Der Beifußstrauch

Für George Jones

Wer das Verschwinden von Flugzeugen, Schiffen, Langstreckenschwimmern und Wasserbällen im Bermuda-Dreieck für ein einzigartiges Phänomen hält, der hat noch nie von den unerklärlichen Fällen des Verschollengehens an der Red-Desert-Strecke der Route von Ben Holladays Postkutsche gehört, zu jenen Zeiten, als Wyoming noch Territorium war.
Historikern zufolge soll Holladay die U.S.-Postbehörde, Haupteinnahmequelle seiner Linie, unmittelbar nach dem Bürgerkrieg darum ersucht haben, die Route fünfzig Meilen nach Süden zu verlegen, so dass sie den Overland Trail berührte. Er behauptete, auf dem nördlicher gelegenen Kalifornien-Oregon-Mormonen-Trail hätten die Indianer in letzter Zeit grausame und unberechenbare Überfälle begangen, die das Leben von Kutschern, Passagieren,Telegrafisten, Schmieden, Gastwirten und Köchen an den Stationen und sogar die Pferde und die kostspieligen roten und schwarzen Concord-Kutschen gefährdeten (obwohl die meisten Gefährte in Wahrheit einfachere Red-Rupert-Wagen mit Segeltuchverdeck waren). Neben seinen Brandbriefen mit ausführlichen Schilderungen mörderischer Indianerüberfälle schickte er Aufstellungen verlorener oder beschädigter Waren und Ausrüstungsgegenstände nach Washington: ein Sharp-Gewehr, Mehl, Pferde samt Geschirr, Türen, fünfzehn Tonnen Heu, Ochsen, Maultiere, Stiere, verbranntes Getreide, gestohlener Mais, zerschlagenes Mobiliar, eine Station samt Scheune, Schuppen und Telegrafenbüro abgebrannt, das Geschirr zerschlagen und die Fensterscheiben ebenso. Was hatte es schon zu sagen, dass das Gewehr an einen Abtritt gelehnt und vom Wind zu Boden geworfen und mit Sand bedeckt worden war, bevor der Besitzer den Abort verließ, dass die Teller bei einem ausgelassenen Wettschießen zu Bruch gegangen waren oder dass die Schäden an der Postkutsche daher rührten, dass frierende Passagiere mit den Stapeln von Regierungspapieren, die zur Fracht gehörten, in der Kutsche Feuer gemacht hatten. Holladay kannte seine Bürokraten. Entsetzt über die haarsträubenden Nachrichten, stimmten die Regierungsbeamten der Postbehörde in Washington Holladays Ersuchen zu und halfen dem Postkutschenkönig, eine Menge Geld zu sparen, was ihm sehr zupasskam, da er über Insider-Informationen verfügte und nur darauf wartete, seine Linie zu verkaufen, sobald die Union-Pacific-Eisenbahngesellschaft genug Schaufeln und Iren beisammen hatte, um mit dem Bau der transkontinentalen Bahnlinie zu beginnen.
Der Indianerüberfall, den Holladay so schaurig und eingehend beschrieben hatte, war nichts weiter gewesen als ein erfolgloser Kriegszug der Sioux, der im Sand verlaufen war, da sich nur eine Partei eingefunden hatte. Um nicht gänzlich unverrichteter Dinge abzuziehen, nahmen die verärgerten Indianer eine Rolle Kupferdraht mit, die am Fuß eines Telegrafenmasten von einem Arbeiter vergessen worden war, der es eilig gehabt hatte, in den Saloon zu kommen. Sie karrten sie in ihr Lager und machten daraus Halsbänder und Armreifen. Nachdem sie den neuen Schmuck einige Tage lang getragen hatten, bekamen die meisten Teilnehmer des Kriegszugs schwere Ausschläge, die anhielten, bis der Medizinmann R. Singh, auf dessen Weilen unter den Sioux hier nicht näher eingegangen werden kann, das ungute Wirken des sprechenden Drahts weissagte und dafür sorgte, dass der Rest der Drahtrolle sowie alle Armreifen und Ohrgehänge begraben wurden. Kurz darauf begannen Reisende in der Nähe der Station Sandy Skull zu verschwinden, wenngleich dies in keiner Weise mit der Verlegung der Route oder dem Kupferdrahtzwischenfall zusammenhing.
Der Stationsvorsteher von Sandy Skull war Bill Fur, assistiert von seiner Frau Mizpah. In einem Schuppen an einer Seite des Hauses klapperte der Telegrafist auf seiner Taste. Die Furs waren seit sieben Jahren verheiratet, aber kinderlos, was in jenen fruchtbaren Tagen beide grämte. Vor allem Mizpah nahm das ziemlich mit, und irgendwann tauschte sie eines von Bills Sonntagshemden bei einem vorbeikommenden Auswandererwagen gegen ein Ferkel ein, das sie wickelte und aus einer Flasche mit Sauger fütterte, die einstmals Wilfees Pferdetinktur & Spanischen Schmerztöter beinhaltet hatte und nun die Milch der unglücklichen Kuh der Furs enthielt, die Gegenstand der unverlangten Aufmerksamkeit von freilaufenden Stieren, Viehdieben und Roundup-Cowboys war und sich die meiste Zeit in einer nahegelegenen Höhle versteckt hielt. Eines Tages verhedderte sich das Ferkel im Saum seines Wickelkleids und wurde von einem Goldadler davongetragen. Die trauernde Mrs. Fur tauschte ein weiteres Hemd ihres Mannes bei einem vorbeikommenden Auswanderer gegen ein Huhn ein. Den Fehler mit dem Wickelkleid wiederholte sie nicht, sondern sie putzte ihr Huhn mit einem kleinen Lederwams und einer winzigen Haube heraus. Die Haube hatte den Effekt von Scheuklappen, und das bedauernswerte Hühnchen bekam den Kojoten gar nicht erst zu sehen, der es sich kaum eine Stunde später schnappte.
Untröstlich und voller Leid ob ihrer Einsamkeit richtete Mizpah Fur ihre Aufmerksamkeit nun auf einen unbelebten Beifußstrauch, der im Zwielicht aussah wie ein Kind, das mit erhobenen Armen jämmerlich darum bittet, aufgehoben zu werden. Dieser Beifußstrauch wurde zum Ein und Alles der einsamen Frau. Für sie besaß er einen bezaubernden Duft, der an Kiefernwälder und Zitronenschale erinnerte. Heimlich brachte sie ihm täglich einen Kübel Wasser (mit Milch versetzt), und sie erfreute sich an seinem Wachstum, ohne sich um die feinen Kaktusnadeln zu scheren, die bei jedem Besuch des geliebten Atriplex ihre abgetragenen Mokassins durchbohrten. Anfangs sah ihr Mann vom Haus aus zu und murmelte sarkastische Bemerkungen, doch dann verfiel er der Illusion genau wie sie, riss alles Gras und alle Schmarotzerpflanzen aus, die dem geliebten Strauch Nahrung rauben konnten. Mizpah band eine rote Schärpe um die Taille des Strauchs. Inzwischen sah er mehr denn je wie ein Kind aus, das die Arme nach oben streckte, selbst dann noch, als das Sonnenlicht die windzerfetzte Schärpe zuerst rosa und dann schmutzigweiß gebleicht hatte.
Die Zeit verging, und der Beifuß, verwöhnt und bemuttert wie weder Schweinchen noch Hühnchen, noch die wenigsten Menschenkinder, denn Mizpah hatte sich angewöhnt, ihm Fleischsaft und Sauce in sein Wasser zu mischen, wuchs geradezu verblüffend. Im Zwielicht sah er nun aus wie ein großer Mann, der seine Hände hob, weil es ihm befohlen wurde. Im winterlichen Schnee funkelte er festlich. Reisenden fiel er auf als der größte Beifußstrauch in der einsamen Wüstengegend zwischen Medicine Bow und Sandy Skull. Er wurde zum Wahrzeichen für Deserteure. Bill Fur kam mit einer Kartoffelhacke in der Hand auf den richtigen Namen für den Strauch, als er sagte, er wolle jetzt um ihren Beifußjungen herum Kaktus roden.
Etwa um die Zeit, als Bill Fur einen bequemen Weg anlegen wollte, der zu dem Beifußjungen und um ihn herum verlief, wurden Pferde in der näheren Umgebung seiner Station rar. Die Furs und die benachbarten Rancher hatten immer wilde Mustangs eingefangen, und nach einigen Ritten mit Stahlbolzen an ihrem Pony, wohlüberlegten Schlägen mit einem Holzscheit und unerbittlichem Einreiten durch junge Burschen, deren Rückgrat sich noch nicht zu einer unbeweglichen Säule verfestigt hatte, galten die Pferde als zahm genug, um Postkutschen zu ziehen oder Reiter zu tragen. Doch mittlerweile hatten die Mustangs sich allem Anschein nach an einen anderen Ort verzogen. Bill Fur machte die strenge Trockenheit dafür verantwortlich.
»Haben woanders ein Wasserloch gefunden«, sagte er.
Eine Gruppe Auswanderer übernachtete in der Nähe der Station, und im Morgengrauen hämmerte der Anführer an die Tür der Furs und wollte wissen, wo seine Ochsen waren.
»Wir wollen weiter«, sagte der Mann, dessen Gesicht unter seiner hängenden Hutkrempe kaum zu sehen war, ein Mann mit geborstenen Brillengläsern, einem Vollbart und einem Schnurrbart von der Größe eines toten Eichhörnchens. Er hatte eine Hand tief in seine Jackentasche versenkt, was Bill Fur als schlechtes Zeichen deutete, denn er hatte schon einige Tote mit solchen Jackentaschen zu sehen bekommen.
»Ihre Ochsen habe ich nicht gesehen«, sagte er. »Diese Station ist zum Pferdewechseln da«, und er deutete auf den Pferch, wo sich zwei Dutzend halbwilde Packpferde die Morgensonne auf den Buckel scheinen ließen. »Ochsen als Zugtiere haben wir nicht.«
»Es waren schöne Ochsen, Fleckvieh, alle sechs aus derselben Zucht«, sagte der andere leise und drohend.
Bill Fur, der nun auf der Hut war, ging mit dem Bärtigen zu der Stelle, wo die Ochsen am Vorabend zum Grasen geschickt worden waren. Hufspuren zeigten, wo die Tiere sich bewegt hatten, als sie das spärliche Bartgras abweideten. Die beiden Männer untersuchten die ganze Umgebung, konnten aber keine Ochsenfährte ausmachen, denn der feine Staub wich bald nacktem Felsgestein, das keine Spuren zeigte. Im späteren Verlauf der Woche mussten die zornigen Auswanderer eine gemischte Herde Ochsen von dem Marketender in Fort Halleck kaufen, einem Geschäftemacher, der davon lebte, dass er Tiere in desolatem Zustand für einen Appel und ein Ei aufkaufte, sie aufpäppelte und dann für ein Vermögen an Leute weiterverscherbelte, die dringend Vieh benötigten.
»Ihre Tiere wurden sicher von den Indianern geholt«, sagte der Maketender. »Die verwischen die Spuren mit einem Beifußzweig, damit man denkt, die Viecher hätten plötzlich Flügel gekriegt und wären davongeflattert.«
Der Telegrafist legte Wert darauf, die Sonntagsruhe einzuhalten. Nach seiner Mahlzeit aus Steppenhuhn mit Hagebuttengelee machte er sich auf einen Verdauungsspaziergang, von dem er nicht an seine Arbeitsstätte zurückkehrte. Das bedeutete ein echtes Problem, und am Mittwoch musste Bill Fur nach Rawlins reiten und einen Ersatz für »die glupschäugige, bissige alte Betschwester« finden, die »das Weite gesucht« hatte. Der Nachfolger wurde aus einem Saloon an der Hauptstraße rekrutiert und war ein hartgesottener Säufer, der morgens sein Feuer mit den Seiten aus der Bibel des Vorgängers anzündete und eine Gabelantilope pro Woche verzehrte, deren Fleisch er in einer Bratpfanne röstete, die nie gewaschen wurde.
»Geben Sie mir die Knochen«, sagte Mizpah, die begonnen hatte, Fleischreste und abgenagte Rippen in dem Boden um ihren geliebten Beifuß herum einzugraben.
»Greifen Sie zu«, sagte der Telegrafist, häufte Knorpel und Flechsen auf die ausgebreitete Zeitung, die ihm als Tischdecke diente, und rollte sie zusammen. »Für Ihre Fleischbrühe, wie?«
Zwei Soldaten aus Fort Halleck aßen bei den Furs zu Abend und übernachteten im Gebüsch. Am Morgen lagen ihre leeren Schlafsäcke flach auf dem Boden, von Sand überweht, die Sättel als Kissen darunter, und am Beifußstrauch hingen schlaff die Pferdeleinen. Die Soldaten blieben verschwunden, offenbar Deserteure, die sich auf und davon gemacht hatten. Der Wind hatte jede eventuelle Spur verwischt. Aus den Schlafsäcken fertigte Mizpah geschmackvolle Quilts, indem sie ein hübsches Muster aus schwarzen Streifen und gelben Kreisen auf den groben Stoff applizierte.
Ob es am Licht lag oder an dem schlechten Fensterglas, das den Blick entstellte wie ein Tränenschleier - jedenfalls war es Mizpah, als sie mit dem Spüllappen über die Teller wischte und hinausschaute, als hielte der Beifußstrauch die Arme nicht erhoben, sondern nach vorn gestreckt, als suchte er nach einer Wasserader. In der Befürchtung, ein ungestümer Hirsch habe die Zweige abgebrochen, als er sein Geweih daran erprobte, trat sie aus der Tür, um nachzusehen. Die Arme waren wieder aufgerichtet und bebten im Wind.
Dr. Frill aus Rawlins machte auf einem Jagdausflug eine Pause an der Station, um ein Glas Bourbon mit Mr. Fur zu teilen und die letzten Neuigkeiten mit ihm auszutauschen. Eine Woche später kam eine ganze Gruppe ungehaltener Freunde des Arztes herbeigeritten, um herauszufinden, wo er sich befand. Es begann sich herumzusprechen, dass es nicht allzu ratsam war, auf der Sandy-Skull-Station zu übernachten, und der allgemeine Verdacht richtete sich gegen Bill und Mizpah Fur. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Stationsvorsteher die Abgeschiedenheit seines Postens ausnutzte. Mit Argusaugen wurden die Furs auf plötzlichen Wohlstand untersucht. Von Dr. Frill ward nie mehr gehört oder gesehen, obwohl ein Hut, der mitten im Schmutz einer Salztonebene drei Meilen weiter östlich gefunden wurde, ihm gehört haben konnte.
Eine kleine Gruppe von Sioux, darunter R. Singh, fand sich eines Spätnachmittags auf dem Weg zum Laden des Marketenders in Fort Halleck, wo Felle gegen Tabak getauscht werden sollten, in Sandy Skull ein und bat um Kaffee und Brot, und Mizpah bewirtete sie. In der Abenddämmerung brach die Gruppe wieder auf. Nur Singh erreichte das Fort, doch der Mann aus Kalkutta war so durcheinander, dass ihm weder die Sprache der Sioux noch die der Amerikaner, noch sein heimatliches Idiom gehorchte. Er kaufte zwei Rollen Kautabak und verschaffte sich mittels gewandter Zeichensprache einen Platz im Wagen eines mormonischen Frachtzugs nach Salt Lake City.
Ein Dutzend Banditen ritt an der Sandy-Skull-Station vorbei, als sie unterwegs waren zu einem großen Bandentreffen mit Festgelage, mit gebratenem Truthahn und verschiedensten Pasteten sowie den üblichen Flittchen und zahllosen Flaschen von Young Possum und anderen Getränken nach dem Geschmack von Männern, die auf staubigen Trails schnell und rücksichtslos zu reiten pflegten. Sie vergnügten sich damit, auf den großen Beifußstrauch zu zielen, und versuchten, seine wehenden Arme abzuschießen. Fünf von ihnen kamen nicht über die Sandy-Skull-Station hinaus. Als die Furs, die zu Besuch auf der Clug Ranch gewesen waren, nach Hause kamen, sahen sie, dass ihr Beifußjunge versehrt war und nur noch einen Arm hatte, den er aber tapfer in die Luft hielt, als wolle er sie begrüßen. Der Telegrafist kam aus seinem Schuppen und sagte, die Banditen seien die Schuldigen und er habe es vorgezogen, sich zu verstecken, um sie später zu bestrafen, denn auch er habe väterliche Gefühle für den Beifußjungen entwickelt. Nicht viel später ersuchte er darum, nach Denver oder San Francisco versetzt zu werden.
Alles veränderte sich, als die Union-Pacific-Eisenbahnlinie dem Postkutschenverkehr den Garaus machte. Die Einzelteile der Station verschwanden, fortgetragen von Ranchern, die das Baumaterial gut brauchen konnten. Bill und Mizpah Fur mussten die Station Sandy Skull aufgeben. Nach einem tränenreichen Abschied von ihrem geliebten Beifußjungen zogen sie nach Montana, wo sie elternlose Cowboys an Kindes statt annahmen und eine Pension betrieben.
 
Jahrzehnte gingen ins Land, und der Beifußstrauch wuchs weiter, wenn auch langsamer. Die alte Postkutschenspur füllte sich mit angewehtem Sand und Fettholz. Eine Generation später führte der Lincoln-Highway vorbei, der die Ostküste mit der Westküste verband. Bisweilen näherte sich ein Motorradfahrer mit Picknickkorb, der den Beifußstrauch für einen schattigen Baum gehalten hatte. Und dann wurde die alte Straße von einer neuen Interstate verschluckt, und den Lastwagenfahrern diente der hoch aufragende Beifuß in der Ferne als Orientierungspunkt, der ihnen sagte, dass sie den halben Staat durchquert hatten. Sein Blattwerk blieb üppig, und seine Größe war verblüffend, doch insgesamt schien der Strauch während der Interstate-Zeit das Wachstum eingestellt zu haben.
Erdöl- und Erdgasfunde wühlten Wyoming auf, konnten jedoch dem erstaunlichen Strauch auf seinem abgelegenen, schwer zugänglichen Platz nichts anhaben, bis BelAmerCan Energy, eine multinationale Methangasförderungsfirma, in der Nähe vielversprechende Lagerstätten entdeckte, sich um Genehmigungen bemühte, die sie erhielt, und zu bohren begann. Die Versprechen wurden wahr. Unter der Oberfläche befand sich ein großes Kohlengasvorkommen. Arbeiter aus anderen Bundesstaaten kamen in das Gelobte Land. Eine Pipeline musste gelegt werden, was noch mehr Arbeiter erforderte. Da es nicht genug Unterkünfte gab, teilten Schichtarbeiter sich zu viert ein Bett in den schäbigen Motels vierzig Meilen weiter nördlich.
Um der Bettennot abzuhelfen, ließ die Firma ein Behelfslager im Beifußdickicht errichten. Der Eingang befand sich neben dem gigantischen Beifußstrauch. Trotz seiner Größe hatte man ihn nicht weiter zur Kenntnis genommen, da er nur ein Beifußstrauch war. Es gab Millionen von Beifußsträuchern, manche groß, manche klein. Neben dem Strauch konnte man sich zurückziehen. Das Lager war ein großes, ungefüges Gebäude, das aussah, als wäre es aus dem Sand in die Höhe geschossen. Die Kämmerchen und Gemeinschaftsduschen, die Treppen und Betten und die wenigen Türen waren aus Metall. In der spartanisch eingerichteten Küche führte Mrs. Quirt, die ältliche Frau eines Ranchers im Ruhestand, das Regiment; sie tischte Speck, gebratene Eier, Pellkartoffeln, Brot aus dem Supermarkt, Marmelade und ab und zu ein Hühnerragout auf. Der Chef war davon überzeugt, dass die Ödnis der Beifußsteppe und die monotone Küche schuld daran waren, dass so viele Arbeiter bei Nacht und Nebel verdufteten. Die Firmenleitung erlaubte ihm, einen anderen Koch einzustellen, einen ehemaligen Bohrarbeiter und Methanschnüffler, dessen Kochkünste sich auf Dosenbohnen und Sauerkonserven beschränkten.
Nach drei Wochen wurde Mrs. Quirt zurückgeholt; man drückte ihr ein Kochbuch in die Hand und forderte sie auf, neue Rezepte auszuprobieren. Das hatte fatale Folgen. Mrs. Quirt stieß auf komplizierte Rezepte für Bœuf Bourguignon, Pastinakengnocchi, mit Schalotten gefüllte Bananen, Grünkohlklöße mit Kalbfleischsorbet. Wo die Zutaten fehlten, tat sie, was sie auf der Ranch auch immer getan hatte, sie ersetzte sie durch das, was zur Hand war: Speck, Eier, Marmelade. Nach einer befremdlichen Mahlzeit mit Muscheln aus der Dose, Wackelpudding mit Erdbeergeschmack und altem, abgepacktem Brot ging eine Reihe Männer ins Freie, um sich in das Beifußgestrüpp zu erleichtern. Nicht alle kamen zurück, und das führte zu dem Gerücht, die anderen wären per Anhalter vierzig Meilen bis zu der Stadt mit dem Motel und seinen warmen Betten gefahren.
Die Firmenleitung, die sich eingestehen musste, dass Produktion, Umsatz und Gewinne zurückgingen, stellte einen Koch ein, der in einem italienischen Restaurant gearbeitet hatte. Die Qualität des Essens verbesserte sich dramatisch, aber die Abwanderung der Arbeiter hielt an. Der Koch bestellte exotische Zutaten, die mit einem riesigen Kühllaster geliefert wurden. Nachdem der Fahrer die Kartons mit Sauce und Pilzen abgeliefert hatte, parkte er im Schatten des großen Beifußstrauchs, um sein mittägliches Mortadellasandwich zu essen, ein Kapitel aus Ambush on the Pecos Trail zu lesen und ein kurzes Nickerchen zu halten. Den Bohrarbeitern, die von der Tagesschicht kamen, fiel der Lastwagen auf, der im Schatten stand. Am nächsten Morgen fiel er ihnen auf dem Weg zur Arbeit wieder auf. Das Kühlaggregat war noch in Betrieb. Drei Tage später rief die Lieferfirma an, um zu erfahren, ob der Fahrer gekommen war. Als sich herausstellte, dass der Lastwagen noch immer im Gebüsch stand, schaltete sich die Staatspolizei ein. Nachdem Blut auf dem Fahrersitz und Kampfspuren im Wageninneren gefunden wurden (ein staubiger Stiefelabdruck innen an der Windschutzscheibe), begannen die Polizisten, Wagen und Beifußstrauch mit Absperrband zu markieren.
»Kellogg, mach endlich, dass du fertig wirst, und komm da hinten raus«, rief ein Sergeant dem saumseligen Polizisten hinter dem Beifußstrauch zu. Das dichte Gewirr aus Zweigen und Blättern verdeckte den Polizisten, das Absperrband lag auf dem Boden. Kellogg reagierte nicht. Der Sergeant ging um den Strauch herum. Niemand war zu sehen.
»Verdammt noch mal, Kellogg, hör mit dem Blödsinn auf!« Der Sergeant lief zum Lastwagen, bückte sich und sah unter dem Wagen nach. Er richtete sich auf, hielt sich die Hand über die Augen und blickte blinzelnd in die wabernde Hitze. Die zwei anderen Polizisten, Bridle und Gloat, standen mit offenem Mund neben ihrem Einsatzfahrzeug.
»Habt ihr gesehen, wohin Kellogg verschwunden ist?«
»Vielleicht zu dem Wohnheim? Um zu telefonieren oder so?«
Aber Kellogg war nicht in dem Behelfslager und war dort auch nicht gesehen worden.
»Wo zum Teufel ist er bloß? KELLOGG!«
Abermals durchsuchten sie das Gebiet um den Lastwagen herum; diesmal drangen sie tiefer in das Beifußgestrüpp vor, kehrten dann langsam zu dem Lastwagen zurück. Noch einmal suchte Bridle unter dem Lastwagen, und diesmal sah er neben dem hinteren inneren Reifen etwas liegen. Er griff danach.
»Sergeant Sparkler, das hier habe ich gefunden.« Er hielt dem Sergeanten einen kleinen Fetzen zerrissenen Stoff hin, der genauso aussah wie seine braune Uniform. »Habe ich vorhin nicht gesehen, weil es sich fast nicht vom Boden unterscheidet.« Irgendetwas berührte seinen Nacken, und er sprang beiseite und schlug nach dem unsichtbaren Etwas.
»Scheißgroßer Beifußstrauch«, sagte er und blickte zu dem Strauch hinauf. Tief in den Zweigen sah er ein leises Blinken und die Buchstaben OGG.
»Jim, da drinnen ist sein Namensschild!« Sparkler und Gloat kamen näher und spähten in das schattige Innere des knorrigen Beifußriesen. Sergeant Sparkler griff nach dem metallenen Namensschild.
 
Der Botaniker sprühte sich Insektenabwehrspray auf Ohren, Hals und Haare. Die kleinen schwarzen Moskitos stoben in Schwärmen hoch, als er auf den großen Beifußstrauch zuging. Der Strauch war so groß wie ein Baum und überragte das Meer kleinerer Beifußsträucher. Hinter ihm schimmerte das aufgegebene Behelfslagergebäude mit seinen schiefen, verzogenen Fenstern in der Hitze. Der Herzschlag des Botanikers beschleunigte sich. Früher hatte er sich über den Ehrgeiz von Botanikern und Forschern, den größten Rotholzbaum an der Pazifikküste oder den höchsten Baum im Dschungel von Neuguinea zu finden, lustig gemacht, doch zur gleichen Zeit hatte er begonnen, Beifußgewächse mit dem Hintergedanken zu beäugen, das größte Exemplar darunter zu entdecken. Einige ausnehmend große Exemplare hatte er in der Nähe der Killpecker-Sanddünen gemessen, und ihre Ausmaße hatte er in eines jener kleinen schwarzen Notizbücher eingetragen, wie sie Ernest Hemingway und Bruce Chatwin benutzt hatten. Der größte dieser Sträucher war zwei Meter dreißig hoch. Das Monstrum vor seinen Augen war bestimmt einen halben Meter höher.
Als er näher kam, sah er, dass um den Strauch herum nichts anderes wuchs. Er hatte in seinem Rucksack nur einen Zollstock von einem Meter achtzig Länge dabei, und als er ihn an die hohe Pflanze hielt, erreichte er nicht einmal ihre halbe Höhe. Der Botaniker merkte sich die Stelle, an der sein Zollstock aufhörte. Er musste näher an den Strauch herantreten, um die nächste Messung durchzuführen.
»Ich wette, der ist fast vier Meter hoch«, sagte er zu seinem Zollstock und stützte sich mit einer Hand auf einen muskulösen und merkwürdig warmen Zweig.
 
Der Beifußstrauch steht noch immer an seinem Platz. In seiner Nähe gibt es keine Gaslager, keine Förderungsanlagen. Keine Straßen führen zu ihm. Auf seinen Zweigen sitzen keine Vögel. Das Behelfslager ist ebenso verschwunden wie die alte Postkutschenstation. Bei Sonnenuntergang hält der große Beifußstrauch seine Arme vor dem roten Himmel in die Luft. Wenn man in die richtige Richtung sieht, kann man ihn nicht verfehlen.