Freunde und andere Herausforderungen

  1. Alte Freunde aktivieren
  2. Mindestens einen neuen Freund/eine neue Freundin finden
  3. Mich von jemandem trennen, der mir nicht guttut

Eckart von Hirschhausen schreibt in seinem Buch Glück kommt selten allein: »Wenn ich nur eine Idee aus der ganzen Recherche über Glück auf eine einsame Insel mitnehmen dürfte: Ich würde die Idee zu Hause lassen und einen Freund mitnehmen. Freunde sind die größten Glücksbringer!«

»Freunde sind wichtig fürs Glück« – das hat man als Halbwissen irgendwo hinter »Spinat hat gar nicht so viel Eisen« abgespeichert. Außerdem sind Freunde gut für die Gesundheit: In der Zeitschrift Psychologie Heute wird der amerikanische Psychologe Edward Hoffman zitiert: »Es ist vor allem die Vertrautheit, sich mit jemandem aussprechen zu können. Menschen, die mindestens einen solchen Ansprechpartner haben, weisen einen weitaus besseren Gesundheitszustand auf als Eigenbrötler. Sie sind weniger von chronischen Krankheiten betroffen wie hohem Blutdruck, Asthma oder Herzproblemen. Auch leiden sie seltener an Depressionen und Ängsten. Die Beziehung zu einem vertrauten Menschen verlängert das Leben von Frauen durchschnittlich um vier, das von Männern sogar um fünf Jahre …«

Vier Jahre gleich. Na, denn.

Eine Inventur

»Wie viele Freunde habe ich überhaupt?«, frage ich mich und zucke ein bisschen vor der Frage zurück: Schließlich gilt, wer nicht über eine stattliche Anzahl von Freunden verfügt, als asozial, ausgestoßen und unattraktiv. Gibt es etwas Schlimmeres, als sagen zu müssen: Ich habe keine Freunde? Als Mann kann man ja wenigstens ein »einsamer Wolf« sein, aber eine einsame Wölfin? Gut, ich bin keine einsame Wölfin, das wäre übertrieben. Aber ich habe keinen Freundeskreis. Eher ein Freundesdreieck. Und das ist eine ziemlich magere Veranstaltung. Deswegen irritieren mich auch diese Reality-Dokus im Fernsehen, in denen Häuser umgebaut werden: Da kommen die Eigentümer nach der Renovierung zurück und vor der Türe stehen Hunderte von Freunden und Bekannten. Das macht mich fertig. Kann mir jemand sagen, dass die nicht echt sind? Vielleicht kommt es auch nur darauf an, wie man Freundschaft definiert. Joachim Kaiser, ein großer Gelehrter der Geisteswissenschaften, hat in einem Interview gesagt: »Sie können sich, wahrscheinlich erfolglos, selbst mit 90 noch Hals über Kopf verlieben. Freundschaft aber ist ein menschliches Glück, das sehr viel Zeit braucht. Man muss miteinander verdammt viele Scheffel Salz gegessen haben, man muss Erfahrungen gemacht haben, man muss sich auch mal gestritten haben, man muss ein bisschen aneinander gelitten haben, man muss voneinander gelernt haben. Das macht Freundschaft aus.«

Demnach tue ich mich ziemlich leicht beim Zählen, mein Freundeskreis besteht nämlich aus zwei Personen. Plus vielleicht L., den könnte man noch dazurechnen, denn wir haben weiß Gott schon oft miteinander gestritten. Drum herum tummeln sich noch einige Menschen in der Nähe des Freundchen-Status wie Teenager um eine Dorfbushaltestelle, manche näher, manche weiter entfernt. Eine meiner zwei Freundinnen ist Anne. Meine Freundin mit dem Eso-Fimmel. Würde ich Anne heute kennenlernen – ich würde sie nicht zweimal treffen. Mir geht die Eso-Nummer bei allen anderen Leuten außer Anne auf die Nerven. Warum bei ihr nicht?

Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, ihr Innerstes zu kennen. Der Mensch, der sie ist, ihre Natur. Und die ist wunderbar – da kann sie noch so viele energiegeladene Pullis drüberziehen, ich werde durch sie hindurch immer Anne sehen und nicht die Eso-Tante. Ist das das Besondere an alten Freundschaften? Dass man die Menschen kennengelernt hat, bevor sie sich hundert selbst gestrickte Pullis überwerfen und von ihnen selbst nichts mehr zu erkennen ist? Bevor sie anfangen, anderen etwas vorzumachen, das dann mit der Zeit selbst glauben und sich dadurch verlieren? Bin ich nur zu faul, den einen oder anderen Freund zu ent-decken? Zu uninteressiert? Oder ist es mir einfach zu aufwendig? Ich frage Anne, was sie meint. »Ich denke, das liegt an deinem Sternzeichen.« Ach, Anne.

Andere Jugendfreundschaften gingen langsam auseinander. So langsam, dass der Trennungsschmerz zu verwinden war, aber ebenso endgültig. An sie erinnere ich mich fast wie an vergangene Liebesbeziehungen: Schön war es mit euch, ich werde euch nicht vergessen. Zumindest habe ich mich so an sie erinnert, bis Stayfriends, Facebook und Xing auf der Internetfläche erschienen sind. Da war es dann vorbei mit der Romantik. Klassentreffen konnte man noch meiden, wenn man nicht zu neugierig war. Weil dort eh nur diejenigen anzutreffen sind, an die man sich damals schon nicht erinnern konnte. Die interessanten Leute kreuzen nie bei Klassentreffen auf, das ist ein Gesetz. Und wenn man selbst dort sitzt und sich die Leben der anderen in Echtzeit anhört (mein Haus, meine Kinder, meine Riesterrente), betrinkt man sich nur und macht dann selbst mit (mein Übergewicht, mein Beziehungsmalheur, mein Karriereknick). Dank der Internetplattformen kann man dem nicht mehr ausweichen. Man meldet sich an, weil man irgendwie schon immer wissen wollte, was aus dem großen Schwarm aus der Parallelklasse geworden ist, und dann ist man eigentlich schon geliefert. Es melden sich all jene, mit denen man aus gutem Grund nicht in Kontakt geblieben ist, und außerdem alle Exfreunde, die wissen wollen, wie man jetzt so aussieht und ob sie was verpasst haben. Ich persönlich habe zumindest alle Exfreunde abgeklappert, um zu sehen, wie sie jetzt aussehen und ob ich etwas verpasst habe. Das Schwierige ist dann, den E-Mail-Kontakt souverän wieder ausklingen zu lassen. Die Mehrheit sieht ungefähr so aus:

Von:

ernstkneese23@yahoo.de

Betreff:

Alex?

Datum:

30. März 2009 13:45:38

An:

alexreinwarth@yahoo.de

Hi Alex!

Das ist ja Wahnsinn, dass ich dich hier finde. Wie geht’s dir? Was ist aus dir geworden? Ich bin nach blabla gezogen und habe geheiratet. Ich arbeite blabla und habe bis vor Kurzem als blabla gearbeitet. Blabla. Anbei ein paar Blabla-Bilder.

Lass was von dir hören,

Liebe Grüße, Ernst

Die nächste Mail ist dann:

Von:

ernstkneese23@yahoo.de

Betreff:

Re: Re: Alex?

Datum:

12. April 2009 18:24:12

An:

alexreinwarth@yahoo.de

Hi Alex!

Hast du eigentlich meine letzte Mail mit den Bildern erhalten?

Grüße, Ernst

Und dann:

Von:

ernstkneese23@yahoo.de

Betreff:

Re: Re: Alex?

Datum:

21. Mai 2009 18:24:12

An:

alexreinwarth@yahoo.de

Hi Alex,

danke für die Antwort. Schön, dass es jetzt nicht mehr so kalt ist, nicht?

Grüße, Ernst

Da ist dann die ganze Erinnerung an die schöne Schulzeit mit dem Ernst versaut. So weit zu den alten Freunden. Magere Bilanz, finden Sie? Ich auch. Zwei Schulfreunde fallen mir aber aus dem Stand ein, die würde ich wahnsinnig gerne wiedersehen: Charlotte und Tobias.

Alte Freunde aktivieren

Charlotte war meine Banknachbarin in der Sekundarstufe. Meine Charly! Mein schlechter Einfluss, wie meine Mutter sie auch wenig liebevoll nannte. Charly und ich galten über Jahre hinweg als siamesische Zwillinge, weil wir einander nicht von der Seite wichen. Wir machten alle Beste-Freundinnen-Dinge:

  • Uns als Schwestern ausgeben,
  • Die erste gemeinsame Zigarette rauchen,
  • Busenwachstum vergleichen,
  • Knutschflecke am Unterarm üben,
  • Zusammen Dirty Dancing gucken,
  • Zusammen Dirty Dancing üben,
  • Sich schminken, bis man aussieht wie Pogo der Clown.

Charly war saufrech, verrückt nach Nougat-Schokolade und hatte immer viel zu weite Klamotten an, die sie von ihren Schwestern auftragen musste. Mit ihr verbrachte ich die Freistunden im Park und die Sommer im Freibad. Mit ihr und: Tobias.

Tobias war mein erster »richtiger« Freund. »Richtig« im Sinne von »wir gingen miteinander«, nicht im Sinne von »zügelloser Sex«. Mit ihm hielt ich zum ersten Mal Händchen und von ihm bekam ich auch meinen ersten Kuss. Tobias lag mit uns auf dem Handtuch im Freibad und holte uns Pommes und Eis. Charly, Tobias und mich verband eine Kinderfreundschaft, die sich unbeeindruckt zeigte von romantischen Gefühlen. Alles war wunderbar, bis ich mich in einen Dummkopf aus der Oberstufe verknallte. Warum wir uns aus den Augen verloren, weiß ich gar nicht mehr genau. Ich glaube, zum einen war mein Schulwechsel daran schuld, zum anderen verliebte sich Charly in der 7. Klasse in Tom. Und obwohl ich ihr das Glück von Herzen gönnte, stand ich Tom kritisch gegenüber, er war nämlich ein Arschloch. Da ich ihm gegenüber so vorbehalten war, vertraute sich Charly mir nicht mehr an wie früher. Sie behielt ihre Ängste für sich und ihre Hoffnung auch. Wir waren keine Schwestern mehr. Und auch Tobias verschwand langsam und unbemerkt aus meinem Blickfeld. Charly und Tobias würde ich wirklich gerne wiedersehen. Und wissen Sie, was? Das mache ich. Charly zu finden, ist leichter, als ich dachte. Sie ist wissenschaftliche Assistentin an einer Uni in Norddeutschland mit zugehöriger Mailadresse und ich schreibe ihr, in der Hoffnung, dass sie

  • überhaupt antwortet,
  • nicht antwortet: Alex? Welche Alex?

Charly antwortet noch am gleichen Nachmittag. Wo ich denn so lange gesteckt hätte? Wir schreiben hin und her, tauschen Fakten und Ist-Stände aus. Und natürlich auch ein Foto. Sieht eigentlich aus wie immer, nur in älter. Was aus Tobias geworden ist, frage ich sie.

»Lustig, dass du fragst«, schreibt sie. »Ich fliege nämlich in zwei Wochen nach Kairo, ihn besuchen. Kommst du mit?«

Tobias hat einen von diesen Berufen ergriffen, bei denen man einen Anzug tragen muss und für Projekte ein halbes Jahr nach hierhin oder nach dorthin gehen muss. Irgendwas mit Software, fragen Sie mich nicht. Die beiden blieben all die Jahre in freundschaftlichem Kontakt, telefonieren mindestens einmal die Woche und besuchen sich regelmäßig. Hätte sie gesagt: »Komm doch nach Hamburg für ein Wochenende«, hätte ich keine Sekunde gezögert. Aber Kairo? Da fliegt man ja auch nicht eben für zwei Tage hin – ich muss überlegen. Und Charly muss noch Tobias fragen, wie er die Idee findet, schließlich würden wir uns bei ihm einquartieren. Charly meinte zwar »Schnickschnack«, aber ich bestehe darauf.

»Was hältst du davon?«, frage ich am Abend L., der die beiden nur aus Erzählungen kennt. L. wackelt mit dem Kopf »Na ja«, überlegt er, »könnte toll werden oder eine totale Katastrophe«, und das ist genau das, was ich mir auch gedacht habe. Es ist eigenartig, dass L. die zwei nicht kennt, während ich eigentlich das Gefühl habe, L. kennt alles von mir. An diesem Abend erzählen wir uns von unserer Schulzeit. Es ist schön, dem anderen etwas von sich erzählen zu können, das er noch nicht weiß, und wir fühlen uns allmählich wie aufgekratzte Teenager, albern herum und sind froh, dass uns niemand schimpft, als wir betrunken und sauspät ins Bett fallen.

Am nächsten Morgen blinkt es schon im Posteingang der Mailbox. Charly. Sie hat mit Tobias gesprochen, der hält die Idee für grandios, ich soll mitkommen. Als ich im Internet ein echtes Spitzenangebot für einen Flug entdecke, gehe ich beim Onlinekauf bis vor den letzten Bestätigen-Klick. Über der Entertaste hängt mein Zeigefinger in der Luft. Will ich wirklich eine Woche mit zwei Menschen verbringen, die ich seit über 20 Jahren nicht gesehen habe? Was, wenn die beiden sich zu völligen Knallköpfen entwickelt haben? Oder plötzlich ärmellose Jeansjacken tragen? Oder wir uns einfach nichts zu sagen haben? Bevor mir noch 100 Szenarien einfallen, denke ich an meinen neuen Vorsatz Nicht ständig schwarzsehen und drücke die Entertaste. Diese kleine Bewegung meines Zeigefingers wird mich in zwei Wochen sehr weit weg befördern, ich finde das immer noch unglaublich. Danach sitze ich ganz still und mir ist ein bisschen feierlich zumute. Der Computer ist sich des großen Moments nicht bewusst und macht einfach nur »Pling«.

An den Tagen vor dem Abflug verfolgt mich eine Vorstellung von Charly und Tobias, wie sie am Flughafen in Kairo nebeneinanderstehen, um mich abzuholen. Beide in ärmellosen Jeansjacken, Tobias mit einem Bierbauch über kurzen Hosen und rot gebrannt, Charly mit offenem Mund Kaugummi kauend. Ich kann dann immer noch sagen, ich habe Migräne, überlege ich. Die bekannte Ein-Wochen-Migräne. Da muss man alleine in einem klimatisierten Zimmer liegen und darf nicht gestört werden. Ja, das könnte gehen.

Als ich in Kairo meinen Koffer vom Band nehme und auf die Türe zugehe, hinter der die Abholer warten, bekomme ich feuchte Hände. Ich war noch auf der Toilette und habe mich mithilfe von Kajal und Wimperntusche so hübsch gemacht, wie es die Reise zulässt. Ich habe mich vor meinem Abflug zehnmal umgezogen, damit ich gleichzeitig umwerfend gut aussehe, ohne dass es so wirkt, als hätte ich mich dafür zehnmal umgezogen. Ich habe während der Landung ein Tic-Tac für frischen Atem in meinem Mund zergehen lassen. Mehr kann ich jetzt auch nicht machen, denke ich und gehe durch die Automatiktüre nach draußen. Nach zwei, drei Schritten bleibe ich stehen, denn der beste Platz, um jemanden zu entdecken, der einen abholen will, ist direkt nach der Türe. Es ist aber auch gleichzeitig der unangenehmste Platz, weil man im Mittelpunkt von 100 Blicken steht, die alle auf jemanden warten. Ich halte das maximal 5 Sekunden lang aus. Und da entdecke ich Tobias, der allein schon wegen seiner Körpergröße aus der Menge heraussticht. Gott, ist der groß geworden, schießt es mir durch den Kopf. Und dann: Klingt wie die alte Tante Hanni in meiner Kindheit, und dann: Völlig unangemessen, jetzt an Tante Hanni zu denken. Gott sei Dank erlöst mich Tobias aus meinen Gedanken, indem er mich in den Arm nimmt. »Hallo, Alex.« Diese Stimme kenne ich noch ein paar Töne höher. Dann stehen wir voreinander und betrachten uns, wie man ein seltenes Tier betrachtet. Er trägt natürlich keine ärmellose Jeansjacke. Tobias kommt aus der Arbeit und trägt einen Anzug, ein blaues Hemd, eine Krawatte und eine Brille – so eine ähnliche hatte er mit zwölf auch schon. Er sieht aus wie einer dieser Geschäftsmänner, die in Abflughallen von Flughäfen wohnen. Nur dass dieser hier eine kleine Narbe auf der Wange hat, von der ich weiß, dass sie von einem Fahrradsturz stammt. Und wie er aussah, als er dachte, er müsse deswegen sterben, das weiß ich auch – ich war nämlich dabei. Und dieser Schalk, der ihm aus den Augen blitzt, den sieht das ungeübte Auge auch nicht ohne Weiteres. Ich kann mich auch an seinen Liebesbrief von damals erinnern und daran, dass er »Hertz« mit »tz« geschrieben hat. Es ist wie eine optische Täuschung – er sieht zwar aus wie alle anderen Businesstypen, er hat bestimmt Meetings und leitet Projekte und isst Geschäftsessen, aber darunter ist er nur Tobias. »Du siehst aus wie immer«, sage ich, und Tobias sagt im selben Augenblick genau das Gleiche. Wir lachen und er bietet mir seinen Arm an, »Komm, Charly kauft gerade da hinten ein Eis.« Charly kommt uns entgegen, sie winkt mit drei Eis und strahlt übers ganze Gesicht. »Da bist du ja«, sagt sie und drückt mich an sich und an die Vanillekugeln. Als wir später mit einer Flasche Weißwein auf einem Lager aus Teppichen und Liegekissen auf Tobias’ Dachterrasse sitzen, uns unterhalten und in die Sterne gucken, ist es, als hätte es die letzten 20 Jahre nicht gegeben. Ich fühle mich wohl und frei, denn ich bin bei Menschen, die mich gut kennen, und zwar so, wie ich wirklich bin. (Und mich trotzdem mögen.) Ich hätte mich gar nicht so oft umziehen müssen. Ich hätte auch im Dirndl oder in ärmelloser Jeansjacke kommen können. Das ist nämlich tatsächlich das Besondere an alten Freunden: Sie schauen durch alle Verkleidungen hindurch. Diese Woche wird super. Das spüre ich.

Mindestens einen neuEn Freund/in finden

Meine Bilanz an Neuen Freunden ist nicht das, was man unübersichtlich nennen kann, das habe ich an einem Finger abgezählt: Jana. Jana lernte ich während des Studiums kennen, sie fiel mir gleich am ersten Tag auf, sie trug nämlich ein T-Shirt mit der Aufschrift »Andere Länder, andere Titten«. Wir verstanden uns auf Anhieb. Während der Jahre kamen immer mal wieder neue Freunde hinzu, aber sie gingen auch wieder. Wie durch eine Eingangs- und Ausgangstür. Geblieben ist Jana. Ich bin mir sicher, dass es da draußen noch mehr Menschen gibt, mit denen ich befreundet sein könnte. Vielleicht ist es die Trägheit, die mich daran hindert, neue Menschen zu entdecken. Schließlich bedeuten Freunde auch Aufwand – ich habe manchmal das Gefühl, ich bin mit Jana und Anne schon ziemlich ausgelastet, was meine freundschaftlichen Kapazitäten angeht. Aber eine/n neue/n Freund/in will ich mir suchen, das kann nicht so schwer sein!

Nur wo bekommt man neue Freunde her? Im Internet gibt es unzählige Portale, die auf Freunde- oder Partnersuche spezialisiert sind. Aber ich habe keine Lust auf chatten. Es ist in jedem Chat mit mehreren Leuten das Gleiche: Man kann darauf warten, bis der Erste beleidigend wird, weil ihm was gegen den Strich geht. Gibt es schon einen Begriff für diese Zeitspanne? Bis der Erste in einem Chat »Arschloch« sagt? Das Internet ist zum Freundefinden durchgefallen. Also wo soll ich suchen? Egal, Hauptsache, in der Nähe, ist die Schlussfolgerung einer Untersuchung, die der Sozialpsychologe Leon Festinger 1950 in einem Studentenwohnheim anstellte. Dabei kam heraus, dass sich Freundschaften hauptsächlich zu den näheren Zimmernachbarn entwickelten. Je näher, desto Freund. Mit jeder dazwischenliegenden Tür wächst die Unwahrscheinlichkeit einer Freundschaft seiner zugehörigen Bewohner. Zu einem ähnlichen Schluss kamen Psychologen der Universität Leipzig, die im Rahmen einer Studie neue Studenten vor der ersten Vorlesung abfingen und ihnen per Los Sitzplätze im Hörsaal zuteilten. Nach einem Jahr wurden die Studenten über ihre Freundschaften zu den Kommilitonen befragt und es stellte sich heraus, dass sie mit jenen besser befreundet waren, neben denen sie in der ersten Stunde gesessen hatten. Sogar mit denen, die nur in der gleichen Reihe saßen, waren sie mehr verbunden als mit den anderen. Erstaunlich, oder? Da meinen wir immer, wir suchen unsere Freunde aus, weil sie uns ähnlich sind oder uns ergänzen oder toll sind, und sehen die Tatsache, dass sie damals in der Uni neben uns saßen, als glückliche Fügung an – derweilen haben wir sie nur ausgesucht, weil sie eben da saßen. Und die sogenannte Realität gibt den Experten recht: Die meisten Leute finden ihre Partner und ihre Freunde dort, wo sie viel Zeit verbringen – in der Arbeit.

So ein Scheiß, denke ich am nächsten Tag, als ich in der Agentur an meinem Schreibtisch sitze und mir gegenüber die Drösel mit einem »Halli-Hallöchen!« Platz nimmt. Da muss es andere Wege geben.

Einem Verein beizutreten, heißt es, wäre eine Möglichkeit. Nachteil: Man lernt nur Vereinsmeier kennen. Einen Hund soll ich mir anschaffen – ich habe einen Schmitz, der zählt durchaus als Hund. Aber mit den Leuten, die ich durch Schmitz kennenlerne, spreche ich selten über etwas anderes als über Kauknochen und Wurmkuren. Von den meisten kenne ich nicht mal den Namen, die tragen alle Adelstitel: das Frauchen von oder das Herrchen von. Auch mit organisiertem Kennenlernen habe ich keine guten Erfahrungen gemacht: Auf einer großen Hochzeitsfeier verteilten die Brautleute Namensschilder für alle Gäste, darunter stand dann jeweils ein »lustiger« Spruch, den sie sich einfallen hatten lassen. Damit die Leute leichter miteinander ins Gespräch kämen. Unter meinem Namen stand »Miss Sex«, ich hatte nämlich kurz zuvor ein Buch mit ebendiesem Titel veröffentlicht. Fragen Sie nicht, was ich da für Leute kennengelernt habe …

»L.? Wo finde ich neue Freunde?«, frage ich ihn und L. sieht mich verwundert an: »Wieso? Sind dir welche kaputtgegangen?« Mit Männern über Freundschaften zu sprechen, ist völlig sinnlos. Da steige ich nicht durch. Wenn L. seinen besten Freund Sven trifft, können die stundenlang einfach nichts machen. Auch wenn sie sich nur zweimal im Jahr sehen. Die mailen sich auch nicht zwischendurch oder telefonieren. Wenn ich L. frage, wie es Sven geht, ob er noch mit Laila glücklich ist, ob ihm sein Job Spaß macht, ob eigentlich seine Eltern noch leben, sieht mich L. an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Er hat nämlich den Leitsatz aller Männerfreundschaften verinnerlicht:

Solange dein Freund nichts Gegenteiliges sagt, ist alles in Ordnung.

L. macht sich nur Sorgen, wenn Sven anruft. Dann ist etwas passiert. Meldet er sich für einen Besuch außer der Reihe an, stellt L. schon mal das Bier kalt, denn dann muss es wirklich schlimm sein. Nicht, dass sie dann die ganze Nacht das Problem wälzen würden – Sven stellt die Sachlage dar und dann betrinken sie sich, gelegentlich wird geseufzt. Wie gesagt, ich steige da nicht durch.

Am nächsten Tag unterhalte ich mich mit Lena, der Praktikantin, vor unserer Kaffeemaschine. »Lena, wie findet man neue Freunde?« Lena sieht mich erschrocken an. Vermutlich stellt sie mich in Gedanken gerade ihren superhippen Retro-Acid-Techno-Shakalak-Kollegen vor, aber ich kann sie da beruhigen. »Nur aus Interesse«, und sie entspannt sich etwas. »Keine Ahnung«, überlegt sie. »Vielleicht wenn man authentisch ist? Ehrlich? Und offen für andere Leute?«

Hm – das erinnert mich an meine Zugfahrten als Kind und Jugendliche. Ich war eines von diesen Kindern, die jedes zweite Wochenende einen Elternteil in einer anderen Stadt besuchten. Nicht, dass das weiter schlimm gewesen wäre, nur die zweistündige Fahrt war manchmal langweilig. Ich unterhielt mich dann immer mit den Menschen in meinem Abteil. Anfangs machte ich mir einen Spaß daraus, irgendwelche Geschichten zu erfinden. Mal war ich eine arme Waise, dann die Tochter eines Rockstars, die am Wochenende die tourende Mutter besuchte. Ich fuhr als Hochbegabte zu einem Wettbewerb oder als Spenderin einer seltenen Blutgruppe zu den verschiedensten Krankenhäusern. Ich war außerdem Veganerin und litt unter mehreren todbringenden Krankheiten. Meine Mitfahrer hatten es auch nicht immer leicht.

Mit der Zeit wurde mir das zu eintönig und ich entdeckte etwas viel Spannenderes: Da ich erzählen konnte, was ich wollte, konnte ich auch einfach die Wahrheit sagen! Das war wesentlich aufregender und es hatte einen erstaunlichen Effekt: Meine Gegenüber wurden auch gesprächig. Vermutlich, weil wir nach zwei Stunden wieder auseinandergingen und uns aller Voraussicht nach nie wieder sehen würden, tauschte ich in diversen Zugabteilen mit Leuten, deren Namen ich meist nicht mal kannte, Geheimnisse, Wünsche und Sorgen aus. Das war toll. Wenn man sich nun traut, so zu Leuten zu sein, die man immer wieder trifft …?

»Du hast was?« L. sieht mich mit großen Augen an. »Habe ich mich verhört?« Nein, hat er nicht. Ich habe die Drösel zu uns nach Hause eingeladen. Während L. sich in einer Art Schockstarre befindet, zweifle ich an der Weisheit meiner Entscheidung. L. fängt sich und bohrt nach: »Die Doof-Drösel? Die Frau Hummeldumm? Die, von der du immer sagst, du bekommst Nasenkrebs, wenn du ihr Parfüm riechst?« Er hat ja recht. Ich bin mitunter in meiner Ablehnung wenig liebreizend im Ausdruck. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat, sie einzuladen, da muss irgendein buddhistischer Gaul mit mir durchgegangen sein. Irgendwie war ich so beschwingt von meiner Erinnerung an die Zugfahrten, dass ich dachte: Hey, wenn das mit irgendwelchen Mitreisenden ging, dann geht das mit jemand anderem auch. Und just in diesem Moment kam die Drösel zur Tür rein …

L. drückt sich und verschwindet an diesem Abend zum Sport, ich sitze auf dem Sofa und warte auf die Drösel. Kennen Sie so Momente, wo man sich mit der flachen Hand an die Stirn haut und sich 100 Mal vorsagt: »Was bin ich nur für ein Vollidiot?« Dabei stört mich die Türklingel. Das muss sie sein. Anstatt mich tot zu stellen oder zu sagen, ich hätte überraschend die bekannte Ein-Wochen-Migräne bekommen, bitte ich sie herein und nehme ihr die Jacke ab. Steif wie zwei Zinnsoldaten stehen wir im Flur herum und wissen beide nicht, was wir sagen sollen. Die Drösel macht den Anfang: »Hier«, sagt sie vorsichtig und hält mir eine Flasche Cava hin. »Äh, danke«, antworte ich und kratze mich als Übersprungshandlung am Kopf. »Komm doch rein.« Während ich die Flasche öffne und uns eingieße, rudern wir in der Küche um unsere jeweilige Verlegenheit herum. Sie hält mir ihr Glas hin: »Na dann, Prösterchen«, und wir stoßen zaghaft an und sehen uns beim Nippen in die Augen. Wie zwei Gladiatoren: nur nicht den Feind aus den Augen lassen, denke ich.

»Ich wollte immer schon mal deine Wohnung sehen«, sagt die Drösel plötzlich, und da bin ich baff. »Warum das denn?«, frage ich und sehe mich reflexartig gleich selbst um. »Weil du so kreativ bist, da war ich einfach neugierig, wie es bei dir aussieht.«

Sie findet mich kreativ? »Ach, findest du?« Ich schenke uns gleich noch ein Glas ein. »Ja«, sagt sie, »das bin ich leider überhaupt nicht.«

Stille.

Ich halte ihr mein Glas entgegen: »Dafür kannst du besser mit Leuten umgehen, da stelle ich mich an wie eine Autistin.« »Stimmt«, sagt sie lächelnd und stößt mit mir an. Ich werte das als eine Art Nichtangriffspakt. Und dann sieht sie mir über ihren Sektglasrand direkt in die Augen: »Warum hast du mich überhaupt eingeladen?« Ach herrje. Ich kann ja schlecht sagen: Weil ich mich in einem nostalgisch-euphorischen Zustand darin verstiegen habe, ich könnte sogar mit dir Freundschaft schließen. Ehrlich bleiben, denke ich und sage: »Wir arbeiten jetzt schon so lange zusammen, aber irgendwie hatten wir keinen guten Start und wir haben das auch nie ausgebessert.« Sie nickt ernst. »Stimmt.« Und schon wieder Stille. Die Einladung war ein erster Schritt, aber jetzt muss hier was vorwärtsgehen. Und dann rettet mich Schmitz, der um die Ecke biegt und ausgiebig die Drösel’schen Schuhe beschnüffelt. »Der ist aber süß«, und schon knuddelt und knautscht sie an Schmitz herum, dem das gut gefällt. »Ich habe zwei Katzen zu Hause«, erzählt sie, ohne ihren Blick von Schmitz abzuwenden. Froh, dass es um etwas anderes geht als um uns, frage ich ein bisschen nach und sie kommt in Schwung. Ich lasse mich anstecken und wir erzählen uns gegenseitig lustige Geschichten aus der Tierhalterwelt. Wie mein Hund Haschkekse gefressen hat, wie ihre Katze von der Feuerwehr vom Baum geholt werden musste und sofort nach der Rettung wieder auf den gleichen Baum gestiegen ist. Sie sieht plötzlich aus, als hätte sie ein Lifting machen lassen, das Gesicht ist gestrafft, ihre Augen glänzen und auf ihren Wangen leuchtet es gesund rot. Vor lauter Begeisterung fängt sie das Gestikulieren an, der Cava schwappt aus dem Glas und wir lachen. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen. Jetzt wage ich es: »Es tut mir leid, wie ich mich dir gegenüber benommen habe.« Ihr Gesicht wird wieder ernst, sie zieht eine Augenbraue nach oben. »Du meinst, dass du mich immer ›die Drösel‹ nennst?«

Jetzt bin ich platt. »Das weißt du?« Sie nickt langsam und ihre Augen blitzen schelmisch. »Und rate mal, wie ich dich immer genannt habe.«

»Du mich?« Das läuft mir aber langsam aus dem Ruder hier. »Wie denn?«

»Die Ente.«

Das gibt’s doch nicht. »Das gibt’s doch nicht, wieso das denn?«, frage ich und sehe auf meine Füße, ob die vielleicht einen watscheligen Eindruck machen.

»Weil du, immer wenn dir was nicht in den Kram passt, so eine Schnute machst. Wie eine Ente«, antwortet sie und wird jetzt etwas unsicher, ob ich ihr nicht vielleicht doch eine auf die Zwölf gebe. Wir sehen uns an, mucksmäuschenstill ist es und Schmitz zu unseren Füßen sieht abwechselnd von einer zur anderen.

»Quak«, mache ich und im nächsten Moment lachen wir laut los. Wenn sie lacht, sieht sie gar nicht mehr so dröselig aus.

»Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?« frage ich sie. »Eva«, sagt sie. Wie Eva sieht sie jetzt aus. Das ist doch ein Anfang.

Mich von Kathrin trennen

Eine Extraspalte meiner Freundesbilanz bildet Kathrin. Jana, Anne und L. können Kathrin nicht ausstehen. Ich habe sie in der Hundeschule kennengelernt, in die ich mit Schmitz ging, um ihm beizubringen, dass er sehr wohl kommen muss, wenn ich ihn rufe. Eine Sache, die er bis dato nur als eine Option unter mehreren angesehen hatte. Kathrin gehört zu diesen Leuten, die sich über alles beschweren, aber nie irgendetwas verändern. Das Leben scheint ihr permanent übel mitzuspielen, der Job ist doof, ihre Beziehung mit Jean-Claude im Eimer, die Familie wälzt alles auf sie ab, die Zukunft ist düster, sie weiß weder ein noch aus. Verstehen Sie mich nicht falsch, das geht mir haargenau so, wenn meine Tage im Anmarsch sind. Dann ist auch alles Mist. Und zwar das Leben, das Universum und der ganze Rest. Aber dann sehe ich es auch wieder positiver. Vor allem erkenne ich diesen Zustand und weiß, dass er vorbeigeht und nicht weiter ernst genommen werden muss. L. weiß das glücklicherweise inzwischen auch und geht mir wohlweislich aus dem Weg.

Kathrin jedoch befindet sich in einem konstanten Jammertal. Wäre es ihr ernst damit, könnte man vermuten, sie habe Depressionen. Mir wurde aber mit der Zeit klar, dass Kathrin mitnichten depressiv ist, sondern eine blöde Gans. Während ich mir nämlich Sorgen um sie machte, unternahm Kathrin Kreuzfahrten, gab Partys und heiratete Jean-Claude. Von da an war nicht mehr die Beziehung im Eimer, sondern die Ehe. Es passiert nie, dass ich Kathrin treffe und sie auf die Frage »Wie geht’s?« mit einem »Gut!« antwortet. Irgendwas ist immer. Und immer ist es ein Schicksalsschlag, darunter macht sie es nicht. Als sie mir das letzte Mal leid tat (»Die Ehe ist so gut wie gescheitert!«) und sie mit Jean-Claude eine Städtereise nach Venedig machte (die Idee kam von mir: damit die beiden etwas Schönes miteinander unternehmen), passte ich auf den Hund auf, goss die Pflanzen und salzte das Meerwasser-Schwimmbecken in ihrem Keller. Und das Haus von Kathrin liegt nicht um die Ecke. Das Haus von Kathrin ist außerdem sehr groß, modern und sauteuer eingerichtet. Hatte sie nicht über ihre finanzielle Not geklagt? Weil sie wegen ihrer Gutmütigkeit zu viele Ausgaben hat? Kathrin sagt von sich selbst, dass sie viel zu gut sei für diese Welt. Zum Beispiel, wenn sie einen Handwerker normal bezahlt, anstatt ihn monatelang hinzuhalten, um ihn dann mit der Hälfte abzuspeisen. So ginge das nämlich auch. Aber der hat ja vielleicht auch Familie, denke ich mir dann, sagt sie und schaut wie eine Madonna.

Als sie zurückkam, war der Trip natürlich ein Desaster, sie hatte aber tapfer das Beste draus gemacht. Jetzt war dafür ihre Mutter krank, und das sagt die dann mit einem Timbre, dass man davon ausgehen konnte, die Mama würde morgen vom Stängchen kippen. Derweilen hat die nur Kopfweh oder Wasser in der Hüfte oder was weiß denn ich.

Nach einem Treffen mit Kathrin komme ich mir immer vor, als hätte sie eine faule Frucht in meine Seelenkiste gelegt. Wie in einen Mülleimer. Warum ich sie noch nicht längst los bin? Das fragt mich L. auch immer. Zuerst war mir nicht klar, dass sie mich nur benutzt, und seit ich das weiß, gehe ich der Konfrontation mit Kathrin aus dem Weg. Aber jetzt räume ich auf. Ich mache Schluss mit Kathrin.

Haben Sie schon mal mit einer Freundin Schluss gemacht? Ich nicht. Meistens läuft es doch so, dass man sich irgendwie nicht mehr so gut versteht, sich seltener sieht und dann schläft der Kontakt sanft ein. Fertig. Der Schlag Freunde aber, die einen aussaugen wie die Blutegel, die lassen nicht los. Dazu ist man zu praktisch für sie. Mit denen muss man richtig Schluss machen. L. schlägt vor, es kurz und schmerzlos zu gestalten. »Du gehst einfach hin und sagst: ›Kathrin, du gehst mir auf die Nerven und ich will dich nicht mehr sehen‹«, dann überlegt er kurz, nickt, und hängt noch »du Sau« hintendran. Das schaffe ich im Leben nicht. Janas Vorschlag ist noch kürzer: »Die bist du mit drei Worten los. Wenn du sie das nächste Mal siehst und sie mit ihrer Mitleidsnummer anfängt, sagst du einfach: ›Kathrin – fick dich!‹ Zufrieden sieht sie mich an und schleckt ihren Milchkaffee-Löffel ab. »Gut, oder?« Nein, nicht gut. Ich kann das nicht. Nicht so jedenfalls. Mir sind Konfrontationen rasend unangenehm und ich gehe ihnen möglichst aus dem Weg. Da kann ich schon gleich dreimal nicht mit Schimpfwörtern um mich schmeißen.

Zwei Wochen lang höre ich nichts von Kathrin und ich hoffe schon, das Problem würde sich in Luft auflösen. Dann meldet sie sich. Mist. Erst berichtet sie von ihrem Hund, der »um ein Haar« gestorben wäre, dann machen wir ein Treffen aus. Ich schlage das Café Einstein vor, neutrales Gebiet, nicht zu voll und die Toilette hat ein Fluchtfenster. Nur für den Notfall. Vor unserem Treffen überlege ich, wie ich dem Gespräch aus dem Weg gehen könnte. Ich würde einfach umziehen, eine neue Telefonnummer beantragen und die Mailadresse löschen. Die Arbeitsstelle zu wechseln ist möglich, und nach einer kleinen Operation wäre auch mein Gesicht nicht mehr zu erkennen. Oder wir wandern gleich aus. Spanien vielleicht. Oder die Azoren? Zugegeben, das ist nicht ganz ohne Aufwand, aber gemessen an meinem Treffen mit Kathrin – well.

»Soll ich mitgehen?«, fragt mich L. nachdem er mit hochgezogenen Augenbrauen meine Überlegungen verfolgt hat.

»Das wäre wunderbar«, freue ich mich, »dann brauche ich ja eigentlich selbst gar nicht mehr mitgehen!«, aber daraus wird wohl nichts. Ich kann ja niemand anderen vorschicken, wir sind nicht mehr in der Grundschule. Obwohl sich Jana darum reißt, für mich hinzugehen. »Und dann sage ich ihr noch …«, und sie hält sich einen Zeigefinger an die Stirn, – »… darf man als Frau Fotze sagen?«, überlegt sie laut. Nein, das wird so nichts, da muss ich alleine durch. »Darf ich nicht wenigstens mitkommen?«, bettelt Jana, »ich setze mich auch in eine andere Ecke.« Ich überlege, ob das geht. »Und von da aus strecke ich ihr dann die Zunge raus«, freut sie sich schon. »Unter gar keinen Umständen kommst du mit«, beschließe ich und beende die Diskussion. Das ist ja lächerlich. Ich bin mit einem Miss Sex-Schild auf einer 350-Mann starken Hochzeit rumgelaufen, da werde ich doch ohne Hilfe diesen manipulativen Jammerlappen loswerden. Oder?

Für unser Treffen mache ich mich hübsch wie für ein Date. Ich schätze, da ist eine Automatik in meinem Hirn angesprungen:

1. Ein Treffen + 2. Aufregung = 3. Date! → Hübsch machen!

Im Einstein ist nicht viel los, Kathrin ist noch nicht da. Ich setze mich in einen der dunkelrot gepolsterten Samtsessel und atme tief durch. Es muss ja auch nicht dieses Mal sein, denke ich, und das ist ein beruhigender Gedanke. Kathrin kommt, wie immer, eine halbe Stunde zu spät und ist, auch wie immer, im Stress. »Sorry, aber ich musste Jean-Claude jetzt noch schnell bei der Massage abliefern, diese Betten in dem Hotel in Venedig, das du uns empfohlen hast, waren ja ka-tas-tro-phal.« Wie sie es immer schafft, dass ich ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen bekomme. Obwohl ich gerade drei Tage lang ihr Heim, ihren Hund und ihren beschissenen Pool gehütet habe. Sensationell.

»Kathrin, ich muss mit dir reden«, fange ich an und werde sofort unterbrochen: »Ja, wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen, das Schlimmste weißt du ja noch gar nicht.« Und das ist der Moment, wo so eine kleine Wut in mir hochsteigt.

»Der Mann meiner Mutter hat wahrscheinlich Krebs.« Daraufhin verschränkt sie die Arme vor der Brust, lehnt sich zurück und sieht mich erwartungsvoll an. So weit ich mich erinnern kann, konnte sie den zweiten Mann ihrer Mutter noch nie leiden. Und »wahrscheinlich Krebs« hieß bei Kathrin so viel wie »es wurde ihm vorsichtshalber eine Gewebeprobe entnommen«. Und er ist jetzt Mitte 80. Und ich kenne ihn nicht mal. Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist eine grässliche Diagnose, aber ich kann das nicht mehr ernst nehmen. Vielleicht auch wegen der Wut, die macht das Herz vorübergehend hart.

»Tja«, sage ich und sehe sie ebenfalls an. Das ist nicht die Reaktion, die sie von mir gewöhnt ist. Sie beugt sich nach vorne und rührt heftig in ihrem Kaffee. »Aber wen interessiert das schon«, seufzt sie, guckt in ihre Tasse und macht dabei wieder das Madonnen-Gesicht. Fotze, denke ich.

»Für wen hast du dich überhaupt so angemalt?«, fragt sie scheinbar interessiert, aber bevor ich antworten kann, sieht sie aus dem Fenster und redet weiter: »Ich ziehe ja den Nude-Look vor, man muss es natürlich aber auch tragen können …«, und während sie weiterredet, sehe ich uns beide von oben im Café Einstein sitzen, als wäre ich eine Kamera und sähe auf uns herab. Und da ist sie wieder, die Wut von gerade eben. Ich will sie mir zunutze machen. Normalerweise legt Wut das Mitgefühl und die Empfindsamkeit kurz auf Eis und dann sage ich unter Umständen etwas Verletzendes, das mir hinterher leidtut. Jetzt aber kann ich die kurze, innere Eiszeit dazu verwenden, Kathrin etwas zu sagen, das ich sonst nicht übers Herz bringen würde.

»Kathrin?«, unterbreche ich sie und sie sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ja?«

»Fick dich.«