inspizierte er einen Rotzfleck auf dem Pflaster.
»Wen?«
»Mister Boniface Mbamalu. Ich bin der Sohn seiner Schwester.«
»Cash Daddy?«
»Ja.«
Er musterte mich von oben bis unten.
»Hast du einen Termin?«
»Nein, Sir, habe ich nicht. Aber ich bin der So…«
Plötzlich entstand Unruhe. Der Wachposten vergaß, dass ich dort stand, und beeilte sich, das Tor zu entriegeln. Die Motoren der fünf Jeeps sprangen gleichzeitig an. Ich wandte mich dem Eingang des Bungalows zu und erkannte die Ursache für die Unruhe. Onkel Boniface, genannt Cash Daddy, war im Aufbruch.
Wie meine Mutter war auch Onkel Boniface hochgewachsen. Doch da er inzwischen überall aufgequollen war, wirkte der Abstand zwischen Kopf und Füßen kürzer. Er trug eine Sonnenbrille, die fast das halbe Gesicht bedeckte. Sein Bauch beulte das cremeweiße Leinenhemd aus, das er unter einer eleganten grauen Jacke trug. Mit jedem energischen Aufsetzen seiner Krokodillederschuhe schwenkte er sein fülliges Hinterteil, den Blick starr geradeaus, erfüllt von der eigenen Wichtigkeit. Das Glück war ihm ganz offenbar hold gewesen.
Fünf Männer in dunklen Anzügen und mit Sonnenbrillen auf der Nase eskortierten ihn. Zwei gingen vor ihm, zwei hinter ihm, einer neben ihm. Als sie sich dem Wagen näherten, stürzte der Mann neben ihm vor, um die Hintertür des Land Cruiser aufzureißen. Onkel Boniface wuchtete seine Leibesfülle durch die offene Tür und setzte sich umständlich zurecht. Der Türöffner setzte sich nach vorn auf den Beifahrersitz, während die übrigen vier Männer in die CR-V sprangen. Nun rollte der Konvoi durch das sperrangelweit geöffnete Tor. Jeder Wagen hatte ein persönliches Kennzeichen. Der Land Cruiser hatte Cash Daddy 1, dann kam der erste CR-V mit Cash Daddy 2, der zweite mit Cash Daddy 3 und so weiter. Ich betrachtete die Parade mit ehrfürchtigem Staunen.
Schlagartig, als ob ein einziger Fahrer alle fünf Fahrzeuge lenkte, blieb der Konvoi unmittelbar hinter dem Tor stehen. Die getönte Scheibe des mittleren Jeeps glitt hinunter. Onkel Boniface steckte den Kopf heraus. Er blickte zum Tor zurück, zeigte auf mich und schrie.
»Obinna! Lass den Jungen rein und drinnen auf mich warten! Sofort!«
»Ja, Sir! Okay, Sir!«, erwiderte der Torsteher.
Die anderen Wartenden stürzten auf den Wagen zu. Cash Daddys Konvoi sauste davon.
Im Innern des Hauptgebäudes malmte die Rezeptionistin mit wilden Mundbewegungen Kaugummi, als ob sie drei Zungen hätte.
»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte sie und öffnete einen riesigen Kühlschrank. »Möchten Sie etwas trinken?«
Ich besah mir das Getränkesortiment des bis zum Allerletzten gefüllten Kühlschranks.
»Nein, danke«, antwortete ich. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich aus einem Haushalt kam, in dem einem derartige Genüsse nicht zur Verfügung standen.
Mit mir warteten vier junge Frauen und drei Männer, alle mit diesem oder jenem Getränk auf einem Hocker neben sich. Ein Mann schüttete eine Dose Heineken in sich hinein, während seine Augen an dem breiten Fernsehbildschirm klebten, der fast die halbe Wand gegenüber einnahm. Der Fernseher war auf MTV gestellt. Ein paar Männer, von der eingeblendeten Schrift als Outkast bezeichnet, machten Radau. Trotz des Kaugummibrockens in ihrem Mund lärmte die Rezeptionistin mit. Unglaublicherweise schien sie den kompletten Text auswendig zu kennen.
Bald kündigte ein neuer Ausbruch von Unruhe die Rückkehr des großen Cash Daddy an. Kaum hatte er den Raum betreten, zauberte einer der Männer im dunklen Anzug von irgendwo ein Tuch her und fing an, Cash Daddys Schuhe zu wienern. Onkel Boniface nutzte die kurze Pause, um die Wartenden in Augenschein zu nehmen. Er sah den Bier trinkenden Mann und zog ein finsteres Gesicht.
»Was machst du noch hier? War ich mit dir nicht fertig?« Der Mann stand auf und trat auf ihn zu. Onkel Boniface wandte sich ab und deutete auf eine der jungen Frauen.
»Komm«, sagte er.
Sie stand affektiert auf und stöckelte hinter ihm her. Mein Onkel brauste durch eine Flügeltür, die tiefer in seine Büroräume hineinführte. Auf dem Rücken seiner Jacke prangte in fetten Goldbuchstaben Field Marshal. Ohne sich umzudrehen oder an jemand Bestimmten zu wenden, schrie er: »Schafft diesen Mann raus! Sofort!«
Augenblicklich wurden drei der dunklen Geleitschützer tätig. Auf dem Weg nach draußen fiel dem Mann gerade noch rechtzeitig ein, sich sein Heineken zu schnappen und es mitzunehmen.