Huttunen zog seinen Rucksack aus dem Gebüsch. Er studierte kurz Ervinens Karten und strebte dann zu den Ödwäldern westlich des Kemiflusses; sein Ziel war der Puukkohügel, der auf drei Seiten von großen Moorgebie­ ten eingeschlossen war. An einer Seite floß der kurven­ reiche kleine Puukkobach. Die Entfernung betrug gut zehn Kilometer. Dort glaubte sich Huttunen vorläufig sicher. Der Kommissar müßte mit ganzen Hundertschaf­ ten die Wälder durchkämmen, um ihn dort hinten auf­ zuspüren. Außerdem würde man die Suche zunächst auf die Ostseite des Kemiflusses, die Wälder am Reutu­ moor, konzentrieren.

Den Tag verbrachte Huttunen auf dem Puukkohügel. Es war eine fichtenbewachsene Anhöhe, die Fichten waren schlank, ihre Spitzen scharf wie Messer. Von Zeit zu Zeit richtete Huttunen das Fernglas über das weite Sumpfmoor nach Osten, um zu sehen, ob die Verfolger seine Spur gefunden hatten.

Huttunen zählte viele Male sein Geld. Es war auf den Pfennig genau die Summe, die er im Lauf der Jahre auf der Bank eingezahlt hatte, und die Zinsen dazu. Wenn sich die Situation in den Wäldern erst einmal beruhigt hatte, konnte er im Nachbarsprengel einkaufen. Zunächst war ihm Ervinens Angelgerät von Nutzen, und was sollte ihn daran hindern, zur Aufbesserung seiner Mahlzeiten ein paar Vögel zu schießen? Er untersuchte die Waffe, den schönen Stutzen. Es war ein handliches Gerät, ausgestattet mit einem Magazin für fünf Patronen und einem Zielfernrohr. Allerdings war es jetzt nicht ratsam, die Waffe auszuprobieren – ein einziger Schuß würde die im Wald verstreuten Verfolger auf seine Spur führen.

Abends bekam Huttunen einen gehörigen Schreck – vor den Linsen seines Fernglases bewegte sich ein Mensch. Fern hinter dem weiten Moor tauchte ein klei­ ner Mann auf, der gebückt ging und eine offensichtlich schwere Last auf dem Rücken trug. Huttunen stellte das Fernglas auf die Gestalt ein. Was schleppte der Mann? Es sah aus wie ein großes Gefäß, ein schwarzes Faß. Die Entfernung betrug zwei Kilometer, noch ließ sich über die Beschaffenheit der Last nichts Genaues sagen. Auf jeden Fall war zu erkennen, daß der Mann es unge­ wöhnlich eilig hatte. Er hastete über den schwankenden Moorboden, und trotz seiner schweren Last gönnte er sich kaum eine Pause. Er kam geradewegs auf den Puukkohügel zu. Huttunen lud den Stutzen und warte­ te. Wenn der Mann allein war, wie es den Anschein hatte, brauchte er nicht gleich die Flucht zu ergreifen. Für alle Fälle versteckte er jedoch den Rucksack am Bachufer im Gebüsch.

Der Mann näherte sich halb im Laufschritt. Huttunen erkannte jetzt, daß er ein rußiges Gefäß mit mindestens fünfzig Liter Fassungsvermögen trug. Im Takt seiner Schritte klang gedämpftes Klappern von Metall herüber. Anscheinend trug er Stangen oder Rohre unter dem Arm.

Als der Mann bis auf Schußweite herangekommen war, blieb er stehen, setzte seine Last ab, seufzte ein paarmal und rannte dann schnell zurück in die Rich-tung, aus der er gekommen war. Jetzt, da er nichts zu tragen hatte, war sein Tempo enorm. Man sah, daß der kleine Kerl es brandeilig hatte.

Huttunen wunderte sich: Weshalb schleppte der Mann ein schwarzes Gefäß hierher, mitten ins Moor? Wozu die Schinderei?

Der emsige Kerl verschwand im Wald. Huttunen hatte Lust, hinzugehen und sich das Ungetüm anzusehen, das der Bursche gebracht hatte, doch die Sache war ihm nicht geheuer. Wie sollte man wissen, zu welchem Zweck das Gerät mit soviel Mühe hierhertransportiert worden war? Vielleicht hatte das Männchen eine un-heimlich große Bombe ins Moor getragen, als Köder und Falle für den neugierigen Einsiedler? Die Grausamkeit der Menschen ist groß und ihr Verstand heimtückisch – besser, man hielt sich diesem Schauspiel fern, solange es ging.

Nach einiger Zeit tauchte derselbe Mann erneut auf, jetzt trug er eine andere, womöglich noch schwerere Last. Deshalb war er also wieder umgekehrt – er hatte noch mehr Fracht hierher ins unbewohnte Moor zu schleppen. Huttunen beobachtete den seltsamen Arbei­ ter durchs Fernglas. Das neue Gefäß glänzte und war kleiner als das vorige. Es war so schwer, daß der Mann damit nicht laufen konnte, aber er bewegte sich eiligen Schrittes auf den Puukkohügel und sein im Moor war­ tendes schwarzes Faß zu.

Als der Mann näher kam, konnte Huttunen erkennen, daß er eine Milchkanne für zwanzig Liter schleppte. Sie war sicherlich voll, denn die Füße des Mannes hinterlie­ ßen tiefe Spuren im Boden. Als er sein erstes Gefäß erreichte, setzte er die Kanne ab, holte Luft und nahm gleich darauf wieder das schwarze Faß auf den Rücken. Huttunen tauschte das Fernglas gegen das Gewehr aus, entsicherte und wartete auf den Fortgang der Dinge. Allem Anschein nach strebte der Mann mit seinem Faß zu eben jenem Hügel, auf dem Huttunen saß und ihn beobachtete. Huttunen zog sich mit schußbereiter Waffe unter die Fichten zurück. Wie sollte er wissen, welche Absichten der seltsame Faßträger mit ihm hatte?

Als der Mann auf den Hügel kam, erkannte Huttunen ihn plötzlich. Es war der Postbote des Stationsdorfes, Briefträger Piittisjärvi! Ein Bekannter für Huttunen wie für alle anderen Dorfbewohner. Ein sympathischer Kerl, allerdings ein elender Säufer, doch es geschieht ja nicht selten, daß sich ein guter Mann durch Schnaps rui­ niert… Huttunen freute sich unendlich, denn hier kam einer, der mit seinem Gepäck garantiert nicht im Auftrag von Kommissar Jaatila unterwegs war. Piittisjärvi war um die Fünfzig, ein kleiner, lustiger Kerl, schon vor dem Krieg verwitwet, er lebte kümmerlich vom schmalen Gehalt eines Postboten und hatte nie Geld, um so öfter aber Schnaps. Häufig verteilte er betrunken die Briefe oder trug die Postpakete jämmerlich verkatert aus. Nüchtern war er still und sanft, aber wenn er getrunken hatte, bekam so mancher der Mächtigen des Sprengels etwas von ihm zu hören. Dann spornte der Schnaps Piittisjärvi an, die Wahrheit über die Menschen zu ver­ künden, denen das Leben mehr gegeben hatte als ihm.

Schwer keuchend erklomm Piittisjärvi den Hügel. Er setzte das rußige Faß ab und legte einige Rohrstücke daneben. Er dampfte vom Schweiß wie ein gejagtes Pferd, seine Hände zitterten von der schweren Anstren­ gung. Er wirkte mitgenommen, der Schweiß rann ihm über das gefurchte Gesicht. Er wischte sich mit seinem schmutzigen Ärmel darüber und preßte für einen Au­ genblick die Hand auf die Herzgegend. Ein dichter Mük­ kenschwarm hatte ihn aus dem heißen Moor begleitet. Vor Müdigkeit fand er nicht die Kraft, die Blutsauger von seinem Gesicht zu verscheuchen. Er machte kehrt und ging noch einmal ins Moor zurück, um die dort verbliebene Milchkanne zu holen.

Als Piittisjärvi sämtliche Gerätschaften auf den Hügel geschleppt hatte, beruhigte er sich endlich, setzte sich auf den Deckel der Milchkanne und hielt eine Rauch­ pause. Er war so erschöpft, daß die Zigarette erst beim dritten Versuch brannte, die Streichhölzer erloschen in seinen zitternden Fingern.

»Verflucht noch mal…«

Er war todmüde und verdrossen, und das wunderte Huttunen gar nicht. Solche Lasten von Gott weiß woher übers Moor zu schleppen, das konnte selbst einem braven Mann die Stimmung verderben. Huttunen trat mit dem Gewehr in der Hand zwischen den Fichten hervor.

»Grüß dich, Piittisjärvi.«

Der Postillon erschrak zunächst so sehr, daß seine Zigarette ins Moos fiel. Doch als er Huttunen erkannte, verflog sein Schreck, und ein müdes Lächeln erhellte das zerknitterte Gesicht des kleinen Mannes.

»Mensch, Kunnari! Du bist ja auch hier!« Piittisjärvi hob seine Zigarette auf und hielt Huttunen

die volle Schachtel hin. Der Einsiedler fragte, was den Postboten hier auf den Puukkohügel führe und was für verdammte Gefäße er durch die Wildnis schleppe.

»Kennst du keine Schnapsbrennerei?« Piittisjärvi erzählte, daß er sich am Hang des Reutu­

berges an seinem angestammten Platz eine Schnaps­ brennerei errichtet hatte. Die Maische war schon gego­ ren. Heute wollte er destillieren. Doch schon am frühen Morgen war es unruhig geworden im Wald. Männer mit geschulterten Büchsen waren durchs Gelände gelaufen. Hunde hatten gebellt, und man hatte nach Huttunen gerufen. Warnschüsse waren abgefeuert worden, daß die ganze Gegend widerhallte.

»Du verstehst, daß ich mich auf die Socken gemacht hab’. Ich mußte die Brennerei wegschaffen. Den ganzen Tag hab’ ich das Zeug durch die Wälder geschleppt, zuerst bin ich zum Kemifluß und dann mit dem Boot rüber, dabei wäre mir das verfluchte Boot in der Eile beinah umgekippt. Und anschließend hierher, ein einzi­ ges verdammtes Gerenne, den ganzen Tag. Da drüben auf der Ostseite hat man keine Ruhe mehr, das sage ich dir. Ich hab’ in meinem ganzen Leben noch nie so hetzen müssen.«

Piittisjärvi nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. Er sah auf seine Maischekanne, den Schnapskessel und die Rohrleitungen und lächelte glücklich.

»Aber ich hab’ alles vor den Klauen der verdammten Kläffer gerettet! Im Krieg, während der Rückzugsphase, war ich mal in einer ähnlichen Situation. Mit einem Maschinengewehr blieben ein paar Kameraden und ich als letzte auf der Karelischen Landenge zurück. Als dann der Aufbruch kam, hatten wir verdammt zu schleppen, mitten im Kugelhagel. Aber das mit der Schnapsbrennerei heute war noch schlimmer. Jetzt mußte ich schon zum zweiten Mal den ganzen Tag vor Kerlen mit Schießeisen weglaufen.«

Huttunen sagte, es tue ihm leid, er habe wirklich nicht gewollt, daß sich der Postbote seinetwegen so furchtbar plagen mußte. Doch der freundliche kleine Mann winkte großzügig ab:

»Mach dir mal keine Sorgen, Kunnari! Du kannst nichts dafür, der Kommissar hat ja den ganzen Zirkus veranstaltet. Kannst dir ruhig noch eine Zigarette neh­ men!«

28

Noch in derselben Nacht bauten sie zusammen die Geräte im Gebüsch am Puukkobach auf. Piittisjärvi gierte danach, sofort mit dem Brennen zu beginnen, denn die Maische war reif und sein Mund ausgedörrt. Doch die Nacht war still und klar, aufsteigender Rauch hätte den Standort der Brennerei verraten. Erst am Morgen, als ein leichter Wind aufkam, entfachten sie aus trockenem Holz ein gleichmäßiges Feuer unter dem Kessel und gossen die kräftig riechende Maische hinein. Huttunen holte mit der Kanne Kühlwasser aus dem Fluß. Sowie der verdampfende Alkohol in das Rohr eindrang, kondensierte er zu Schnaps und tropfte in das daruntergestellte Gefäß.

Piittisjärvi nahm einen Probeschluck von der einmal destillierten Flüssigkeit, verzog glücklich das Gesicht und reichte die Kelle an Huttunen weiter. Der verzichte­ te jedoch und sagte, er fröne neuerdings der Abstinenz.

»Du bist verrückt, daß du Branntwein verschmähst«, meinte der zechende Postillon. Doch nach kurzem Nachdenken erkannte er die Vorteile der Abstinenz seines Kameraden und drängte ihn nicht weiter.

»Dann reicht es länger für mich.«

Huttunen wollte am Flußufer Fliegen auswerfen. Be­ vor er ging, holte er für den schnapskochenden Postbo­ ten noch eine Kanne frisches Kühlwasser.

Als er mit ein paar Grauforellen zurückkehrte, fand er Piittisjärvi schon ziemlich angesäuselt vor. Der Postillon schlug vor, Huttunen als der Nüchterne solle die Ver­ antwortung für das Brennen übernehmen, damit ihm selbst Zeit zum eigentlichen Trinken bleibe.

Zunächst jedoch röstete Huttunen die Fische im lodernden Feuer unter dem Schnapskessel. Piittisjärvi hatte Salz und Brot sowie ein Stückchen gesalzenen Speck dabei. Sie aßen das rote, siedend heiße Fleisch der Forellen mit den Fingern, streuten Salz drauf und bissen vom Brot ab. Huttunen bekannte, er habe seit langem nicht mehr richtig gegessen, nämlich seit man ihm sein Lager am Reutumoor zerstört habe. Piittisjärvi seinerseits hatte zuletzt vor zwei Tagen eine Mahlzeit zu sich genommen, als er auf dem Postamt gewesen war, um die Zeitungen und Briefe zu holen. Überhaupt kam er im Sommer kaum zum Essen, da er fortwährend Post austragen oder Schnaps brennen mußte.

»Im Winter klappt es besser, da habe ich nicht diese Hetze. Ich mache mir dann fast jeden Tag was zurecht, auch wenn ich ein alleinstehender Mann bin.«

Piittisjärvi schlug Huttunen eine lohnende Zusam­ menarbeit vor: Der eine solle die Brennerei in Betrieb halten, während der andere das Amt des Postboten ausübe. Er selbst mußte an drei Tagen in der Woche die Briefe im Stationsdorf und in zwei Nachbardörfern aus­ tragen. Dazwischen kam er nicht recht zum Brennen, denn er brauchte ja auch Zeit zum Trinken. Als Gegen­ leistung wollte er für Huttunen sämtliche Postangele­ genheiten besorgen. Huttunen fragte verwundert, welche Post er hier draußen wohl bekommen sollte.

»Na, wir bestellen dir die Nordnachrichten ! Du kriegst deinen eigenen Briefkasten im Wald hinter dem Stati­ onsdorf. Ich trag’ dir dann die Zeitungen und Briefe hin, genau wie allen anderen Bürgern. Und du kannst auch selber Briefe an Leute schreiben, ich befördere sie. Schreib doch an die neue Klubberaterin, es heißt, sie hat ‘ne Menge für dich übrig.«

Huttunen überlegte sich die Sache. An Sanelma müß­ te er tatsächlich schreiben, es war eine gute Idee. Und Zeitungen hatte er nicht mehr gelesen, seit man ihn im Frühjahr in die Nervenklinik gebracht hatte.

Die Männer einigten sich über die Zusammenarbeit. Sie beratschlagten, für welchen Zeitraum die Nordnach­ richten zu bestellen seien. Ein Jahresabonnement wäre wahrscheinlich Geldverschwendung, fanden sie, denn dafür sei das Leben des Einsiedlers derzeit zu unbe­ ständig. Huttunen bezahlte dem Postboten also ein Vierteljahresabonnement, und dieser versprach, die Zeitung zu bringen, sobald er wieder seine Tour mache.

Huttunen wollte gleich ein paar Zeilen an Sanelma Käyrämö schreiben. Die Bankquittung in seiner Geld­ börse konnte als Briefbogen dienen, doch besaß er keinen Stift. So mußte er den Text schließlich mit einem rußigen Holzspan auf das Papier kritzeln.

Anschließend breitete er Evinens Karten vor seinem Kameraden aus. Gemeinsam vereinbarten sie, wo Hut­ tunen ein festeres Lager bauen und wohin er auch die Schnapsbrennerei verlegen würde. Sie einigten sich auf einen kleinen Landrücken, etwa drei Kilometer vom Oberlauf des Puukkobaches entfernt. Hinter dem Land­ rücken breiteten sich Sümpfe aus, und in der Talsenke floß der Bach. Huttunen hatte den Platz morgens beim Angeln entdeckt. Er hielt ihn für sicherer als diesen Hügel, auf dem sie jetzt Schnaps brannten.

Ferner suchten sie die genaue Stelle aus, wo Piittis­ järvi den Briefkasten anbringen würde. Dreimal in der Woche könnte Huttunen dort seine Post abholen. An Sonntagen und manchmal auch in der Woche käme Piittisjärvi ins Lager, um zu saufen.

»Am Sonntag bring’ ich die Post gleich mit, du brauchst wegen der Wochenendzeitung nicht extra zum Kasten zu laufen.«

Huttunen bat den Postboten, ihm etwas Salz, Zucker, Kaffee und geräucherten Speck zu besorgen. Und natür­ lich Zigaretten. Er übergab dem kleinen Mann die ent­ sprechende Geldsumme.

Nach dem Essen mußte Piittisjärvi ins Dorf, denn es war wieder Postverteilungstag. Er spülte im Bach sein rußiges Gesicht und gurgelte, um den schlimmsten Branntweingeruch zu beseitigen. Bevor er aufbrach, gab er Huttunen Ratschläge für den Fall, daß sich die Mai­ sche im Faß zu sehr erhitzen oder der Branntweinfluß aus irgendeinem Grund stocken sollte.

»Am schlimmsten ist es, wenn du die Maische an­ brennen läßt. Mir ist es im Sommer 1939 mal passiert. Im Herbst davor war mir die Frau gestorben, und ich war am Grübeln, wie ich am besten die Zeit verbringe. Na ja, die Maische brannte an. Ich hab’ tagelang das Faß schrubben müssen, ehe es wieder anständig aus­ sah. Die Kumpels, die von dem angebrannten Schnaps getrunken haben, wurden krank, und einer wäre beinah gestorben. Als dann nachher der Winterkrieg ausbrach, ist derselbe Bursche gleich in der ersten Woche gefallen, was sagt man dazu.«

Piittisjärvi überließ Huttunen die Brennerei zu treuen Händen und machte sich auf den Weg. Leichten Schrit­ tes überquerte er das weite Moor, marschierte fröhlich pfeifend durch die Wälder und direkt in die Post, wo er als erstes Huttunens Zeitungsbestellung erledigte. Si­ cherheitshalber ließ er das Abonnement auf seinen eigenen Namen laufen.

Als die Briefe abends verteilt waren, holte er aus sei­ ner Wohnung eine Säge, einen Hammer, Nägel sowie ein paar kurze Bretter und ein Stück Teerpappe. Er verstau­ te das Zubehör in den Posttaschen und radelte am Stationsdorf vorbei in unbewohnte Waldgegenden. Hier stellte er das Fahrrad ab und ging zu Fuß bis zu der Stelle weiter, die er mit Huttunen als Standort für den Briefkasten vereinbart hatte. Er wählte eine starke Föhre passender Größe aus und machte sich ans Werk.

Dem geübten Postmann ging die Arbeit flott von der Hand. Piittisjärvi zimmerte aus ein paar Latten ein Gestell, paßte die Bretter ein, nagelte den Kasten an den Baum und schnitt mit dem Messer ein Stück Teerpappe zurecht, das als Regendach dienen sollte.

»Falls die Nordnachrichten naß werden, ist das kein großer Schaden, aber bei Wertsendungen muß man aufpassen.«

Aus zwei Lederstückchen, die er von seinem Gürtel abtrennte, gewann er das Scharnier für den Deckel. Der Gürtel hätte auch noch mehr Scharnierbedarf hergege­ ben. Traurig dachte Piittisjärvi daran, daß er den Gürtel einst auf seiner Verlobungsfahrt in Kemi gekauft hatte. Damals war er noch ein kräftiger Mann gewesen. Als ihm dann die Frau gestorben war, hatte er nach und nach neue Löcher in den Gürtel stechen müssen.

»Die Hilda hat bei Lebzeiten gut für mich gesorgt«, sprach er in Erinnerung an seine Frau vor sich hin. Ein Kloß stieg dem abgemagerten Mann in die Kehle.

Bis auf den Anstrich war der Briefkasten jetzt fertig. Piittisjärvi überlegte, ob es wohl klug sei, ihn mit der gelben Farbe zu versehen, die das Postgesetz vorschrieb. Im Sommer mochte es vielleicht noch angehen, doch im Winter könnte das leuchtende Gelb den Standort des Kastens verraten. Piittisjärvi beschloß, auf den Anstrich zu verzichten, obwohl es ihn stets mit Widerwillen erfüll­ te, Post in graue und ungepflegte Kästen zu werfen. Als er einmal leicht benebelt zu Siponens jämmerlichem Kasten gekommen war, hatte er den Bauern getadelt:

»Du als großer Bauer kannst dir wohl mal ein bißchen Farbe leisten. Es ist ja, als ob man die Zeitung in einen Nistkasten schmeißt! Na egal, die Hauspostille für deine Alte kann meinetwegen sonstwo liegen.«

Ein Posthorn ritzte er aber doch vorn in den Kasten und darunter den Namen des Besitzers: »Kunnari Hut­ tunen«. Zum Schluß warf er ein mitgebrachtes Exemplar der Nordnachrichten ein, gewissermaßen als Probelauf. Jetzt kann Kunnari kommen und seine Post holen, dachte er zufrieden.

29

Wieder einmal mußte sich der Einsiedler ein neues Lager errichten. Er schleppte seine gesamte Ausrüstung sowie Piittisjärvis Schnapsfabrik zu dem flachen, sandi­ gen Landrücken am Puukkobach. Den Ort taufte er »Lagerhügel«. Zuerst baute er sich einen Unterstand, und erst dann stellte er die Schnapsgeräte des Postbo­ ten auf. Er grub in den flechtenbewachsenen Hang einen Erdofen und in einiger Entfernung davon eine Kellerhöhle, in der er seine Ausrüstung unterbrachte: den Rucksack, die Angelgeräte und das Gewehr. Dann machte er sich daran, Schnaps zu brennen.

Beim ersten Mal sammelten sich in der Kanne etwa zehn Liter stinkender Fusel. Wenn er die Flüssigkeit ein zweites Mal destillierte, schätzte Huttunen, ergäbe das noch sieben Liter. Er wußte, Piittisjärvi selbst würde sich nicht die Mühe einer weiteren Veredelung machen und den Schnaps so trinken, wie er war. Doch jetzt hatte ein abstinenter und zielstrebiger Mann die Sache in der Hand. Huttunen kochte den Schnaps ein zweites Mal. Er gewann gut sechs Liter klaren Alkohol, durch­ sichtig wie herbstliches Eis und stark wie Ervinens Spiritus. Er probierte einen Schluck, der Alkohol brann­ te am Gaumen, und Huttunen spuckte ihn angewidert aus.

»Lieber nicht saufen, sonst dreh’ ich wieder durch.« Er steckte die Branntweinkanne in ein Sumpfloch,

baute die Geräte ab und versteckte sie zwischen den Bäumen. Dann schulterte er den Stutzen, nahm das Angelzeug und machte sich auf, seine Proviantvorräte zu ergänzen. Mit Hilfe des Kompasses schlug er den Weg nach Nordwesten ein, in jene Ödwälder, in denen er im vergangenen Winter mit Wachtmeister Portimo Vögel geschossen hatte. An diesen Jagdausflug dachte er gern zurück. Sie hatten reiche Beute gemacht, und das ohne Hund. Portimo hatte seinen fahlgrauen Rüden zu Hause gelassen, da er eher ein Bärenhund war und sich nicht recht darauf verstand, Vögel aufzuscheuchen. Huttunen dachte, wenn der diesjährige Sommer so gelaufen wäre wie sonst, dann würde er jetzt nicht allein hier mar­ schieren, sondern hätte Wachtmeister Portimo als Jagd­ gefährten an seiner Seite. Nun hatte der Polizist anderes zu tun, und zwar mehr als genug.

»Portimo verpaßt die schönste Sommerzeit, während er hinter mir her ist. Muß schlimm sein, wenn einer gezwungen ist, seinen Kameraden zu jagen.«

Huttunen hatte das richtige Gebiet ausgewählt. Er erbeutete mehrere Vögel und auf dem Rückweg oben am Fluß etliche Kilo Fisch. Bevor er ins Lager heimkehrte, pflückte er sich noch eine Schale Heidelbeeren.

Das Leben war friedlich, aber einsam. Auf Nahrungs­ suche brauchte Huttunen vorerst nicht zu gehen, die Vögel hingen ausgenommen an den Bäumen, der Fisch lag gesalzen in Zubern aus Birkenrinde, die in einem eiskalten Sumpfloch steckten. Er beschloß, zum Zeitver­ treib nach Post zu sehen. Ob Piittisjärvi an die Zei­ tungsbestellung gedacht hatte?

Der Briefkasten fand sich am vereinbarten Platz im Wald in der Nähe des Stationsdorfes. Huttunen umrun­ dete zunächst das Gelände, um sich zu vergewissern, daß niemand im Hinterhalt lauerte und keine Überrum­ pelung drohte. Doch da der Wald öde und still blieb, wagte er sich an seinen Briefkasten. Daran stand sein Name!

Heiße Freude durchflutete den einsamen Mann: er hatte jetzt einen Berührungspunkt mit der Welt, diesen farblosen, groben Kasten am Stamm einer Föhre. Piittis­ järvi hatte sein Versprechen gehalten.

Aber war auch Post für ihn darin? Der Einsiedler hat-te Angst nachzusehen. Wenn er den Kasten leer fände, wäre die Enttäuschung in dieser Einsamkeit bitter.

Als er den Kasten schließlich öffnete, war er über­ rascht. Drinnen lagen zwei Zeitungen und ein dicker Brief, der in weiblicher Handschrift an ihn adressiert war. Huttunen kannte die Schrift – die Klubberaterin Sanelma Käyrämö hatte ihm geschrieben.

Er zog sich ein paar hundert Meter in ein dichtes Fichtengehölz zurück, wo er den Brief öffnete. Es war ein schöner Liebesbrief. Huttunen las ihn, und sein Gesicht glühte vor Glück; in seinem Kopf rauschte es heftig, die Zeilen verschwammen ihm vor den tränen­ nassen Augen, seine Hand zitterte, das Herz hämmerte. Er hätte am liebsten vor lauter Freude und Glück ein lautes Geheul angestimmt.

Bei dem Schreiben lag ein kleines gedrucktes Heft, das die Aufschrift trug:

Fernakademie der Volksbildungsgesellschaft Kaufmännische Abteilung

Sanelma Käyrämö hatte ihrem Brief die Broschüre einer Fernakademie beigefügt und bat den lieben Emp­ fänger, diese »nicht wegzuwerfen, sondern sich damit vertraut zu machen und den Entschluß zu fassen, ein Fernstudium aufzunehmen«. Er habe jetzt genug Zeit, und ein Mensch dürfe niemals im Leben stehenbleiben, sondern müsse stets, auch inmitten von Schwierigkei­ ten, an sich arbeiten. Nur so könne ein jeder Finne Glück und Erfolg erzielen, was sich letztlich zum Wohl des ganzen Heimatlandes auswirke.

Huttunen rannte in sein Lager und traf dort bereits nach anderthalb Stunden ein, obwohl die moorige Wegstrecke mehr als zehn Kilometer lang war. Er warf sich auf seine Streu im Unterstand und las Sanelma Käyrämös Liebesbrief noch einmal. Er las ihn viele Male, bis er den Inhalt auswendig konnte. Erst dann hatte er Ruhe, in die Zeitungen zu sehen.

Darin standen Nachrichten vom Koreakrieg. Fern in Asiens Sümpfen wurde ein komplizierter Krieg geführt, aus dem im Lauf des Sommers anscheinend ein Stel­ lungskrieg geworden war. Huttunen erinnerte sich, daß im vergangenen Winter mal die Amerikaner, mal die Koreaner oder die Chinesen die Oberhand gehabt hat­ ten. Jetzt hatte sich die Front auf dem 38. Breitengrad stabilisiert, und die Sowjetunion empfahl Waffenstill­ standsverhandlungen. Die Zeitung brachte ein Foto von einem Militärjeep voller Offiziere, im Hintergrund sah man Artillerie und hohe Berge. Der Unterschrift zufolge patrouillierten die UNO-Truppen ständig auf den Ver­ sorgungswegen, um Hinterhalte zu vermeiden. Über dem Kotflügel des Jeeps wehte allerdings die USA-Flagge. Huttunen wünschte sich, die Kriegsparteien würden ihren Konflikt beenden. Sowie es Frieden gäbe, würde in Finnland der Holzpreis in den Keller stürzen. Das wie­ derum würde bedeuten, daß sich die Großbauern, spezi­ ell Siponen und Viittavaara, nicht mehr am Blut der Koreaner bereichern könnten.

Es gab erste kleine Nachrichten von den Olympischen Spielen. Wie es schien, sollten sie im kommenden Som­ mer in Helsinki stattfinden. Huttunen war seinerzeit mit dem Espenstab 3,90 Meter hoch gesprungen und hatte daran gedacht, sich für die Wettkämpfe zu melden. Aber dann war der Winterkrieg ausgebrochen, und man hatte die Olympiade in Helsinki wegen der Kämpfe absagen müssen. Jetzt hatte Huttunen keinerlei Möglichkeit mehr, bei den Spielen dabeizusein, obwohl der Krieg vorbei war. Sowie er aus dem Wald käme, würde man ihn festnehmen. Die Zeitung schrieb, daß die Sowjets beabsichtigten, zum ersten Mal an Olympischen Spielen teilzunehmen. Warum nicht, dachte Huttunen, die haben bestimmt starke Hammerwerfer. Jedenfalls hat-ten sie die Handgranaten am Syväri ganz schön weit geschmissen, wie er sich erinnerte.

»Im Marathon holen sie vielleicht Medaillen, aber im Radsport ist ein finnischer Jäger schneller. Falls es bei der Olympiade überhaupt Radrennen gibt.«

Nachdem er die Zeitungen gelesen hatte, studierte er die Broschüre der Fernakademie. Auf vielfältige Weise wurden darin die Vorteile des Fernstudiums gepriesen. Es hieß, »ein tüchtiger und fähiger Geschäftsmann oder eine Geschäftsfrau kann schneller und mit weniger Anstrengung eine gute Position erreichen als die Be­ schäftigten der meisten anderen Branchen«.

Huttunen dachte an seinen eigenen Beruf als Müller. Es stimmte, daß man sein Brot im Handel leichter ver­ diente als beim Betreiben der uralten Mühle von Suu­ koski, wo es nicht einmal jedes Jahr Brotgetreide zu mahlen gab, wenn zum Beispiel Nachtfröste die Ernte vernichtet hatten. Zur Not konnte er sich von der Schin­ delmaschine ernähren, doch die ließ sich nicht erwei­ tern. Geld für die Errichtung eines Sägewerks besaß er nicht. Jetzt war von neuen elektrischen Mühlen die Rede, wo Korn gemahlen werden konnte, ohne daß der Betreiber einen Anteil an einer Stromschnelle besaß. Insofern mochte ein Berufswechsel durchaus ange­ bracht sein. Doch als der Einsiedler seine Situation überdachte, kamen ihm Zweifel, ob er eine Stelle im Handel finden würde, wenn er doch vogelfrei war und nicht einmal seine eigene Mühle betreiben konnte. An­ dererseits wäre das Studium sicher ein nützlicher Zeit­ vertreib. Die Akademie teilte mit, die Kurse würden ganz und gar schriftlich absolviert. »Teilnahmeberechtigt ist jeder Bürger mit Volksschulabschluß, unabhängig von seinem Wohnort, seinem Alter und der ihm zur Verfu­ gung stehenden Zeit. Unter der Voraussetzung regelmä­ ßiger Postzustellung am Wohnort kann der Teilnehmer immer dann studieren, wenn er Lust hat und sich von seinen übrigen Verpflichtungen freimachen kann.«

Ein solches Studium schien wie geschaffen für Hut­ tunens derzeitiges Leben. Was spielte es für eine Rolle, wo er studierte, im Wald oder in der Mühle? Piittisjärvi trug ihm die Post in den Wald, und den Herren in der Fernakademie brauchte man nichts davon mitzuteilen.

Zum Abendessen verspeiste Huttunen ein halbes Birkhuhn mit Moosbeeren. Dann warf er sich auf sein Bett aus Zweigen, den Stutzen behielt er in Reichweite. Vor dem Einschlafen las er noch einmal den Brief der Klubberaterin.

Vielleicht kommen doch noch wieder bessere Zeiten, wenn Sanelma so heiße Briefe schreibt, dachte Huttu­ nen hoffnungsvoll, ehe er auf den harzig duftenden Tannennadeln einschlief.

30

Am Sonntag bekam der Einsiedler Besuch. Briefträger Piittisjärvi und Klubberaterin Käyrämö erschienen im Lager. Vornweg trabte der kleine Mann mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken und umgeben von einem dichten Mückenschwarm, hinter ihm schritt die Klubberaterin, stramm und rotwangig. Beide waren müde vom weiten Weg, die Beraterin war einer Ohn­ macht nahe, aber bei Huttunens Anblick war ihre Mü­ digkeit wie weggeblasen, und sie flog an seinen Hals. Huttunen freute sich so unbändig, daß er nicht anders konnte, als vor Glück aufzuheulen.

Piittisjärvi wartete ungeduldig, bis die Umarmungen und das Geheul ein Ende hatten. Dann räusperte er sich und fragte in halbamtlichem Ton:

»Hast du gut gebrannt, Kunnari?«

Huttunen führte ihn zum Sumpfloch, aus dessen kühlen Tiefen er den Branntweinkrug zog, er öffnete den Deckel und ließ Piittisjärvi schnuppern. Der Briefträger steckte seinen kleinen Kopf in das Gefäß, ein erfreuter Aufschrei war zu hören. Dankbar erklärte er, er habe seinerseits für Huttunen einiges mitgebracht, und zwar fast ebenso lebenswichtige Dinge:

»Komm mal mit!«

Sie kehrten ins Lager zurück, wo Sanelma Käyrämö inzwischen Kaffeewasser aufgesetzt hatte. Piittisjärvi leerte seinen Rucksack auf den Nadelboden des Unter­ standes. Allerlei Nützliches kam zum Vorschein: große Mengen Salz und Zucker, ein Paket Kaffee, je eine Tüte Mehl und Graupen, ein Kilo Speck, zwei Kilo Butter, zu guter Letzt noch ein Kohlkopf, mehrere Bund Möhren, Kohlrüben, Schoten, rote Rüben, Sellerie, Blumenkohl und ein paar Kilo neue Kartoffeln!

Huttunen sah Sanelma Käyrämö zärtlich an. Sie lä­ chelte scheu und glücklich.

»Denk aber daran, Gunnar, dir das Gemüse zu ko­ chen… Dies hier schmeckt gerieben am besten. Alles ist von deiner eigenen Klubparzelle, außer dem Kohl und dem Sellerie.«

»Wie soll ich euch bloß danken«, stammelte Huttunen. Er sah auf Piittisjärvis dürftige Gestalt und den großen Warenberg, den er vom Kirchdorf bis hierher geschleppt hatte. »Hat dich bestimmt ‘ne Menge Schweiß gekostet, das ganze Zeug zu tragen«, sagte er zum Briefträger. Der

spielte seine Mühen mannhaft herunter. »Was ist schon der eine Rucksack, das bißchen Kohl…

Denk bloß an den Tag, als ich den verdammten Mai­ schebottich von der Ostseite zum Puukkohügel getragen hab’… Das war ‘ne Menge Arbeit für einen einzelnen Mann. Wenn es nicht meine eigene Brennerei gewesen wäre, hätte ich das Zeug glatt am Reutuberg stehenlas­ sen, bis der Kommissar drüber gestolpert wäre, glaubst du’s?«

In der Seitentasche des Rucksacks fanden sich noch Briefpapier und Umschläge, Bleistifte und ein Radier­ gummi, ein Spitzer, ein Lineal, Hefte und ein paar Bü­ cher sowie mehrere Lehrbriefe der Fernakademie. Hut­ tunen dankte seinen Gästen wortreich für das Mitge­ brachte und verstaute es in seinem eigenen Rucksack.

Post war ebenfalls gekommen: die Nordnachrichten sowie eine Rechnung vom Eisenwarenladen aus Kemi. Sie betraf den im Frühjahr bestellten Treibriemen. Ziem­ lich teure Angelegenheit, stellte Huttunen fest und warf die Rechnung ins Feuer.

»Ich werde euch Liebende jetzt mal allein lassen«, schlug Piittisjärvi vor. Er spielte den Feinfühligen und wollte doch nur zu seinem Branntweinfaß entwischen. Das Kaffeewasser kochte jedoch, und der Briefträger

mußte sich noch gedulden. Sanelma Käyrämö öffnete das Kaffeepaket und schüttete reichlich Blonde Johanna in den Kessel. Piittisjärvi schlürfte seinen Kaffee ko­ chend heiß und ließ sich nicht nachschenken. Mit dampfendem Mund verließ er den Unterstand und ver­ sprach noch im Gehen, daß mit ihm in den nächsten Stunden nicht zu rechnen sei.

»Macht, was ihr wollt, ich sehe euch nicht dabei zu.« Das war ein glücklicher Sonntag. Ein kühler Spät­

sommerwind trieb die Mücken nach unten ins Moor. Die Sonne schien, der Puukkobach plätscherte einschlä­ fernd, die starken Gerüche der Sümpfe hingen in der Luft. Die Klubberaterin und der Einsiedler redeten pausenlos, planten Huttunens künftiges Leben, seufz­ ten, küßten sich. Huttunen wäre auch weitergegangen, doch Sanelma Käyrämö wehrte ab. Huttunen verstand, daß sie Angst davor hatte, ein Kind zu bekommen, das womöglich von Geburt an geistesgestört wäre. Sie sagte jedoch, daß sie ihn heiraten wolle, später irgendwann, wenn sich alles geklärt hätte. Aber ans Kinderkriegen könne sie noch nicht denken… Sie habe daran gedacht, Huttunen später ein Kind zu gebären, dann, wenn er geheilt sei… Und sie würde gewiß alles dafür tun, daß es dazu käme. Dann könnten sie sich einen ganzen Haufen Kinder anschaffen! Aber falls er nicht geheilt würde, dann wäre es ihr zu riskant.

»Wir können ja ein Kind adoptieren, oder auch zwei. Wir suchen uns gesunde Babys aus, die kann man sich in der Entbindungsanstalt von Kemi gleich mitnehmen. Und man braucht den Müttern nicht mal was dafür zu bezahlen, weil sie so arm sind, daß sie ihre Kinder so­ wieso nicht ernähren können.«

Huttunen versuchte zu verstehen. Natürlich wäre es schrecklich, wenn ein Mensch gleich von Geburt an als verrückt gelten würde…

Anschließend sprach Huttunen davon, seine Mühle zu verkaufen. Er kam auf die Idee, deswegen an Happola nach Oulu zu schreiben. Vielleicht gelänge es dem Mak­ ler ja doch, den Verkauf in die Wege zu leiten. Jetzt war schon Spätsommer, vielleicht war er inzwischen aus der Klinik entlassen worden. Mittlerweile waren zehn Jahre nach Ausbruch des Fortsetzungskrieges vergangen, und wie Huttunen sich erinnerte, hatte sich Happola gleich zu Beginn des Krieges in die Irrenanstalt einliefern lassen.

Huttunen diktierte, Sanelma schrieb. Happola bekam freie Hand in der Angelegenheit. Dann wurde der Brief verschlossen und frankiert.

Gegen Abend gab es Essen. Sanelma Käyrämö hatte eine Gemüsesuppe gekocht. Die Butterbrote dazu waren mit Speck und mit frischen Salaten belegt. In Schalen aus Birkenrinde servierte die Klubberaterin anschlie­ ßend gezuckerte Beeren und geschnitzelte Rüben. Wirk­ lich lecker, lobten die Männer das Speisenangebot. Sanelma Käyrämö errötete zufrieden und strich sich immer wieder ihre widerspenstigen Locken aus der Stirn. Huttunen konnte den Blick nicht von ihr abwen­ den; er war so verliebt, daß ihm die Glieder unruhig wurden. Es fiel ihm schwer, still sitzen zu bleiben, am liebsten wäre er um das Feuer spaziert vor lauter Liebe.

Nach dem Mahl mußten die Gäste aufbrechen, denn der Weg war weit und Piittisjärvi tüchtig betrunken. Huttunen begleitete sie. Zum Glück hatten sie nicht viel Gepäck. Sanelma Käyrämö ermüdete auf der letzten Wegstrecke, sie war an so lange Einödwanderungen nicht gewöhnt. Piittisjärvi ermüdete ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen. Zum Schluß ging Huttunen zwischen seinen beiden Gästen, um sie zu stützen.

Piittisjärvi redete und lachte unentwegt, die Klubbera­ terin lehnte sich innig an Huttunen. So gelangten sie zur Landstraße, wo Huttunen und Sanelma Käyrämö einan­ der zärtlich Lebewohl sagten. Wer weiß, wann sie einan­ der wieder treffen würden? Beide versprachen, sich fleißig zu schreiben. Piittisjärvi gelobte, die Briefe ohne Postgebühren zu befördern.

»Wozu die Sachen erst zur Post schaffen und extra abstempeln lassen. Das Briefmarkenlecken könnt ihr euch sparen, ich werd’ keinen Lärm schlagen… Ich drück’ ein Auge zu! Die Post macht nicht gleich Pleite, wenn du keine Marken auf den Umschlag klebst, Kun­ nari!«

Als Huttunen allein geblieben war, ging er zum Kemi­ fluß, entwendete dort ein Boot und ruderte zum Ostufer hinüber. Durch die Wälder wanderte er zum Reutuberg und wartete dort auf die Nacht.

Um Mitternacht begann er zu heulen. Er klagte mit so hoher und weittragender Stimme, daß er mit Sicherheit bis ins Kirchdorf zu hören war. Nach einer Weile hielt er inne und zündete sich eine Zigarette an. Er dachte sich, wenn dieses neue Geheul im Dorf gehört würde, dann würde man hier am Reutuberg und am Sivakkafluß nach ihm suchen.

»Ich muß mir mit Heulen den Rücken freihalten.« Als er zu Ende geraucht hatte, heulte er weiter. Er

heulte klagend, langanhaltend, dann wieder drohend und mit dumpfer Stimme wie ein in die Enge getriebenes Tier. Es brachte ihn außer Atem und erleichterte ihn zugleich. Eigentlich machte es Spaß, hatte er doch tagelang darauf verzichten müssen.

Als er genug geheult hatte, verstummte er und warte­ te auf das Echo. Die Hunde in den Dörfern hatten den Ruf gehört, sie winselten im Chor. Im Kirchdorf würde in dieser Nacht keine Seele mehr schlafen.

Nach der Heulaktion verließ Huttunen den Reutuberg. Erst in den frühen Morgenstunden langte er in seinem Lager westlich des Kemiflusses an. Als er erschöpft in seinem Unterstand ausruhte, dachte er, was dies doch für ein Leben sei: Da muß der Mensch nahezu vier Meilen marschieren, zweimal dasselbe Boot stehlen und hin und zurück über den Kemifluß rudern, und wozu?

»Die ganze Nacht unterwegs, bloß wegen einem biß­ chen Geheul.«

31

Das Wetter wurde regnerisch und kühl. Das einsame Einsiedlerleben im Unterstand machte Huttunen zu schaffen. Nachts war es kalt und nebelig, tagsüber tödlich langweilig. Die einzige gute Seite am Wetterum­ schwung war, daß die Fische gut anbissen. Die beste Angelperiode des Spätsommers hatte begonnen. Huttu­ nen mußte sich jedoch zurückhalten, denn er besaß keine Fässer, um den Überschuß einzusalzen.

Als die Regenfälle anhielten, wurde das Nadeldach des Unterstandes durchlässig. Um dem abzuhelfen, riß Huttunen große Stücke Birkenrinde von dicken Stäm­ men herunter und schichtete sie schuppenartig über die Zweige, wie Schindeln auf einem Scheunendach. Es regnete nicht mehr durch, und nachdem Huttunen dazu übergegangen war, auch tagsüber ein Lagerfeuer vor dem Eingang brennen zu lassen, wurde sein Dasein angenehmer. Aber die Zeit verging sehr langsam. Bloßes Grübeln machte auf die Dauer keinen Spaß, besonders da ihm hauptsächlich Verrücktheiten einfielen.

Huttunen nahm sich die Bücher und die Lehrbriefe der Fernakademie vor, die ihm die Klubberaterin mitge­ bracht hatte. Als erstes griff er nach einem medizini­ schen Werk, verfaßt von H. Fabritius, das den Titel trug Nervosität und Nervenkrankheiten. Im Klappentext wur­ de es als das bedeutendste Buch gepriesen, das in Finn-land zu diesem Thema geschrieben worden sei. Interes­ siert suchte Huttunen darin nach einer Erklärung für seine eigene Geisteskrankheit. Auf den ersten Blick schienen ziemlich viele Krankheitsbilder auf ihn zu passen. Zum Beispiel entdeckte er viel Bekanntes in dem Kapitel »Überempfindliche und leicht Reizbare«. Nicht angesprochen fühlte er sich hingegen von dem Kapitel, in dem nervös bedingte Störungen an den Ge­ schlechtsorganen behandelt wurden. An seinen Ge­ schlechtsorganen war kein Fehler! Das einzige Hindernis bei der Befriedigung seines Geschlechtstriebes war Sanelma Käyrämös Angst vor irren Babys.

Im weiteren Text wurden Patienten vorgestellt, die un­ ter »Zwangsvorstellungen oder sog. Zwangsneurosen bzw. Psychasthenie« litten. Huttunen mußte zugeben, daß auch bei ihm die beschriebenen Symptome auftra­ ten, trotzdem hielt er sich nicht für einen echten Psy­ chastheniker. Alles in allem entsprach das Buch nicht seinen Erwartungen, Aufschluß über seine eigene Krankheit zu finden. Aber sonst war es interessant, sogar amüsant. Besonders gefielen ihm die Beschrei­ bungen von Psychopathen. Am meisten Spaß machte ihm zunächst der Fall Nummer vierzehn:

»Ein Mann mittleren Alters, der niemals außerhalb Deutschlands gewesen war, reiste herum und hielt Vorträge. Er erzählte, er sei in Pretoria, der Hauptstadt der südafrikanischen Republik Transvaal, geboren. Während des Burenkrieges habe er sagenhafte Helden­ taten vollbracht, u.a. an 42 Schlachten teilgenommen, und habe für seine Verdienste von Präsident Krüger den Titel eines Freiherrn verliehen bekommen. Bei seinen Vortragsveranstaltungen verkaufte er Postkarten, auf denen er in Militäruniform dargestellt war (Abb.3).«

Das abgebildete Foto zeigte einen Mann in prächtiger Offiziersuniform. Ein sympathisch wirkender Bursche, der Huttunen sofort gefiel. Der Einsiedler wurde wütend, als er las, wie die Deutschen mit dieser verwandten Seele umgesprungen waren. In dem Buch hieß es näm­ lich: »Die Polizei wurde auf den Mann aufmerksam und wies ihn zwecks ärztlicher Untersuchung in eine Ner­ venklinik ein, wo man ihn als einen Psychopathen vom Typus des Lügners und Abenteurers einstufte.« Der Autor Fabritius charakterisierte den Fall aus finnischer Sicht. Er konstatierte, man könne den Mann »noch nicht als Kriminellen abstempeln, doch in einer geordneten Gesellschaft wird nicht gestattet, daß eine Person ihren Lebensunterhalt damit bestreitet, öffentliche Vorträge zu halten, deren Inhalt aus der Luft gegriffen ist, auch wenn sie recht spannend sind und dem Publikum an­ scheinend gefallen«.

Erbost schleuderte Huttunen das Buch von sich. Er konnte sich vorstellen, welche Erfahrungen der arme Kerl anno dazumal in einer deutschen Nervenklinik gemacht hatte. Die dortigen Kliniken waren bestimmt noch düsterer als das Ouluer Irrenhaus, und das war schon eine wahre Hölle der Gefangenschaft gewesen.

Während der nächsten Tage widmete sich Huttunen eifrig dem Studium. Er arbeitete die Aufgaben im Lehr-brief für schriftlichen Ausdruck durch, las Auszüge aus Haupt- und Nebensätzen und konnte sich nicht genug darüber wundern, besonders über nebengeordnete und untergeordnete Sätze, zu denen es folgende Beispiele gab:

»Mit vielem kommt man aus, mit wenigem hält man haus.«

»Wir machen einen Ausflug und bleiben den ganzen Tag.«

»Wir brechen nur auf, wenn es warm ist.« Der Inhalt der Sätze interessierte den Einsiedler mehr

als ihr grammatikalischer Aufbau. Er dachte an seine eigenen Ausflüge und stellte verärgert fest, daß er den ganzen Sommer über gezwungen war, Ausflüge zu ma­ chen, auch dann, wenn es kalt war. Dafür sorgte Kom­ missar Jaatila.

Huttunen wurde ferner mit dem Laut äng bekannt. Es amüsierte ihn, daß sich erwachsene Männer damit abgaben, Regeln für solche Selbstverständlichkeiten aufzustellen. Mehr Verständnis hatte er für den Ab­ schnitt über Schlußbehauchung oder Aspiration. Er redete ein Weilchen ohne Aspiration vor sich hin und mußte über seine eigenen Sätze so lachen, daß ihm die Tränen kamen. Zum Glück hörte ihm niemand zu.

Handelslehre und -recht interessierten Huttunen mehr als schriftlicher Ausdruck. Als erstes las er das Lehrbuch, das ihm Sanelma Käyrämö beschafft hatte und das von den Autoren I. V. Kaitila und Esa Kaitila stammte. Ob die beiden miteinander verwandt waren? Vielleicht ein Ehepaar? Der Text war ziemlich trocken, doch die Fakten waren klar und in leicht verständlicher Form dargestellt. Für die Lösung der Aufgaben im Lehr-brief hätte Huttunen nur den Inhalt der ersten zwanzig Seiten gebraucht, doch da gerade Regentage waren, ackerte er das ganze Buch von Anfang bis Ende durch. Dann machte er sich daran, die Fragen der Fernakade­ mie zu beantworten.

In einer der Aufgaben wurde verlangt, Großhandel und Einzelhandel miteinander zu vergleichen. Huttunen mußte an Kaufmann Tervola denken. Hinter seine ei­ gentliche Antwort schrieb er den Zusatz:

»Hier in unserem Dorf verkauft der Einzelhändler Ter­ vola an Geisteskranke nur dann Lebensmittel, wenn ihm mit der Axt gedroht wird. Beim Großhandel würde man eher Waren bekommen als bei ihm.«

Interessant war auch die Frage, warum die Finnische Bank für Geldeinlagen keine Zinsen zahlte. In Anleh­ nung an die Kaitilas beschrieb Huttunen in seiner Ant-wort den Charakter der Finnischen Bank als zentrales Geldinstitut. Ursprünglich wollte er noch eine Bemer­ kung über Bankdirektor Huhtamoinen hinzufügen, der manchen Kunden nicht nur keine Zinsen, sondern nicht einmal das Sparguthaben auszahlte, also eigenmächti­ ger handelte als die Finnische Bank, unterließ es dann aber. Wen interessierten in der Volksbildungsgesell­ schaft seine persönlichen Geldangelegenheiten? Das wichtigste war hier das Studium, nicht Huhtamoinens Bankpraktiken.

Was ist Rembours? Was ist eine Obligation? Huttunen fand die Termini der Handelslehre span­

nend und lustig, sie prägten sich ihm gut ein. Er ärgerte sich, daß er nicht in jüngeren Jahren Handel studiert hatte. Das Studium war erstaunlich leicht und außer­ dem bestimmt von enormem Nutzen. Wenn ein solventer Geschäftsmann anfinge zu heulen, würde ihm das ver­ mutlich leichter verziehen als einem Müller… Egal, auch in seinem Alter war es noch nicht zu spät, sich Klarheit über die Dinge zu verschaffen.

Huttunen freute sich schon im voraus auf den Tag, da ihm die Fernakademie das Zeugnis über die Absolvie­ rung der Handelsschule schicken würde. Bis Weihnach­ ten wäre das geschafft, wenn man bedachte, wie leicht ihm das Studium fiel. Nachher konnte ihn niemand mehr für einen nichtsnutzigen Irren halten. Er würde dem Kommissar ein bißchen Bußgeld für das Heulen bezahlen, und dann, wer weiß, würde er vielleicht eines Tages die Buchhaltung eines Großhandelslagers besor­ gen! Daneben könnte er auch noch eine Mühle betrei­ ben, falls der Ort eine solche besaß.

Dann fiel ihm ein, daß man ihm kein Zeugnis ausstel­ len würde. Das Kursmaterial war aus Vorsichtsgründen auf den Namen von Briefträger Piittisjärvi bestellt wor­ den. Klar, daß der Postmann auch das Zeugnis bekäme. Ihm, Huttunen, blieben lediglich die Kenntnisse, und die wogen nicht viel ohne amtliche Beglaubigung.

Andererseits, wenn man es von Piittisjärvis Stand­ punkt aus betrachtete, so hätte der von diesem Studium spürbaren Nutzen. Der Kerl brauchte nichts weiter zu tun, als Briefe auszutragen und Branntwein zu saufen, und nebenbei studierte ihm ein anderer das Zeugnis der Handelsschule in die Tasche. Wenn Piittisjärvi pfiffig war, konnte er es über kurz oder lang bis zum Postver­ walter des Kirchdorfes bringen. Der jetzige hatte be­ stimmt keine Handelsschule besucht. Huttunen ver­ suchte, sich Piittisjärvi im Amt des Postverwalters vor­ zustellen. Er würde mit der Brille auf der Nase hinter einem großen Schreibtisch sitzen und hin und wieder amtliche Stempel auf Wertsendungen knallen.

Der Einsiedler freute sich über diese Vorstellung und machte sich daran, die Lehren aus dem Kaitilaschen Handbuch zu wiederholen.

Ist egal, wer von uns beiden nach oben kommt, Piit­ tisjärvi oder ich, dachte er und überprüfte seine Kennt­ nisse in der Rediskontierung.

Am Freitag wurde das Wetter ein wenig wärmer, es war wolkig, regnete aber nicht. Huttunen steckte die ausgefüllten Lehrbriefe in Umschläge, frankierte sie und schrieb auch noch einen Brief an die Klubberaterin. Dann trug er alles zu seiner persönlichen Waldpost. Dort würden für ihn ein paar Nummer der Nordnachrich­ ten liegen, vielleicht auch noch mehr. Ein paar Zeilen von Sanelma Käyrämö? Abends erreichte Huttunen den Briefkasten. Er näherte sich vorsichtig, aber es gab keinen Hinterhalt, der Poststandort war geheim geblie­ ben. Im Kasten befanden sich die Zeitungen und ein Brief von Sanelma. Der Brief enthielt viele feurige Lie­ besworte sowie die Mitteilung, daß wieder einmal mit einer großen Schar Männer die Gegend östlich des Ke­ miflusses nach Huttunen durchsucht worden sei. Der Kommissar habe getobt und Wachtmeister Portimo übel beschimpft, weil es ihm im ganzen Sommer noch nicht gelungen war, Huttunen zu verhaften.

In den Nordnachrichten waren Leichtathletik-Bezirkswettkämpfe angekündigt, sie sollten am kom­ menden Sonntag auf dem Sportplatz des Kirchdorfes stattfinden. Der Gouverneur persönlich hatte die Schirmherrschaft übernommen, da er gleichzeitig eine offizielle Inspektionsreise in die Gemeinde unternahm. Die Zeitung brachte sowohl das Programm der Wett­ kämpfe als auch das des Gouverneurs.

Huttunen beschloß, als Zuschauer teilzunehmen. Vielleicht konnte er von irgendeinem größeren Hügel aus zusehen? Er könnte auf einen Baum klettern und alles durch Ervinens Fernglas beobachten. Die Ansagen auf dem Platz würden nicht weit zu hören sein, aber was machte das schon. Hauptsache, er konnte die Wett­ kämpfe und den Gouverneur sehen.

»Und ich brauche keinen Eintritt zu bezahlen.« 32

Huttunen verließ seinen Lagerhügel am Sonntag schon in den frühen Morgenstunden, damit er das Kirchdorf erreichte, bevor die Leute aufstanden. Er entwendete gewohnheitsmäßig am Ufer des Kemiflusses ein Boot und ruderte hinüber. Das Dorf schlief. Es war kühl, fast schon herbstlich, und noch dunkel. Huttunen suchte nach einer geeigneten Anhöhe, von der er die Leichtath­ letikwettkämpfe verfolgen konnte, ohne entdeckt zu werden.

In der Nähe des Kirchdorfes gab es zwei große Hügel. Sie eigneten sich jedoch nicht als Aussichtspunkte, denn auf dem einen sah man nur das Schindeldach und den Turm der neuen Kirche, und auf dem anderen wurde der Blick vollständig verdeckt durch den Schlauchturm der Feuerwehr. Die dritte Möglichkeit wäre, die Wettkämpfe fern vom Reutuberg aus zu beo­ bachten, doch die Entfernung war zu groß – nicht ein­ mal mit Ervinens starkem Fernglas ließen sich Einzel­ heiten erkennen.

Den besten Überblick hätte Huttunen vom Turm der Feuerwehr gehabt. Doch dort hinaufzusteigen war ris­ kant, denn der Straßenmeister hatte seine Wohnung im Erdgeschoß des Gebäudes. Blieb als letzte Möglichkeit noch der Glockenturm der neuen Kirche. Wenn er es dort versuchte?

Huttunen schlich über den einsamen Friedhof und versuchte es mit den Kirchentüren. Sie waren allesamt verschlossen. Hinter der Sakristei führte eine Tür in den Keller. Sie war ebenfalls verschlossen, doch das Fenster daneben ließ sich nach innen drücken. Huttunen kroch in den Keller und schob das Fenster hinter sich zu.

In dem dunklen, öden Verlies roch es muffig. Im Licht eines Streichholzes sah Huttunen einen großen Raum über der blanken Erde. Wurde hier der Abendmahlswein gelagert? Stieß man womöglich auf uralte Totengebeine? Doch obwohl Huttunen mehrere Streichhölzer anriß, entdeckte er weder Weinflaschen noch ein einziges Gerippe. Statt dessen sah er einen Stapel verschimmel­ ter Ziegelsteine und daneben eine Schubkarre und einen Betonmischer. Der Keller wurde also als Lager für Bau­ material benutzt. Auch dürften hier wohl kaum jemals Menschen bestattet worden sein, denn die Kirche stammte vom Beginn des Jahrhunderts.

Aus dem Keller führten Stufen nach oben. Die Tür am oberen Ende der Treppe war offen, Huttunen gelangte in die Sakristei. Von dort hatte er ungehinderten Zutritt zu dem gewaltigen Kirchenraum, der mit Brettern verschalt und blaugrau angestrichen war. Selbst jetzt im Däm­ merlicht war zu erkennen, wie verwittert die Farbe war, große Stücke waren abgeblättert und herabgefallen. Die größenwahnsinnigen Bauern des Sprengels hatten seinerzeit eine zu große Kirche gebaut, und ihre Söhne waren nun nicht mehr in der Lage, das Gebäude zu unterhalten. Ob es an Glauben oder an Geld mangelte, konnte Huttunen nicht beurteilen.

Er konnte es sich nicht verkneifen, die Kanzel zu be­ treten. Er nahm eine priesterliche Haltung ein und stieß ein gewaltiges Geheul aus. Von den hohen Wänden der Kirche dröhnte ihm ein solches Echo entgegen, daß er erschrak und schnell die Kanzel verließ. Er stieg auf die Empore. Hinter der Orgel führte eine Wendeltreppe in den Turm. Die Treppe machte sieben volle Drehungen, ehe sie im Glockenstuhl endete. Der Raum war klein, eine sechseckige Kabine, in deren Mitte zwei Glocken hingen, eine größere und eine kleinere. Es gab runde Fenster nach allen Richtungen, sie waren nicht verglast – natürlich nicht, sonst wäre das Geläute nicht weit genug zu hören. Als Huttunen durch eine der Öffnungen nach unten spähte, schwindelte ihm von der Höhe.

Vom Glockenturm bot sich eine überwältigende Aus­ sicht auf das Kirchdorf und die Bergrücken in blauer Ferne. Am allerbesten war der Sportplatz zu sehen: er lag wie auf einem Tablett direkt vor den Augen des Betrachters. Mit einem Blick konnte man die Wettkämp­ fe in allen Disziplinen verfolgen. Einen besseren Zu­ schauerplatz hätte Huttunen nicht finden können. Er stellte das Fernglas scharf. Seinetwegen konnten die Wettkämpfe beginnen.

Schließlich wurde es Tag, es ging auf zehn. In gut ei­ ner Stunde würde die Veranstaltung beginnen. Huttu­ nen studierte das Wettkampfprogramm, das er aus den Nordnachrichten herausgerissen hatte. Unmittelbar nach der Rede des Gouverneurs sollten die Wettkämpfe be­ ginnen, den Schluß würden der 3000-Meter-Lauf, die 400 Meter Hürden und die 100 Meter Sprint bilden. Huttunens eigene Laufdisziplin waren gerade die 400 Meter Hürden gewesen, darin hatte er während des Krieges am Syväri die Divisionsmeisterschaften gewon­ nen. Er hatte fünf Tage Sonderurlaub bekommen, die er in Sortavala verbrachte. Auf diesem Ausflug waren ihm die Spikes abhanden gekommen, dafür hatte er sich eine Menge scheußliche Filzläuse eingehandelt.

Vom Friedhof drangen Stimmen herauf, anscheinend kamen der Pastor und der Küster. Erst jetzt fiel Huttu­ nen ein, daß es Sonntag und Gottesdienstzeit war. Na, egal. Er saß hier sicher und geschützt im Glockenturm, unten in der Kirche hatte er nichts verloren. Er würde den Gesang bis nach oben hören, und zum Zeitvertreib konnte er sogar mitsingen. Sofort nach dem Gottes­ dienst würden dann als Höhepunkt des Tages die Sportwettkämpfe folgen.

Unten in der Kirche hallten Stimmen, Türen klappten, und die Fußbodendielen knarrten. Der Küster schlug auf der Orgel ein paar Töne an. Dann war es, als stiege jemand die Treppe zum Glockenstuhl hoch. Kam der Pastor etwa herauf? Was in aller Welt hatte der im Turm zu schaffen? Huttunen stellte sich an die Treppe und lauschte. Kein Zweifel, jemand war unterwegs nach oben.

Plötzlich begriff Huttunen – der Kirchendiener wollte natürlich die Glocken läuten!

Die Situation war heikel. In der kleinen Kabine konnte sich Huttunen nirgends verstecken. Die Schritte auf der Treppe näherten sich. Aus dem Fenster zu springen war undenkbar.

Es war der Knecht Launola, der die steilen Stufen he­ raufkam. Als er nichtsahnend den Glockenstuhl betre­ ten wollte, schmetterte Huttunen ihm seine Faust auf den Kopf. Launola wäre beinah rückwärts hinunterge­ stürzt, doch Huttunen konnte ihn vor dem Verderben retten. Er fing den Knecht auf und schleifte ihn unter die Glocken. Launola war bewußtlos, atmete aber gut. Das Herz schlug in seiner Brust, es war also nichts weiter passiert. Huttunen band ihm mit seinem eigenen Gürtel die Hände auf dem Rücken zusammen. Dann zog er ihm das Hemd aus und band es ihm vor den Mund. Nachdem er den Mann sprech- und bewegungsunfähig gemacht hatte, richtete er ihn auf, damit er am Fenster frische Luft bekäme. Vom Morgenwind kam der Knecht auch bald wieder zu sich.

»Du verdammter Kerl machst hier Dienst?« herrschte Huttunen ihn wütend an. Der Knecht starrte Huttunen entsetzt an und nickte.

»Wo ist der richtige Küster?«

Launola zeigte eine leidende Miene. »Du willst die Glocken läuten, häh?« Launola nickte wieder.

Huttunen zog seine Taschenuhr heraus. Verflucht und zugenäht, bald würde der Gottesdienst beginnen. Es war tatsächlich höchste Zeit für die Glocken. Launola durfte das auf keinen Fall besorgen; er würde natürlich Alarm läuten, und die Gottesdienstbesucher kämen in den Turm gerannt, um nachzusehen, in welcher Gefahr der Vertreter des Küsters schwebte. Huttunen stellte fest, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als an diesem Sonntag eigenhändig die Kirchenglocken zu läuten.

Er versuchte sich zu erinnern, in welchem Rhythmus die Glocken gewöhnlich schlugen. Langsam – mehr fiel ihm dazu nicht ein. Hatten sie einen speziellen Klang? Davon hatte er nicht die geringste Ahnung. Am besten war, sie in gleichmäßigem Abstand zu läuten.

Huttunen griff nach dem Strang der kleineren Glocke und zog kräftig daran. Die Glocke schwang, sie kippte ein wenig nach oben und kehrte in die Ausgangsposition zurück. Huttunen zog ein zweites Mal, jetzt legte sie sich waagerecht, und als sie wieder herunterkam, dröhnte sie, daß ihm beinah das Trommelfell platzte. Mit der anderen Hand zog er am Strang der großen Glocke. Die dröhnte noch mächtiger. Huttunen riß jetzt abwech­ selnd an den Strängen, so daß es ein ganz prächtiges Geläute gab. Er fand, es gelang ihm recht gut, das got­ tesfürchtige Volk einigermaßen gebührend in die Kirche zu rufen.

Huttunen überlegte: Wie lange mußte es läuten, bis die Sache erledigt war? Zehn Minuten oder länger? Das Läuten war enorm anstrengend, und außerdem mußte er Knecht Launola im Auge behalten, der fluchtbereit vor einer Fensteröffnung saß.

Huttunen zerrte schwitzend an den Seilen, der mäch­ tige Klang der Glocken ließ die Kirche erdröhnen. Er konnte sich vorstellen, daß die infernalischen Klänge weit zu hören waren, bis in die entlegensten Dörfer. Bloß gut, daß nicht auch noch Rovaniemi Zeuge wurde, wie in diesem frommen Sprengel das Christenvolk zum Gesang gerufen wurde.

Es gelang Huttunen, einen flüchtigen Blick auf seine Taschenuhr zu werfen. Sie zeigte eine Minute vor zehn. Er beschloß, um Punkt zehn mit dem Läuten aufzuhö­ ren. So sei es üblich, schätzte er, schließlich mußte ja auch der Pastor mit seinem Part an die Reihe kommen. Die Ohren waren ihm schon völlig betäubt von dem satanischen Gedröhn.

Um zehn Uhr ließ er die Glockenseile aus den Hän­ den. Die kleinere Glocke schlug noch zweimal an, die große einmal. Im Glockenstuhl breitete sich eine himm­ lische Stille aus.

Nach einiger Zeit klang unten aus der Kirche andäch­ tiger Gesang. Das Christenvolk hatte an Huttunens Geläut nichts Außergewöhnliches gefunden.

Von der Predigt des Pastors war oben nichts zu ver­ stehen, doch als das Schlußlied ertönte, konnte auch Huttunen nicht umhin, mit einzustimmen. Der Gottes­ dienst war zu Ende, und die Leute verließen die Kirche, um geradewegs auf den Sportplatz zu eilen. An diesem Sonntag hatte niemand die Kollekte durchgeführt, denn der Küster war krank, und sein Stellvertreter saß gefes­ selt im Glockenstuhl. Anscheinend hatte kein Gemein­ demitglied diesen Umstand bedauert. Huttunen fühlte einen Stich in der Brust – er war schuld, daß die Kinder in irgendeinem heidnischen Land keine Missionsgelder der Gemeinde erhielten. Wenn er irgendwann ein begü­ terter Geschäftsmann war, so beschloß er, würde er der Gemeinde und den Missionaren den entstandenen Schaden ersetzen.

Aus dem Lautsprecher auf dem Sportplatz ertönten Rufe. Huttunen stellte sich an die Fensteröffnung und hob Ervinens Fernglas. Er sah Wettkämpfer in Trai­ ningsanzügen und Hunderte von Zuschauern. An einer Seite des Platzes, in der Nähe des Tores, war mit Bret-tern eine Art Umzäunung geschaffen worden, in der einige Stühle standen. Auf dem vordersten saß der Gouverneur und um ihn herum die Mächtigen des Sprengels – der Kommissar, der Vorsitzende der Ge­ meindevertretung, Doktor Ervinen, der Pastor und ein paar Bauern, unter ihnen Viittavaara und Siponen. Ersterer war mit seiner Frau zum Festplatz gekommen, letzterer beehrte die Veranstaltung allein.

Huttunen versuchte, die Klubberaterin Sanelma Käyrämö mit dem Fernglas einzufangen. Systematisch suchte er die Zuschauerreihen ab. Schließlich erkannte er sie, sie stand außerhalb des Platzes auf einer kleinen kiefernbewachsenen Anhöhe neben dem Friedhof. Dort befand sich eine ganze Gruppe junger Frauen in bunten Röcken und Kopftüchern. Huttunen freute sich bei Sanelmas Anblick so sehr, daß er drauf und dran war, ihr einen Gruß hinüberzuheulen.

Der Gouverneur sprach. Die Lautsprecher waren so aufgestellt, daß im Glockenturm eigentlich zwei Reden zu hören waren. Es klang, als ahmte der Gouverneur sich selbst nach. Der Redner unterstrich den erheben­ den Einfluß des Sports auf die Moral und forderte die Bürger auf, jede Gelegenheit zum sportlichen Wettstreit zu nutzen. Er wies auf die Reparationen hin, zu deren Zahlung Finnland verpflichtet worden und deren Ablei­ stung der große sportliche Erfolg einer ganzen Nation gewesen sei.

»Wenn sich der Zug mit den Reparationsgütern an der Landesgrenze auch nur um eine, ja eine Zehntelsekunde verspätete, so forderte der Empfänger sofort hohe Geld­ strafen. Möge dies der Jugend unseres Landes als an­ schauliches Beispiel dafür dienen, daß man am Ziel­ band nicht zu spät eintreffen darf.«

Der Gouverneur wies auf die Olympischen Spiele hin, die im nächsten Sommer in Helsinki stattfinden sollten. Er sprach die Hoffnung aus, daß auch Sportler dieses Sprengels daran teilnehmen und viele goldene und silberne Medaillen nach Lappland heimbringen würden.

Nach der Rede begannen die Wettkämpfe. Knecht Launola kroch zu Huttunen und gab mimisch zu verste­ hen, daß er ebenfalls zuschauen wollte. Obwohl Huttu­ nen ihn nicht leiden konnte, machte er ihm trotzdem am Fenster Platz. Dankbar verfolgte der unglückliche Ver­ treter des Küsters die Wurfdisziplinen. Ein Mann aus Kantojärvi warf gerade den Speer. Das Gerät flog in die Loge des Gouverneurs, und der Sportler wurde sofort disqualifiziert, obwohl er in Führung lag.

Im Stabhochsprung wurden gute moderne Bambus­ stäbe benutzt. Huttunen erwartete ein entsprechendes Ergebnis, wurde aber enttäuscht, denn der Sieger über­ sprang mit Mühe 3,45 Meter. Als ihm nach dem Wett­ kampf der silberne Löffel überreicht wurde, konnte Huttunen nicht an sich halten und rief vom Kirchturm:

»Tolpatsch!«

Der Ruf durchschnitt den Himmel über dem Sport­ platz. Die Zuschauer und die Ehrengäste starrten in die Wolken, aus denen die Stimme anscheinend gekommen war. Gerade in diesem Moment flogen vom Friedhof her zwei Krähen taumelnd über den Platz und krächzten scheußlich. Der Gouverneur und das übrige Publikum richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Wett­ kampfgeschehen.

Den 400-Meter-Hürdenlauf verfolgte Huttunen mit Spannung. Es gab nur drei Teilnehmer sowie den Foto­ grafen der Nordnachrichten, der mit wehendem Trench-coat neben den Sportlern herlief und Aufnahmen mach-te. Huttunen fand, den harten Kampf habe am Ende der Fotograf gewonnen, denn auf der Zielgeraden verletzte sich der führende Läufer an der letzten Hürde so stark das Knie, daß man ihn zu Doktor Ervinen in die Ehren­ loge tragen mußte. Ervinen verbeugte sich höflich vor dem Gouverneur, zog dem Wettkämpfer die Trainings-hose herunter und schlug ihm mit der Handkante gegen das Knie. Ein Schmerzensschrei durchschnitt die Luft.

So verfolgten Huttunen und Knecht Launola die Meisterschaften von Anfang bis Ende. Mehr als auf die Wettkampfsieger war Huttunens Fernglas jedoch auf die Klubberaterin Sanelma Käyrämö gerichtet, deren goldenes Haar anmutig im Spätsommerwind wehte.

33

Nach dem offiziellen Programm war der Gouverneur bei Kommissar Jaatila zu Gast. Man hatte für ihn die Sauna geheizt, die am Kemifluß stand. Auf der Veranda wurden Appetithappen serviert, es gab Kaffee. Im Gefolge des Gouverneurs befanden sich außer dem Kommissar noch Doktor Ervinen, der Pastor, der Vorsitzende der Ge­ meindevertretung und Bankdirektor Huhtamoinen. Auf den Lehrer hatte man verzichtet, statt dessen aber Viittavaara eingeladen, denn der besaß immerhin einen ansehnlichen Hof und war durch die Koreakonjunktur zu Reichtum gekommen.

Die Gespräche drehten sich um den Koreakrieg, die Olympischen Spiele, die Reparationen, die Industrialisie­ rung Lapplands sowie die Abholzungen, die jetzt auch auf den staatlichen Ländereien eingeleitet worden wa­ ren.

»Unser Volk wird wieder hochkommen«, konstatierte der Gouverneur, als er nackt aus dem kühlen Wasser des Kamiflusses stieg.

Als die erlauchte Gesellschaft die Sauna verlassen und sich in das Zimmer des Kommissars zurückgezogen hatte, wurde eine kleine Kognakflasche geöffnet und ein Glas zur Brust genommen. Ein einziges, denn bedauerli­ cherweise war der Gouverneur ein Verfechter der Absti­ nenz.

»Apropos, etwas ganz anderes… Bis hinauf nach Rovaniemi geht die Rede, daß Sie hier im Sprengel einen geisteskranken Mann haben, der sich einer klinischen Behandlung in Oulu widersetzt. Es wird erzählt, er soll abends zur eigenen Erbauung wie ein Wolf heulen.«

Der Kommissar räusperte sich. Er spielte den Fall herunter, sagte, solche Irren gebe es immer, in jedem Dorf…

Aber Ervinen und Viittavaara begannen mit kognak­ geröteten Gesichtern, dem Gouverneur vom Treiben des Müllers Gunnar Huttunen zu berichten. Sie zählten alle seine Taten einzeln auf, behaupteten, er sei gefährlich, habe eine Waffe und halte das ganze Kirchdorf in Angst und Schrecken. Man komme gegen den Mann nicht an.

Der Kommissar versuchte das Ganze zu mildern. Er erklärte, der Müller sei an sich nicht gefährlich, nur einfältig und ein bißchen verrückt, es lohne nicht, ihn ernst zu nehmen.

»Ich würde Müller Huttunen letztendlich als fröhli­ chen Irren bezeichnen… Er ist zwar unruhig, aber unge­ fährlich und von seinem Grundwesen her ein recht verträglicher Mann.«

Der Gouverneur hatte jedoch genug gehört: »Es kommt nicht in Frage, daß in meinem Bezirk ein

bewaffneter geistesgestörter und, nach allem zu urteilen, sehr gefährlicher Mann frei im Wald herumläuft. Kom­ missar Jaatila! Sie müssen die Suche verstärken. Dieser Mann ist unverzüglich in die Klinik zu schaffen. Für Individuen wie ihn gibt es spezielle staatliche Einrich­ tungen.«

Gerade in diesem Moment ertönte fern vom Reutuberg ein trauriges Geheul. Das Fenster stand einen Spalt offen, der Gouverneur stieß es ganz auf und lauschte aufmerksam. Sein Gesicht hellte sich vor Spannung auf.

»Ein Wolf? Ist das nicht der Ruf eines Wolfes?« Der Kommissar trat ans Fenster, tat, als lausche er,

und sagte dann, wobei er versuchte, das Fenster zu schließen:

»Ja, natürlich… irgendein einsames Tier, das vielleicht über die Grenze gekommen ist. Jetzt im Sommer ist es völlig ungefährlich.«

Der Gouverneur erlaubte nicht, daß das Fenster ge­ schlossen wurde. Er erzählte, dies sei das erste Mal, daß er Gelegenheit habe, das Geheul eines echten und wil­ den Wolfes zu hören.

»Dies ist eine der wunderbarsten Erfahrungen meines Lebens! Kommissar, gießen Sie doch ausnahmsweise noch ein wenig Kognak ein!«

Ervinen durchbrach den Bann, indem er spöttisch bemerkte:

»Das ist kein Wolf. Ich kenne doch die Stimme meines Patienten. Es ist der Müller Huttunen, der da heult.«

Viittavaara bestätigte:

»Genauso winselt er immer. Das ist Huttunen und kein normaler Wolf. Du hast ihn doch selber auch er­ kannt, Jaatila.«

Der Kommissar mußte zugeben, daß auch sein Gehör jetzt besser unterscheide und daß es vielleicht doch Huttunen sei, der da heule.

Der Gouverneur explodierte. Er fand das alles unbe­ greiflich: Man ließ diesen Mann den Sprengel terrorisie­ ren, wie es ihm gefiel! Warum fuhr man nicht sofort hin und verhaftete ihn?

Der Kommissar erklärte, es sei in dieser schneelosen Zeit nicht so einfach, den Müller zu finden. Man brau­ che viele Männer, Spürhunde, Glück… Im Sprengel gebe es nur einen einzigen Polizisten, Wachtmeister Portimo, der seiner Aufgabe nicht gewachsen sei und den Müller schon mehrmals habe entwischen lassen. Man müsse den Huttunen jetzt einfach heulen lassen… Nachher im Herbst, gleich beim ersten Schnee, werde er, der Kom­ missar, dem Gejaule ein Ende machen. Im Moment könne man nichts tun.

Der Gouverneur war anderer Meinung: »Ich werde dafür sorgen, daß von der Grenzkompanie

aus Rovaniemi Jäger und Spürhunde hergeschickt werden. Ein einzelner Mann ist im Wald zu finden, da bin ich sicher. Wenn Sie, Kommissar Jaatila, nicht genügend Männer und Hunde zur Verfügung haben, werde ich mich persönlich um diese Seite der Angele­ genheit kümmern.«

Das Fenster wurde geschlossen. Man schenkte dem Gouverneur Kaffee ein. Kommissar Jaatila saß beleidigt in seinem Sessel. Seine Amtsführung war soeben massiv kritisiert worden. Schuld daran waren der geschwätzige Doktor Ervinen und der tölpelhafte Bauer Viittavaara… und natürlich der Erzteufel selbst: Huttunen.

Nach einiger Zeit machte der Kommissar dem Gou­ verneur den Vorschlag, man solle mit dem Müller Gun­ nar Huttunen in eine Art Friedensverhandlungen eintre­ ten, ein Abkommen anstreben:

»Könnte man den Mann nicht auf irgendeine Art be­ gnadigen? Man könnte ihm eine Botschaft zukommen lassen, daß er aus dem Wald herauskommen kann und daß für die früheren Vergehen keine Anklage erhoben, ja daß er nicht mal gleich in die Klinik gebracht wird… Ich bin sicher, er würde auftauchen, zur Ruhe kommen. Man könnte eine schriftliche Erklärung von ihm verlan­ gen, daß er nie wieder laut heult. Die hiesige Landwirt­ schaftsberaterin hat angedeutet, daß sie Kontakt zu dem Mann hat. Damit wäre die leidige Angelegenheit von der Tagesordnung.«

Der Gouverneur dachte über den Vorschlag nach, kam jedoch zu einem negativen Ergebnis:

»Nein. Das läßt sich nicht machen. Einen Verbrecher könnte man vielleicht noch begnadigen, dafür gibt es keinen Hinderungsgrund, aber wie begnadigen wir einen Geisteskranken? So etwas steht nicht in der Macht der Behörden. Die Sache ist schlicht und einfach die, daß der Mann bei der nächstbesten Gelegenheit in die Ner­ venklinik einzuliefern ist, wo er auf Dauer hingehört. Ich erlaube nicht, daß in den Wäldern meines Bezirkes ein Mensch heult.«

Im Salon wurden Stimmen laut. Die Magd kam und teilte dem Kommissar mit, ein gewisser Launola wolle ihn sprechen. Der Kommissar folgte ihr in den Salon. Der Gouverneur hörte, wie in der erregten Unterhaltung der Name des Müllers Huttunen fiel. Er bat den Kom­ missar und den Knecht ins Arbeitszimmer.

»Erzählen Sie mal, junger Mann, was Sie von diesem Müller Huttunen wissen.«

Launola verbeugte sich und fing damit an, daß er es übernommen habe, den Küster zu vertreten, der krank sei.

»Er hat eine Lungenerweiterung und liegt im Bett, weil ihm keine Medizin hilft… und weil er kein Geld für einen anderen Arzt als bloß für den… ehm… Doktor Ervinen hat.«

Ervinen fuhr ihn an:

»Komm zur Sache, Launola, die verrotzte Lunge des Küsters interessiert den Gouverneur nicht.«

Launola erzählte, er sei am Morgen in den Glocken­ turm hinaufgestiegen, um die Kirchenglocken zu läuten. Im Turm habe Huttunen ihm aufgelauert.

»Kunnari hat mich k. o. geschlagen und mich so ge­ fesselt, daß ich nicht fliehen und nicht schreien konnte. Dann hat er selber die Glocken geläutet, und nach dem Gottesdienst haben wir uns die Sportwettkämpfe ange­

sehen. Den Herrn Gouverneur haben wir dort auch gesehen.«

Launola erzählte, er sei den ganzen Tag Huttunens Gefangener gewesen. Erst abends habe Huttunen mit ihm den Glockenstuhl verlassen und ihn in den Kir­ chenkeller eingeschlossen. Von dort habe er eben erst durchs Fenster fliehen können.

»Das war alles, was ich sagen wollte.« Der Knecht durfte gehen. Als sich die Tür hinter ihm

geschlossen hatte, sagte der Gouverneur mit strenger Stimme:

»Da der Mann ein derartiges Verhalten und eine so ungeheure Frechheit an den Tag legt, ist er schnellstens festzunehmen, notfalls mit Hilfe der Armee. Kann man sich ein schlimmeres Glaubensverbrechen vorstellen – ein Irrer läutet im Gotteshaus die Glocken!«

Der Gouverneur öffnete noch einmal das Fenster. Alle lauschten schweigend. Aber am Reutuberg blieb es still. Huttunen war bereits unterwegs zu seinem Lager auf der Westseite.

34

Ein paar Tage vergingen, da tauchte ein Bekannter im Lager auf: Happola. Huttunen lag in seinem Unterstand und las in der Kaitilaschen Handelslehre, als die Un­ glückshäher vom Dach aufflatterten und ihn von seiner Lektüre aufschreckten. Mit dem Stutzen in der Hand wartete er auf den Ankömmling. Als er seinen Kamera­ den aus der Nervenklinik erkannte, fragte er als erstes:

»Wie kannst du denn jetzt schon hiersein?« »Du hast doch geschrieben! Es war gar nicht so ein­

fach, dein neuer Wohnort ist umständlich zu erreichen. Aber du hast in deinem Brief alles ziemlich genau be­ schrieben. Bloß den Briefkasten konnte ich beim besten Willen nicht finden!«

Happola wirkte vital und fröhlich. Er trug eine neue Lederjacke und Stiefelhosen mit hinten aufgenähtem Lederbesatz. Seine Füße steckten in neuen Schaftstie­ feln. Huttunen hängte den Kaffeekessel übers Feuer und schnitt seinem Kameraden Brot und Speck auf.

Nach dem ersten Becher Kaffee kam Happola auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Er berichtete, er sei vor zwei Tagen in Oulu aufgebrochen, habe in Kemi übernachtet und sich danach die Mühle von Suukoski angesehen. »Gestern und heute habe ich in deiner Müh­ le rumgestöbert.«

»Na, wie findest du sie? Ist doch gut in Schuß, oder?« fragte Huttunen gespannt.

Happola gab zu, daß die Mühle einigermaßen in Ord­ nung sei, oberflächlich betrachtet. Das Gebäude habe einen neuen Anstrich. Das Wehr habe stabil gewirkt. Auch die Wasserräder seien in einem brauchbaren Zustand. Beim Treibriemen sei er da nicht so sicher. Huttunen sagte, er habe bereits im Frühjahr einen neuen für die Mehlsteine bestellt. Der liege abholbereit am Bahnhof, man brauche nur die Rechnung beim Eisenwarenladen in Kemi zu bezahlen.

Happola sagte:

»Ich verstehe ja nicht viel von Mühlen, aber die Schrotsteine machten einen neueren Eindruck als die Mehlsteine. Und wie du weißt, lohnt sich die Verwen­ dung von Schrotsteinen heute kaum noch.«

»Aber die Mehlsteine tun es bestimmt noch etliche Jahre«, behauptete Huttunen.

»Der größte Mangel an der Mühle ist aber der, daß die untersten Balken am Gebäude ziemlich morsch sind. Auf der Südseite müßten mindestens drei Lagen Balken erneuert werden. Denselben Fehler findet man auch am unteren Ende der Zulaufrinne. Ich hab’ die Balken mit dem Messer geprüft, und die Spitze ist so tief reingegan­ gen, obwohl ich mit der linken Hand gedrückt hab’«, erklärte Happola und zeigte die entsprechende Spanne.

Huttunen gab zu, daß an der Wand zum Wasserrad hin vielleicht tatsächlich in den nächsten Jahren ein paar Lagen Balken erneuert werden müßten. Aber da die Mühle auf Pfeilern ruhe, sei die Einfügung neuer Balken überhaupt kein Problem:

»Wenn du mit einem Hebel die Balken auf Höhe der Pfeiler anhebst und das morsche Holz darunter aus­ tauschst, brauchst du nachher bloß das Gebäude he­ runterzulassen und fertig. Ein Zimmermann macht dir

das in ein oder zwei Tagen.«

»Aber auf den Preis wirkt es sich aus. Und du mußt bedenken, daß ich eigentlich überhaupt keine Mühle brauche, weil ich nicht im Getreidegeschäft bin.«

Trotzdem unterbreitete Happola ein Kaufangebot. Der Preis war gering, für die Summe bekäme Huttunen höchstens ein kleines Häuschen oder zwei, drei Arbeits­ pferde mit Geschirr und Wagen. Dennoch war er ge­ zwungen, den Preis zu akzeptieren, da er hier draußen in der Einöde keine besseren Angebote zu erwarten hatte. Die Männer bekräftigten die Abmachung mit Handschlag, und damit war alles perfekt. Happola ver­ sprach, das Geld zu schicken, sobald der Notar seinen Namen unter das Papier gesetzt habe. Er sagte, er werde die Papiere fertigmachen, sowie er wieder in der Stadt sei.

»Zufällig kenne ich in Kemi einen Notar. Ich müßte mich bloß erst nach eventuellen Hypotheken erkundigen – obwohl ich dir natürlich vertraue, so ist es nicht«, sagte Happola, der mit dem ersten Mühlenkauf seines Lebens sehr zufrieden schien.

Die Männer erinnerten sich an ihre gemeinsamen Kli­ nikzeiten. Huttunen wollte wissen, wie es Happola ge­ lungen sei herauszukommen.

Happolas Gesicht verfinsterte sich, als die Rede dar-auf kam.

»Verflucht noch mal, der Spaß hat mich etliche Jahre meines Lebens gekostet. Die letzten fünf Jahre habe ich in dem Irrenhaus völlig umsonst zugebracht.«

Er erzählte, er sei nach Ablauf der zehn Jahre zum Arzt marschiert und habe verkündet, er sei in Wahrheit völlig gesund. Er habe seine ganze Geschichte erzählt. Anfangs habe man ihn nicht für voll genommen, doch schließlich, nach Enthüllung seines Doppellebens in der Stadt, habe man ihm geglaubt. Widerstrebend habe man ihn gesundgeschrieben, der Entlassung allerdings Hin­ dernisse entgegengestellt:

»Als den Kerlen nichts anderes einfiel, haben sie in der Klinik einen Wirtschaftsleiter eingestellt. Der hat gesagt, die Klinik ernährt Gesunde nicht umsonst. Er hat mir eine Rechnung für fünf Jahre hingeknallt und gesagt, wenn ich nicht bezahle, komme ich nicht raus. Dann haben sie mich in ein Einzelzimmer, eine Zelle für Unruhige, gesteckt und mir mit der Zwangsjacke ge­ droht, falls ich nicht bleche.«

Er habe sich erkundigt, mit welchem Recht man von ihm für die letzten fünf Klinikjahre eine Bezahlung verlange, und zwar für Verpflegung und Behandlung. Daraufhin habe man ihm erwidert, eigentlich bestehe Grund, ihm die Kosten für alle zehn Jahre in Rechnung zu stellen, doch Essen und Aufenthalt der ersten fünf Jahre seien verjährt. So sei er schließlich gezwungen gewesen, für die empfangene Pflege Geld herauszurük­ ken.

»Die Rechnung war eine Schweinerei. Ein fieser Kerl, der Wirtschaftsleiter. Für das Essen waren fast Gast­ stättenpreise veranschlagt, mit Mittag- und Abendessen und allen möglichen Pflegekuren. Und Miete! Als hätte ich fünf Jahre in einem Hotel logiert! Der ganze Sums mußte auf einen Schlag bezahlt werden. Als ich draußen war, bin ich mit der Rechnung gleich zu einem Anwalt marschiert, die Sache kommt jetzt im Winter vors Land­ bezirksgericht. Aber bezahlen mußte ich trotzdem, und das habe ich gemacht.«

Happola war wütend. Er ließ sich über das Essen in der Klinik aus.

»Den Brei habe ich zehn Jahre lang gegessen. Du hast ihn ja abgelehnt, aber ich habe ihn gegessen, und zu welchem Preis, verflucht noch mal!«

»Viel wert war der Fraß wirklich nicht«, gab Huttunen zu. Er erinnerte sich noch gut an das Grundgericht der Anstalt, einen dicken Haferflockenbrei auf der Grundla­ ge von Futterkorn. Der Brei klumpte und war meist bei der Ausgabe schon kalt. Oft waren Grannen darin.

»So nehmen sie einen in den staatlichen Einrichtun­ gen aus«, klagte Happola. »Aber zum Glück ist der Ko­ reakrieg noch nicht vorbei. Ich hab’ in Kiiminki an die sechzehn Hektar Wald verkauft. Mit den Moneten hab’ ich die Klinikrechnung bezahlt. Und es ist noch so viel übrig, daß ich dir mit deiner Mühle helfen kann. Ich hab’ in Kajaani einen Käufer dafür, kaufe sie also nicht, um sie stillstehen zu lassen.«

Huttunen fragte, wie es ihren gemeinsamen Zimmer­ gefährten in der Anstalt gehe. Happola schüttelte den Kopf.

»Die sind wie immer. Bloß Rahkonen ist Anfang Juli gestorben. Das war der Kerl, der immer von morgens bis abends mit gerunzelter Stirn in der Ecke saß. Eines Abends ist er einfach gestorben, hat nichts gesagt, ist bloß umgekippt, und das war alles. Dafür brachten sie ein paar Tage später einen, der ein bißchen munterer war, so ein Typ, der andauernd über alles lacht. Der Hänfling, erinnerst du dich an den? Der arme Junge hat es sehr schwer genommen, daß du abgehauen bist. Wochenlang hat er gefragt, wann du wiederkommst. Und dann die Putzfrau, die immer rumgeschrien hat! Sie wurde auf die Frauenstation versetzt, und da hat sie die verrückten Weiber beschimpft, bis die sie eines Tages verdroschen haben. Dabei haben sie ihr ein Bein gebro­ chen, und jetzt liegt sie in der Diakonie. Die Weiber haben es ihr so gründlich besorgt, daß sie nicht vor Weihnachten zurückkommt. Bei uns hat nachher ein Mann saubergemacht. Ein fauler Lümmel. Redet nicht, tut aber auch nichts.«

»Und der Arzt?«

Happola erzählte, der Stationsarzt reibe auf seiner Brille herum wie eh und je.

»Der ist vielleicht explodiert, als ich ihm sagte, ich bin gesund, also tschüs! Er hat angefangen zu kreischen und zu schreien und sich nicht beruhigt, bis die Pfleger gekommen sind und gedroht haben, sie stecken ihn in die Zwangsjacke. Es war hart für ihn. Ist natürlich verständlich: da behandelt er einen Kerl zehn Jahre lang als angeblich Verrückten, und plötzlich kommt der anmarschiert und sagt, er sei gesund.«

»Der Arzt war selber nervenkrank.«

»Das kann man wohl sagen. Der irrste Arzt von Finn-land.«

Huttunen zeigte seinem Kameraden das Lager, die von Ervinen beschaffte Ausrüstung, die Waffe und Piittisjär­ vis Schnapsbrennerei. Er erzählte von seinem eigenen Schicksal und allem, was vorgefallen war. Er sagte, in Anbetracht der Umstände lasse sich sein Leben zur Zeit ganz gut an. Auf lange Sicht komme ein solches Einsied­ lerleben jedoch nicht in Frage. Im Winter werde die Existenz schwierig. Wenn Schnee liege, könnten die Behörden sein Lager entdecken. Er habe daran gedacht, sich tiefer in die Einöde zurückzuziehen und eine Hütte zu bauen. Erst müsse er sich allerdings eine finanzielle Grundlage schaffen.

»So ein Einsiedlerleben ist ziemlich hart.« Dann erzählte er von seinen kaufmännischen Studi­

en. Er zeigte die Lehrbriefe der Fernakademie und redete in den Termini der Geschäftswelt. Happola hörte inter­ essiert zu.

»Wenn du nicht offiziell verrückt wärst, könnten wir ein gutes Paar abgeben. Ich bin ja mein Leben lang kaufmännisch tätig gewesen. Der Großhandel würde mich interessieren. Mach du mal diese Handelsschule fertig, dann sehen wir weiter. Wir könnten in Oulu oder Kemi ein Großhandelskontor aufmachen. Ich würde in Geschäften unterwegs sein, und du würdest den Papier­ kram und die laufenden Angelegenheiten der Firma erledigen.«

Huttunen bewirtete seinen Gast mit gesalzener Bach­ forelle. Nach dem Essen begleitete er ihn zur Landstra­ ße. Als sie sich trennten, verabschiedete sich Happola mit Handschlag:

»Ich schicke gleich morgen etwas Schriftliches über den Mühlenkauf an dich ab. Das Geld kriegst du, sowie die Papiere fertig sind, da kannst du ganz unbesorgt sein.«

Huttunen kehrte zufrieden in sein Lager zurück. Er spürte nach langer Zeit wieder ein wenig Sicherheit, erstmals seit Monaten zeigte sich die Zukunft in helle-rem Licht. Jetzt hatte er Geld in Aussicht. Das Studium machte Fortschritte… Vielleicht konnte er sehr bald mit Sanelma Käyrämö ins Ausland reisen und dort ein neues Leben beginnen!

35

In der nächsten Woche schleppte Piittisjärvi wieder Gemüse und Post ins Lager des Einsiedlers. Klubberate­ rin Sanelma Käyrämö warnte Huttunen in ihrem Brief vor weiterem Heulen, denn der Gouverneur persönlich habe gedroht, die Armee auszuschicken, um ihn zu verhaften, falls das Geheul und die Übeltaten nicht aufhörten. Am Schluß ihres Briefes erklärte sie, daß sie Huttunen qualvoll brennend liebe, und unterstrich gleichzeitig die Wichtigkeit des Handelsstudiums. Das mitgeschickte Gemüse empfahl sie zu reiben oder auch als Salat zu essen.

Noch ein zweiter wichtiger Brief war gekommen: von Happola. Huttunen öffnete ihn triumphierend – jetzt war der Verkauf der Mühle perfekt, er brauchte nur seinen Namen unter die Papiere zu setzen und sich von Happo­ la das Geld zu holen.

Entsetzlich war seine Enttäuschung, als er die Bot­ schaft las. Sie besagte, daß Happola die Mühle gar nicht kaufen könne, denn sie sei vom Sozialausschuß be­ schlagnahmt worden. Huttunen sei für unzurechnungs­ fähig erklärt worden und habe somit kein Recht mehr, sein Eigentum zu veräußern oder zu verpfänden.

»Unter diesen Umständen wird also nichts aus dem Geschäft. Versuch, das Veräußerungsverbot rückgängig zu machen, dann kaufe ich deine Mühle bestimmt. Behalt den Kopf oben. Happola.«

Huttunen griff nach dem Stutzen, steckte den Lauf in den Mund und wollte sich auf der Stelle erschießen. Piittisjärvi versuchte, seinen Kameraden zu beruhigen, und sagte, er wäre verrückt, wenn er sich jetzt erschie­ ßen würde.

»Das würde den Herren im Kirchdorf ja gerade gefal­ len.«

Huttunen dachte über die Worte nach und fand, der Briefträger habe recht.

»Ich brenne die verfluchte Mühle ab, dann ist sie weg!« Er schulterte den Stutzen und machte sich augen­

blicklich auf den Weg ins Dorf. Piittisjärvi versuchte, mit ihm Schritt zu halten, fiel aber schon in der Mitte des Pukkosumpfes zurück. Huttunen verschwand im Wald. Piittisjärvi dachte, wenn Huttunen in diesem Zustand im

Kirchdorf erscheine, werde es erst den richtigen Tumult geben. »Noch dazu mit dem Schießeisen…«

Es war Nachmittag, der Sumpfboden bebte und der Schlamm spritzte, als der Einsiedler zur Landstraße rannte. Er kam am Stationsdorf vorbei, ruderte über den Kemifluß und lief quer durch die Wälder nach Suukoski. Unterwegs riß er mit beiden Händen Rindenstücke von den Birken. Schweißgebadet kam er bei der Mühle an. Er riß die zugenagelte Tür auf und stürmte nach oben in die Stube.

Aus dem Holzkasten neben dem Ofen griff er sich ei­ nen Armvoll trockenes Kleinholz. Mit kräftigen Zügen schnitzte er ein Bündel Späne zurecht. Dann trug er alles nach unten, wo er es zwischen Schrot- und Mehl­

steinen zu einem Lagerfeuer aufstapelte. Er schichtete die Scheite fugenweise, steckte Späne und Rindenstücke dazwischen und holte die Streichhölzer aus der Tasche. Er riß ein Streichholz an, war aber so erregt, daß es in seinen vor Wut zitternden Händen erlosch.

Er blickte sich um. In dieser Mühle war alles vertraut und gediegen: die Steine, die Wandbalken, die Kisten, die Mehlbehälter. Sie schienen ihren Herrn und Gebieter um Gnade anzuflehen: nicht verbrennen!

Huttunen unternahm keinen weiteren Versuch. Er sammelte sämtliches Zubehör ein, rückte den Stutzen über der Schulter zurecht und verließ die Mühle. Er band Holz und Späne auf den Gepäckträger seines

Fahrrads und sprang auf den Sattel wie ein Jäger, der zum Angriff stürmt.

»Verflucht, ich brenne das ganze Dorf nieder«, ver­ kündete er mit dumpfer Stimme. Der Gewehrkolben schlug gegen das Fahrradgestell, als Huttunen ins Zen­ trum des Kirchdorfes radelte. Viittavaaras Hof sauste vorbei, dann Siponens, dann der Laden. Dort verlang­ samte Huttunen das Tempo und wollte Tervolas Ge­ schäftsräume in Flammen aufgehen lassen, fand dann jedoch, die Beute sei zu gering. Sein Zorn verlangte nach größerer Rache. Erst am Spritzenhaus stoppte er. Viel­ leicht sollte er hier beginnen?

Aber sein Blick wanderte zum Friedhof mit der neuen Kirche, dem mächtigsten Gebäude des Sprengels, und er hatte eine Idee:

»Wenn ich die abbrenne, lernen sie’s endlich!« Er radelte über den Friedhof zum Hauptportal. Um

die Kirche war es still und öde, die Tür war nicht abge­ schlossen. Huttunen trug Holz und Späne hinein. Er machte sich daran, im Mittelgang unmittelbar vor dem Altar das Lagerfeuer aufzuschichten. Der Gewehrkolben schlug polternd auf die Dielen, als Huttunen sich bei der Arbeit niederkniete, und das Echo hallte durch das weite Kirchenschiff.

Als der Holzstoß fertig war, stand Huttunen auf und tastete in seinen Taschen nach den Streichhölzern. Wütend und rachedurstig sah er sich in der mächtigen Kirche um. Sein Blick fiel auf das Altarbild, das Jesus am Kreuz darstellte. Er drohte dem Gemälde mit der Faust.

»Du bist auch so ein Schlauberger! Warum mußtest du mich zu einem Irren machen?«

Ihm war, als sähe ihm Jesus scharf in die Augen. Der leidende Ausdruck auf dem Gesicht des Erlösers ver­ wandelte sich erst in Verblüffung, dann in nachsichtige Güte. Er öffnete den Mund und begann zu sprechen. Der gewaltige Kirchenraum hallte wider, als er zum Einsiedler sagte:

»Lästere nicht, Huttunen. Dein Verstand dürfte kei­ nen nennenswerten Schaden haben. In der Fernakade­ mie der Volksbildungsgesellschaft hat man dir gute Noten gegeben. Du hast mehr Grips als Viittavaara und Siponen zusammen und viel mehr als der Pastor dieses Sprengels, der immerhin Gelegenheit hatte, seinen Geist durch akademische Studien zu bilden. Ich habe den Mann immer verabscheut, er ist letzten Endes ein nichtssagender Typ, ein widerwärtiger Pfaffe.«

Huttunen lauschte verblüfft. War er nun endgültig geisteskrank, da schon ein Altarbild zu ihm sprach?

Jesus fuhr mit sanfter, aber hörbarer Stimme fort: »Jeder von uns hat sein Kreuz zu tragen, Huttunen…