kippte. Auf der Klubparzelle machte sich jemand zu schaffen, eine Frau. Huttunen erkannte sofort Sanelma Käyrämö, die bei den roten Rüben hockte und Unkraut jätete. Er stürzte hinaus und sprang so schnell die
Treppe hinunter, daß seine Füße nur jede fünfte Stufe berührten.
Portimo beobachtete durchs Fenster, wie der Müller über die Rübenbeete zur Klubberaterin rannte, sie in seine Arme riß und ihr einen Kuß auf die Lippen drück te. Sie erschrak zunächst sehr, doch als sie den An kömmling erkannte, warf sie sich an seine Brust und ließ sich umarmen und herzen.
Als aus dem Gemüsegarten kurz darauf eifriges Reden zu hören war, öffnete Portimo das Fenster und zischte dem Paar zu:
»Seid leise! Es könnte euch jemand hören, und dann geht er hin und ruft die Polizei an! Kommt sofort rein.«
Die beiden kamen mit glücklich glühenden Gesichtern in die Stube. Lange Zeit herrschte Schweigen, bis sich der Polizist räusperte und sagte:
»Um unseren Kunnari steht es nicht sehr gut, oder was meinen Sie, Fräulein?«
Die Beraterin nickte. Sie genierte sich in Anwesenheit des Polizisten. Dieser fuhr fort:
»Ich habe gerade zu Kunnari gesagt, daß er sich im Wald verstecken sollte, erst mal bis zum Herbst jeden falls. Dann muß man sehen, wie sich die Situation entwickelt.«
Die Beraterin nickte wieder und sah Huttunen an, der anscheinend nichts einzuwenden hatte. Portimo bemüh te sich um einen amtlichen Ton:
»Können wir uns darauf einigen, Fräulein Beraterin, daß wir offiziell nichts von diesem Mann wissen? Für mich als Beamten ist es ein bißchen heikel, jemandem in einer solchen Situation zu helfen… Ich will damit sagen: Verheimlichen wir die Hilfeleistung.«
So wurde es beschlossen. Außerdem vereinbarte man, daß die Beraterin dem Müller noch in derselben Nacht Essen bringen werde, welches von Portimos Frau abzu holen war. Sie verließen zu dritt die Mühle. Huttunen nahm eine Decke und einen Regenmantel mit und zog die Gummistiefel an. In seinen Gürtel steckte er das Messer.
Auf der Landstraße verabschiedete sich Portimo von Huttunen mit Handschlag.
»Versuch nun, irgendwie klarzukommen, Kunnari. Es sind die Dinge, die hier im Widerstreit stehen, nicht die Männer. Du kannst mir glauben, daß ich dich nicht jagen werde.«
Nachdem Portimo fort war, gingen der Müller und die Beraterin zur Erleninsel. Sanelma Käyrämö holte von Portimos Frau Kartoffeln und Soße im Henkelmann. Obwohl das Essen unterwegs ein wenig abgekühlt war, schmeckte es dem hungrigen Müller vorzüglich. Er aß schweigend, fast andächtig, sein großer Adamsapfel an der Kehle bewegte sich auf und ab. Der Anblick wirkte auf die Beraterin so rührend, daß sie dem Essenden eine Hand auf die Schulter legte und mit der anderen sein Haar streichelte. Waren darin graue Strähnen aufgetaucht, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte? Im Dämmerlicht des Zeltes ließ sich das nicht mit Be stimmtheit sagen.
Die Klubberaterin spülte das Gefäß aus. Anschließend begleitete Huttunen sie zum Ufer der Insel, folgte ihr aber nicht über den Bach. Tränen traten ihm in die Augen, als Sanelma Käyrämö im nachtdunklen Erlenge strüpp verschwand.
Traurig kehrte er in sein Zelt zurück, streckte sich auf dem trockenen Heu aus und dachte, daß er nun ganz allein sei. Die Nacht um ihn war vollkommen geräusch los, kein einziger Vogel sang.
2. Teil
Die Jagd auf den Einsiedler Das Leben des Müllers Gunnar Huttunen war jetzt an einem bedenklichen Wendepunkt angelangt: Er war ein mühlenloser, obdachloser Mann. Man hatte ihn und er sich aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlos sen. Wie lange er den menschlichen Ansiedlungen fern bleiben mußte, war nicht zu sagen.
Einsam saß er am Bach und lauschte dem Plätschern der Stromschnelle, die in der Kühle der Sommernacht das Wasser einer fernen Quelle an ihm vorbeiführte. Hätte er ein schmerzendes Geschwür in der Brust ge habt, so dachte er bei sich, dann hätte man ihn in Ruhe leben lassen, man hätte ihn bedauert, ihm geholfen, ihn umsorgt. Aber daß sein Gemüt anders war, wurde nicht geduldet, sondern man verstieß ihn aus der menschli chen Gemeinschaft. Lieber wählte er jedoch die Einsam keit der Wildnis als das vergitterte Zimmer der Nerven klinik, wo ihn nur deprimierte und apathische Wracks umgaben.
Eine Grauforelle oder Äsche sprang aus dem dunklen Fluß. Huttunen erschrak. Ein Wasserring trieb an ihm vorbei, zerplatzte und wurde von der Strömung aufgeso gen; es ging ihm durch den Sinn, daß er nun nicht mehr Brot und Speck essen würde wie in den Tagen als Mül ler, sondern seine Lebensgrundlage wären von jetzt an Fisch und Wild. Er tauchte die Hand in das kühle Was ser und stellte sich vor, er wäre eine Bachforelle, ein Exemplar von mindestens einem Kilo Gewicht. In seiner Phantasie schwamm er gegen den Strom, flitzte im flachen Wasser zwischen den Kieseln hindurch, ruhte sich kurz unter einem moosbewachsenen Stein aus, schlug mit dem Schwanz, öffnete die Kiemen, stieß durch die Wasseroberfläche, glitt aber sofort wieder in die Flut, mit dem Schwanz seinen Weg beschleunigend. Das strömende Wasser rauschte in seinen Kiemendek keln, als er den nächtlichen Bach hinaufschwamm. Doch dann bekam er Lust auf eine Zigarette, beendete fürs erste das Dasein als Fisch und fing statt dessen an, über sein Leben nachzudenken.
Er fürchtete vor allem eines, nämlich daß er bei seinem Einsiedlerleben endgültig den Verstand verlieren könnte. Nachdem er lange in dieselbe Richtung geblickt hatte, war es ihm, als zöge sich ein blecherner Reifen um seine Stirn zusammen. Er mußte kräftig den Kopf schütteln, ehe der Druck nachließ.
Er erhob sich, brach ein paar Erlenzweige ab, ohne zu wissen, warum, warf sie in den dunklen Bach und sagte zu sich selbst:
»Unter diesen Bedingungen kann der Verstand drauf gehen.«
Ernst trat er in sein Zelt. Durch seinen Kopf wirbelten alle möglichen Gedanken, einer immer sonderbarer als der andere, so daß er keine Ruhe fand. Erst als die Morgenvögel schon ihr Lied anstimmten, schlief Huttu nen für kurze Zeit ein. Dabei suchten ihn so schwere Träume heim, daß er beim Aufwachen in kalten Schweiß gebadet war.
Er wusch sich im morgenkühlen Bach. Die Sonne war bereits aufgegangen. Wieder meldete sich der Hunger, doch Huttunens Stimmung hatte sich gebessert: Er war voller Energie und Tatendrang. In seinem Gehirn ent standen Pläne für sein Leben als Einsiedler.
Für den Anfang würde Sanelma ihm Essen bringen, doch auf die Dauer konnte sie mit ihrem kleinen Gehalt keinen erwachsenen Mann in der Wildnis ernähren, das war ihm völlig klar. Er machte sich daran, ein Verzeich nis der Gegenstände aufzustellen, die sein Leben in den Wäldern erleichtern würden: eine Axt, ein Jagdmesser, ein Rucksack, Geschirr, Kleidung… all das würde er jetzt brauchen. Er beschloß, nach Suukoski zu gehen, um sich die notwendige Ausrüstung zu holen. Es war noch so früh am Morgen, daß ihn kaum jemand in der Mühle suchen würde. Er lief durch die Wälder, und am Ziel angekommen, zwängte er sich unter dem Gebäude in die Turbinenkabine und stieg von da durch die Luke nach oben.
Er ging in seine Stube, öffnete den Schrank und holte den Rucksack heraus. Dieser war relativ neu, welch ein Glück, daß er ihn seinerzeit angeschafft hatte. Während des Krieges, besonders in der Rückzugsphase, hatte er stets den elenden Armeerucksack verflucht. Der war immer voller Zeug gewesen und hatte, besonders beim Laufen, gescheuert und gegen das Schlüsselbein gedrückt. Nichts hatte hineingepaßt, doch hatte er ein Gewicht gehabt wie der Teufel. Dieser neue Rucksack dagegen war geräumig und stabil, er hatte unter den breiten Schulterriemen dicke Filzpolster, außerdem einen Bauchgurt sowie eine Anzahl weiterer Riemen für die Befestigung von Gegenständen. Er war wie Geschirr und Decke eines kleinen Pferdes. Huttunen machte sich daran, den Rucksack zu füllen.
Kochtopf, Kaffeekessel, Bratpfanne, Trinkbecher, Löffel, Gabel. Brauchte er noch mehr Geschirr? In die Seitentaschen des Rucksacks stopfte er zwei kleine Gefäße mit Zucker und Salz sowie je eine Flasche mit Kampfertropfen und Mundwasser. Außerdem steckte er Schmerzpulver ein – weitere Medikamente besaß er ohnehin nicht.
Er wickelte seine Pelzmütze fest in eine Decke. Aus einem alten Flanellhemd riß er sich Stoffstücke für Fußlappen heraus, je zwei aus Vorder- und Rückenteil. Die mußten reichen, wenn er die Wollsocken mitzählte, die er an den Füßen trug. Die Stiefel waren zum Glück heil, doch Gummiflicken mitzunehmen war trotzdem ratsam. Huttunen untersuchte die Schäfte seiner Stiefel mit gutem Gefühl: er rieb beim Gehen niemals die Beine aneinander – er war keineswegs X-beinig. Das spart Stiefel. Ein Mann mit X-Beinen verbraucht zwei Paar im Jahr, wenn er auch nur ein bißchen herumläuft.
»Wetzstein und Feile…«
Huttunen steckte beide in eine Seitentasche. Aus dem Schuppen holte er die Säge, montierte die Griffe ab, rollte das Sägeblatt zusammen, wickelte es in Pappe und hängte es seitlich an den Rucksack. Als nächstes nahm er die Wäscheleine ab und rollte sie auf. An der Mühle von Suukoski würde eine Weile kein Waschtag gehalten werden.
Eine Handvoll dreizölliger Nägel. Kamm, Spiegel, Ra sierapparat, Pinsel und Seife. Ein Bleistift und ein blau kariertes Heft. Er brauchte alles. Sollte er ein paar Bü cher einstecken? Er stellte fest, daß er alle Bücher in seinem Regal bereits mehrmals gelesen hatte, es war überflüssig, sie durch die Wälder zu schleppen. Das Radio? Es war zu schwer. Der Apparat ginge vielleicht noch an, aber der Akku war zuviel Gewicht.
Huttunen schaltete das Radio ein. In den Frühnach richten ging es um den Koreakrieg. Jeden Tag reden sie davon, dachte er. Den Bauern gefiel dieser Krieg sehr – so mancher von ihnen war durch Waldverkauf reich geworden, denn der Krieg heizte die Konjunktur an. Ein schäbiger Stapel Schnittholz und eine lumpige Ladung Stämme, und schon hatte der Bauer das Geld für einen Traktor beisammen. Viittavaara und Siponen hatten im Frühjahr derartige Mengen Holz verkauft, daß sie auf Jahre hinaus genug Geld hatten. Verärgert schaltete Huttunen das Radio aus.
»Menschenskinder, und Siponens Alte besitzt noch die Frechheit, im Bett zu liegen und die Gelähmte zu spie len. Für das Weibstück zahle ich dem Kerl keinen Pfen nig.«
Nadel und Faden und ein paar Knöpfe mußten noch mit. Aus einem alten Schulatlas riß Huttunen die Seite mit den nördlichen Landesteilen heraus. Schade, daß er keinen Kompaß besaß. Zwei Garnituren Unterwäsche und eine Unterziehhose. Die ledernen Fäustlinge und die Filzsocken. Die Pelzmütze war schon eingepackt. Huttunen rollte noch die Lammfelljacke zusammen und band sie oben auf den Rucksack.
»Wer weiß, vielleicht sitze ich noch im Winter draußen im Wald…« Es war eine teure Jacke, er hatte sie sich nach dem Krieg in Kokkola besorgt.
Hobel, Stemmeisen, Meißel und eine fingerdicke Boh rerspitze. Damit konnte er aus jedem Material einen Stiel schnitzen. Wofür brauchte er im Wald eigentlich den Hobel? Vielleicht wäre es doch klüger, ihn dazulas sen. Dann fiel ihm ein, daß er sich Skier hobeln mußte, falls er im Winter noch dort draußen saß. Die Skier jetzt im Sommer mitzunehmen war ungünstig. Er stellte sich vor, wie er mitten im Sommer mit geschulterten Skiern herumlief.
»Wenn einer mich sieht, hält er mich für verrückt.« Der Hobel wurde eingepackt. Kerze, Streichhölzer, das
Fernglas. Die eine Linse hatte sich getrübt, als das Fernglas im Syväri naß geworden war, doch durch die andere konnte man einwandfrei sehen. Jetzt würde er Zeit haben, das Objektiv zu zerlegen und die Gläser zu polieren. Nun noch die Schere und das Angelzeug: ein Stück Netz, ein knappes Dutzend Spinner und Blinker, Schnur, Angelhaken, Pilker, ein Stück Blei. Damit muß te er sich nun seine Nahrung beschaffen, zum Glück hatte er alles vorrätig. Auch Fliegen besaß er dutzend weise, hatte sich im vergangenen Winter jede Menge davon geknüpft.
Der Rucksack war so voll geworden, daß er kaum mehr auf den Rücken zu heben war. Huttunen prüfte sein Gewicht und ging dabei fast in die Knie.
Er schleppte den Rucksack die Treppe hinunter und unten durch die Luke in den Wald. Es war eine schweiß treibende Angelegenheit. Er versteckte den Rucksack in einem Fichtengehölz und kehrte noch einmal in seine Behausung zurück. Ihm war eingefallen, daß ihm viel leicht auch der Zinkeimer von Nutzen sein könnte. Er beanspruchte zwar Platz, wog aber nicht viel. Mit dem Eimer in der Hand stand er da und überlegte, ob er irgend etwas Wichtiges vergessen hätte. Nein, er schien alles zu haben, was er brauchte. Er blickte zum Garten hinaus, weil er auf die Idee kam, sich ein paar Rüben mitzunehmen, die bereits eine eßbare Größe erreicht hatten.
Am Rand der Parzelle stand eine Gruppe Menschen. Etwa ein Dutzend Männer aus dem Dorf bildeten einen Kreis um den Kommissar. Huttunen erriet, daß man nun gekommen war, um ihn zu holen. Blitzschnell rannte er zur Treppe. Der Eimer stieß scheppernd gegen den Türrahmen. Huttunen befürchtete, daß das Ge räusch draußen zu hören sei. Er öffnete die Luke zur Turbinenkabine und zwängte sich mit dem Eimer im Arm hinein. Im selben Augenblick wurde die Tür aufge rissen, und die Männer traten in die Mühle. Huttunen erkannte die Stimme von Wachtmeister Portimo, der eben erklärte:
»Gestern war jedenfalls keiner hier. Kann sein, daß er sich im Wald versteckt hält.«
Die Männer trampelten genau über Huttunen hinweg, die Luke knarrte unter ihren Schritten. Mehlrückstände rieselten durch die Bretterritzen. Der Müller saß in unbequemer Stellung in der engen Kabine und hoffte, daß niemand auf die Idee käme, die Mühle in Gang zu setzen; dann wäre er verloren: in dieser Enge würden ihn die Schaufeln der Turbine zerquetschen. Durch die zum Oberlauf gelegene Wand tropfte ihm Wasser in den Nacken, anscheinend floß ein wenig durch die Rinne. Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß er sie im Herbst würde abdichten müssen.
An den Stimmen erkannte er Viittavaara, Siponen, den Kaufmann Tervola, den Wachtmeister und den Kommissar. Es waren auch noch ein paar andere Män ner dabei, vielleicht der Lehrer und Siponens Knecht Launola. Viittavaaras Stimme ertönte:
»Er ist aber hiergewesen. Seht mal, wie sorgfältig er den Mehlstaub aufgefegt hat.«
Die Männer stiegen die Treppe hoch. Man rief nach Huttunen. Der Kommissar brüllte, Huttunen brauche gar nicht erst Widerstand zu leisten:
»Ganz ruhig rauskommen, wir sind in der Über macht!«
Bald stellten die Männer fest, daß die Mühlenstube leer war. Enttäuscht kehrten sie um. Viittavaara äußer te:
»Immerhin hat er noch die Mühle in Ordnung ge bracht, bevor er verrückt wurde.«
Die Männer gingen hinaus, nur Viittavaara blieb noch zurück. Nach den Geräuschen zu urteilen, legte er den Treibriemen auf. Huttunen konnte hören, wie das Lager des Obersteins knackte. Viittavaara rief den anderen zu:
»Wollen wir zur Probe die Mühle anschmeißen? Kann ja sein, daß sie zum Herbst an die Kommune fällt. Dann wissen wir Bescheid und können selber unser eigenes Korn mahlen.«
Huttunen erstarrte. Wenn Viittavaara Ernst machte, würde er hier unten zerquetscht. Die Mühle in Gang zu setzen war einfach: man brauchte nur die Schütze zur Schindelmaschine zu schließen, und sofort würde das
durchs Wehr schießende Wasser in die Turbinenkabine gelenkt und ließe die Turbine rotieren. Zuerst wäre das Quietschen eines Zinkeimers zu hören und dann das Knirschen von Knochen.
Mit aller Kraft klammerte sich Huttunen an die Tur binenschaufeln und klemmte sich dabei den Eimer so vor die Brust, daß er zusammengedrückt wurde. Falls sich die Turbine tatsächlich zu drehen begann, wollte er sich dagegenstemmen, sosehr er nur konnte. In Gedan ken rechnete er, wieviel PS die Turbine beim derzeitigen sommerlichen Wasserstand entwickeln würde. Er brauchte jetzt furchtbar viel Kraft, wenn er am Leben bleiben wollte.
Draußen hörte er den Kommissar rufen, jetzt sei kei ne Zeit, die Mühle des Irren in Gang zu setzen. Inzwi schen war trotzdem jemand zur Schütze vor der Schin delmaschine gegangen, und aus dem Wasserrauschen konnte Huttunen schließen, daß sie gerade geschlossen wurde. Die ersten Spritzer schwappten in die Turbinen kabine und durchnäßten ihn von oben bis unten. Hut tunen stemmte sich mit aller Kraft gegen die Schaufeln. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er dachte bei sich, er werde dem Wasserrad seinen ganzen Widerstand entge gensetzen. Es ging um sein Leben.
Bald flutete das Wasser aus der Rinne mit voller Wucht herein. Huttunen war nahe daran, in dem rau schenden Strom zu ertrinken, er keuchte und klammer te sich fest. Die Wassermassen drückten mit aller Ge-walt auf das Rad, aber Huttunen hielt durch und ver hinderte die kleinste Drehbewegung. Bittere Galle stieg ihm in den Mund, ihm war, als würden die Adern im Kopf platzen. Aber er gab nicht nach. Würde er jetzt vor dem Wasser weichen, käme das der Selbstaufgabe gleich.
»Die dreht sich nicht«, rief Viittavaara von drinnen. »Ist blockiert, das verdammte Ding.«
Draußen ertönten Rufe, die Huttunen nicht verstand. Dann ließ die Wasserzufuhr nach und hörte bald ganz auf. Jemand hatte die Schütze an der Schindelmaschine geöffnet. Der klatschnasse Huttunen konnte feststellen, daß er seine Mühle besiegt hatte. Er zitterte am ganzen Körper von der furchtbaren Anstrengung. Er hatte Was ser in den Ohren, und ihm war speiübel. Der Eimer war zwischen seiner Brust und der Turbine plattgedrückt worden.
Auf dem Hof rief der Kommissar: »Wir gehen jetzt. Zur Nacht kann Portimo herkommen und Wache halten.«
»Der hat seine Mühle aus Bosheit blockiert«, sagte Si ponen, der von der Wasserrinne zurückkam. Dann verließen die Männer das Gelände.
Huttunen saß noch eine Weile in der Turbinenkabine. Als sich alle Stimmen entfernt hatten, schlich er hinaus und verschwand im Wald, unter dem Arm den plattge drückten Zinkeimer. Er hievte sich den schweren Ruck sack auf den Rücken und stapfte wassertriefend in die Wildnis. Er war müde, völlig erschöpft, aber er mußte jetzt schnell aus der Gegend verschwinden. Bestimmt würden die Männer die Wälder hinter der Mühle durch kämmen.
20
Huttunen schleppte seinen Rucksack ein paar Kilometer weit. Dann stieg er auf einen kleinen kieferbewachsenen Hügel und richtete sich dort ein provisorisches Lager ein. Aus trockenen Zweigen entfachte er ein Feuer, an dem er seine Kleider trocknete. Nachdem er sich wieder angezogen hatte, klopfte er den zerdrückten Eimer zurecht, er bearbeitete ihn mit einem faustgroßen Stein, bis er wieder an seine frühere Form erinnerte. Huttunen ärgerte sich, daß er keine Axt dabeihatte.
Auch das Lager war ohne Axt schlecht zu errichten. Mit dem Messer ließ sich weder ein Baum zur Brenn holzgewinnung fällen, noch ließen sich Stangen für ein Schutzdach schneiden. Im Wald ist ein Mann ohne Axt wie ein Einarmiger.
Huttunen löschte das Feuer, legte seinen Rucksack unter eine Fichte und deckte ihn zu. Wachtmeister Portimo hatte seine Axt beschlagnahmt – es war an der Zeit, sie zurückzuholen. Huttunen machte sich auf den Weg ins Dorf.
Portimos Hof einen Besuch abzustatten war ungefähr lich, da der Wachtmeister unterwegs war, um die Jagd auf Huttunen anzuführen. Die Hausfrau ging gerade einkaufen, und als alles still und leer war, besänftigte Huttunen den Hund und schlüpfte in den Schuppen.
Im Holzschuppen des armen Landpolizisten sah es traurig aus. In der Ecke lag ein kleiner Haufen Herdholz, ein Vorrat für höchstens einen oder zwei Tage. Hinten an der Wand lagen etwa drei Kubikmeter Kloben, die aus feuchten Stämmen zurechtgesägt waren. Die muß ten schleunigst zerkleinert werden, sonst würden sie bis Einbruch des Winters nicht trocknen. An der Tür lag ein undefinierbarer Haufen dünner Zweige, die der Polizist bei den benachbarten Bauern aufgesammelt hatte, da er keinen eigenen Wald besaß. Ärmlich und kümmerlich.
Portimos Axt lehnte an der Wand. Es war ein häßli ches und plumpes Werkzeug, rostig und mit schartiger Schneide. Der grobe, unförmige Stiel war ausgetrocknet und wacklig, der morsche Keil hatte sich gelockert. Huttunen keilte den Stiel fest und schnitzte ihn zu einer schlankeren, griffigeren Form.
Die Bügelsäge war kaum in besserem Zustand. Huttunen probierte sie auf dem Hackklotz aus, sie war stumpf und scherte nach rechts aus. Ihm tat der Polizist in seiner Armut leid. In diesem Schuppen gab es weder trockenes Brennholz noch ein einziges anständiges Arbeitsgerät.
Mit einer Ausnahme allerdings: im Hackklotz steckte eine Axt, die Huttunen gut kannte, denn es war seine eigene. Er zog sie heraus, strich über die Schneide und stellte fest, daß sie noch scharf war.
Er beschloß, ehe er ging, dem Polizisten ein wenig Brennholz zu machen – als eine Art Entschädigung für den Entzug der Axt. Eigentlich war diese kleine Hilfelei stung sogar seine Pflicht, schließlich mußte Portimo jetzt tagelang durch die Wälder laufen, um ihn, Huttu nen, zu suchen.
Er hackte einen großen Haufen Holz und stapelte die Scheite säuberlich an der Wand auf. Als die Hausfrau von ihren Einkäufen zurückkehrte, verließ er den Schuppen und verschwand im Wald, auf seiner Schulter wippte die blinkende Axt.
Huttunen folgte der Telefonleitung. Dort ging es sich gut, denn es gab einen ausgetretenen Pfad. Die Leitung führte offensichtlich zum Laden. Dort schlug Huttunen einen großen Bogen durch den Wald und kehrte jenseits des Ladens wieder auf den Pfad zurück. Er mußte daran denken, daß Kaufmann Tervola gerade über diese Lei-tung die Behörden gegen ihn alarmiert hatte.
»Verfluchte Masten.«
Er sah die Telefonmasten wütend an. Durch das Sir ren der Drähte glaubte er die einschmeichelnde Stimme des Kaufmanns zu hören, wie er beim Großhändler in Kemi Waren bestellte: Fleisch, Wurst, Käse, Kaffee, Zigaretten. Ein schwindelerregendes Hungergefühl packte Huttunen. Er blieb am Fuß eines Mastes stehen und setzte versuchsweise die Axt an das Holz, als wollte er den Platz für den Schlag wählen.
»Wenn ich den hier kappe, bimmelt bei Tervola kein Telefon mehr.«
Die Axt befand sich in so einladender Position, daß Huttunen nicht anders konnte, als zuzuschlagen. Über eine Länge von zwei Kilometern flatterten die Vögel von den Drähten auf. Huttunen schlug wieder und wieder
zu, die Drähte pfiffen, die ganze Leitung dröhnte. Bald begann der dicke Mast zu schwanken, und nach ein paar weiteren Schlägen krachte es. Der Mast stürzte um, die Isolatoren zerbrachen, und die Drähte flogen jaulend in den Wald. Huttunen wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete das Ergebnis seiner Anstrengungen.
»Jetzt ist beim Kaufmann das Telefon vorübergehend gestört.«
Huttunen war nicht der Mann, der eine Arbeit unvoll endet ließ. Er zerhackte den Mast noch zu Balken von jeweils zwei Meter Länge und stapelte sie auf. Dann rollte er die Drähte zusammen und legte das Knäuel obendrauf. Wenn später die Fernmeldemonteure kamen, um die Leitung zu reparieren, war die halbe Arbeit be reits getan; sie brauchten nur die Balken aufzuladen und einen neuen Mast zu setzen.
Jetzt, da er das Telefon des Kaufmanns zum Schwei gen gebracht hatte, konnte er gleich noch dem Laden einen Besuch abstatten. Vielleicht würde ihm Tervola Lebensmittel verkaufen, zumal er durch eine glückliche Fügung die Axt dabeihatte.
Der Laden war ziemlich gut besucht. Das ruhige Stimmengemurmel brach ab und wich entsetztem Schweigen, als Huttunen mit der Axt zur Tür herein kam. Mehrere Kunden wollten sich davonmachen, ob wohl sie noch nichts gekauft hatten.
Kaufmann Tervola rannte in seine Privaträume. Man hörte ihn eilig die Wählscheibe drehen und nach dem Amt rufen. Aber die Leitung war unterbrochen. Weder der Wachtmeister noch der Kommissar waren zu errei chen. Tervola kam erschrocken wieder nach vorn.
Huttunen legte die Axt auf den Ladentisch und zählte die Waren auf, die er zu kaufen beabsichtigte:
»Zigaretten, ein paar Fleischkonserven, ein Kilo Salz, Wurst, Brot.«
Der Kaufmann gab die Waren bereitwillig heraus. Als er die Wurst abwog, legte Huttunen zum Scherz die Axt zu den Gewichten auf die Waage und meinte:
»Sieh mal, Kaufmann, wie leicht die ist.« Für Huttunens Einkauf wog die Axt so viel, daß Ter
vola die Rechnung tüchtig nach unten abrundete, und als Huttunen sich schon zum Gehen wandte, fragte er, ob es sonst noch etwas sein dürfe.
An der Tür sagte der Müller zum Abschied: »Danke, das war alles.«
Aus dem Schutz des Waldes heraus beobachtete Hut tunen, wie die Leute in großer Eile den Laden verließen. Sie rannten, so schnell sie konnten, zum Haus von Wachtmeister Portimo. Huttunen hätte gern von seiner Wurst gegessen, doch jetzt empfahl es sich, schnell ins Lager zurückzukehren. Zum Essen war später Zeit.
21
Den ganzen Tag klangen von fern Hundegebell und laute Männerstimmen in Huttunens Lager herüber. Das Dorf war in Alarmzustand wegen seines aus der Nervenklinik entflohenen Müllers. Um sich einen besseren Überblick über den Verlauf der Ereignisse zu verschaffen, kletterte Huttunen auf seinem Hügel auf eine uralte Kiefer, einen riesigen Baum. Er mußte zweimal hinauf, denn beim ersten Mal vergaß er sein Fernglas, und mit bloßem Auge konnte er nicht erkennen, was im Dorf passierte.
Durch das Okular seines einlinsigen Fernglases sah er, daß auf den Dorfstraßen lebhafter Verkehr herrschte. Hunde liefen frei herum, und Männer fuhren mit Fahr rädern hin und her. An den Wegkreuzungen standen Bauern mit geschulterten Flinten. Viele waren vermut lich auch in den Wäldern unterwegs, doch das konnte Huttunen von seiner Kiefer aus nicht sehen.
Er kletterte wieder hinunter. Er löschte das Lagerfeu er und packte für alle Fälle seinen Rucksack. Die Klub beraterin hatte versprochen, nachts auf die Erleninsel zu kommen, um ihn zu treffen. Wenn der Aufruhr im Dorf anhielt, war zu befürchten, daß sie sich nicht hinauswagte.
Erst zur Zeit des Sonnenuntergangs wurde es im Dorf still. Die Hunde wurden angebunden, und die Bauern gingen zum Essen nach Hause. Huttunen verließ sein Lager und machte sich auf den Weg zur Erleninsel.
Die Insel hatte tagsüber Besuch gehabt – das Mük kenzelt war fort. Die Schnüre und Stangen waren rings-um im Gebüsch verstreut. Huttunen sammelte die Stangen ein und rollte die Schnur auf.
»Die Leute lassen einfach alles herumliegen.« Er fürchtete, Sanelma Käyrämö würde sich nicht auf
die Insel wagen, aber sie erschien. Sie kam ängstlich über die Brücke, die Huttunen gebaut hatte, und trug einen Korb, aus dem eine Milchflasche hervorschaute. Huttunen umarmte sie und aß. Inzwischen erzählte sie ihm, was sich im Lauf des Tages im Kirchdorf ereignet hatte.
Huttunen wurde jetzt steckbrieflich gesucht. Er hätte nicht mit seiner Axt in den Laden eindringen dürfen, tadelte sie ihn.
»Und dann hast du die Axt noch gegen die Wurst auf gewogen. Tervola verklagt dich bestimmt wegen Haus friedensbruch. Der Kommissar hat aus Oulu ein amtli ches Schreiben gekriegt, in dem es heißt, daß du von dort geflüchtet bist und daß man Order gibt, dich zu ergreifen. Der Kommissar hat gesagt, jetzt ist alles höchst offiziell.«
Huttunen beendete seine Mahlzeit. Aber die Klubbera terin war noch nicht fertig:
»Du hast auch noch einen Telefonmast gefällt. Es mußten extra Entstörungsleute aus Kemi geholt werden, und die Leitung ist immer noch nicht in Ordnung. Das Fräulein von der Vermittlung hat mir erzählt, für das Zerstören einer Leitung kann es sogar Gefängnisstrafe geben, wenn das Fernmeldeamt schlecht gelaunt ist.«
Huttunen blieb lange Zeit schweigsam und starrte auf den dämmerigen Bach. Dann holte er seine Brieftasche heraus, entnahm ihr sein Sparkassenbuch und übergab es der Klubberaterin.
»Das Geld wird knapp. Würdest du hingehen und al les abheben, was auf diesem Konto ist? Du kannst mich hier draußen nicht von deinem Gehalt miternähren, das wird zu teuer.«
Er riß aus seinem blaukarierten Heft ein Blatt Papier heraus und schrieb eine Vollmacht. Sanelma Käyrämö setzte ebenfalls ihren Namen darunter, und dann kra kelte Huttunen noch zwei Namen von Zeugen dazu: Jussi Vogel und Heikki Wolf. Beide hatten eine sehr individuelle Handschrift. Huttunen sagte, auf dem Konto sei nicht wer weiß wieviel Geld, doch wenn er sparsam lebte, würde er damit wohl bis zum Herbst, im besten Fall bis zum Winteranfang auskommen.
»Ich hab’ mir vorgenommen zu angeln, damit mein Unterhalt billiger wird«, erklärte er der Klubberaterin.
Sie bat ihn, nicht mehr auf die Erleninsel zu kommen, ihr Treffpunkt sei entdeckt worden. Am Tag hatte Viitta vaara die Laken von Huttunens Mückenzelt ins Dorf gebracht und gefaltet dem Kommissar übergeben. Gegen Abend hatten die Frauen des Kommissars und des Lehrers am Fluß gewaschen. Zwischen den Wäsche stücken war auch Huttunens Mückenzelt gewesen, die Klubberaterin hatte es später auf der Leine hängen sehen.
Als neuen Treffpunkt vereinbarte das Paar die Weg kreuzung am Reutumoor, fünf Kilometer vom Kirchdorf entfernt auf der Ostseite des Kemiflusses. Die Klubbera terin versprach, eine Woche später mit dem Fahrrad dort hinzukommen. Vorläufig, solange die Suche auf Hochtouren lief, wäre es klüger, sich nicht zu treffen. Die Leute im Dorf behielten Sanelma Käyrämö ohnehin im Auge.
»Im Moment steht es wirklich schlimm…. aber eine gute Sache gibt es immerhin, lieber Gunnar: dein Gemüsegarten gedeiht prächtig. Man könnte schon Mohrrüben ernten, und die Rüben sind bald so groß wie ein Kopf. Ich jäte und dünge den Garten, mach dir nur keine Sorgen. Wenn sich die Leute nachher beruhigt haben, kannst du dir frisches Gemüse holen, dann kriegst du Vitamine. Du glaubst nicht, wie wichtig sie für den Menschen sind. Besonders hier draußen im Wald.«
Die Klubberaterin kehrte bald ins Dorf zurück. Auch Huttunen verließ die Erleninsel und verschwand in der Nacht. Am folgenden Tag sprach die Klubberaterin bei Huhtamoinen, dem Direktor der Genossenschaftsbank, vor. Dieser bat sie, Platz zu nehmen. Er hätte ihr beina he eine Zigarre angeboten, schloß dann aber die Schachtel und rauchte auch selbst nicht. Sanelma Käyrämö überreichte ihm Huttunens Sparbuch samt der Vollmacht.
»Der Müller Gunnar Huttunen hat mich aus Oulu an gerufen und mir aufgetragen, sein gesamtes Geld von der Bank abzuheben. Er hat gesagt, er braucht in der Kantine der Klinik eigenes Geld.«
Der Bankdirektor prüfte das Sparbuch, nickte und las die Vollmacht.
»Per Telefon hat Herr Huttunen Ihnen diese Doku mente zugestellt?«
Die Beraterin erklärte eilig, die Papiere seien am Mor-gen mit der Post gekommen, Briefträger Piittisjärvi habe sie gebracht.
Der Direktor begann in väterlichem, fast belehrendem Ton zu sprechen:
»Sie wissen, liebes Fräulein, daß wir hier in der Bank unter dem Siegel des Bankgeheimnisses arbeiten. Ich habe meinen Angestellten, also Oberbuchhalter Sailo und Fräulein Kymäläinen, stets eingeschärft, daß das Bankgeheimnis unerschütterlich ist. Es ist bindender als der hippokratische Eid. Ganz allgemein sind im Bankwesen meiner Meinung nach drei Grundregeln zu beachten. Die erste, also a), lautet, daß die Konten immer auf den Pfennig genau stimmen müssen. Dabei darf keinerlei Fehler geduldet werden. Zweitens, b), die Bank muß Liquidität besitzen. Eine Bank muß solvent sein. Zügellose Kreditvergabe gereicht selbst einem großen Geldinstitut nicht zur Ehre. Nicht einmal die Industrie darf unterstützt werden, wenn die eigene Position der Bank auch nur im geringsten Maß gefähr det ist. Und drittens, also c), die letzte Grundregel: Die Bank hat für die unbedingte Wahrung des Bankgeheim nisses zu sorgen. Es dürfen keinerlei Informationen über die Angelegenheiten eines Kunden aus der Bank hin ausdringen. Nicht ohne und auch nicht mit Genehmi gung des Kunden. Ich würde sagen, man kann das Bankgeheimnis in seiner Strenge durchaus mit dem Militärgeheimnis vergleichen, besonders jetzt in Frie denszeiten.« Sanelma Käyrämö begriff nicht, weshalb Huhtamoinen ihr einen Vortrag über das Bankgeheim nis hielt. Sie fragte, ob er nicht gedenke, ihr Huttunens Ersparnisse auszuzahlen.
»Alle wissen doch, daß der Müller Gunnar Huttunen aus der Ouluer Nervenklinik geflohen ist. Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie, Fräulein Käyrämö, es übernommen haben, sich um seine laufenden Angele genheiten zu kümmern, da er auf vielerlei Weise verhin dert ist, dies selbst zu tun.«
Der Direktor schloß Huttunens Sparbuch und die Vollmacht in den Panzerschrank ein.
»Ich muß Ihnen mitteilen, Fräulein Käyrämö, daß wir Herrn Huttunens Guthaben nicht auszahlen können. Er wurde offiziell entmündigt. Außerdem befindet er sich auf der Flucht. Sie verstehen wohl, daß eine Bank nicht einfach an Dritte Geld eines Mannes auszahlen kann, der aufgrund seiner Geisteskrankheit nicht selbst in der Lage ist, es abzuheben. Außerdem besitzt Huttunen keine Adresse. Möglicherweise wissen nur Sie, wo er sich versteckt hält. Ich frage Sie nicht nach seinem Aufenthaltsort, ich bin kein Polizist. Ich bin ein Diener des Finanzwesens, und die Sache berührt mich nicht im kriminellen Sinn. Sie verstehen wohl, was ich damit sagen will?«
»Aber es ist doch sein Geld«, versuchte die Klubbera terin zu argumentieren.
»Im Prinzip ist es natürlich Huttunens Eigentum. Das leugne ich nicht. Aber wie gesagt, ich zahle an nieman den Geld aus ohne eine amtliche Genehmigung. In diesem Fall flössen die Mittel geradewegs in den Wald, um die Sache bildlich auszudrücken. Wohin sollte es führen, liebes Fräulein, wenn in den Banken die Praxis herrschte, die Ersparnisse und Zinsen der Kunden an irgendwelche Sümpfe und Fjälle auszuzahlen?«
Die Klubberaterin begann zu schluchzen. Wie sollte sie das Huttunen erklären?
Huhtamoinen schrieb auf ein Blatt Papier die Bot schaft:
»Die Genossenschaftsbank ist nicht bereit, Ihr wertes Guthaben oder dessen Zinsen an jemand anderen als Sie persönlich auszuzahlen, und auch dies nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Behörden. Hochach tungsvoll, Ihr A. Huhtamoinen, Bankdirektor.«
»Aber wie ich betonte, halte ich das Bankgeheimnis in Ehren. Falls jemand kommt und mich fragt – nennen wir mal als Beispiel Kommissar Jaatila –, in welcher Angelegenheit Sie heute hiergewesen sind, dann schüt tele ich nur den Kopf und bleibe stumm wie eine Mauer. Falls die Behörden mich auffordern zu erzählen, wo sich Herr Huttunen befindet, schweige ich, selbst wenn ich es wüßte, wo er sich versteckt. Das verstehe ich unter Bankgeheimnis. Es ist im Grunde genommen heilig. Ich werde der Polizei erklären, Sie seien hiergewesen, um einen Kredit zu beantragen für… sagen wir: für die Anschaffung einer Nähmaschine?«
»Ich besitze schon eine«, schluchzte Sanelma Käyrä mö.
»Nun, dann sagen wir also, Sie waren hier… meinet wegen, um bei mir Rat einzuholen, ob es sich in heutiger Zeit für Privatpersonen lohnt, Ersparnisse in staatlichen Obligationen anzulegen. Offen gesagt, es lohnt sich nicht. Die Koreakonjunktur ist jetzt in eine Phase getre ten, in der jedem, der Geld übrig hat, zu raten ist, in Immobilien anzulegen. Die Bodenpreise werden in näch ster Zeit spürbar steigen, anders als die Rendite bei staatlichen Obligationen. Alles hängt natürlich davon ab, wie lange der Koreakrieg dauert, doch kann man wohl davon ausgehen, daß es in Asien noch viele Monate keinen Frieden geben wird, jedenfalls nicht vor dem nächsten Sommer. Lassen Sie sich das von mir gesagt sein. Aber jetzt habe ich bereits allgemeiner gesprochen, bitte entschuldigen Sie, Fräulein Käyrämö.«
So mußte die Klubberaterin die Bank unverrichteter Dinge verlassen. Sie war den Tränen nahe, doch sie beherrschte sich, als sie an den neugierigen Angestellten vorbei zur Tür ging. Erst draußen auf der Landstraße hielt sie ihr Fahrrad an und weinte reichliche und bitte re Tränen. Die Bank hatte das Geld ihres lieben Gunnar genommen, und bis zu ihrem eigenen Gehaltstag waren es noch mehr als zwei Wochen.
22
Das Reutumoor erstreckte sich über eine ganze Meile und war ein gewaltiges Sumpfmoor, eine endlose Tun dra, in der hier und da kleine dunkle Teiche schimmer ten. Am westlichen Rand schlängelte sich der kleine Sivakkafluß entlang, und dahinter erhob sich eine be waldete Anhöhe, der Reutuberg.
Dorthin lenkte Huttunen seine Schritte, in diese unberührte Wildnis, eine Meile vom Kirchdorf und eine halbe von der nächsten Landstraße entfernt. Huttunen schleppte seinen Rucksack bis an den Rand des Moores, an eine kleine Krümmung des Sivakkaflusses, wo der Berg zum Fluß abfiel. Hier, am Ausläufer des Berges, war der Boden fest und flechtenbewachsen, doch gleich hinter dem Fluß erstreckte sich der weiche Sumpf. Es war ein ausgezeichneter Lagerplatz, günstig, geschützt und schön. Fern im Sumpf schrien ein paar Kraniche. Im Hintergrund auf dem Gipfel des Berges rauschten die hundertjährigen riesigen Föhren, und im gemächlichen Fluß plätscherte hin und wieder eine Grauforelle oder Äsche.
Huttunen war auf der Stelle entzückt. Er setzte seine schwere Last ab und erkor die Landzunge in der Fluß biegung zu seinem neuen Zuhause.
An den folgenden Tagen baute er sich auf der Land zunge ein festeres Lager. Er fällte am Berghang etliche abgestorbene Kiefern und rollte sie nach unten ins Lager. Dort zerhackte er sie zu Balken von zwei Meter Länge, so daß sie bereitlagen für ein Lagerfeuer, falls es eine kalte, nebelige Nacht geben sollte.
Als Behausung zimmerte er sich einen stabilen Unter stand. Zum Abdecken benutzte er Fichtenzweige, die er mit den Spitzen nach unten befestigte. Darauf kam noch eine Lage schuppenartig geschichteter kleiner Zweige, so daß ein wasserdichtes Dach entstand. Von einer jungen, oberschenkeldicken Birke schnitt er sich ein passendes Ende ab und legte es zum Schutz vor Funkenflug vor den Eingang. Den Boden des Unterstandes bedeckte er etwa zwanzig Zentimeter hoch mit weichem Astmoos. Über das Moos schichtete er die weichen Triebspitzen kleiner Fichten, wobei er die dicksten Zweige entfernte, damit sie ihn beim Schlafen nicht in den Rücken sta chen.
Er wickelte das Sägeblatt aus, schnitzte Griffe zurecht und spannte zwischen ihnen ein Stück Wäscheleine. Dann sägte er hinter dem Unterstand das obere Ende einer stämmigen Kiefer ab, den mannshohen Stamm ließ er stehen. Auf diesen Stamm baute er aus leichten Fichtenhölzern eine kleine Baumhütte mit einer Öff nung, durch die der Rucksack paßte. Das war seine Vorratskammer, in der er seine Eßwaren, das Geschirr und den Rucksack verstaute. Ein Stückchen weiter, näher am Fluß, legte er kopfgroße runde Steine im Kreis um die künftige Feuerstätte. Eine biegsame junge Birke diente als elastischer und sich automatisch aufrichten der Aufhänger für den Kochtopf. Etwa fünfzig Meter vom Lager entfernt, dort, wo der Reutuberg bereits steil anstieg, an einer Stelle, von der man das weite Moor von einem Rand zum anderen sehen konnte, zimmerte sich Huttunen zwischen zwei Kiefern einen stabilen Abtritt, der aus zwei Balken bestand, einem zum Sitzen und einem als Rückenlehne. Darunter hob er eine fast me tertiefe Grube aus. Auf ihren Grund würden von nun an ein- oder zweimal täglich die Ausscheidungen des Ein siedlers fallen. Huttunen pflegte später häufig auch ohne Anlaß auf dem Balken zu sitzen und das endlose Moor zu betrachten, wo die Kraniche würdevoll stolzier ten, die Wasservögel auf schnellen Schwingen umherflo gen oder auch fünf oder gar zehn Rentiere auf der Flucht vor Insektenschwärmen davongaloppierten. Eines Tages glaubte er ganz hinten am Horizont einen Bären zu sehen. Dort bewegte sich ein großes graues Wesen, das sich hin und wieder aufrichtete und auf zwei Beinen stand. Als Huttunen mit seinem einäugigen Fernglas das weite, in der Hochsommerhitze flimmernde Moor absuchte, sah er nur Kraniche und keinen Bären. Hatte er inzwischen das Moor verlassen – hatte es ihn über haupt gegeben?
Im Sumpfwiesengras schlug Huttunen ein paar Pfähle zum Netzetrocknen ein. Zum Zweck der Flußüberque rung baute er ein wendiges kleines Kiefernfloß, das er mit einer Stange vor dem Feuerplatz verankerte, so daß es gleichzeitig als Steg diente.
Zu guter Letzt schnitzte er sich noch einen Kalender in eine Kiefer gegenüber dem Unterstand. Er schnitt eine Fläche von etwa zwei Hand Breite und drei Hand Höhe in den Stamm, hobelte sie glatt wie eine Tafel und unterteilte sie mit dem Messer in senkrechte und waage rechte Felder. Jeden Morgen würde er dort den Gang seiner Tage vermerken. Er wußte nicht mehr genau, an welchem Tag er mit dem Bau des Lagers begonnen hatte, doch er schätzte das Datum auf bald Mitte Juli. Er zählte die Tage seit Johanni, das er noch in der Ner venklinik verbracht hatte, und kerbte in den Stamm die Ziffer XII, der zwölfte Tag. Die Heidelbeeren begannen zu reifen, auch daraus konnte er Rückschlüsse auf das Datum ziehen.
Es war ein klarer und heißer Juli. Beim Angeln war die Ausbeute geringer als zu Anfang des Frühjahrs oder im August. Die Edelfische waren jetzt satt und scheu, die Nächte noch zu hell und das Wasser der Bäche zu warm, es machte die kaltblütigen Bachforellen schläfrig. Huttunen probierte seine Fliegen aus, aber die Graufo rellen verschmähten sie. Mit dem Spinner fing er ein paar Hechte. In glühender Asche gegart, ergaben sie eine recht anständige Mahlzeit.
Um einen fetteren Fisch zu fangen, brauchte er das Netz. Er zog es quer durch den Fluß und platschte stromabwärts im Wasser, so daß die Fische direkt hin einschwammen. Manchmal zappelten darin so viele Grauforellen und Äschen, daß er einen Teil hätte einsal zen können, doch besaß er keine Gefäße für diesen Zweck. Er war froh, daß er sich entschlossen hatte, seinen Hobel mitzunehmen. Im Herbst konnte er aus den abgestorbenen Föhren Bretter schneiden und Faß stäbe daraus hobeln. Ein paar kleine Vorratsfässer mit gesalzenem Fisch könnten das Ernährungsproblem im Winter lösen. In gutem Salz hält sich die Bachforelle, auch wenn sie ein fetter Fisch ist.
Huttunen plante außerdem, sich für den Winter eine Sauna und eine kleine Hütte zu bauen. Er hatte keine Lust, bei winterlichem Frost im Unterstand zu bibbern.
»Davon kriegt man Rheumatismus.« Die Hütte sollte nach seinen Vorstellungen klein wer
den, mit einer Abmessung von höchstens drei mal drei Metern. Als Einrichtung würden eine Bettstelle und ein Tisch genügen, vielleicht in der Ecke noch ein Schrank und an der Wand ein Rentiergeweih als Kleiderhaken.
Hinten im Raum würde er aus flachen Steinen einen Herd mauern. In die Wand neben der Tür käme eine Fensteröffnung.
»Die Glasscheibe muß ich mir irgendwo besorgen, auch ein paar Meter Blechrohr für den Schornstein. Dachpappe brauche ich nicht, Birkenrinde tut es auch und hält bestimmt ein paar Jahre.«
Huttunen machte von seinem Lager aus lange Spa ziergänge in die Umgebung. Oft stieg er auf den Gipfel des Reutubergs und betrachtete durch das Fernglas das Kirchdorf mit seinen kleinen Häusern und den beiden Kirchen, der alten und der neuen, der kleinen und der großen. Bei klarem Wetter und zur richtigen Zeit konnte er im Blau des Sommertages am westlichen Horizont den Rauch erkennen, der aus der Lokomotive des Schnellzuges aufstieg. Vom Zug selbst sah und hörte er nichts, doch aus der Richtung, in die der Rauch wehte, konnte er schließen, ob der Zug aus Kemi oder aus Rovaniemi kam, ob die Reisenden auf dem Weg nach Lappland waren oder dieses bereits gesehen hatten.
In den morastigen Randzonen des Reutumoores pflückte Huttunen saftige Moosbeeren vom vorigen Herbst. Auch die Moltebeeren begannen Knospen zu bilden, bald würden sich daraus Früchte entwickeln. In diesem Sommer war eine gute Moltebeerenernte zu erwarten. Auch viele Heidelbeeren waren gereift. Jeden Tag pflückte sich der Einsiedler einen oder zwei Liter in eine Schale aus Birkenrinde. Abends nach dem Kaffee schmeckten ihm die Beeren vorzüglich.
Huttunen genoß den Sommer und die Ruhe. Bei schönem Wetter zog er sich manchmal nackt aus, stieg auf den Berg und sonnte sich. Mit der zusammengeroll ten Hose unter dem Kopf lag er auf flechtenbewachse nen Felsen und ließ seine Haut von der Sonne bräunen. Er beobachtete die Wolken, die ständig ihre Form verän derten, und phantasierte sich die sonderbarsten Tierge stalten zusammen. Ein leichter Südwind hielt die Mük ken unten im Sumpf. Es war still, man konnte fast hören, wie sich die Gedanken in Huttunens Kopf gegen seitig begrüßten; es gab große Mengen davon, verrückte und gewöhnliche, ihre Wanderung durch seinen Schädel hörte niemals auf.
Und wenn es regnete, lag er in seinem Unterstand und sah zu, wie die schweren Tropfen durch das Nadel dach sickerten. Das Feuer zischte, wenn sie in die heiße Asche fielen, es war warm und mild. Nach dem Regen bissen die Fische gut an – Huttunen brauchte nicht einmal das Netz auslegen, sondern die Grauforellen schnappten direkt am Ufer gierig nach den Fliegen.
Nachts wachte Huttunen häufig auf, betrachtete den blassen sommerlichen Sternenhimmel und summte vor sich hin. Bald wurde das Summen zu leisem Wimmern, und dann brach das kräftige und wilde Geheul früherer Zeiten mit Macht aus seiner Kehle. Es beruhigte ihn. Wenn er heulte, fühlte er sich nicht mehr einsam – er konnte einer Stimme lauschen, die fremd war, denn es war die Stimme eines Tieres.
Wenn er an heißen Tagen durch das baumlose un endliche Reutumoor wanderte, kam es manchmal vor, daß er Tiere nachahmte, jene Arten, die er täglich in seiner Umgebung gesehen und deren Verhalten er durchs Fernglas beobachtet hatte. Er trabte mit schau kelnden Schritten wie ein Rentierhirsch auf der Flucht vor Insekten, er krümmte sich, schnaubte und scharrte am Boden. Ein andermal breitete er die Flügel aus und erhob sich wie eine Wildgans wütend in die Lüfte, stieg höher und verschwand über dem Waldrand. Gleich darauf kehrte er als andere Gans aus der Ferne zurück, streckte die Füße aus und landete im Schilf eines Tüm pels, daß das modrige Wasser hochspritzte. Als Kranich reckte er den Hals, stieß Schreie aus und erspähte mit scharfem Blick Frösche und Sumpfhunde, jene schwarz rückigen Hechte, die die Frühjahrsflut ins Moor ge schwemmt und dort in den rostigen Wasserlöchern zurückgelassen hatte.
Wenn die Kraniche das langbeinige Wesen sahen, das so schrie wie sie selbst, unterbrachen sie ihr Treiben. Sie reckten ihre langen Hälse und betrachteten mit schräggeneigten Köpfen den Einsiedler, der sich zu ihnen verirrt hatte und nicht begriff, daß es Kraniche waren, denen er einen Kranich vorspielte. Dann konnte es passieren, daß der Anführer der Schar den Schnabel hoch zum blauen Himmel reckte und einen langen, kräftigen Antwortschrei ausstieß. Erst dann kam Hut tunen zu sich, wurde wieder zum Menschen und wan derte heimwärts in sein Lager. Er lag rauchend im Zwie licht des Unterstandes und dachte bei sich, wenn das Leben so weiterginge, wäre alles gut.
»Bloß Sanelma müßte noch hiersein.« 23
Die Woche verging wie im Flug. Es kam der Abend, an dem Huttunen mit der Beraterin an der Wegkreuzung verabredet war. Der ungeduldige Einsiedler war lange vor der Zeit an Ort und Stelle. Er dachte an Sanelmas
gesunden und üppigen Körper, an ihre blauen Augen, ihr goldenes Haar und ihre weiche, klangvolle Stimme. Neben der Landstraße legte er sich unter die Bäume. Die Zeit verging, die Mücken stachen, aber Huttunen be merkte es nicht, so aufgeregt erwartete er das Treffen.
Gegen sechs Uhr abends sah er auf der schmalen Landstraße eine Frau auf einem Fahrrad näher kom-men. Es war Sanelma Käyrämö! Huttunen freute sich riesig. Er wollte ihr entgegenlaufen, besann sich aber und blieb im schützenden Dickicht. Sie hatten verabre det, sich im Wald zu treffen, und so zeigte er sich nicht auf der Straße.
Die Beraterin erreichte die Kreuzung. Sie legte ihr Fahrrad in den Straßengraben und huschte in den Wald. Zaghaft und scheu um sich blickend legte sie etwa zwanzig Meter zurück. Dann blieb sie wartend stehen.
Gerade als Huttunen hinlaufen und sie umarmen wollte, hörte er im Wald einen Zweig knacken. Ein Elch, ein Ren? Nein, Viittavaara und Portimo! Sie kamen durch den Wald herangeschlichen, lauernd und keu chend und mit schweißüberströmten Gesichtern. Sie legten sich hinter einen Erdhügel, ohne sich der Berate rin zu zeigen. Anscheinend waren sie ihr vom Kirchdorf her gefolgt. Man hatte den Einsiedler in einen Hinter-halt, in eine gemeine Falle gelockt.
Huttunen zog sich tiefer in den Wald zurück und verbarg sich hinter einer dicken Fichte. Von dort konnte er das Geschehen an der Landstraße hören und beo bachten. Obwohl er vor Sehnsucht zitterte, konnte er nicht zu seiner Geliebten gehen. Die Beschatter lauerten ganz in der Nähe. Sie wischten sich den Schweiß von den Gesichtern und schlugen nach Mücken. Es war anstrengend gewesen, durch die Wälder zu rennen und mit der Beraterin Schritt zu halten, die immerhin auf der glatten Landstraße mit dem Fahrrad fuhr.
Wußte die Beraterin, daß man ihr gefolgt war? Hatte sie in eine Zusammenarbeit mit den Bauern und der Polizei eingewilligt? Hatte Sanelma Käyrämö sich als Lockvogel hergegeben? Wollte sie ebenfalls, daß Huttu nen gefangen und wieder in die Nervenklinik gesteckt wurde, ins Irrenhaus, in dem schwarze Apathie und traurige Untätigkeit herrschten?
»Gunnar! Lieber Gunnar! Ich bin’s, ich bin da!« Huttunen wagte keinen Laut von sich zu geben. Er
wagte kaum zu atmen. Er sah, daß Viittavaara eine Flinte dabeihatte. Hielt man ihn für einen Mörder, gegen den man Waffen brauchte…? Wachtmeister Portimo saß wenigstens nur da und rang nach Atem. Doch auch er behielt die Umgebung im Auge. Huttunen verharrte still auf seinem Platz, lag hinter der Fichte und biß sich auf die Lippen. Es zerriß ihm das Herz, die Beraterin rufen zu hören:
»Gunnar… mein Armer, wo bist du?« Sie wartete lange, doch da der schweigende, finstere
Wald nicht auf ihre wiederholten Rufe antwortete, stellte sie schließlich einen Proviantkorb ins Gras, deckte ihr Tuch darüber und kehrte traurig auf die Landstraße zurück. Viittavaara sah enttäuscht aus. Er flüsterte Portimo eifrig etwas zu, was Huttunen nicht verstand.
Mit Tränen in den Augen stieg die Beraterin auf ihr Rad. Huttunen hätte am liebsten mit seiner lautesten Stimme geheult, wütender als der größte Wolf, der grau samste Leitwolf. Aber er hielt seinen Mund fest ge schlossen. Die Beraterin fuhr in Richtung Kirchdorf davon und verschwand bald in unerreichbarer Ferne.
Da Viittavaara und Portimo sich der Beraterin nicht gezeigt hatten, kam Huttunen zu der Überzeugung, daß sie nicht an der Intrige beteiligt war. Sie hatte ihn nicht verraten, sondern ihm im Gegenteil Essen gebracht, so, wie sie es vor einer Woche vereinbart hatten. Mit glü henden Augen starrte er den Proviantkorb an, den Sa nelma Käyrämö für ihn hinterlassen hatte.
Sowie die Beraterin außer Sichtweite war, stürzte Viit tavaara aus seinem Versteck, um den Inhalt des Korbes zu untersuchen. Portimo folgte ihm, blickte ebenfalls unwillkürlich hinein.
»Menschenskinder, da sind Brot und Speck drin!« brüllte Viittavaara zornig und kippte den Korb aus. Huttunen sah eine Milchflasche und ein paar in Perga mentpapier gewickelte Pakete. Der Duft von frischem Weizengebäck wehte zu ihm herüber.
»Und Kuchen, verflucht noch mal!«
Viittavaara riß die Pakete auf. Geräucherter Speck, Wurststücke, ein Paket Kaffee und Brot kamen zum Vorschein. Auf dem Boden des Korbes lagen außerdem mehrere Kilo frisches Gemüse, Rüben, Mohrrüben und rote Bete. Schließlich kamen noch Ringelblumen zum Vorschein, die Sanelma Käyrämö zu einem hübschen Strauß zusammengebunden hatte. Viittavaara packte den Strauß und schüttelte ihn drohend gegen den Wald.
»Und Blumen, verdammt! Den Irren werden auch noch Sträuße in den Wald getragen, was sagt man da zu!«
Portimo sammelte alles wieder ein und legte es in den Korb zurück.
»Laß gut sein, Viittavaara… Die Beraterin wollte Kun nari bestimmt bloß eine Freude machen. Ich finde, wir sollten jetzt gehen, der Huttunen kommt bestimmt nicht mehr.«
Viittavaara brach sich ein großes Stück vom duften den Hefezopf ab und stopfte es in seinen breiten Mund. Nach ein paar Bissen sagte er kauend:
»Schmeckt! Solche Leckerbissen werden den Wald räubern hingetragen, probier mal, Portimo!«
Portimo verzichtete und wickelte den Hefezopf wieder ins Papier. Er stellte den Korb auf die Erde und wandte sich zum Gehen. Aber Viittavaara hängte sich den Korb über den Arm, und als Portimo ihn verwundert ansah,
sagte er:
»Soll Kunnari hungern. Diese Leckerbissen lass’ ich dem Kerl nicht hier.«
Um seine Worte zu unterstreichen, zerquetschte Viit tavaara die Ringelblumen am nächsten Baum. Portimo schaute weg, zufällig gerade in Huttunens Richtung, er blieb stehen, starrte lange hin; die Blicke des Einsiedlers und des Polizisten trafen sich. Portimo räusperte sich verdutzt und wandte den Blick ab. Er ging zur Straße und rief von dort nach Viittavaara.
Der stapfte hinter ihm her, den Mund voller Kuchen. Er stellte den Korb für einen Moment ab, um die Flinte zu schultern, nahm ihn dann wieder auf und ging mit Portimo in Richtung Kirchdorf davon. Huttunen hörte, wie Viittavaara mit lauter Stimme redete und dabei Kuchen aß. Portimo reagierte kaum, sondern war mit seinen Gedanken beschäftigt.
Als Huttunen hungrig und wie betäubt in seinem La ger eintraf, erwartete ihn dort eine weitere böse Überra schung. Er bemerkte, daß sich das Floß nicht mehr an seinem Platz befand. Jemand hatte es ans andere Ufer gestakt und dort verankert. Wer, warum? War dieser abgelegene und anscheinend sichere Stützpunkt den noch entdeckt worden? Kannten die Bewohner des Kirchdorfes sein geheimes Lager?
Huttunen watete an der Stromschnelle im Oberlauf durch den Fluß, um sein Floß zurückzuholen. Auf den Kiefernbalken entdeckte er Spuren von Fisch – Einge weide und silbrige Schuppen. Er beruhigte sich. Es war nur ein Angler gewesen, der zufällig vorbeigekommen war und sein Floß benutzt hatte. Kaum anzunehmen, daß der Gast das Lager hinter dem Ufergebüsch be merkt hatte.
Huttunen befestigte das Floß hundert Meter weiter stromabwärts. Dann kehrte er ins Lager zurück und bereitete sich ein karges Abendbrot. Als Nachtisch aß er einen Napf süßer Heidelbeeren. Aber seine Gedanken waren nicht süß. Er verspürte ohnmächtige Wut auf die Bauern des Sprengels. Sie waren zu seinen Verfolgern, seinen Häschern, zu Vollstreckungsbeamten geworden. Könnte er doch gleichrangig mit ihnen kämpfen, Mann gegen Mann, dann würde sich alles regeln. Aber jetzt war er kraft Gesetzes der Unterlegene, ein schutzloser Einsiedler, dem jedes materielle Gut verboten war, selbst das Essen, sogar die Liebe. Man jagte ihn wie einen Verbrecher, nahm ihm das Brot vom Mund weg, belauerte sogar sein Mädchen wie eine Spionin.
Nachdem er sich ausgeruht hatte, beschloß er, einen oder zwei Tage am Oberlauf des Flusses zu angeln. Mit dem Netz fing er jetzt hier beim Lager gerade noch Hech te. Er verließ sich auf den Fischreichtum in der Nähe der Quelle und rüstete sich mit einer Anzahl rötlicher Fliegen und einigen hellen Blinkern aus. Er packte Salz und Brot ein, denn er hatte die Absicht, die folgenden Tage von Fisch zu leben. Zum Schluß steckte er sich die Axt in den Gürtel.
Es fiel ihm schwer, sein schmuckes Lager zu verlas sen, doch jetzt im Sommer mußte er jede freie Minute zum Fischfang nutzen, um für kommende Zeiten gerü stet zu sein, in denen es ihm vermutlich noch weitaus schlechter gehen würde. Während er am Fluß entlang wanderte, fluchte er auf Viittavaara:
»Verdammter Schmarotzer.«
24
In der Schlafkammer des Kommissars wurde Poker gespielt. Jaatila hatte Doktor Ervinen und Kaufmann Tervola zum gemütlichen Herrenabend eingeladen. Zunächst hatten sie sich mit langweiligen Brettspielen vergnügt, doch nachdem Doktor Ervinen ein paar tüch tige Schluck Spiritus in die Sherrygläser gegossen hatte, beschlossen sie, sich den weiteren Abend mit Poker zu versüßen.
Die Magd – oder das Stubenmädchen, wie die Frau des Kommissars zu sagen pflegte – erschien in der Tür, knickste widerwillig und teilte mit, ein Mann wolle den Kommissar sprechen. Jaatila mochte das Spiel nicht unterbrechen und ging deshalb nicht in sein Büro, sondern befahl der Magd, den Gast in die Kammer zu führen. Er hatte gerade drei Damen in seinem Blatt, zwei auf dem Tisch, eine verdeckt. Die letzte Karte war noch nicht gezogen. Er wußte bereits in dieser Phase des Spiels, daß er den Kaufmann überbieten würde, doch der verflixte Ervinen hatte unter Umständen einen Dreier. Jetzt jedoch erhöhte der Kommissar so viel, daß Ervinen blaß wurde. Allerdings war der Ärger des Arztes möglicherweise nur gespielt, denn er war ein Fuchs, wie der Kommissar wußte.
In diesem Augenblick trat ein Mann ein, der nach Rauch und Fischabfällen roch. Der Kommissar fragte, was ihn zu dieser späten Stunde herführe. Der Mann erzählte, er habe am Reutumoor gefischt, auf staatlichen Ländereien selbstverständlich.
»Und, haben Sie was gefangen?« fragte der Kommissar zerstreut und zog die letzte Karte. Es war die Karo Sechs, also nicht die fehlende Dame, doch das wollte er sich lieber noch nicht anmerken lassen. Er hatte nach der letzten Karte mit zwei Damen das beste offene Blatt auf dem Tisch. Der Kaufmann paßte, aber Ervinen, der anscheinend auf eine Farbstraße spekulierte, hielt und erhöhte sogar noch. Der Arzt setzte eine Summe ein, die dem Preis eines anständigen Kleinkalibergewehrs ent sprach.
»Ja, hab’ ich«, sagte der Mann, der immer noch in der Tür stand. Jetzt schob er sich so weit vor, daß er den Verlauf des Spiels verfolgen konnte. Er sah Ervinen über die Schulter, verriet aber mit keiner Miene, was für ein Blatt der Arzt hatte. Der Kommissar sah dem Mann in die Augen, hob fragend die Brauen, aber der andere wandte den Blick ab. »So, so«, äußerte der Kommissar und zog mit Ervinens Einsatz mit. Als die Karten aufge deckt wurden, stellte sich heraus, daß der Arzt geblufft hatte. Seine Grundkarte war ein nichtssagendes Pik As. Die kalte Wahrheit war, daß der ganze Einsatz an den Kommissar ging. Dieser goß eine Runde Spiritus für alle ein, außer für den fremden Angler, den er in amtlichem Ton fragte:
»Nun, und was haben Sie für ein Anliegen?« Der Mann erzählte, er habe im Sivakkafluß am Rand
des Reutumoores ein neues Floß aus Kiefernstämmen gefunden.
»Ich hab’ mich gewundert, wer das wohl gebaut hat. Als ich mich dann ein bißchen in der Gegend umgese hen hab’, da hab’ ich ein richtiges Lager gefunden, das war auch ganz neu. Das wollte ich Ihnen bloß erzählen, Herr Kommissar. Da draußen am Fluß haust einer im Unterstand.«
Der Kommissar verstand nicht recht, was er mit die-sem Lager zu schaffen hatte.
»Das ganze Gebiet da draußen ist voll von Flößen und Unterständen. Die interessieren die Behörden einen Dreck.«
Der Angler zog sich verlegen zur Tür zurück, wo er halb entschuldigend sagte:
»Ich dachte bloß, vielleicht hat der Kunnari Huttunen, der verrückte Müller, das Lager gebaut. Im Dorf hab’ ich nämlich gehört, er ist aus der Irrenanstalt geflohen und hält sich jetzt im Wald versteckt.«
Ervinen zeigte sofort Interesse und rief den Mann zurück. Er fragte, wie das Lager aussehe.
»Es war ganz neu und solide gebaut. Da waren ein Unterstand und Holzvorräte für viele Wochen. Dann gab es noch eine kleine Vorratskammer auf einem Kiefern stamm. Im Wald war ein Donnerbalken und am Ufer ein Floß, wie ich schon sagte.«
»Wie war das alles gearbeitet, also das Floß und die anderen Einrichtungen?« fragte der Kommissar.
»Wie von einem Zimmermann gemacht. Sogar der Donnerbalken war extra abgehobelt. Am Ufer standen noch Pfähle zum Netzetrocknen, für ein oder zwei Netze.«
»Es ist Huttunen«, konstatierte Ervinen. »Der Müller hat geschickte Hände, auch wenn sonst seine Motorik nicht stimmt. Am besten, wir fahren gleich los und nehmen ihn in flagranti fest.«
Der Kommissar rief Wachtmeister Portimo an und be fehl ihm, ein paar Männer zu alarmieren und sofort mit ihnen herüberzukommen. Bewaffnet. Man werde mit zwei Autos fahren.
Eine halbe Stunde später versammelte sich auf dem Hof des Kommissars eine Schar Männer: Portimo, Siponen, Viittavaara, Lehrer Tanhumäki, sogar Knecht Launola hatte man rekrutiert. Siponen, Viittavaara und Launola setzten sich in das Auto des Arztes, die anderen fuhren beim Kommissar mit. Der nach Fisch riechende Zuträger fungierte als Führer.
In hohem Tempo fuhren sie zur Kreuzung am Reutu moor und stiegen aus. Es war bereits Abend, aber noch nicht sehr dämmerig.
Der Kommissar versammelte alle zum Befehlsempfang um sich: Man müsse Huttunen überraschen, erklärte er. Das Lager werde umzingelt und zerstört und Huttunen gefangengenommen. Der Angler werde sie führen. Man müsse geräuschlos vorgehen, um die Beute nicht in die Flucht zu schlagen.
»Darf man auf ihn schießen, falls er in den Wald rennt?« fragte Siponen und schwenkte seine einläufige Flinte.
»Wir versuchen, ihn zu überrumpeln, aber falls er an greift, kann in Notwehr geschossen werden. Aber zuerst in die Beine, dann erst in den Kopf oder den Bauch.«
Vor Mitternacht erreichten die Männer den Sivakka fluß. Dort bildeten sie eine lichte Kette und rückten flußaufwärts vor, dorthin, wo sich laut Aussage des Anglers das Lager befand. Bald kamen sie am Floß vorbei. Es sei ein Stück nach unten verlegt worden, stellte der Mann fest.
Der Kommissar befahl flüsternd, ein Teil der Männer solle sich durch den Wald hinter das Lager schleichen, die anderen sollten sich diesseits des Lagers verteilen und Wachtposten beziehen. Das Flußufer blieb ungesi chert, denn man ging davon aus, daß selbst Huttunen nicht so verrückt wäre, in den Fluß zu rennen, hinter dem der tückische Sumpf wartete. Geräuschlos nahmen die Belagerer ihre Plätze rings um das Lager ein; der Kommissar gab mit der Lockpfeife das Signal, und die Männer begannen den Kreis enger zu ziehen. Sie kro chen und robbten über den feuchten Boden und beka men nasse Knie, aber die Situation war so spannend, daß sich niemand beklagte.
Nach einer halben Stunde hatte sich die Kette um das Lager geschlossen. Der Kommissar gab den Befehl zum Blitzangriff. Schrecklich brüllend und lärmend stürzten neun bewaffnete Männer aus dem nächtlichen Wald.
Aber das Lager war leer. Niemand schlief im Unter stand, die Aktion war mißglückt… Die Sturmtruppe umringte den Angler und äußerte Zweifel über den Wert seiner Anzeige. Der Mann sagte, er gehe nach Hause, und verschwand gleich darauf im Wald.
Viittavaara zerrte den Rucksack aus der Baumhütte und packte den Inhalt aus. Er untersuchte jeden Ge genstand genau, als wolle er prüfen, ob es Huttunens Eigentum sei. Portimo warf nur einen Blick darauf und sagte kurz und bündig, der Rucksack gehöre Kunnari.
»Er hat ihn letzten Winter getragen, als wir zweimal auf dem Puukkohügel Birkhühner schießen waren. Wir haben jedesmal ein halbes Dutzend gekriegt. Und dabei hatten wir nicht mal einen Hund mit.«
Der Kommissar knurrte ihn an.
»Du als Polizeimann suchst dir ja sonderbare Jagdge fährten aus.«
»Damals war Kunnari noch nicht aus der Nervenklinik geflüchtet«, verteidigte sich Portimo.
Der Kommissar ordnete an, um das Lager Wache zu halten. Die Männer zogen sich in den Wald zurück. Niemand durfte rauchen oder auch nur ein Wort flü stern. Alle sollten schweigend im Dunkel des Waldes liegen und warten, bis Huttunen in sein Lager zurück kehrte. Vermutlich hatte er es nur vorübergehend ver lassen. Wenn man ihm auflauerte, konnte man ihn immer noch überraschen.
Die Männer lagen die ganze Nacht reglos im Unter holz, aber Huttunen kam nicht. Mit steifen Gliedern vor Kälte und Feuchtigkeit erschien einer nach dem anderen morgens im Lager, wo eine neue Beratung abgehalten wurde.
»Es hat keinen Zweck mehr«, äußerte Ervinen ver drossen. »Der Kerl hat von der Sache Wind gekriegt… liegt vielleicht hinter einem Baum, beobachtet uns und lacht uns obendrein noch aus. Ich jedenfalls liege hier nicht wegen eines Irren noch länger im feuchten Sumpf.«
Launola unterstützte den Arzt eilfertig. Siponen schnauzte seinen Knecht an:
»Du lauerst auf Huttunen noch bis Weihnachten, wenn ich es befehle. Ich bezahle dir verfluchtem Kerl schließlich den Lohn dafür.«
»Auch wenn einer zufällig Knecht ist, muß er noch lange nicht jede x-beliebige Arbeit machen. Das hier ist nicht zu vergleichen mit Heueinfahren oder Holzmachen, es erinnert mich eher an den Krieg am Syväri.«
Der Kommissar beendete den Streit, indem er feststellte, es sei offenbar sinnlos, das Lager weiter zu bewachen, der Müller habe von irgendwoher einen Wink bekommen und halte sich fern. Er ordnete an, das Lager zu zerstören. Eifrig machten sich die Männer an die Arbeit.
Viittavaara warf sich Huttunens Rucksack über die Schulter. Siponen brachte den Unterstand zum Einsturz und schleppte die Fichtenzweige in den Fluß. Ervinen baute zusammen mit dem Lehrer die Baumhütte ab, die Holzteile wanderten ins Wasser. Launola wurde beauf tragt, den Abtritt am Berg zu zerstören und die Grube zuzuschütten. Zuvor schätzte der Kommissar die Menge von Huttunens Exkrementen ab, denn daraus ließen sich Rückschlüsse ziehen, wie viele Tage der Müller das Lager bewohnt hatte. Die Männer rollten die Steine der Feuerstätte in den Fluß, schnitten die Hängevorrichtung ab und zerstörten die Gestelle zum Netzetrocknen. Um das Vernichtungswerk vollständig zu machen, banden sie Huttunens Floß los und überließen es der Strömung. Einzig gegen den Kalender, den der Einsiedler in die Kiefer geschnitzt hatte, waren die Männer machtlos. Die letzte Einkerbung war vor zwei Tagen vorgenommen worden, stellte der Kommissar fest, als er den Kalender mit seinem eigenen verglich.
»Ohne Ausrüstung ist Huttunen gezwungen, ins Dorf zu kommen«, befand Kommissar Jaatila. »Ich fordere alle Anwesenden auf, während der kommenden Tage äu ßerst wachsam zu sein. Im Interesse der Sicherheit des Kirchdorfes muß der gefährlich geisteskranke Mann so schnell wie möglich in Gewahrsam genommen und in die Anstalt zurückbefördert werden.«
Nach getaner Zerstörung traten die Männer den Heimweg an. Gerade zu dieser Zeit kehrte Huttunen, vom Oberlauf des Flusses kommend, in sein Lager zu rück, in einem Korb aus Weidenruten trug er seinen gut zehn Kilo schweren Fang. Er war zufrieden und hatte vor, sich als erstes einen starken Kaffee zu kochen.
25
Der Anblick des zerstörten Lagers erfüllte Huttunen mit kalter Wut. Alles war kurz und klein geschlagen und seine sämtliche Habe fortgeschafft worden. Nichts war verschont geblieben. Obwohl er das Gelände eingehend
untersuchte, fand er keinen einzigen brauchbaren Ge genstand. Das Floß war fortgetrieben, sogar den Don nerbalken hatte man zersägt und die Grube darunter zugeschüttet.
Huttunen stieß schreckliche Flüche aus. Jetzt befand sich sein Leben wieder in einer Sackgas
se. Er wußte, daß er ohne ordentliche Lagerausrüstung, ohne Schutz gegen die Härten der Wildnis hier draußen keine Chance hatte. Geblieben waren ihm nur die Klei der am Leib, ein paar Blinker und Fliegen sowie das Messer und die Axt.
Der Einsiedler ahnte, daß die Bauern und der Kom missar das Lager gefunden und zerstört hatten. Er preßte mit weißen Knöcheln den Stiel der Axt und starr-te mit mörderischem Blick auf ihre funkelnde Schneide.
Auf einem Holzspieß briet er ein wenig Fisch im Feu-er. Karg war das Mahl, denn mit dem Rucksack war auch das Salz entwendet worden. Betrübt kaute er den verkohlten, ungesalzenen Fisch. Dazu trank er Wasser aus dem Fluß. Die restlichen Fische vergrub er in der Asche und verließ dann den Ort. Die folgende Nacht verbrachte er auf dem Reutuberg auf einer Streu aus Fichtenzweigen. Mitten in der Nacht wachte er vor Kälte auf, kletterte auf den höchsten Felsen und blickte er zürnt in die Richtung des Kirchdorfes.
Das Dorf schlief friedlich. In der Wärme ihrer Betten ruhten dort die Männer, die ihm das Lager zerstört hatten. Huttunen heulte drohend, zuerst leise, dann aus vollem Hals, laut und wahnwitzig.
Das irre Geheul wurde in der klaren Sommernacht bis ins Kirchdorf getragen. Die Dorfhunde erwachten und begannen ängstlich und mit gesträubtem Nackenfell zu bellen. Nach und nach stimmten alle ein, bis zum klein sten Pinscher, sie bellten und jaulten aus voller Kraft und antworteten auf Huttunens Geheul von den Felsen des Reutubergs. Auch in den Nachbardörfern ertönte Hundegebell. Erst gegen Morgen kehrte Ruhe ein, als Huttunen auf seinen Fichtenzweigen längst schlief.
Niemand im Kirchdorf fand Schlaf in dieser Nacht. Viele Bauern standen auf Strümpfen vor ihrer Haustür und horchten auf das Geheul, dann kehrten sie in die Stube zurück und sagten zu ihren Frauen:
»Es ist Kunnari, der da heult.«
Die Frauen seufzten ängstlich und meinten: »Man hätte ihn in Ruhe lasen sollen. Jetzt klagt der
arme Kerl, weil ihm auch noch seine ganze Habe gestoh len wurde.«
Am Morgen rief Kommissar Jaatila bei Siponen an und beorderte Klubberaterin Sanelma Käyrämö zu sich zum Verhör.
Er brachte jedoch nichts Entscheidendes aus ihr her aus. Sie wußte nicht, wo sich der Müller Gunnar Huttu nen derzeit aufhielt. Der Kommissar warnte sie offiziell davor, den Müller noch länger zu schützen. Das sei nicht zulässig, erklärte er, Huttunen brauche Behand lung, und das Leben im Dorf müsse sich wieder norma lisieren. Dabei gähnte er und trank starken Kaffee. Der nächtliche Lärm Huttunens und der Dorfhunde hatte auch den obersten Amtmann nicht schlafen lassen.
Während des Tages fuhren Kommissar Jaatila und Wachtmeister Portimo mit Hunden zum Reutuberg, um Huttunens Spuren zu suchen. Die Köter begriffen jedoch nicht, daß sie Huttunens Witterung aufnehmen sollten, auch wenn man sie noch so sehr an dessen Ausrü stungsgegenständen schnuppern ließ. Statt dessen bellten sie eifrig ein Eichhörnchen am Berghang an. Ärgerlich schoß Kommissar Jaatila mit der Pistole auf das Tier, obwohl er keinerlei Verwendung für ein Eich hörnchenfell hatte. Kleinwild mit der Handfeuerwaffe zu treffen ist schwer. Der Kommissar mußte wieder und wieder schießen. Er leerte das ganze Magazin auf das kleine Wesen, das von Baum zu Baum flüchtete, die Hunde auf den Fersen. Der wütende Kommissar rannte hinterher, daß der Reutuberg hallte, erwischte seine Beute aber nicht, denn die Munition ging ihm aus. Zur unbändigen Freude der Hunde holte Wachtmeister Portimo das Eichhörnchen schließlich mit seiner Flinte herunter. Er überreichte das blutige kleine Fellknäuel dem Kommissar, doch der wollte es nicht haben und schleuderte es wütend ins Gebüsch.
Die Hunde waren schwer aus dem Wald fortzube kommen. Der Kommissar trat den Heimweg an und überließ es Portimo, die ausgelassenen Tiere nach Hau se zu locken. Im Kirchdorf angekommen, mußte der Kommissar den entgegenkommenden Leuten den Grund für die Schießerei erklären. Verdrossen zog er sich in sein Büro zurück.
Ausgerechnet jetzt kam ein Anruf aus der Ouluer Ner venklinik. Man fragte an, ob der neurasthenische Pati ent, ein gewisser Huttunen, gefunden worden sei. Der Kommissar knurrte in den Hörer, der Mann habe trotz etlicher Versuche noch nicht gefaßt werden können.
»Wieso haben Sie den Irren laufenlassen, verflucht noch mal! Sie haben eine geschlossene Anstalt, die aus Ziegeln gebaut ist, und lassen den Kerl einfach raus marschieren. Sie sollten sich um Ihre Bekloppten besser kümmern«, wetterte der Kommissar.
Aus Oulu kam die trockene Erwiderung, der fragliche geisteskranke Patient sei keineswegs ein Einheimischer, sondern stamme aus ebenjenem Sprengel, wo anschei nend auch in anderen Berufen als dem des Müllers Irre beschäftigt seien, und die Ergreifung des Flüchtigen obliege dem Kommissar. Der erbitterte und ergebnislose Wortwechsel über die Verantwortlichkeiten wurde noch eine Weile fortgesetzt, bis der Kommissar wütend den Hörer auf die Gabel knallte.
In der folgenden Nacht heulte Huttunen nicht, son dern besuchte das Kirchdorf. Er schlich um die Häuser und holte sich in Suukoski von seiner Klubparzelle ein wenig Wurzelgemüse, Rüben und Möhren gegen den schlimmsten Hunger. Die Mühle betrat er nicht, denn er fürchtete, daß dort jemand Wache hielt.
Siponens widerlicher Köter erwachte nicht, als Huttu nen sich von hinten ans Haus schlich. In der Stube und in der Kammer schliefen die Leute, aber in der Mansar de brannte Licht. Die Klubberaterin war also wach. Huttunen warf einen kleinen Stein an die Fensterschei be und verbarg sich abwartend hinter den Johannis beersträuchern. Bald erlosch das Licht im Zimmer. Das Fenster öffnete sich, und Sanelma Käyrämö steckte ihren Lockenkopf heraus. Mit verweinten Augen blickte sie in den Garten. Huttunen trat aus dem Schutz der Sträucher hervor und flüsterte zu seiner Geliebten hin auf:
»Hast du das Geld von der Bank geholt, liebe Sanel ma? Wirf mir die Brieftasche runter!«
Sie schüttelte traurig den Kopf und flüsterte eine Antwort. Als Huttunen nichts verstand, warf sie ihm ein kleines Blatt Papier hinunter. Huttunen hob es auf und las:
»… ist die Bank nicht bereit, Ihr… Guthaben oder dessen Zinsen auszuzahlen… Hochachtungsvoll, Ihr A. Huhtamoinen, Bankdirektor.«
Huttunen begriff nichts. Er flüsterte hektisch zum Fenster hinauf, fragte und rief so viel, daß Siponens Hund vor dem Haus erwachte und schläfrig zu bellen anfing. Sanelma Käyrämö erschrak, schrieb ein paar Worte auf einen Papierfetzen und warf ihn hinunter. Der Text lautete:
»Liebster Gunnar. Wir treffen uns morgen um 18 Uhr hinter Viittavaaras Milchbock im Wald.«
Der Einsiedler zog sich in den Wald zurück, um über die Situation nachzudenken. Bauer Siponen war vom Gebell seines Hundes aufgewacht. In Strümpfen und Unterhosen, die Flinte in der Hand, trat er vors Haus. Er inspizierte den Schuppen und die Sauna, horchte lange in die stille Nacht und starrte in den Wald, ebenso wie sein Hund. Als dieser schließlich aufhörte zu kläffen, schnauzte der Bauer ihn an und kehrte in die Stube zurück.
Huttunen aß im Wald ein paar Rüben, die er mit dem Messer abschabte. Er grübelte, warum in aller Welt der Bankdirektor nicht eingewilligt hatte, Sanelma sein Geld auszuhändigen. Mit welchem Recht hatte Huhtamoinen
dermaßen niederträchtig gehandelt? Huttunen bekam eine mächtige Wut. Er vergrub die restlichen Rüben in einem Erdloch und lief schnell durch die Wälder zur Bank.
Die Bank des Sprengels befand sich im Erdgeschoß eines zweistöckigen Steinhauses. Im Obergeschoß wohn te Direktor Huhtamoinen mit seiner Familie, außerdem wahrscheinlich noch ein weiterer Angestellter, denn für nur eine Familie wirkte die Etage zu geräumig. Huttu nen musterte das Gebäude, in dessen Panzerschrank sein Geld lag. Er wollte einbrechen, um sich sein Eigen-tum zu holen, begriff aber, daß er nicht ohne Dynamit herankam. Besser war es, die Bank während der Dienst zeit aufzusuchen. Ohne eine verlängerte Hand sollte er das aber nicht tun. Die Axt war in diesem speziellen Fall zu brav. Ein Gewehr wäre besser geeignet, den Empfang des Geldes an der Kasse zu quittieren.
Huttunen erinnerte sich an Ervinens vorzügliche Waf fensammlung. Ein Gewehr konnte der Doktor sehr gut entbehren, ihm blieben immer noch reichlich Waffen für den eigenen Bedarf, zumal jetzt keine Jagdsaison war.
Am folgenden Abend traf Huttunen die Klubberaterin hinter Viittavaaras Milchbock im Wald. Sie war so ver ängstigt, daß sie förmlich zitterte. Huttunen flüsterte ihr Liebesworte ins Ohr, schlang schützend die Arme um sie und redete beruhigend auf sie ein. Sie berichtete, was seit ihrem letzten Treffen an Schrecklichem passiert war. Dann bot sie ihm Geld an, doch er wehrte ab:
»Laß nur, du hast bloß dein kleines Gehalt. Ich werde mir mein Geld selber holen.«
Huttunen bat sie, am späteren Abend Doktor Ervinen anzurufen und ihm zu sagen, er werde dringend im zwanzig Kilometer entfernten Kantojärvi gebraucht.
»Sag ihm, für die Zangengeburt bei der Magd von Puukkokumpu braucht man unbedingt einen Arzt.«
Als sie sich wunderte, warum sie dem Doktor solche Lügen auftischen solle, erklärte Huttunen, er wolle den Arzt für einige Zeit aus dem Haus locken. Während der Arzt in dem entlegenen Dorf einen Krankenbesuch mache, könne er, Huttunen, inzwischen in aller Ruhe dessen Haus aufsuchen.
»Ich brauche unbedingt ein paar von seinen Tabletten. Er hat im Schrank neben dem Kamin Beruhigungspil len. Ich hab’ gesehen, wie er sie letztes Mal da rausge holt hat.«
Sanelma Käyrämö verstand, daß Huttunen ein Beru higungsmittel brauchte. Aber sie hatte Angst:
»Es ist trotzdem Diebstahl… Und es ist nicht richtig, anonym einen Arzt anzurufen. In Kantojärvi gibt es außerdem keine Gebärende, die Magd existiert über haupt nicht.«
Huttunen überredete sie, zu tun, worum er sie bat. Handelte es sich hier nicht, mittelbar, um die Ausübung ärztlicher Tätigkeit? Denn krank war er letzten Endes, das konnte niemand bestreiten. Natürlich bewegte man sich hier ein wenig außerhalb des Gesetzes, aber man war gezwungen und hatte keine andere Wahl. Sein Kopf würde den Druck nicht mehr lange aushalten. Falls er in eine Apotheke ginge, um Medikamente zu kaufen, würde man ihn auf der Stelle festnehmen und mit dem nächstbesten Gefangenentransport in die Nervenklinik schicken. War es nicht so?
Sanelma Käyrämö versprach, Ervinen noch am selben Abend anzurufen. Sie hatte Bedenken, der Arzt könnte ihre Stimme erkennen, doch Huttunen meinte, eine Frau verstehe es immer, ihre Stimme zu verstellen, schließlich könnten auch viele Männer in verschiedenen Zungen reden.
»Also gut, ich rufe an. Von der Magd sage ich lieber nichts, aber in Kantojärvi ist eine gewisse Leena Lanki nen schwanger. Ich werde sagen, bei ihr droht eine Fehlgeburt.«
Die Klubberaterin berichtete von ihrem Besuch in der Bank und davon, was der Kommissar beim Verhör von ihr wissen wollte und wie er ihr gedroht hatte. Huttunen wurde böse und sagte, jetzt gehe die Obrigkeit zu weit.
»Wieso müssen sie dich bedrängen, wo du unschuldig bist! Du bist doch nicht aus der Irrenanstalt geflohen, hast nichts getan. Sollen sie wenigstens die Frauen in Ruhe lassen. Reicht es ihnen nicht, wenn sie mich Tag und Nacht jagen?«
Bevor sie sich trennten, gab die Klubberaterin Huttu nen einen Kuß und ein Viertelkilo geräucherten Speck. Huttunen blieb trunken vor Glück im Wald zurück, in den Händen das köstliche Paket Speck und auf den Lippen den Nachgeschmack von Sanelmas heißem Kuß. Als sie davongeradelt war, packte er den Speck aus dem Pergamentpapier und aß ihn mitsamt der Schwarte auf, so ausgehungert war er.
26
Huttunens Taschenuhr zeigte acht. Er lauerte im Wald hinter Ervinens Haus. Bald würde es der Doktor sehr eilig haben, denn man brauchte ihn dringend in Kanto järvi wegen einer drohenden Fehlgeburt.
Kurz nach acht Uhr kam Ervinen hastig und gereizt aus dem Haus. Er hatte Gummistiefel an und trug seine Arzttasche in der Hand. Sanelma Käyrämö hatte ihn also alarmiert.
Ervinen kurbelte sein Auto an und fuhr in schnellem Tempo in Richtung Kantojärvi davon. Sowie er außer Sichtweite war, kam Huttunen aus dem Wald und versuchte es mit der Haustür. Sie war verschlossen. Huttunen mußte durch das Kellerfenster eindringen.
Drinnen im Haus rannte er als erstes ins Kaminzim mer, um sich eine anständige Jagdwaffe auszusuchen. Er hatte reiche Auswahl – an der Wand hingen eine Flinte, ein Kleinkalibergewehr, ein Elchgewehr, ein Stutzen sowie eine kombinierte Waffe mit zwei Läufen, einem für Schrot und einem für Kugeln. Huttunen ent schied sich für den Stutzen. In der Schreibtischschub lade fand sich dafür reichlich Munition. Das leichte Gewehr entsprach Huttunens derzeitigem Bedarf. Not-falls konnte er damit einen Elch erlegen, doch war es auch nicht zu schwer, um Vögel zu schießen.
Er beschloß, gleich noch ein paar andere Ausrü stungsgegenstände mitzunehmen. Er wollte nicht eigent lich stehlen – er würde dem Arzt irgendwann bei pas-sender Gelegenheit die Verluste ersetzen. Jetzt kannte die Not kein Gesetz, denn draußen in der Wildnis war er ohne anständige Ausrüstung verloren. Hier war alles vorhanden, wer konnte ihn also hindern, sich zu neh men, was er brauchte? Der Kommissar und die Dorfbe wohner, Ervinen voran, hatten ihm alles weggenommen. Nun tat er dasselbe, das war alles.
Ervinen besaß einen ausgezeichneten Rucksack, bes ser als der, den man Huttunen gestohlen hatte. Einem Arzt stand natürlich auch ein besserer zu als einem gewöhnlichen Müller. Die Angelgeräte waren ebenfalls zweckmäßig. Fliegen hätten es gern mehr sein können, aber die Auswahl an Blinkern war hervorragend. An Campingausrüstung war so viel vorhanden, daß die Wahl schwerfiel. Huttunen stopfte den Rucksack voll, holte aus dem Schlafzimmer noch eine dicke Decke, rollte sie zusammen und schnallte sie obendrauf. An der Wand hing ein stark vergrößerndes neues Fernglas, das er einsteckte. Ein Kompaß und eine Kartentasche mit maßstabgenauen Karten der Gegend gingen ebenfalls in seinen Besitz über.
Als alles Notwendige eingepackt war, ließ Huttunen noch einmal den Blick schweifen, wie man es vor Ver lassen des Hauses zu tun pflegt, um sicherzugehen, daß man nichts vergessen hat. Ihm kam der Gedanke, daß es vielleicht höflich wäre, eine Botschaft auf dem Tisch zurückzulassen, wer das Haus geleert hatte und warum. Aber dann dachte er an die gründliche Zerstörung sei nes eigenen Lagers. Wütend verwarf er seine Absicht:
»Dort draußen im Moor hat auch keiner einen Ent schuldigungszettel hingelegt. Soll der Quacksalber mal am eigenen Leib spüren, wie so was ist. Warum mußte er mich auch für verrückt erklären!«
Huttunen verließ das Haus auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Lautlos verschwand er im Wald, umrundete das Dorf und nahm Kurs auf den Kemifluß. Es war ratsam, sich für die kommende Nacht auf die
Westseite des großen Stromes zurückzuziehen, denn in der Gegend um den Reutuberg würde man sicher nach ihm suchen.
Der Kemifluß war an dieser Stelle nicht mit einer öf fentlichen Fähre zu überqueren, der Einsiedler mußte sich am Ufer ein Boot suchen. Er ruderte hinüber und versteckte das Boot an der Mündung eines Baches im Dickicht. Dann ging er ein paar Kilometer landeinwärts bis zu einem dichten Fichtenwald, wo er, eingewickelt in Doktor Ervinens Decke, übernachtete. Am Morgen kehr te er zum Boot zurück, nur mit dem Gewehr und ein paar Handvoll Munition ausgerüstet. Er schob das Boot ins Wasser.
»Jetzt ist die Bank dran.«
Wie ein Geist schlich er sich durch die Wälder von hinten an das Geldinstitut des Dorfes heran. Es war so früher Morgen, daß die Bank noch nicht geöffnet hatte. Huttunen beschloß, auf den Beginn der Geschäftszeit zu warten. Vorsorglich lud er das Gewehr.
Sowie die Bank öffnete, ging Huttunen mit dem Ge wehr in der Hand hinein. Die Angestellten erschraken, der Oberbuchhalter sauste pfeilgeschwind ins Hinter-zimmer, um Direktor Huhtamoinen herbeizurufen. Die an der Kasse zurückgebliebene Kontoristin war weiß im Gesicht und litt Todesängste. Ein geistesgestörter Mann, der mit einem Gewehr in die Bank kommt, erweckt begründete Unruhe. Huttunen schoß jedoch nicht um sich, sondern erklärte der Angestellten ruhig:
»Ich will mein Sparguthaben abheben. Alles, auch die Zinsen.«
Direktor Huhtamoinen stürzte herein. Er zeigte sich erschüttert, versuchte zu vermitteln:
»Schau an, Herr Huttunen, Sie hier… Ihr Guthaben ist vorhanden und bestens verwahrt, aber wir dürfen es Ihnen eigentlich nicht…«
Huttunen traf Anstalten, das Gewehr zu laden. »Es ist mein eigenes Geld. Von anderen will ich keins,
aber mein eigenes nehme ich mit.«
Huhtamoinen stammelte entsetzt:
»Ich bestreite in keiner Weise, daß Sie hier ein Spar konto und darauf auch Geld haben…. aber es ist be schlagnahmt worden. Der Vormundschaftsausschuß der Gemeinde hat das Geld auf sein Konto überschrieben. Aus Oulu sind Papiere gekommen, wonach Sie gewis sermaßen unter Vormundschaft stehen… Das heißt, Sie benötigen das Einverständnis von Landwirt Viittavaara, wenn Sie beabsichtigen, Ihr Geld abzuheben. Ich könnte Viittavaara ja anrufen, vielleicht gibt er mir die Erlaub nis, Ihnen das Geld auszuzahlen.«
»Hier wird nicht telefoniert. Sie würden sowieso bloß den Kommissar anrufen. Und was, verflucht noch mal, hat Viittavaara mit meinem Geld zu tun? Der hat ja wohl selber genug.«
Der Direktor erklärte, Viittavaara sei Vorsitzender des Vormundschaftsausschusses der Gemeinde und bestim me in dieser Eigenschaft über die Geldangelegenheiten der entmündigten Personen.
»Ansonsten gehen mich diese Kontoangelegenheiten überhaupt nichts an«, schwor Huhtamoinen.
»Ich hebe jetzt trotzdem mein Geld ab. Wo muß ich quittieren?«
Die zitternde Angestellte schob eine Quittung über den Tisch, Huttunen unterschrieb und datierte den Beleg. Huhtamoinen zählte das Geld auf den Tisch. Viel war es nicht, aber für ein paar Monate würde es reichen.
Im Hinterzimmer hörte man den Oberbuchhalter sprechen. Huttunen schaute nach, was der Mann dort trieb, und sah ihn telefonieren. Er teilte ihm mit, dafür sei jetzt nicht der geeignete Augenblick. Der erschrocke ne Angestellte legte den Hörer auf.
Nachdem Huttunen seine Bankgeschäfte erledigt hat-te, erklärte er dem Direktor, er werde, sollte er jemals Geld übrig haben, seine Ersparnisse nicht mehr in einem Geldinstitut aufbewahren, sondern in staatlichen Obligationen anlegen.
»Banken, in denen man ohne Gewehr nicht an sein eigenes Sparkonto rankommt, vertraue ich nicht.«
Huhtamoinen versuchte, das Geschehene herunter zuspielen:
»Dies ist auf keinen Fall ein Fehler der Bank. Wir müssen lediglich dem Gesetz und den Anordnungen der Behörden folgen, so unangenehm und unhöflich es auch manchmal sein mag… In diesem Fall hat es einfach zu viele Mißverständnisse gegeben. Aber verlieren Sie nicht das Vertrauen zu uns, Herr Huttunen. Ich würde übri gens diese Begegnung nicht einmal als Bankraub be zeichnen, eigentlich ist der Vorfall weit davon entfernt. Wenn all das irgendwann geklärt ist, würde ich Sie gern wieder bei uns begrüßen dürfen. Ein alter Kunde wird in unserer Bank wie ein Freund behandelt, davon dürfen Sie überzeugt sein. Ich kann mir sogar vorstellen, daß wir über Kreditmöglichkeiten für Sie sprechen werden… später, in der Zukunft natürlich.«
Huttunen ging schnell hinaus und verschwand im Wald. Im Schalterraum der Bank waren alle noch eine Weile vor Schreck wie gelähmt, bis der Oberbuchhalter zum Telefon griff, um den Kommissar anzurufen. Der Direktor kam selbst an den Apparat, um Anzeige zu erstatten. Er erklärte, der Müller Gunnar Huttunen sei kurz zuvor mit einem Gewehr bewaffnet in die Bank eingedrungen.
»Er hat die Bank ausgeraubt. Die Beute ist nicht sehr groß, sein eigenes Sparguthaben deckt das gerade ab. Aber ein Bankraub ist ein ernstes Delikt, hoffentlich alarmierst du gleich Männer, die ihn verfolgen. Huttu nen ist eben in den Wald gelaufen.«
27
Der Einsiedler rannte durch die Wälder zum Kemifluß. Er sprang ins Boot und ruderte im Eiltempo über den reißenden Strom. Der Kommissar würde bestimmt eine große Suchaktion veranstalten, jetzt war keine Zeit zu verlieren. Die Nachricht von Huttunens Bankbesuch war bereits bis auf die Westseite des Flusses gelangt, denn am Ufer warteten mehrere Autos, die auf die Fähre wollten. Auf der Fähre befanden sich etwa zehn Männer mit Fahrrädern, fast jeder trug eine Waffe über der Schulter. Huttunen ruderte in ungefähr zweihundert Meter Entfernung vorbei. Man rief ihm zu:
»Hoi, Mann! Komm mit zum Kirchdorf, der Kunnari Huttunen hat die Bank überfallen und von Ervinen das Angelzeug und eine Flinte geklaut!«
Als Huttunen nicht antwortete, meinte jemand: »Der hört nicht. Ruft lauter!«
Sie schrien so laut von der Fähre herüber, daß Hut tunen gezwungen war, seine Fahrt zu unterbrechen und zu antworten. Er zog sich die Mütze tief in die Augen und rief zurück:
»Ich muß zur Bahnstation, komme gleich nach!« Damit waren die Männer zufrieden, und Huttunen
konnte fliehen. Er zog das Boot in die Bachmündung und rannte in den Wald. Jetzt war wirklich Eile geboten. Zum Glück kannten ihn die Männer von der Fähre nicht.