du ebenso wie ich.«
Huttunen nahm all seinen Mut zusammen und wider sprach Jesus:
»Aber in meinem Fall geht es wohl etwas zu weit! Die-se verdammte Jagd dauert nun bald ein halbes Jahr! Seit Wochen muß ich da draußen in der Einöde frieren, und vorher mußte ich in Oulu in der Klinik hocken… Täte es nicht auch weniger?«
Jesus nickte teilnahmsvoll. Aber dann wies er auf seine eigenen Lebenserfahrungen hin:
»Deine Schwierigkeiten sind klein, Huttunen, im Ver gleich zu dem, was die Menschen mir seinerzeit anta-ten.«
Christi Miene verfinsterte sich, als er zurückdachte. »Mein Leben lang wurde ich verfolgt… und schließlich
lebendig ans Kreuz genagelt. Da hatte ich etwas auszu stehen, Huttunen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie furchtbar weh es tut, wenn einem fünfzöllige Kupfernä gel durch Hände und Füße geschlagen werden. Man drückte mir einen Dornenkranz auf die Stirn und richte te das Kreuz auf. Am schlimmsten war das Hängen. Kein Mensch, der nicht selbst am Kreuz gehangen hat, kann sich die Qualen vorstellen.«
Jesus sah Huttunen ernst an.
»Ich bin ein Mann, der in seinem Leben viel gelitten hat.« Huttunen wandte den Blick ab und spielte verlegen mit der Streichholzschachtel. Er wußte nicht recht, was er Jesus antworten sollte. Dieser fuhr fort:
»Aber wenn du, Huttunen, ernsthaft beschlossen hast, die Kirche niederzubrennen, dann tu es meinetwe gen. Ich habe dieses Gebäude von Anfang an nicht gemocht. Mir gefällt die alte Kirche drüben auf dem Hügel besser. Diese hier zu bauen war der reine Grö ßenwahn. Aber zünde das Feuer trotzdem nicht unmit telbar vor dem Altar an. Geh lieber in die Sakristei oder in den Vorraum, das Feuer wird sich auch von dort ausbreiten, so trocken, wie das Gebäude ist. Und du könntest das Gewehr wegschaffen… Es schickt sich nicht, mit geschultertem Gewehr und einem Haufen Brennholz hereinzukommen. Trotz allem handelt es sich hier immerhin um eine Kirche.«
Huttunen verbeugte sich etwas verlegen vor Jesu Bild, sammelte sein Brennholz wieder ein und trug es in den Vorraum. Dort entzündete er rasch das Feuer. Die Spä ne und Rindenstücke loderten munter. Dicker Qualm sammelte sich im Vorraum und im Kirchenschiff.
Bald war der Vorraum so voller Rauch, daß Huttunen gezwungen war, das Portal zu öffnen. Er selbst tastete sich durch den Rauch zurück in die Kirche. Dort setzte er sich in eine Bank und rieb sich die Augen. Er hätte nie geglaubt, daß ein so kleines Feuer so dicken Qualm verursachen würde, wahrscheinlich kam es daher, daß es in der Kirche keine Zugluft gab.
Eine Rauchwolke quoll aus dem Hauptportal der Kir che und zog am Spritzenhaus vorbei ins Dorf. Mit klap pernden Eimern eilten Löschkräfte herbei. Zur gleichen Zeit versuchte Huttunen das Feuer im Vorraum der Kirche zu schüren. Er blies in das verkohlte Holz, daß es glühte und erneut Flammen hochschlugen. Der Rauch zwang ihn immer wieder, sich ins Innere der Kirche zurückzuziehen.
Draußen waren die Rufe der Löschmannschaft zu hören. Der Qualm in der Kirche wurde dicker, als die Leute Wasser in den Vorraum schütteten. Das Feuer zischte, und die Flammen erstarben.
Huttunen konnte die Löschkräfte nicht sehen, aber nach den Stimmen zu urteilen, waren sie sehr zahlreich. Jetzt mußte er fliehen, denn so viele Menschen konnte er nicht mal mit der Waffe in Schach halten. Er holte tief Luft, rannte in den Vorraum, durch das zischende Feuer und geradewegs an die frische Luft, das Gewehr über der Schulter, die Hände vor den tränenden Augen. Die Leute machten ihm erschrocken Platz. Bald konnte er wieder so viel sehen, daß er den Weg zum Friedhof fand. Er sprang über die Grabsteine, überwand den Zaun und hastete in den Wald.
Kommissar Jaatila traf ein. Er konnte feststellen, daß es gelungen war, das Feuer zu löschen. Als man ihm berichtete, der Müller Gunnar Huttunen habe versucht, die Kirche niederzubrennen, verkündete er ent schlossen:
»Gleich morgen früh wird eine Großfahndung eingelei tet. Ich bestelle telefonisch aus Rovaniemi Soldaten und Spürhunde.«
36
Am Morgen hielt auf dem Bahnhof ein Güterzug, was ungewöhnlich war. An seinem hinteren Ende befand sich ein Viehwagen, dessen Doppeltür geöffnet wurde. Ein halber Zug behelmter Grenzjäger sprang heraus. Sie führten ein Mannschaftszelt, eine Feldküche und zwei Spürhunde mit sich, außerdem war jeder Mann mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Die Sergeanten brüll ten, und die Jäger stellten sich in Reih und Glied auf. Der Zugführer, ein junger, gestählter Leutnant, erstatte te Meldung.
»Willkommen, meine Herren!« sagte Jaatila. »Sie ha-ben eine schwierige und gefährliche Aufgabe vor sich, aber ich vertraue auf Sie und vor allem auf Ihre Hunde.«
Der Kommissar bot dem Leutnant eine Zigarette an. Die Sergeanten schrien Kommandos, und die Jäger formierten sich in Marschordnung. Dröhnend mar schierte die Abteilung zum Fährufer. Viittavaaras Pferd wurde vor die Gulaschkanone gespannt. Die Spürhunde und der Leutnant fuhren im Auto des Kommissars mit. Die Köter trugen Maulkörbe und waren einstweilen unschädlich. Es waren große Schäferhunde mit dickem Fell, sie wirkten freudlos und nervös. Der Leutnant tätschelte einen der Hunde und erklärte dem Kommis sar stolz:
»Der hier heißt Grenzteufel und der andere Blessie. Die Burschen verstehen keinen Spaß.«
Von der Fähranlegestelle marschierten die Soldaten zum Sportplatz des Kirchdorfes, wo sich bereits eine Schar Zivilisten versammelt hatte, ausgestattet mit Flinten und Rucksäcken. Zählte man die herumstehen den Frauen und Kinder mit, so waren mehr Menschen auf dem Platz als bei den Bezirkssportmeisterschaften.
Der Kommissar gab über Lautsprecher Anweisungen an den Suchtrupp. Proviant und Karten wurden an die Männer verteilt. Die Bauern bildeten Gruppen zu je zehn Mann. Die Sonne schien strahlend, es war das passende Wetter für eine Großfahndung. Die Bauern erhielten Schrot für die Flinten, die Grenzjäger füllten die Magazi ne ihrer Maschinenpistolen.
»Die Sache kann beschissen werden«, meinte einer der Jäger.
»Ich finde die Jagd auf einen Menschen besser, als einen Waldbrand zu löschen. Letztens zu Johanni ging es in Narkaus zwei Wochen hintereinander in einem Ritt. Als wir fertig waren, hatte jeder von uns einen Zoll dick Ruß im Gesicht.«
»Im Krieg war ich ein paarmal hinter Fallschirmjägern her. Diesen Verrückten aus dem Wald zu holen ist wahrscheinlich ungefähr dasselbe.«
»Zum Glück haben wir Helme mitgekriegt«, meinte ein anderer. »Der Verrückte soll ein Gewehr haben – fragt sich bloß, wie er schießt.«
Der Leutnant befahl den Männern, den Mund zu hal-ten und den Anweisungen des Kommissars zu lauschen. Dieser beendete seine Rede:
»Ich betone noch einmal, daß der Gesuchte bewaffnet und außerordentlich gefährlich ist. Wenn er sich nicht gleich bei der ersten Aufforderung ergibt, ist zur Gewalt zu greifen. Sie verstehen sicher, was ich meine.«
An den Leutnant gewandt, sagte er: »Ganz unter uns… eigentlich können Sie den Huttu
nen erschießen, sowie er sich zeigt.« »Verstehe.«
Der Suchtrupp teilte sich in zwei Teile: Zwanzig Zivili sten sollten sich die Wälder östlich des Kemiflusses vornehmen, während der Hauptteil mit dem Floß über gesetzt wurde, um die Wildnis auf der Westseite zu durchkämmen. Der Kommissar richtete im Stationsdorf eine Kommandozentrale ein.
Als Briefträger Piittisjärvi von der Sache erfuhr, be kam er Angst um seine Schnapsbrennerei. Er radelte am Suchtrupp vorbei zu Huttunens Briefkasten, versteckte das Fahrrad im Wald und lief eilig los, um seine Anlage zu retten und gleichzeitig Huttunen zu warnen. Als er ankam, fand er das Lager leer. Er rief gedämpft nach Huttunen, bekam aber keine Antwort. Anscheinend war der Einsiedler am Fluß unterwegs, denn das Gewehr und das Angelzeug fehlten.
Piittisjärvi demontierte seine Schnapsbrennerei und versteckte die Teile unter alten Fichten. Aus dem Sumpfloch fischte er seine Schnapskanne, die noch gut fünf Liter Fusel enthielt.
Er hinterließ auf Huttunens Rucksack eine warnende Botschaft:
»Soldaten suchen dich überall, Huttunen. Nimm die Beine in die Hand! Piittisjärvi.«
Der Briefträger lud sich die Schnapskanne auf den Rücken und verließ eilig das Lager. Er schätzte, er werde es bis zur Landstraße schaffen, ehe die Suchtrupps die Gegend erreichten. Aber jetzt war Eile geboten, es blieb nicht mal Zeit für eine Zigarette, höchstens für einen Schluck aus der Kanne hin und wieder.
Es war bereits des zweite Mal in diesem Sommer, daß Piittisjärvi seine Brennerei evakuieren mußte. Hatte er schon beim vorigen Mal laufen und sich sputen müssen, so war es jetzt die reine Hetze. Piittisjärvi rannte über weiche Sümpfe und durch dichte Wälder, im Kopf nur einen einzigen Gedanken: Er mußte auf die andere Seite der Landstraße gelangen, ehe die Soldaten die Gegend unsicher machten.
Aber die Grenzjäger hatten schnell und geübt eine Kette gebildet. Sie bewegten sich geräuschlos durch den Wald, und so lief ihnen der kleine schwitzende Briefträ ger direkt in die Arme. Der Spürhund heulte und hätte den kleinen Mann in Stücke gerissen, hätte nicht der Hundeführer eingegriffen und dem Hund einen Maul korb angelegt.
Man brachte Piittisjärvi und seine Branntweinkanne ins Stationsdorf zur Kommandozentrale des Kommis sars. Jaatila verhörte ihn kurz, danach durfte Portimo ihn in die Arrestzelle bringen. Der Schnaps wurde kalt blütig auf die Erde geschüttet. Dem Briefträger traten die Tränen in die Augen.
Am Nachmittag fanden die Grenzer Huttunens Lager, zerstörten es und brachten dem Kommissar die von Piittisjärvi hinterlassene Botschaft. Jaatila marschierte stehenden Fußes in die Arrestzelle und verpaßte Piittis järvi mit dem bleigefüllten Schlagstock saftige Hiebe. Piittisjärvi weinte und jammerte, flehte um Gnade, aber umsonst. Der Kommissar verlangte Informationen über Huttunen, doch Piittisjärvi schwieg. Man zeigte ihm Huttunens Korrespondenz – die Lehrbriefe der Fernaka demie, einige Liebesbriefe und Happolas letzte Nach richt. Auf welchem Weg war die Post in seine Hände gelangt? Der grün und blau geschlagene Piittisjärvi blieb tapfer:
»Und wenn du mich totschlägst, einen Freund verrate ich nicht.«
Piittisjärvi hielt stand, obwohl ihn der Kommissar ein zweites Mal durchprügelte. Als der Kommissar wütend die Zelle verließ, rief ihm der Postbote nach:
»So einem Hund verrate ich keine Postgeheimnisse!« Der Kommissar ließ sich die Klubberaterin Sanelma
Käyrämö kommen und unterzog sie einem scharfen Verhör, doch sie gestand nichts, obwohl der Kommissar ihr mit dem Fluch des Landwirtschaftsklubverbandes und des Gouverneurs drohte. Sie brach in Tränen aus und flehte um Gnade für Huttunen, sie sagte, wenn dieser Gelegenheit bekäme, sich zu erklären, dann käme er freiwillig aus dem Wald. Der Kommissar merkte sich diese Worte. Verächtlich fuhr er die Beraterin an:
»Soll ich Ihnen sagen, was ich von Frauen halte, die Irre beschützen? Sie sind schlimmer als Huren!«
Im Lager am Puukkobach wurden die Hunde auf Huttunens Spur angesetzt. Mit peitschenden Schwänzen sausten sie los und führten die Soldaten stromaufwärts. Huttunens Spuren waren frisch, die Hunde gerieten in Erregung, krachend brachen sie durchs Unterholz. Dabei knurrten und kläfften sie, obwohl es ihnen die Hundeführer verboten.
Huttunen angelte am Puukkobach am Rand eines Sumpfes mit Fliegen. Er hatte ein paar Äschen gefangen und dachte bereits an die Rückkehr in sein Lager. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte betrübt in das langsam dahinfließende Wasser. Es ging auf den Abend zu. Huttunen beschloß, an Sanelma Käyrämö zu schrei ben. Er mußte ihr von den letzten Ereignissen berichten. Jetzt, da die Mühle nicht mehr verkauft werden konnte, war es wohl am klügsten, diese Gegend zu verlassen und sich weiter nach Norden zurückzuziehen, sich tief in der Einöde eine Hütte zu bauen und darin zu über wintern. Er müßte sich Skier hobeln und Fässer zim mern, müßte Beeren sammeln und Vögel schießen. Vielleicht wäre es gut, für den Winter einen Elch zu räuchern.
Das scharfe Ohr des Einsiedlers hörte weiter unten am Bach Hundegebell. Wenn er angestrengt lauschte, konnte er leise Männerstimmen vernehmen. Er hob sein Fernglas und spähte zum gegenüberliegenden Ufer des Sumpfes. Im Licht er Abendsonne sah er behelmte Soldaten in grauen Uniformen. Zwei große Wolfshunde rannten am Bachufer entlang auf ihn zu. Er ahnte, daß die Jagd keinem anderen als ihm galt. Er lud den Stut zen, ließ sein Angelzeug und die Fische am Ufer liegen und ergriff augenblicklich die Flucht. Sein Ziel war der kleine Hügel auf der anderen Seite des Sumpfes.
Bald erreichten die Hunde den Angelplatz und mach-ten sich über die Fische her. Huttunen nahm einen der Köter ins Visier und drückte ab. Der Spürhund winselte und sank tot zu Boden. Die Jäger gingen sofort in Dek
kung. Der zweite Hund kam über den Sumpf zu dem Hügel gerannt, auf dem Huttunen mit dem Stutzen an der Wange auf der Lauer lag.
Als der Hund bis auf fünfzig Meter herangekommen war, erschoß ihn Huttunen ebenfalls. Der Hund fiel auf die Seite und blieb still liegen. Die Grenzjäger bildeten eine Kette und stürmten auf Huttunens Hügel zu. Einer feuerte mit der Maschinenpistole eine kurze Salve ab.
Huttunen flüchtete nach Norden. Er rannte, so schnell er konnte, und dachte, die Männer müßten sich verdammt anstrengen, wenn sie ihn lebendig fangen wollten.
Die ganze Nacht rannten die Grenzjäger durch die Wildnis, fanden aber von Huttunen keine Spur. Gegen Morgen wurden alle Männer im Lager zusammengezo gen, wohin Viittavaara mit einem Sommerschlitten die Feldküche gefahren hatte. Sie errichteten ein Mann schaftszelt. Die müden Soldaten und Bauern ließen sich nieder, um zu essen und zu schlafen.
Die toten Spürhunde band man mit den Beinen an eine Stange, und vier Mann wurden abkommandiert, sie ins Dorf zu tragen. Als der müde Konvoi in der Kom mandozentrale des Kommissars eintraf, schnauzte Jaatila mit Blick auf die Hunde:
»Sollen die Kadaver etwa auf dem Friedhof beerdigt werden?«
Der Grenzjägerleutnant erwiderte ärgerlich: »Laß den Spott. Wir haben immerhin das Lager des
Irren gefunden.«
Der Leutnant ordnete an, die Hunde zu begraben. Die Jäger hoben an einer Weggabelung neben dem Trans formator eine Grube aus. In der Nähe stand das Haus des Bauern Rasti, wo gerade eine Abendandacht statt fand. Leiser Gesang tönte herüber. Der Leutnant fluch te.
»Macht schnell. Die singen auch noch Psalmen! Was für eine gottverdammte Gegend.«
Drinnen im Haus sprach Laienprediger Leskelä und betete für Huttunen:
»Lieber Gott, nimm Müller Huttunen möglichst bald zu dir in den Himmel, oder laß ihn den Soldaten in die Hände fallen. Im Namen des Blutes und Fleisches Jesu Christi, Amen!«
37
Drei Tage und drei Nächte durchkämmten die Soldaten und die Männer des Sprengels die Wildnis, jedoch ohne Erfolg. Dann kehrten die Bauern stillschweigend auf ihre Höfe zurück, hängten die Flinte an die Wand und machten sich wieder an ihre Arbeit. Die Grenzjäger bauten ihr Zelt ab, ließen die Feldküche zum Bahnhof transportieren und luden ihre Ausrüstung in einen Viehwagen. Ohne viel Aufheben wurde der Wagen an den Güterzug nach Norden angekoppelt. Die Dampflo komotive pfiff, und die Soldaten fuhren davon.
An die Suchaktion erinnerte nur mehr ein zerfallender Erdhügel im Stationsdorf neben dem Transformator. Unter der Erde ruhten zwei tapfere Militärhunde. Die kleinen Kinder machten es sich in diesem Herbst zur Gewohnheit, jeden Sonntag am Grab der Hunde Zi onspsalmen zu singen, dieselben, die Prediger Leskelä in ihren Elternhäusern bei den Andachten singen ließ.
Einmal am Tag besuchte Kommissar Jaatila die Ar restzelle, um dem Briefträger Piittisjärvi eine Tracht Prügel zu verabreichen, doch die Mühe war umsonst. Der zähe Postbote ertrug die Schläge tapfer und berief sich auf das unverletzliche Briefgeheimnis.
Da man Huttunen nicht mit Gewalt hatte festnehmen können, verfiel der Kommissar auf eine List. Er nahm Kontakt zur Klubberaterin Sanelma Käyrämö auf und teilte ihr mit, die Behörden hätten nunmehr beschlos sen, Huttunen zu begnadigen. Dieser müsse jedoch zunächst aus dem Wald herauskommen.
»Wir sollten gleich zu Briefträger Piittisjärvi in die Zel le gehen und ihn beauftragen, Huttunen mein Begnadi gungsschreiben zuzustellen, in dem die Sache offiziell bestätigt wird. Ich schwöre Ihnen, daß die Skandale Ihres Müllers kein Nachspiel haben. Eine kleine Geld buße wird über ihn verhängt, sonst nichts.«
Der Kommissar setzte ein Schreiben an Gunnar Hut tunen auf. Die Klubberaterin schrieb ihm zusätzlich einen Brief, in dem sie ihn bat, ins Kirchdorf zu kommen und sich zu stellen. Alles, was gewesen war, würde ihm verziehen.
Anschließend gingen sie gemeinsam zu Piittisjärvi, um ihn zur Beförderung der Briefe zu bewegen.
Piittisjärvi befürchtete zunächst eine Falle. Doch als der Kommissar unter das Begnadigungsschreiben einen offiziellen Stempel drückte und den Umschlag noch mit einem Siegel versah, glaubte er schließlich an den Sieg des Rechts und versprach, die Post zu befördern. Er verlangte lediglich, es allein zu tun, damit niemand erführe, wohin er sie brachte.
Der Kommissar ging bereitwillig auf die Bedingung ein. Bald darauf wurde ein großer Teller mit dampfen dem Eintopf in die Zelle gebracht. Piittisjärvi erhielt eine Schachtel Zigaretten, und nach der Mahlzeit kam die Masseuse des Kirchdorfes, um seinen Rücken mit Lini ment einzureiben, denn der bleigefüllte Schlagstock des Kommissars hatte schwarze, brennende Striemen darauf hinterlassen. Abends, bei Einbruch der Dunkelheit, wurde die Tür der Zelle geöffnet, und Piittisjärvi durfte in die Freiheit treten, um die ihm anvertraute Post zu überbringen.
Der Kommissar hatte für Piittisjärvi eine intensive Be schattung organisiert: Knecht Launola, Viittavaara und er selbst folgten dem Briefträger ins Stationsdorf und schlichen lautlos durch den Wald, als er Huttunens Briefkasten ansteuerte. Piittisjärvi spähte umher, um zu prüfen, ob er allein sei, merkte aber nichts von der Beschattung. So trug er die Briefe zum Kasten und kehrte arglos auf die Landstraße zurück.
Sofort, nachdem er den Standort des Briefkastens preisgegeben hatte, wurde er wieder festgenommen. Rücksichtslos schleifte man ihn in die Zelle, da half kein Protest. Prügel bezog er diesmal allerdings nicht, denn der Kommissar hatte es eilig, sich am Briefkasten auf die Lauer zu legen.
Anderthalb Tage bewachten der Kommissar und die anderen Männer den Briefkasten des Einsiedlers, ehe die Falle zuschnappte. Der sehr ausgehungerte Huttu nen erschien gegen fünf Uhr morgens, um nach Post zu sehen. Knecht Launola, der gerade Wache hielt, meldete dies sofort dem Kommissar.
Huttunen näherte sich vorsichtig, doch da der Wald einsam und verlassen schien, wagte er es schließlich, den Kasten zu öffnen. Er las die Briefe des Kommissars und der Beraterin viele Male. Als er die wunderbaren Angebote begriff, legte sich seine Unruhe, er kam zu sich, und obwohl er zu Tode erschöpft war, schien ihm aus den Briefen neuer Lebensmut und neue Kraft zu erwachsen. Er war in die Falle gegangen. Die Jäger konnten zuschlagen.
Huttunen steckte die Briefe ein und ging zur Land straße. Er steuerte das Flußufer an, doch kaum hatte er ein paar Schritte getan, ergriffen ihn von beiden Seiten die Häscher. Der völlig überrumpelte Einsiedler wurde zu Boden gerissen. Man band ihm Hände und Füße fest zusammen. Der Kommissar hieb ihm ein paarmal mit dem Schlagstock auf den Rücken, daß seine Schulter blätter krachten. Viittavaara holte sein Pferd, und bald dröhnte die Straße unter den Hufen des alten Wallachs. Huttunen lag gefesselt im Wagen, der Kommissar und Viittavaara saßen auf ihm und schlugen auf das Pferd ein. Als sie die Fähre erreichten, hatte der Wallach Schaum vor dem Maul und dampfte vom Galopp. Hut tunen lag reglos da, schaute traurig zum Himmel und sagte kein Wort.
Die Nachricht von der Verhaftung des Müllers hatte im Kirchdorf bereits per Telefon die Runde gemacht. Als die Fähre ans Ufer kam, wartete dort eine dichte Men schenmenge. Die erleichterten und triumphierenden Dorfbewohner starrten auf die gefesselte gefährliche Fracht im Wagen. Sie riefen Huttunen zu, ob er immer noch Lust habe, zu heulen oder die Kirchenglocken zu läuten. Oder ob er wieder gekommen sei, die Kirche anzuzünden oder die Bank auszurauben, diesmal richtig mit Pferd und Wagen.
Tanhumäki, der Leiter der Volksschule, hatte eine Kamera mitgebracht. Er hielt das Pferd an, um eine Aufnahme zu machen. Er verschaffte sich Platz in der Menschenmenge und bat den Kommissar, die Zügel in die Hand zu nehmen, so daß auf dem Foto das Pferd, der Kommissar, der Wagen und der gefesselte Gefangene zu sehen wären. Huttunen drehte sein Gesicht zur Seite, aber Knecht Launola kam sofort und rückte seinen Kopf in den richtigen Winkel für die Aufnahme. Als der Aus löser klickte, schloß Huttunen die Augen. Nach der Zeremonie übergab der Kommissar Viittavaara die Zü gel, der dem Pferd aufs Hinterteil schlug. Der Einsiedler wurde in die Arrestzelle getragen. Der Kommissar beor derte Wachtmeister Portimo ebenfalls in die Zelle, wo er sich neben Huttunen auf die Betonbank setzen mußte. Anschließend fesselte der Kommissar Portimos linke und Huttunens rechte Hand mit Handschellen aneinan der, erst danach löste er die Seile von Huttunens Hän den und Füßen. Er ließ die beiden Hand an Hand in der Zelle zurück, spähte noch einmal durch die Klappe und sagte zu Portimo:
»Du bleibst da sitzen und bewachst den Irren.« Die Klappe schloß sich, die Schritte des Kommissars
entfernten sich in Richtung Kanzlei. Portimo und Huttunen waren allein. Traurig sagte der
Polizist:
»So ist es nun wieder gekommen, Kunnari.« »Mißgeschicke passieren eben.«
Am Morgen ließ der Kommissar den Gefangenen und seinen Bewacher in die Kanzlei holen. Anwesend waren außerdem Siponen, Viittavaara und Ervinen. Der Kom missar überreichte Portimo ein Schreiben des Doktors. Es war Huttunens Einweisung in die Ouluer Nervenkli nik. Außerdem übergab er ihm die Begleitpapiere für die Bahnfahrt. Portimo nahm die Papiere entgegen. Er konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen:
»Auch ein Kommissar sollte sein Wort halten. Es ist verkehrt, den Kunnari wieder nach Oulu zu schaffen.«
»Ruhe! Versprechen an Geistesgestörte sind für die Behörden nicht bindend. Halte du deine Klappe, Porti mo, und mach deine Arbeit. Der Zug fährt um elf Uhr, vorher kriegt Huttunen was zu essen. Ihr reist im Wagen des Kondukteurs, und du, Portimo, bist für diesen Mann verantwortlich.«
Ervinen sah Huttunen spöttisch an. »Das war ein langer und lustiger Sommer, Huttunen.
Aber jetzt ist er vorbei. Als Arzt kann ich schwören, daß du niemals mehr Gelegenheit haben wirst, in diesem Sprengel deinen Schabernack zu treiben. Auf der Ein weisung steht, daß du unheilbar geisteskrank bist, bis zu deinem Tod. Mit dem Geheul ist ein für allemal Schluß, Huttunen.«
Plötzlich begann Huttunen zu knurren und die Zähne zu zeigen. Er senkte den Kopf und stierte die Männer in der Kanzlei so grimmig an, daß die Bauern und der Arzt zurückwichen und der Kommissar die Pistole aus der Schreibtischschublade zog. Portimo redete Huttunen gut zu und konnte ihn mit Mühe besänftigen. Doch noch lange knurrte der Müller wie ein in die Enge getriebener Wolf. Seine Augen glühten vor unterdrückter Wut.
Die beiden wurden mit dem Auto zu Portimos Haus gefahren, wo Huttunen seine letzte Mahlzeit erhielt. Portimos Frau hatte Fisch gebraten. Dazu servierte sie kühle Buttermilch und frisches Fladenbrot sowie richti ge Butter. Zum Nachtisch gab es Eierkuchen. Huttunen und Portimo aßen nebeneinander, der eine mit der linken, der andere mit der rechten Hand. Der Kommis sar verfolgte ungehalten den Fortgang der Mahlzeit.
»Nun macht schon!« Und an die Hausfrau gewandt: »Wieso backen Sie für einen geisteskranken Häftling
extra Eierkuchen, die Mühe hätten Sie sich sparen können. Wir müssen den Zug erreichen. Diese Ge schichte muß so schnell wie möglich von der Tagesord nung.«
Die Klubberaterin Sanelma Käyrämö kam herein. Sie hatte die ganze Nacht geweint. Wortlos trat sie zu Hut tunen und legte ihm die Hand auf die Schulter. An den Kommissar gewandt, sagte sie mit brechender Stimme:
»Und ich Verrückte habe einem Verräter geglaubt.« Der Kommissar räusperte sich amtlich und verlegen.
Er drängte zum Aufbruch. Portimo und Huttunen erho ben sich. Huttunen drückte mit seiner Linken Sanelmas Hand, sah ihr in die Augen und ging hinter Portimo aus dem Haus.
Draußen verabschiedete sich Portimo von seiner Frau. Dann führte er Huttunen zum Hofgebäude und pfiff nach seinem Hund. Der Bärenhund mit dem fahlgrauen Fell kam winselnd zu seinem Herrn gerannt, sprang an ihm hoch und leckte ihm das Gesicht. Er leckte auch Huttunens Gesicht, da dieser sich wegen der Handschel len ebenfalls hinunterbeugen mußte.
»Herrgott, müssen die sich auch noch von ihren Kö tern verabschieden«, schnauzte der Kommissar nervös.
Portimo und Huttunen setzten sich ins Auto, die Tü ren wurden zugeknallt, und los ging es. Das Auto fuhr zur Fähre, wo schon die schnellsten Radfahrer eingetrof fen waren. Auf dem Bahnhof wartete eine dichte Men schenmenge. Der ganze Sprengel wollte zusehen, wie Huttunen auf seine letzte Reise nach Oulu geschickt wurde.
Der Kommissar erkundigte sich beim Stationsvorste her, ob der Zug pünktlich sei, und erhielt eine bejahen de Antwort.
»Und warum ist er dann nicht hier?« fauchte Jaatila. »Ganz auf die Minute kommen die Züge nie«, erwiderte
der Stationsvorsteher.
Dann fuhr der Zug ein. Die schwere Dampflok hielt. Huttunen und Portimo wurden zum Schaffnerwagen geführt, im Gleichschritt stiegen sie ein. Schon pfiff die Lokomotive, der Zug ruckte an. Huttunen stand an der offenen Tür, hinter ihm sah man die Umrisse von Wachtmeister Portimo. Der Zug rollte an der Men schenmenge vorbei. Huttunen öffnete den Mund, und ein gewaltiges Geheul drang heraus, neben dem sich das Pfeifen des Zuges wie ein klägliches Piepsen anhörte. Das Publikum erschauerte.
Der Waggon hatte die Zuschauer passiert, die Tür wurde geschlossen. Die Weichen am Ende der Rangier geleise knirschten, der Zug entfernte sich. Erst als das Rattern der Räder ganz verstummt war, zerstreute sich die Menge. Abseits von den anderen verließ Portimos Frau den Bahnhof, sie stützte die weinende Klubberate rin Sanelma Käyrämö. Der Kommissar stieg ins Auto und fuhr davon. Der Stationsvorsteher rollte sein grünes Fähnchen auf und murmelte vor sich hin:
»Hier waren mehr Leute als letztens beim Gouver neur.«
38
Man erfuhr, daß Huttunen und Portimo nie in der Ou luer Nervenklinik erschienen waren. Kommissar Jaatila ließ sie im ganzen Land steckbrieflich suchen, doch ihr Verschwinden wurde nie geklärt. Auch Interpol lagen keine Informationen über das Schicksal der beiden Männer vor.
In diesem Herbst zog die Klubberaterin Sanelma Käy rämö als Untermieterin bei Portimos Frau ein. Die bei den begannen, einen gemeinsamen Haushalt zu führen, und kamen dank des preiswerten Gemüses einigerma ßen zurecht. Für die schwersten Männerarbeiten kam Piittisjärvi ins Haus, der jetzt über reichlich Zeit verfüg te, da man ihn seines Amtes als Briefträger enthoben hatte.
Im Oktober lief Portimos grauer Rüde weg und ver schwand in den Wäldern. Als der Winter kam, fand man seine Spuren im Reutumoor. Er war dort draußen nicht allein, sondern ein großer Wolf hatte sich ihm ange
schlossen, den Spuren nach ein einsamer Rüde. In frostklaren Nächten ertönte vom Reutuberg das klagen de Geheul des Wolfes, und manchmal hörte man dazwi schen auch Portimos Bärenhund traurig bellen.
Im Dorf hieß es, der Wolf und der Hund kämen nachts bis ans Kirchdorf. Manche sagten, die Klubbera terin und die Frau des Polizisten fütterten sie heimlich.
Vor Weihnachten stellte man fest, daß der Wolf und der Hund in Siponens Hühnerstall gewesen waren. Alle zwanzig Hühner waren tot.
Als Viittavaara in der Adventswoche ein fettes Ferkel schlachtete und es abgebrüht an einen Balken in der Scheune hängte, verschwand es in der Nacht. In der Scheune fand man die frischen Spuren eines Wolfes und eines Hundes. Das Ferkel tauchte nie wieder auf.
Im Winter überraschten die beiden zottigen Gesellen Kommissar Jaatila und Doktor Ervinen auf einem Teich im Reutumoor. Die Männer waren beim Eisangeln, als plötzlich der Wolf und der Hund aus dem Wald stürzten. Dem Kommissar und dem Arzt wäre es schlecht ergan gen, wäre es ihnen nicht gelungen, auf die Föhren am Teichufer zu klettern. Es herrschte strenger Frost. Gräß lich knurrend hielten der Wolf und der Hund die Män ner anderthalb Tage gefangen, sie fraßen ihren Proviant aus den Rucksäcken und rollten die Thermosflaschen ins Eisloch. Dem Kommissar erfror die Schlaghand bis zum Ellenbogen und dem Arzt die Nase. Womöglich wären sie auf den bereiften Föhren umgekommen, hätte nicht ein freundlicher Waldarbeiter sie aus ihrer mißli chen Lage befreit.
Die Bäuerin Siponen hatte sich angewöhnt, jeden Sonntag die Kirche zu besuchen. Da sie immer noch behauptete, gelähmt zu sein, mußte Knecht Launola jedesmal das Pferd anspannen. Die Bäuerin wurde aus dem Schlitten in die Kirche getragen und vorn auf die Bank gelegt. Sie beanspruchte den Platz von fünf Got tesdienstbesuchern, doch das gestattete man der armen bewegungsunfähigen Frau.
Bei einer dieser Kirchenfahrten griffen ein magerer Wolf und ein struppiger Rüde auf dem Eis des Kemiflus ses das Gefährt an. Das Pferd ging durch und zerbrach die Deichsel, der Schlitten kippte um. Knecht Launola flüchtete auf dem Rücken des Wallachs. Die dicke Bäue rin lag im Schnee und war ihren zottigen Angreifern ausgeliefert. Sie hätte dieses Unglück nicht lebend überstanden, wäre sie nicht auf ihren dicken Stampfern losgerannt und hätte sich in der Fährhütte in Sicherheit gebracht. Die Fluchtspuren der armen Gelähmten auf dem Eis des Kemiflusses riefen allgemeine Bewunderung hervor, besonders in sportinteressierten Kreisen.
Die Männer des Sprengels versuchten mit allen Mit teln, den Wolf und den Hund zu töten, kamen jedoch nie an sie heran. Die beiden waren zu schlau und zu frech. Sie waren aufeinander eingespielt, bildeten ein wildes und furchterregendes Paar.
Wenn in Nächten mit strengem Frost vom Reutuberg das durchdringende Geheul des Wolfes herüberklang, sagten die Leute:
»Bei dem Huttunen hat sich das irgendwie natürlicher angehört.«