Familiensinn
Mellowhorn Home war ein weiträumiges einstöckiges
Blockhaus im sogenannten Westernstil - »indianisch« geometrisch
gemusterte Möbelbezüge und mit Wildlederfransen herausgeputzte
Lampenschirme. An den Wänden hingen Mr. Mellowhorns präparierte
Maultierhirschköpfe und eine Zweimannschrotsäge.
Zu dieser Jahreszeit wurde Berenice Pann bewusst,
dass die Erde der Dunkelheit entgegenging; keine gute Zeit, dachte
sie sich, um eine neue Stelle anzutreten, vor allem eine so
deprimierende Stelle wie die, sich um alte Rancherwitwen zu
kümmern. Aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte. Im
Mellowhorn-Altersheim waren Männer rar und bei den Frauen so
gefragt, dass sie Berenice leidtaten. Sie hatte gedacht, der
Sexualtrieb lasse im Alter nach, doch die alten Krähen kämpften um
die Aufmerksamkeit paralysierter Opas mit wabbeligen, zitternden
Armen. Die Männer hatten die Wahl zwischen formlosen Morgenmänteln
und geblümten Vogelscheuchen.
Drei verstorbene und ausgestopfte Mellowhorn-Hunde
waren an strategischen Wachpositionen aufgestellt: nahe der
Eingangstür, am Fuß der Treppe und neben der rustikalen Bar aus
alten Zaunpfosten. Auf Schildchen waren wie zum Beweis der
Kunstfertigkeit des Brandmalers ihre Namen verewigt: Joker, Bugs
und Henry. Wenigstens, dachte Berenice, die Henry den Kopf
tätschelte, hatte man von dem Heim aus einen Blick auf die Berge
ringsum. Es hatte den ganzenTag geregnet, und in der sich
verdichtenden Dämmerung sahen die Bartgrasbüschel wie gebleichtes
Haar aus. An einem alten Bewässerungsgraben bildeten Weiden eine
unregelmäßige Linie in düsterem Dunkelbraun, und der Viehteich am
Fuß des Hügels war so glatt wie Zink. Berenice trat an ein anderes
Fenster, um zu sehen, welches Wetter bevorstand. Im Nordwesten
trieb ein milchig weißer, frostiger Keil am Himmel Regen vor sich
her. An dem Fenster des Gemeinschaftsraums saß ein alter Mann und
starrte in das graue Herbstwetter hinaus. Berenice wusste seinen
Namen, wie sie die Namen aller Heimbewohner wusste: Ray
Forkenbrock.
»Kann ich was für Sie tun, Mr. Forkenbrock?« Sie
hielt sich etwas darauf zugute, die Heiminsassen mit den
entsprechenden Ehrentiteln anzusprechen, was die übrige Belegschaft
nicht tat, die mit Vornamen um sich warf, als hätten sie mit den
alten Leuten Säue gehütet. Deb Slaver war geradezu maßlos
anbiedernd mit ihrem verschwenderischen Gebrauch von »Sammy«,
»Rita« und »Delia«, interpungiert mit »Schatzi«, »Herzchen« und
»Putzi«.
»Klar«, sagte er. Er machte lange Pausen zwischen
den Sätzen, fügte die Wörter so bedächtig aneinander, dass Berenice
ihm am liebsten mit Vorschlägen auf die Sprünge geholfen
hätte.
»Bringen Sie mich hier raus«, sagte er.
»Geben Sie mir ein Pferd«, sagte er.
»Machen Sie mich siebzig Jahre jünger«, sagte Mr.
Forkenbrock.
»Das kann ich leider nicht, aber ich kann Ihnen
eine schöne Tasse Tee holen. Und in zehn Minuten ist
Gemeinschaftsstunde«, sagte sie.
Sein Blick war schwer zu ertragen. Trotz des
gewöhnlichen Gesichts mit den eingefallenen Lippen und dem faltigen
Hals bot er einen ungewöhnlichen Anblick. Es lag an den Augen. Sie
waren sehr groß, weit geöffnet und von hellstem Hellblau, der Farbe
von Eissplittern, einem unmerklichen Blau mit Kristallstrahlen. Auf
Fotos waren sie so weiß wie die Augen römischer Statuen, sah man
von dem starren Blick der kleinen, dunklen Pupillen ab. Wenn er
einen ansah, dachte Berenice, vergaß man darauf zu achten, was er
sagte, weil man von den sonderbaren weißen Augen so fasziniert war.
Sie mochte ihn nicht, tat aber so. Frauen mussten so tun, als
hätten sie Männer gern und bewunderten, was sie taten. Ihre eigene
Schwester hatte einen Mann geheiratet, der sich für Felsgestein
interessierte, und musste sich jetzt mit ihm durch Wüsten und
steile Berge hinauf quälen.
Zur Gemeinschaftsstunde gab es für die
Heimbewohner Drinks und Cracker mit Käsecreme aus dem
Super-Wal-Mart, wo die Köchin einkaufte. Sie waren durch die Bank
Schnapsdrosseln, mit besonderer Vorliebe für die Whiskeyflasche.
Chauncey Mellowhorn, der das Mellowhorn-Altersheim gebaut und die
Heimregeln bestimmt hatte, war der Ansicht, dass die letzten
dämmerigen Jahre genossen werden sollten, und propagierte Rauchen,
Trinken, Schmuddelfernsehen und billiges Essen in Hülle und Fülle.
Weder Abstinenzler noch Frömmler verbrachten ihren Lebensabend im
Mellowhorn Home.
Ray Forkenbrock schwieg. Berenice fand, dass er
traurig aussah, und wollte ihn aufheitern.
»Was haben Sie früher gemacht, Mr. Forkenbrock?
Waren Sie Rancher?«
Der alte Mann bedachte sie mit einem zornigen
Blick. »Nein«, sagte er.
»Ich war kein Scheißrancher. Ich war Rancharbeiter.
Ich habe für die Scheißkerle gearbeitet. Als Cowboy, wilde Pferde
eingeritten, Rodeo, auf dem Ölfeld, Schafe geschoren, Lastwagen
gefahren, was anfiel«, sagte er.
»Und hatte am Ende keinen Cent. Jetzt bezahlt der
Ehemann meiner Enkelin dafür, dass ich in diesem Hühnerstall voller
alter Weiber hocke«, sagte er. Oft wünschte er, er wäre draußen in
einem Unwetter gestorben, allein und ohne jemandem zur Last zu
fallen.
Berenice sprach in bemüht munterem Ton weiter. »Ich
habe seit der Highschool auch alle möglichen Jobs gehabt«, sagte
sie. »Kellnerin,Tagespflegerin, Putzfrau, Regalauffüllerin, solche
Sachen.« Sie war mit Chad Grills verlobt; sie wollten im Frühjahr
heiraten, und Berenice wollte nur noch eine Zeitlang arbeiten, um
Chads Gehalt bei Red Bank Power aufzubessern. Doch bevor der alte
Mann etwas erwidern konnte, kam Deb Slaver geräuschvoll herein, ein
Glas in der Hand. Berenice konnte den dunklen Whiskey riechen. Debs
laute Stimme drang stoßweise aus ihrer üppigen Brust.
»Bitte sehr, mein Süßer! Ein kleiner Drink für
unseren Ray!«, sagte sie. »Kommen Sie weg von dem hässlichen
dunklen Fenster und amüsieren Sie sich!« Sie sagte: »Hätten Sie
Lust, mit unserem Mehlgesicht die Sendung Cops anzuschauen?«
(Mehlgesicht war Debs Spitzname für eine angemalte alte Vettel mit
haselnussbraunen Fingerknöcheln und bräunlichen Zähnen.) »Oder ist
Ihnen heute einfach danach zumute, aus dem Fenster zu schauen und
ein bisschen Trübsal zu blasen? Haben Sie etwa Sorgen? Ihr alten
Leutchen wisst doch gar nicht, was Sorgen sind; ihr sitzt hier
gemütlich mit einem schönen Glas Whiskey und schaut Fernsehen«,
sagte sie.
Sie knuffte die Kissen auf dem Sofa. »Sorgen haben
wir anderen - Rechnungen, untreue Ehemänner, freche Kinder, kaputte
Füße«, sagte sie. »Unsereins muss das Geld für die Winterreifen
zusammenkratzen. Mein Mann sagt immer, die Hexe mit den grünen
Zähnen würde uns das Leben schwermachen«, sagte sie. »Kommen Sie,
ich setze mich ein bisschen zu Ihnen und Mehlgesicht«, und mit
diesen Worten zog sie Mr. Forkenbrock an seinem Pullover hoch,
verfrachtete ihn auf das Sofa und setzte sich neben ihn.
Berenice ging in die Küche, um der Köchin zu
helfen, die gerade Truthahnfrikadellen auf die Arbeitsfläche
klatschte. Auf der Fensterbank flüsterte ein Radio.
»Sieht aus, als würde es aufklaren«, sagte
Berenice. Sie fürchtete sich etwas vor der Köchin.
»Oh, gut, dass du kommst. Hol mir doch mal die
Fritten aus dem Tiefkühlfach«, sagte die Köchin. »Dachte schon, ich
dürfte alles allein machen. Deb sollte mir helfen, aber die macht
lieber den alten Knackern schöne Augen. Denkt, sie würden ihr dann
was vererben. Einige haben ja ein bisschen Land oder Ölaktien, von
denen sie leben«, sagte sie. »Kennst du ihren Ehemann Duck Slaver?«
Inzwischen raspelte sie Weißkohl in eine Edelstahlschüssel.
Berenice wusste nur, dass Duck Slaver für Ricochet
Towing einen Abschleppwagen fuhr. Plötzlich fiel der Blick der
Köchin auf das Radio, und sie stellte es lauter und erfuhr, dass es
am nächsten Tag bedeckt sein würde, stellenweise klar, und am
übernächsten Tag windig mit Schneeschauern.
»Wir sollten dankbar sein, dass es bei dieser
Trockenheit regnet. Weißt du, was Bench sagt?« Bench war der
UPS-Fahrer und für die Köchin ein unerschöpflicher Wissensborn, vom
Zustand der Straßen bis zu Familienkrächen.
»Nein.«
»Sagt, wir wären kurz davor, dass hier alles Wüste
wird.Wird alles weggeweht«, sagte sie.
Als Berenice in den Aufenthaltsraum ging, um das
Abendessen anzukündigen - Truthahnburger, Pommes frites (die Mr.
Mellowhorn noch immer hartnäckig »Freiheitsfritten« nannte),
Bratensauce, Preiselbeerkompott, Mais mit Sahne und frischgebackene
Brötchen -, sah sie, dass Deb Mr. Forkenbrock in die Ecke des Sofas
gedrängt hatte und dass Mehlgesicht auf dem Sessel mit dem kaputten
Bein saß und zusah, wie Polizisten Schwarze mit dem Gesicht auf den
Gehsteig knallten. Mr. Forkenbrock starrte auf das dunkle Fenster,
in dessen herabrinnenden Regentropfen sich das bläuliche Flackern
des Fernsehers spiegelte. Er wirkte sehr allein. Deb und
Mehlgesicht hätten genauso gut zwei ausgestopfte Hunde sein
können.
Nach dem Abendessen riss Berenice auf dem Weg zur
Küche die Tür auf und atmete tief die frische Luft ein. Die
östliche Hälfte des Himmels war sternenübersät, die westliche
schwarz wie Basalt.
In der morgendlichen Dunkelheit setzte der Regen
wieder ein. Ray Forkenbrock kannte die Worte des Dichters nicht,
hätte sie aber verstanden: »Ich erwache und fühle die Finsternis
kommen, nicht den Tag.« Nichts kam ihm in der Natur hinterhältiger
vor als dieses unsichtbare Anschleichen des Wetters, die unförmige
Wolke, die sich unter dem Deckmantel der Dunkelheit heranpirschte.
Als der Morgen schwach wie ein Foto im Entwicklerbad zum Vorschein
kam, wurde das Geräusch des Regens schärfer. Hagel, dachte er und
erinnerte sich an einen langen Ausritt eines Oktobers in seiner
Jugend bei ähnlichem Wetter, seine Jeansjacke war durchnässt und
mit Eiskristallen bedeckt gewesen, und er erinnerte sich, dass er
dem alten Pferdefänger begegnet war, der in der Wüste lebte, musste
schon über achtzig gewesen sein und hinkte daher durch den
klirrenden Niederschlag, suchte die nächste Unterkunft für
Rancharbeiter, wie er sagte, in der er vor dem Unwetter Schutz
finden konnte.
»Die nächste ist Flying A«, sagte Ray und kniff die
Augen zusammen, als ihm der Hagel ins Gesicht wehte.
»Gehört die nicht Hawkins?«
»Nö. Hawkins hat vor zwei Jahren alles verkauft.
Gehört jetzt einem gewissen Fox«, antwortete er.
»Mist, hier draußen kriegt man nichts mehr mit. Bis
vorgestern hatte ich eine prima Hütte«, sagte der Pferdefänger, der
vor Kälte mit den Zähnen klapperte, und erzählte, dass seine Hütte
abgebrannt war und er zwei Nächte im Beifußgestrüpp geschlafen
hatte und dass sein Schlafsack jetzt pitschnass war und er nichts
mehr zu essen hatte. Ray tat der alte Mann leid, und gleichzeitig
wollte er ihn loswerden. Es war ein blödes Gefühl, dass er ritt,
während der Mann zu Fuß ging, aber dieses unangenehme Schuldgefühl
erfasste ihn jedes Mal, wenn er an einem Fußgänger vorbeiritt.Was
konnte er dafür, dass der alte Mann kein Pferd hatte?Wenn er als
Pferdefänger etwas taugte, hätte er Hunderte von Pferden besitzen
müssen. Ray suchte in seinen Taschen und förderte drei, vier
muffige Erdnüsse voller Fusseln zutage.
»Ist nicht viel, aber mehr habe ich nicht«, sagte
er und hielt sie dem Mann hin.
Der alte Bursche hatte Flying A nicht erreicht.
Tage später fand man ihn an einen Felsen gelehnt sitzend. Ray
erinnerte sich an das unangenehme Gefühl, das die Begegnung
begleitet hatte, an den Eindruck vom hohen Alter des Mannes. Jetzt
war er selbst so alt, aber er hatte es nach Flying A geschafft -
Wärme und Zuflucht im Mellowhorn-Altersheim. Und doch erschien ihm
der Tod des alten Pferdefängers an dem Felsen ehrenhafter.
Es war halb sieben, und es gab keinen Grund
aufzustehen, aber er zog Jeans und Hemd an und außerdem einen
Altherrenpullover, denn im Speisesaal konnte es ziemlich kalt sein,
bevor die Heizung in Gang kam; die Stiefel ließ er im Schrank, und
er schlurfte den Flur in roten Filzpantoffeln entlang, die zu weich
waren, als dass es sich gelohnt hätte, dem ausgestopften Bugs mit
seinen Glotzaugen am Fuß der Treppe einen Tritt zu verpassen. Die
Pantoffeln hatte ihm seine Enkeltochter Beth geschenkt, die mit
Kevin Bead verheiratet war. Beth bedeutete ihm viel. Er hatte den
Entschluss gefasst, ihr das hässliche Familiengeheimnis zu
offenbaren. Er wollte seine Nachkommen nicht mit beschämenden
Ungewissheiten belasten. Er wollte für klare Verhältnisse sorgen.
Beth würde am Samstagnachmittag ihren Kassettenrecorder mitbringen
und ihm helfen, die richtigen Worte zu finden. Unter der Woche
würde sie alles in ihren Computer tippen und ihm dann die frisch
ausgedruckten Seiten bringen. Er hatte es vielleicht in seinem
Leben nicht weiter gebracht als zum Rancharbeiter, aber was er
wusste, das wusste er.
Beth hatte dunkle Haare und apfelrote Wangen, als
wäre sie gerade geohrfeigt worden. Er nahm an, dass das ihr
irisches Erbe war. Sie kaute Nägel, ein unschöner Anblick bei einer
erwachsenen Frau. Ihr Ehemann Kevin arbeitete in der
Kreditabteilung der High Plains Bank. Er beschwerte sich darüber,
wie bescheuert sein Job sei, weil er Geld und Kreditkarten an Leute
verteilte, die ihre Kredite nie und nimmer tilgen konnten.
»Früher musste man schwer arbeiten und kreditwürdig
sein, um an eine Kreditkarte zu kommen. Heute gilt: Je bankrotter
einer ist, umso mehr Karten schmeißen sie ihm nach«, sagte er zum
Großvater seiner Frau. Ray, der noch nie eine Kreditkarte besessen
hatte, ließ das darauffolgende Sperrfeuer von Erläuterungen über
veränderte Kreditprinzipien und Bankschulden weitgehend
verständnislos über sich ergehen. Diese
Weiterbildungsveranstaltungen endeten regelmäßig damit, dass Kevin
seufzte und düster sagte, das werde alles noch einmal ein
schreckliches Ende nehmen.
Ray Forkenbrock hatte gedacht, Beth würde seine
Erinnerungen auf dem Computer in der Immobilienfirma schreiben, in
der sie arbeitete.
»O nein, Grandpa, wir haben zu Hause einen PC mit
Drucker. Rosalyn wäre es nicht recht, wenn ich das in der Arbeit
machen würde«, sagte sie. Rosalyn war ihre Chefin, und Ray hatte
die Frau zwar noch nie gesehen, hatte aber das Gefühl, sie sehr gut
zu kennen, weil Beth oft von ihr erzählte. Sie war ungeheuer dick
und hatte Geldprobleme. Betrüger hatten sich wiederholt ihrer
Identität bedient. Alle paar Monate musste sie stundenlang
eidesstattliche Erklärungen ausfüllen. Laut Beth trug sie Bluejeans
in Größe XXXL und einen Gürtel mit einer Silberschnalle, so groß
wie ein Topfdeckel, die sie beim Bingo gewonnen hatte.
Ray schnaubte. »Früher waren Gürtelschnallen etwas
wert«, sagte er. »Beim Rodeo war die Gürtelschnalle der beste
Preis. Das Geld hat uns damals nichts bedeutet. Uns ging es um die
Gürtelschnalle«, sagte er, »und heute gewinnen dicke Weiber so was
beim Bingo?« Er verdrehte den Kopf und blickte zu der Tür seines
Kleiderschranks. Beth vermutete, dass er dort einen Gürtel mit
Rodeoschnalle hatte.
»Schaust du dir die Rodeoübertragungen im Fernsehen
an?«, fragte sie. »Oder Bullenreiten?«
»Nee«, sagte er. »Das lassen die alten Schnepfen
hier nicht zu. Sie haben das Fernsehprogramm von frühmorgens bis
Mitternacht festgelegt - Sendungen über Verbrechen, diese Kacke aus
dem wahren Leben, Mode und Komiker und Haustiere. Rodeo? Keine
Chance«, sagte er.
Er warf einen zornigen Blick in den leeren Flur
hinter der offenen Tür. »Nicht im Traum käme man darauf, dass sie
fast alle ihr Leben auf einer Ranch verbracht haben«, sagte
er.
Beth sprach Mr. Mellowhorn an und sagte, sie
finde, ihr Großvater sollte wenigstens ab und zu die Möglichkeit
haben, Rodeoübertragungen anzusehen, seine Unterbringung sei
schließlich nicht ganz billig. Mr. Mellowhorn war völlig ihrer
Ansicht.
»Aber ich halte mich bewusst aus den Entscheidungen
unserer Heimbewohner heraus, was das Fernsehen angeht, und wenn Ihr
Großvater Rodeosendungen sehen will, dann muss er nur eine Mehrheit
unter den Heimbewohnern mobilisieren, die eine Petition
unterschreibt, und …«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn mein Mann und ich
ihm einen Fernseher für sein Zimmer besorgen?«
»O nein, keineswegs, aber ich möchte nicht
verschweigen, dass weniger wohlhabende Heimbewohner denken könnten,
er wäre privilegiert oder würde sie von oben herab behandeln, wenn
er sich in seinem Zimmer vergräbt und Rodeos ansieht, statt sich
der Auswahl der Gemeinschaft anzuschließen …«
»Sehr gut«, sagte Beth und unterbrach die Leier der
Gemeinschaftstyrannei von Mellowhorn Home. »Dann machen wir das.
Wir kaufen ihm einen hochnäsigen Angeberfernseher. Familiensinn ist
für Kevin und mich keine leere Floskel«, sagte sie. »Ich nehme an,
Sie haben keine Satellitenschüssel?«, fragte sie.
»Tja, nein. Wir haben es in Erwägung gezogen, aber
- vielleicht nächstes Jahr …«
Sie hatte Ray einen kleinen Fernsehapparat mit
DVD-Gerät und ein paar DVDs von Rodeos der letzten Jahre besorgt.
Das hatte ihn in Fahrt gebracht.
»Mann, ich erinnere mich noch daran, als die
Endausscheidung in Oklahoma City war, nicht im verdammten Las
Vegas«, sagte er. »Bullenreiten hat ja heutzutage alle anderen
Disziplinen ausgebootet, ade Wildpferdzureiten mit und ohne Sattel.
Ich war dabei, als Freckles Brown 1962 Tornado geritten hat«, sagte
er. »Sechsundvierzig Jahre alt, und heute setzen sie Kinder auf die
Bullen! Die eine Million Dollar kriegen. Heute ist alles nur noch
Show«, sagte er. »Die alten Burschen waren ein wüster Haufen. Fast
alle schwere Trinker. Wenn man wissen will, was Schmerzen sind,
dann muss man mit einem üblen Kater einen Bullen reiten.«
»Hast du in deiner Jugend viele Rodeos
geritten?«
»Nein, viele nicht, aber genug, um mir ein paar
Knochen zu brechen. Und mir eine Gürtelschnalle zu verdienen«,
sagte er. »Wenn man jung ist, heilen die Brüche schnell, aber im
Alter machen sie einem zu schaffen. Das linke Bein habe ich mir an
drei Stellen gebrochen. Bei Regen tun alle drei weh«, sagte
er.
»Wie kommt es, dass du Cowboy geworden bist,
Grandpa Ray? Dein Daddy war kein Rancher oder Cowboy, oder?« Sie
drehte die Lautstärke herunter. Die Reiter kamen wie in einer
unaufhörlichen Wiederholungsschleife aus der Box in die Arena und
trugen offenbar alle den gleichen schmutzigen Hut.
»Nee, war er nicht. Er war Bergarbeiter. Rove
Forkenbrock«, sagte er. »Meine Mutter hieß Alice Grand Forkenbrock.
Dad hat in den Union-Pacific-Bergwerken gearbeitet. Dann ist ihm
was passiert, und er musste aufhören. Hat dann als Bote für
verschiedene Firmen gearbeitet, Texaco, California Petroleum, große
Firmen. Was für eine Arbeit mein alter Herr da hatte, weiß ich
nicht genau. Er fuhr einen verdreckten alten Model-T-Ford. Ist
immer wieder mal gefeuert worden und musste sehen, dass er was
Neues fand. Obwohl er an der Flasche hing, was meistens der Grund
war, dass er rausflog, fand er jedes Mal schnell eine neue Arbeit.«
Er trank einen kleinen Schluck Whiskey.
»Aber mich hätten keine zehn Pferde in die Nähe von
so einem Bergwerk gebracht. Mit Pferden konnte ich ungefähr so viel
anfangen wie mit Arithmetik, aber mit Kühen kam ich zurecht, und
als ich nach der achten Klasse mit der Schule fertig war, fand Dad,
das mit der Highschool sollte ich besser lassen, denn die Zeiten
waren hart, und ich musste Arbeit finden«, sagte er. »Damals war
mir das egal. Wenn mein Dad sagte, was ich tun sollte, tat ich das,
und basta. Ich habe ihn geachtet. Ich habe meinen Vater geehrt und
geachtet. Für mich war er ein guter und anständiger Mensch.«
Unerklärlicherweise kam ihm Unkraut in den Sinn.
»Ich sah mich nach einem Job um und fand einen auf
Bledsoes Double B Ranch«, sagte er. »Rancharbeiter. Die Bledsoes
haben mich mehr oder weniger aufgezogen, bis ich ins Wahlalter kam.
Damals wollte ich mit meiner Familie nix mehr zu tun haben«, sagte
er und verfiel in eine altersbedingte Träumerei. Unkraut, Unkraut
und Wildnis.
Beth schwieg für ein paar Minuten und plauderte
dann über ihre Söhne. Syl hatte in einer Schulaufführung einen
Adler gespielt, und das Kostüm war eine echte Herausforderung
gewesen. Bevor sie ging, sagte sie ganz nebenbei: »Weißt du, ich
möchte, dass meine Söhne ihren Urgroßvater kennenlernen. Was hältst
du davon, wenn ich den Kassettenrecorder mitbringen und alles
aufnehmen und abtippen würde? Es wäre wie ein Buch über dein Leben
- etwas, was die künftigen Generationen unserer Familie lesen
könnten.«
Er lachte spöttisch. »Manches davon würde man
lieber nicht wissen. Wir haben unsere schmutzige Wäsche, genau wie
jede andere Familie.« Aber nachdem es ihm eine Woche lang im Kopf
herumgegangen war und er sich gefragt hatte, warum er es so lange
für sich behalten hatte, sagte er zu Beth, sie solle ihre Maschine
mitbringen.
Sie saßen bei geschlossener Tür in seinem kleinen
Zimmer.
»Das gilt hier als ›asozial‹. Hier sitzen alle bei
offener Tür im Zimmer und brüllen die Besucher an, als wäre jeder
mit jedem verwandt. Das nennen sie ›ländliche Familie‹. Ich bin
lieber für mich.«
Sie stellte ein Glas Whiskey und ein Glas Wasser
neben seinem Ellbogen auf den Tisch und legte den Kassettenrecorder
dazu, der kleiner als eine Zigarettenschachtel war. Dann sagte sie:
»Er ist eingeschaltet, Grandpa. Erzähl mir, wie es war, damals
aufzuwachsen. Du redest einfach, wenn dir danach zumute ist.«
Er räusperte sich und begann langsam zu sprechen,
den Blick auf das Ausschlagen der Lautstärkeanzeige gerichtet. »Ich
bin vierundachtzig Jahre alt, und was früher war, ist vorbei, und
deshalb ist es egal, was ich jetzt erzähle.« Er nahm nervös einen
Schluck Whiskey und nickte.
»Neunzehnhundertdreiunddreißig war ich vierzehn,
und keiner hatte einen roten Heller.« Die Stille jener Zeit vor dem
Verkehrsgetöse und den Laubbläsern und dem prahlerischen Lärm des
Fernsehens war Teil seiner Persönlichkeit; seine Worte kamen
spärlich, es fiel ihm schwer, seine Geschichte zu erzählen. Die
Geräuschlosigkeit seiner Jugend, abgesehen vom natürlichen Geräusch
des Windes, der trampelnden Hufe, des Knackens der alten Balken der
Blockhütte in winterlicher Kälte und der Schreie wilder Reiher, die
flussabwärts flogen. Wie wortkarg waren damals Männer und Frauen
gewesen, die ganz ihrer Beobachtungskraft vertraut hatten! An
manchen Tagen waren vereinzelte Federwolken über den Himmel
gezogen, und er hatte sich vorgestellt, dass sie so leise waren,
als bewegte man eine Feder über einen Draht. Der Wind blies sie
fort, und der Himmel war leer.
»Als ich klein war, hatten wir es nicht leicht, das
kannst du mir glauben. Coalie Town, etwa acht Meilen von Superior
entfernt. Nichts mehr von übrig«, sagte er. »Hütte mit drei
Zimmern, ungeschützt, die Kinder immer krank. Meine kleine
Schwester Goldie starb in der Hütte an Meningitis«, sagte er.
Allmählich fand er Geschmack an seiner traurigen
Geschichte. »Kein Wasser. Einmal in der Woche kam ein Laster mit
Wasser für unsere paar Fässer. Mama zahlte einen Vierteldollar pro
Fass. Keine Toilette im Haus. Heute machen die Leute Witze darüber,
aber es war kein Spaß, bei Eiseskälte morgens draußen aufs
Plumpsklo zu gehen, wenn der Wind durch alle Ritzen pfiff. O Gott«,
sagte er.
Er schwieg so lange, dass Beth das Band
zurückspulte und die Pausetaste drückte. Er zündete sich eine
Zigarette an, seufzte und begann plötzlich weiterzuerzählen. Bis
Beth den Recorder wieder in Betrieb gesetzt hatte, waren die ersten
Sätze verklungen.
»Die Leute waren zufrieden, wenn sie am Leben
blieben. Man kann sich damit abfinden, Staub statt Brot zu essen,
hat meine Mutter immer gesagt. Sie hatte eine Menge alte
Sprichwörter parat. Ist dein Apparat an?«, fragte er.
»Ja, Grandpa«, sagte Beth. »Er ist an. Erzähl
weiter.«
»Speck«, sagte er. »Sie sagte, wenn der Speck sich
in der Pfanne krümmt, wäre die Sau beim falschen Mond geschlachtet
worden. Speck gab es nicht oft, und von uns aus hätte er sich in
der Pfanne zu Korkenzieherlocken drehen können, solange wir welchen
bekamen«, sagte er.
»Damals gab es in der Nähe des Bergwerks eine Menge
solcher Hütten. Die Gegend hieß Coalie Town. Viele Fremde. Als ich
größer wurde«, sagte er, »habe ich vor allem kämpfen gelernt,
vögeln - entschuldige die unfeine Ausdrucksweise - und noch mal
kämpfen. Wenn es was zu regeln gab, haben wir uns geschlagen. Ich
erinnere mich an alle. Pattersons, Bob Hokker, die
Grainblewer-Zwillinge, Alex Sugar, Forrie Wintka, Harry und Joe
Dolan - wir hatten eine gute Zeit. Kinder haben immer eine gute
Zeit«, sagte er.
»Klar«, sagte Beth.
»Kinder fangen nicht an rumzumeckern, weil sie kein
Klo im Haus haben oder weil es keine frische Butter gibt. Für uns
war alles prima, wie es war. Ich hatte eine glückliche Kindheit.
Als wir größer wurden, gab es Mädchen. Forrie Wintka. Sah richtig
gut aus, lange schwarze Haare und schwarze Augen«, sagte er und
versuchte zu erkennen, ob er seine Enkelin schockiert hatte.
»Sie hat den alten Dolan geheiratet, nachdem seine
Frau gestorben war. Die Dolan-Jungen, das waren wilde Kerle. Sie
konnten sich nicht ausstehen, prügelten sich bis aufs Blut, haben
mit Brettern aufeinander eingeschlagen, aus denen Nägel ragten, mit
Steinen geschmissen.«
Beth versuchte, ihn zu seiner Familie
zurückzulotsen, aber er versteifte sich auf die Dolans.
»Ich hab meine Gewohnheiten«, sagte er. Sie
nickte.
»Einmal hat Joe Harry bewusstlos geschlagen und in
den Platte geworfen. Harry wäre um ein Haar ertrunken, mit
Sicherheit sogar, wenn Dave Arthur nicht vorbeigekommen wäre und
das Lumpenbündel gesehen hätte, das sich im Wasser in einem Rechen
verfangen hatte, zusammen mit allem möglichen Unrat. Er hat
gedacht, es wären vielleicht Kleider. Ging nachsehen und zog Harry
aus dem Wasser«, sagte er.
»Harry war mehr tot als lebendig und war danach nie
mehr ganz richtig im Oberstübchen. Aber genug, um zu wissen, dass
sein eigener Bruder ihn umbringen wollte. Joe konnte nie sicher
sein, ob Harry ihm nicht an der nächsten Ecke mit einem Holzscheit
oder mit einer Kanone auflauerte.« Nach dem letzten Satz machte er
eine lange Pause.
»Nervenbündel«, sagte er. Lange Sekunden
betrachtete er das laufende Tonband.
»Dutchy Green war mein bester Freund in der Schule.
Er kam mit fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig ums Leben, als er
auf irgendwelche indianischen Felskritzeleien schoss. Der
Querschläger ist ihm zur rechten Schläfe rein«, sagte er.
Er nahm einen Schluck Whiskey. »Tja, unsere
Familie. Meine Mutter. Sie war jähzornig, hatte zu viel zu tun und
nicht genug Geld, um es zu tun. Ich war der Älteste. Ich hatte
einen großen Bruder, Sonny, aber der ist in einem
Bewässerungsgraben ertrunken, bevor ich auf die Welt kam«, sagte
er.
»Gab es keine Mädchen in der Familie?«, fragte
Beth. Zwei Söhne genügten ihr nicht, es verlangte sie nach einer
Tochter.
»Meine Schwestern Irene und Daisy. Irene wohnt in
Greybull, Daisy lebt irgendwo in Kalifornien. Und die kleine Goldie
starb, wie gesagt, als ich sechs oder sieben war. Der Jüngste, der
am Leben blieb, war Roger. Mamas letztes Kind. Er kam auf die
schiefe Bahn. Wurde als Einbrecher eingebuchtet«, sagte er. »Keine
Ahnung, was aus ihm geworden ist.« Unter dem Unkraut,
abgeschrieben, unsichtbar.
Unversehens war er von dem verbrecherischen Bruder
zu einem anderen Thema übergegangen. »Du musst wissen, dass ich
meinen Dad geliebt habe. Wie wir alle. Er und Mutter haben sich die
ganze Zeit geherzt und waren fröhlich, wenn er zu Hause war. Er
konnte wunderbar mit Kindern umgehen, hat einen immer angelächelt
und in die Arme genommen, hat sich an alles erinnert, was einen
interessierte, hat dauernd kleine Geschenke mitgebracht. Ich habe
noch jedes einzelne.« Seine Stimme zitterte wie die des alten
Pferdefängers in dem Schneeregen vor ewigen Zeiten.
»Es ist anstrengend, an die alten Sachen zu denken.
Ich glaube, ich mache lieber eine Pause«, sagte er. »Außerdem
kommen heute zwei Neue, und neue Leute sind für mich immer
furchtbar anstrengend.«
»Frauen oder Männer?«, fragte Beth, die erleichtert
war, dass sie den Recorder ausschalten konnte, denn sie sah, dass
ihr einziges Band fast zu Ende war. Ihr fiel ein, dass sie vorher
die Chorprobe in der Schule aufgenommen hatte.
»Weiß ich nicht«, sagte er. »Werde ich beim
Abendessen sehen.«
»Ich komme nächste Woche wieder. Ich finde, was du
sagst, ist wichtig für unsere Familie.« Sie küsste den alten Mann
auf die pergamentene Stirn mit den braunen Altersflecken.
»Wart’s ab«, sagte er.
Als sie gegangen war, begann er wieder zu
sprechen, als liefe das Band noch. »Er starb im Alter von
siebenundvierzig Jahren. Damals kam mir das richtig alt vor. Warum
ist er nicht rausgesprungen?«
Berenice Pann, die ein noch warmes Schokotörtchen
in seiner Papierform brachte, blieb vor der Zimmertür stehen, als
sie seine Stimme hörte. Sie hatte Beth vor ein paar Minuten gehen
sehen. Vielleicht hatte sie etwas vergessen und war zurückgekommen.
Berenice hörte einen Laut wie ein ersticktes Schluchzen. »Gott, war
das lausig«, sagte Mr. Forkenbrock. »Wir mussten arbeiten. Mann,
ich bin gern in die Schule gegangen. Aber keine Chance, wenn man
mit dreizehn zu arbeiten anfangen muss«, sagte er. »Wenn die
Bledsoes nicht gewesen wären, hätte ich als Landstreicher geendet«,
sagte er im Selbstgespräch. »Oder schlimmer.«
Berenice Panns Freund Chad Grills war der Urenkel
der alten Bledsoes. Sie lebten noch auf der Ranch, auf der Ray
Forkenbrock in seiner Jugend gearbeitet hatte, beide fast an die
hundert Jahre alt. Berenice begann neugierig zu lauschen; sie fand,
dass sie durch die Bledsoes gewissermaßen mit Mr. Forkenbrock
verwandt war. Sie war es sich selbst und Chad schuldig, so viel wie
möglich über die Bledsoes zu erfahren, Gutes wie Schlechtes. In dem
Zimmer war es still; dann wurde die Tür aufgerissen.
»Huch!«, rief Berenice, und das Törtchen
verrutschte auf dem Unterteller. »Ich wollte Ihnen gerade diesen
Kuchen …«
»Ach nee?«, sagte Mr. Forkenbrock. Er nahm das
Törtchen von dem Unterteller, und statt hineinzubeißen, stopfte er
es sich mitsamt der Papierform in den Mund. Das Papier knirschte
zwischen seinem Gebiss.
Zur Gemeinschaftsstunde erschien Mr. Mellowhorn,
um die neuen »Gäste« vorzustellen. Church Bollinger war relativ
jung, kaum fünfundsechzig, und Ray durchschaute ihn sofort als
Faulpelz. Zweifellos war er in das Altersheim gekommen, weil er
nicht die Energie aufbrachte, sein Bett zu machen oder sein
Geschirr zu spülen. Der andere Neuzugang, Mrs. Terry Taylor, war in
seinem eigenen Alter, um die achtzig, was die rot gefärbten Haare
und die karmesinroten Fingernägel nicht verdecken konnten. Sie sah
weich und zerfließend aus wie eine Kerze in der Sonne. Immer wieder
heftete ihr Blick sich auf Ray. Ihre Augen waren gelbbraun, mit
kurzen, spärlichenWimpern, und die dünnen alten Lippen waren so
stark geschminkt, dass rote Lippenstiftspuren an ihrem Brötchen
kleben blieben. Zuletzt konnte er ihren Blick nicht länger
ertragen.
»Wollen Sie mich was fragen?«, fragte er.
»Sind Sie Ray Forkenknife?«, sagte sie.
»Forkenbrock«, sagte er fassungslos.
»Ja, richtig, Forkenbrock. Erinnern Sie sich nicht
an mich? Theresa Worley. Aus Coalie Town. Wir waren zusammen auf
der Schule, nur waren Sie zwei Klassen über mir.«
Aber er konnte sich nicht an sie erinnern.
Am nächsten Morgen sah er auf, als er die Gabel
über dem pochierten Ei hielt, das wie eine Huri auf einem Bett aus
durchweichtem Toastbrot ruhte, und begegnete ihrem durchdringenden
Blick. Ihre rot glänzenden Lippen öffneten sich und enthüllten
ockergelbe Zähne, die mit Sicherheit ihre eigenen waren, denn kein
Zahntechniker würde ein Gebiss anfertigen, das aussah, als wäre es
aus einer Kloake gefischt worden.
»Erinnern Sie sich nicht an Mrs. Wilson?«, sagte
sie. »Die Lehrerin, die in einem Blizzard erfroren ist, als sie
ihre Katze suchte? Und an die Skeltcher-Kinder, die sich in einem
alten Bergwerkschacht das Genick gebrochen haben?«
Er erinnerte sich undeutlich an eine Lehrerin, die
in einem Blizzard im Juni erfroren war, obwohl er dachte, das wäre
woanders passiert, irgendwo in der Gegend von Cold Mountain. Und
was die Skeltcher-Kinder betraf, schüttelte er den Kopf.
Am Samstag kam Beth und stellte wieder das Glas
mit Wasser hin, das Glas mitWhiskey und den Kassettenrecorder. Er
hatte überlegt, was er sagen wollte. In seinem Kopf war es ganz
klar, aber es war schwer inWorte zu fassen. Das Ganze war so
kompliziert und schmerzlich gewesen, dass es schwer sein würde,
davon zu sprechen, ohne wie ein Trottel dazustehen. Und Mrs.Terry
Taylor alias Theresa Worley wich ihm nicht von der Seite. Er
versuchte, sich an die erfrorene Lehrerin zu erinnern, an die
Skeltcher-Kinder in dem Bergwerkschacht, daran, dass Mr. Baker
wegen eines Scheffels Kartoffeln Mr. Dennison erschossen hatte, und
an ein Dutzend weitere Tragödien, die sie als Köder für seine
Erinnerung ausgelegt hatte. Er erinnerte sich an ganz andere
Geschehnisse. Daran, dass er mit Dutchy Green auf den Irish Hill
gestiegen war, um sich mit Forrie Wintka zu treffen, die ihnen für
fünf Cent pro Nase ihr Geschlecht zeigen wollte. Es war Spätherbst,
die Pappeln an dem freudlosen Rinnsal des Coal Creek blattlos, die
Luft noch warm. Sie sahen Forrie Wintka, die von den Hütten unten
den Berg heraufkletterte. Dutchy sagte, es wäre ganz leicht, sie
würde es ihnen nicht nur zeigen, sondern sie könnten es auch mit
ihr tun, sogar ihr Bruder tat es mit ihr.
Dutchy flüsterte, als könnte Forrie sie hören.
»Sogar ihr Stiefvater. Letztes Jahr hat ihn ein Puma
erwischt.«
Und nun, einundsiebzig Jahre später, begriff er
plötzlich. Ihr Vater war Worley gewesen, und Wintka war der
Stiefvater, der die Post zu Pferde ausgetragen hatte und der im
Snakeroot Canyon von einem Puma in die Berge verschleppt worden
war. Das erste weibliche Wesen, das er je beackert hatte, die
Schlampe aus dem Bergarbeiternest, verbrachte seine letzten Tage
genau wie er im Mellowhorn-Altersheim.
»Beth«, sagte er zu seiner Enkelin, »heute kann ich
über nichts sprechen«, sagte er. »Mir sind da ein paar Sachen
eingefallen, über die ich erst nachdenken muss. Die neue Frau, die
letzte Woche hergekommen ist. Die habe ich früher gekannt, und die
Umstände waren nicht sehr erfreulich«, sagte er. Das war das
Problem mit Wyoming: Alles, was man tat oder sagte, begleitete
einen bis ins Grab. Die ländliche Familie ließ einen nicht aus den
Klauen.
Mr. Mellowhorn führte Ausflüge mit Übernachtung
ein, von ihm als »Abenteuerwochenenden« bezeichnet. Der erste
Ausflug hatte zum Medicine Wheel in den Bighorns geführt. Mrs.
Wallace Kimes war hingefallen und hatte sich in dem Splitt auf dem
Parkplatz die Knie aufgeschürft. Dann kam das Wochenende auf einer
Gästeranch, bei dem die Ausflügler des Mellowhorn-Heims sich mit
sieben Wapitijägern aus Colorado konfrontiert sahen, die fast
ausnahmslos betrunken waren und ohne erkennbare Ursache
markerschütternd und brüllend lachten. Mehlgesicht lachte
begeistert mit, ohne zu wissen, warum. Der dritte Ausflug war
anspruchsvoller: eine fünftägige Reise zum Grand Canyon, wo keiner
der Heimbewohner je gewesen war. Zwölf Teilnehmer fanden sich trotz
der beträchtlichen Kosten für Reise und Unterkunft.
»Man lebt nur einmal!«, rief Mehlgesicht.
Zu den Teilnehmern zählten auch die Neuankömmlinge
Church Bollinger und Forrie Wintka alias Theresa Worley alias Terry
Dolan beziehungsweise zuletzt Terry Taylor. Forrie und Bollinger
saßen unterwegs nebeneinander, tranken zusammen in der Bar von El
Tovar, aßen zusammen an einem Tisch für zwei und planten einen
Reitausflug auf einem Trail für den nächsten Vormittag. Doch bevor
die Maultiere aufbrachen, bat Forrie Bollinger, Fotos von ihr zu
machen, die sie ihrer Enkeltochter schicken wollte. Sie stand am
Geländer vor der weltberühmten Aussicht auf den Canyon. Sie
posierte und hielt mit einer Hand die weiche Krempe des Strohhuts,
den sie im Souvenirladen des Hotels erstanden hatte. Sie nahm den
Hut ab, drehte sich um und hielt eine Hand über die Augen, als
blickte sie in die Tiefe wie eine Schmierenkomödiantin früherer
Tage. Sie alberte herum und tat so, als verlöre sie das
Gleichgewicht. Dann stieß sie einen erstickten Laut aus und war
verschwunden. Ein Park-Ranger eilte zu dem Geländer und sah sie
drei Meter tiefer am Abhang hängen, wo sie sich an einer kleinen
Pflanze festzuhalten versuchte. Ihr Hut lag weiter unten. Noch
während der Ranger über das Geländer kletterte und die Hand nach
ihr ausstreckte, begann die Pflanze zu zittern und verlor ihren
Halt. Forries Finger gruben sich in das Geröll, als sie dem Abgrund
entgegenrutschte. Der Ranger streckte ihr den Fuß hin und rief, sie
solle sich daran festhalten, doch die rettende Fußbewegung
kollidierte mit Forries Hand. Sie sauste den Abhang wie eine
Wasserrutsche hinunter und hinterließ als Spur zehn tiefe Furchen,
bevor sie in einer letzten verzweifelten Anstrengung nach ihrem
neuen Strohhut griff, den sie fast erreicht hätte.
Niedergeschlagen kehrten die Ausflügler am nächsten
Tag nach Wyoming zurück. Immer wieder bestätigten sie einander,
dass Forrie nicht einmal geschrien hatte, als sie fiel, was als
Indiz von Charakterstärke gedeutet wurde.
Ray Forkenbrock nahm den Faden seiner
Lebenserinnerungen am Wochenende danach wieder auf. Berenice
wartete einige Minuten, nachdem Beth gekommen war, bevor sie vor
dem Zimmer ihren Horchposten bezog. Mr. Forkenbrock hatte eine
monotone, aber laute Stimme, und sie konnte jedes einzelne Wort
verstehen.
»Also, der Familie ging es etwas besser, seit er
als Fahrer Ersatzteile zu den Ölpumpen brachte«, sagte er. »Er
verdiente nicht schlecht und wurde Mitglied in einer dieser
Organisationen, bei den adventistischen Pfadfindern. Sie hatten
auch eine Frauengruppe, in die meine Mutter eintrat und die einen
komischen Namen hatte, so ähnlich wie Damentoilette - nein,
Damenstafette. Beide waren begeisterte Pfadfinder und schwärmten
von ihren Ritualen, von ihrer Gemeinschaft, von den guten Taten und
den Gelübden für was weiß ich. Mutter war dauernd mit Backen für
ihre Stafette beschäftigt«, sagte er. »Und für uns Kinder gab es
Angelwettbewerbe, Picknicks und Sackhüpfen. Wie bei den normalen
Pfadfindern, nur ländlicher - mit Zaumzeugflechten und
Kälberaufziehen. Eine Mischung aus Pfadfindern und Landjugend, wo
wir nicht reinpassten.«
Berenice fand das alles ziemlich nervtötend.Wann
würde er endlich etwas über die Bledsoes sagen? Am anderen Ende des
Flurs sah sie Deb Slaver mit einem Tablett voller Verbandsmaterial
aus Mr. Harrells Zimmer kommen. Mr. Harrell hatte ein offenes
Schienbein, das nicht heilen wollte, und der Verband musste zweimal
täglich gewechselt werden.
»Kratz nicht dran rum, du böser Bube!«, rief Deb,
als sie um die Ecke verschwand.
»Na ja, Mutter hat sich da mehr engagiert als Dad.
Sie war gern mit Leuten zusammen, und in Coalie Town hatten wir
keine netten Nachbarn gehabt. Die Stafettendamen machten
historische Besichtigungen von allen möglichen Massakerschauplätzen
und Flusstälern, wo früher Baumstämme geflößt wurden. Mutter war
immer mit Begeisterung dabei. Sie hatte was übrig für die
Geschichten aus der alten Zeit. Sie kam dann ganz aufgeregt nach
Hause und brachte einen schönen Stein mit. Als sie starb, hatte sie
ein Dutzend Felsbrocken bei ihren Ausflügen gesammelt«, sagte
er.
Berenice dachte im Flur an ihre Schwester, die sich
Felsabhänge hinaufmühte, um es ihrem felswütigen Ehemann recht zu
machen, und die seinen Sack voller Steine trug.
»Dass irgendwas mit unserer Familie nicht stimmte,
merkte ich zum ersten Mal, als sie von einem Besuch in Farson
zurückkam. Ich weiß nicht, warum sie dort waren; die Frauen aus
Farson hatten sie zum Essen eingeladen - Kartoffelsalat und Hot
Dogs«, sagte er.
»Eine der Frauen hatte gesagt, sie würde einen
Forkenbrock in Dixon kennen. Soweit sie wusste, hatte er eine Ranch
im Snake-River-Tal. Als ich das Wort Ranch hörte, spitzte ich
natürlich die Ohren«, sagte er.
»Und der Name Forkenbrock ist nicht so verbreitet.
Also habe ich Mutter gefragt, ob das Verwandte von Dad wären«,
sagte er. »Hätte mir gut gefallen, Verwandte mit einer Ranch zu
haben. Ich spielte schon mit dem Gedanken, Cowboy zu werden. Aber
sie hat gesagt, Dad wäre ein Waisenkind, wir hätten keine
Verwandten und das mit dem Namen wäre nur ein Zufall. Sagte
sie.«
Beim Abendessen begann Church Bollinger, nachdem
Forrie Wintkas dramatisches Ableben ein weiteres Mal durchgekaut
worden war, seine Reisen in den kanadischen Rocky Mountains zu
schildern.
»Wir fliegen hin und nehmen dann einen Mietwagen,
statt den ganzen Weg zu fahren. Die Interstates sind das Letzte.
Und mein Frauchen hatte eine Schwäche für nette Hotels. Also sind
wir nach San Francisco geflogen, um von dort aus die Küste
entlangzufahren. Haben in Hollywood Station gemacht. Dachten, wir
könnten das echte Hollywood zu sehen bekommen. Riesige Säulen aus
Beton. Als wir weiterfahren wollten, stieß ich zurück, und es
krachte, und ich kam nicht aus der Parklücke raus. Irgendwann habe
ich es geschafft, aber die Tür von meinem Leihwagen hatte einen
dicken Kratzer. Na ja, ich habe eine Dose Lack gekauft und den
Kratzer lackiert, so dass nichts mehr zu sehen war. Habe den Wagen
in San Diego abgegeben. Und auf einen Brief von derVerleihfirma
gewartet, aber die haben nichts von sich hören lassen. Ein andermal
hatte ich einen Wagen gemietet, der einen Sprung in der
Windschutzscheibe hatte. Ich habe gefragt, ob das die Sicherheit
beeinträchtigen würde, und der Typ von der Leihwagenfirma hat mich
nur angesehen und nein gesagt. Ich bin losgefahren, und es gab
keine Schwierigkeiten. Genauso, als wir in Europa waren. In Spanien
haben wir uns die Stierkämpfe angesehen. Nach zwei Kämpfen sind wir
gegangen. Ich wollte wissen, wie es ist.«
»Und, tun sie den Stieren weh?«, fragte
Mehlgesicht.
Mr. Bollinger, dessen Gedanken mit Leihwagen
beschäftigt waren, gab keine Antwort.
Als Berenice Chad Grills von Mr. Forkenbrock
erzählte, der für Chads Urgroßeltern gearbeitet hatte, zeigte er
Interesse und sagte, er wolle sie danach fragen, wenn er sie das
nächste Mal besuchte. Er sagte, er hoffe, Berenice habe nichts
gegen das Leben auf einer Ranch, denn er mache sich Hoffnungen, die
Ranch zu erben. Er forderte Berenice auf, so viel wie möglich über
Mr. Forkenbrocks Zeit auf der Ranch herausfinden. Manche dieser
hinterhältigen alten Knacker brachten es fertig, mit gefälschten
Unterlagen über ausstehende Lohnzahlungen Anspruch auf eine Ranch
zu erheben. Jedes Mal, wenn Beth mit ihrem Kassettenrecorder kam,
hatte Berenice im Flur vor Ray Forkenbrocks Zimmer etwas zu tun und
wartete darauf, dass er von der schönen Ranch erzählen würde, die
eigentlich ihm gehörte. Was Chad dann tun würde, wusste sie
nicht.
Ray sagte: »Ich glaube, als Mutter von den
Forkenbrocks aus Dixon hörte, vermutete sie schon, dass irgendwas
nicht stimmte, denn sie hat der Dame aus Farson geschrieben und ihr
für das schöne Essen gedankt. Ich glaube, sie wollte sich mit ihr
anfreunden, um auf diese Weise mehr über die Leute aus Dixon
herauszufinden, aber soweit ich weiß, kam nichts dabei heraus.
Allerdings hatte ich mir gemerkt, dass wir nicht die einzigen
Forkenbrocks waren.« Beth war froh, dass er diesmal nicht so viele
Pausen machte, sondern sein Leben abrollen ließ, ganz in das
Erzählen vertieft.
»Der letzte Schultag war ein Ausflug mit Picknick.
Meistens gingen alle mit, denn damals waren die Schulen noch klein
und überall verstreut. Als ich zwölf war, gab es nur drei Schüler
in der siebten Klasse - mich, eine meiner Schwestern, die eine
Klasse übersprungen hatte, und Dutchy Green. Wir waren ganz aus dem
Häuschen, als wir erfuhren, dass unser Ausflug zu der alten Hütte
von Butch Cassidy an der Grenze nach Colorado führen sollte. Die
Lehrerin Mrs. Ratus ließ die Karte von Wyoming aufhängen und zeigte
uns, wo die Hütte war. Und am unteren Ende der Karte sah ich das
Wort Dixon. Dixon! Dort lebten die geheimnisvollen Forkenbrocks.
Dutchy war mein bester Freund, und ich erzählte ihm alles, und wir
überlegten, wie man den Bus dazu bringen konnte, in Dixon zu
halten.Vielleicht gab es ja irgendwo einen Wegweiser zur
Forkenbrock-Ranch«, sagte er.
»Aber unser Bus hielt dann sowieso in Dixon, weil
es irgendwelche Probleme gab«, sagte er.
»Die Autowerkstatt in Dixon sah richtig gut aus. Es
war eine frühere Schmiede mit dem alten Amboss und dem großen
Blasebalg, und wir machten uns daran zu schaffen und spielten, wir
hätten ein Pferd zu beschlagen. Den Mechaniker, der den Bus
reparierte, habe ich gefragt, ob er irgendwelche Forkenbrocks
kennen würde, und er hat gesagt, er hätte von ihnen gehört, würde
sie aber nicht kennen. Er hat gesagt, er wäre erst vor Kurzem von
Essex hergezogen. Dutchy und ich haben dann noch eine Zeitlang
Schmied gespielt, aber Butch Cassidys Hütte haben wir nicht zu
sehen bekommen, weil sie den Bus nicht repariert gekriegt haben und
ein anderer Bus uns abgeholt hat. Unser Picknick hatten wir auf dem
Rückweg im Bus. Danach habe ich dann nicht mehr an die Forkenbrocks
aus Dixon gedacht«, sagte er. Allmählich machte er wieder längere
Pausen.
»Ich habe nicht mehr an sie gedacht, bis Dad bei
einem Autounfall auf der alten Route 30 umkam«, sagte er.
»Er nahm eine Abkürzung, fuhr auf den Bahngleisen,
und dann kam ein Zug«, sagte er.
Er sagte: »Ich hatte seit einem Jahr bei den
Bledsoes gearbeitet und war nicht zu Hause gewesen.«
Bei der Erwähnung der Bledsoes reckte Berenice im
Flur den Kopf.
»Mr. Bledsoe fuhr mich zur Beerdigung nach Hause.
Die Beerdigung war in Rawlins, und die Pfadfinder haben sich um
alles gekümmert.«
Beth war verwirrt. »Die Pfadfinder?«
»Die adventistischen Pfadfinder, von denen ich dir
erzählt habe. Wir mussten nichts weiter tun als kommen. Was wir
taten. Pfarrer, Sarg, Blumen, Pfadfinderfahnen und -wahlsprüche,
Grab und Grabstein - alles von den Pfadfindern organisiert.« Er
hustete und nahm einen Schluck Whiskey, dachte an Friedhofsunkraut,
das sich hinter den Grabsteinen bis zu den wilden gelben Wiesen
ausdehnte.
Berenice konnte nicht länger lauschen, weil die
Klingel ertönte, mit der die Kaffeepause verkündet wurde. Es war
Berenice’ Aufgabe, den Heimbewohnern den Kuchen zu bringen, diesen
Höhepunkt des Tagesablaufs, den nur die alkoholische
Gemeinschaftsstunde überbieten konnte. Die Köchin war damit
beschäftigt, heiße Apfelkuchendreiecke auf die Teller zu
manövrieren.
»Hast du gehört, was mit Debs Mann passiert ist?
Hatte einen Herzinfarkt, als er einen Touristen abschleppen wollte.
Ist jetzt in der Klinik. Sieht nicht gut aus für ihn. Deb wird so
bald nicht wiederkommen.Vielleicht nie mehr. Ich wette, dass sie
eine millionenschwere Versicherung auf ihren Alten abgeschlossen
hat. Wenn er stirbt und Deb einen Berg Geld erbt, schließe ich auch
eine Versicherung auf meinen Alten ab.«
Als Berenice das Tablett mit dem Apfelkuchen holte,
stand Mr. Forkenbrocks Tür offen, und Beth war fort.
Sonntags machten Berenice und Chad Grills in
seinem so gut wie neuen Truck Ausflüge. Das war ihre Art von
Rendezvous. Der Staub, den die Laster der Gas- und Erdölfirmen
aufwirbelten, vernebelte die Sicht. Chad verirrte sich auf den
unzähligen Wegen, die die Firmen angelegt hatten und die auf keiner
Karte verzeichnet waren. Immer wieder landeten sie in Sackgassen
mit Druckschacht und Windkessel am Ende. Es war peinlich, sich dort
zu verirren, wo man geboren und aufgewachsen und immer geblieben
war, und Chad verfluchte die Gasfirmen. Zuletzt versuchte er, über
Feldwege Doty Peak anzusteuern, den er sehen konnte. Berge
faszinierten ihn. Auf einem besonders steinigen Abschnitt bekamen
sie einen Platten. Schließlich landeten sie in der Nähe der
Geisterstadt Dad. Chad sagte, es sei kein guter Ausflug gewesen,
und Berenice musste zustimmen, obwohl es schon schlimmere gegeben
hatte.
Die ganze nächste Woche ließ Deb Slaver sich nicht
blicken, und Berenice musste ihre Arbeit übernehmen. Es war ihr
zuwider, Mr. Harrells Verband zu wechseln, und ein paarmal drückte
sie sich davor. Sie war froh, als Doc Nelson bei seiner
wöchentlichen Visite am Mittwoch sagte, Mr. Harrell müsse ins
Krankenhaus verlegt werden. Am Samstag, Beths Besuchstag bei Mr.
Forkenbrock, beeilte sich Berenice mit ihrer Arbeit, damit sie sich
vor der Zimmertür mit einem Mopp zu schaffen machen und lauschen
konnte. Unmöglich vorauszusehen, was er als Nächstes erzählen
würde, bei all seinen Abschweifungen über den Garten seiner Mutter,
irgendwelche Pferde vor langer Zeit, alte Freunde. Die Bledsoes,
die so gut zu ihm gewesen waren, erwähnte er fast nie.
»Grandpa«, sagte Beth, »du siehst müde aus.
Schläfst du nicht genug? Um wie viel Uhr gehst du ins Bett?« Sie
reichte ihm den Ausdruck seines Vortrags.
»In meinem Alter braucht man nicht Schlaf, sondern
Ruhe. Ewige Ruhe. Mir geht’s gut«, sagte er. »Sieht prima aus, so
leicht zu lesen wie ein Buch.« Er wirkte erfreut. »Wo haben wir
aufgehört?«, fragte er und blätterte in den Seiten.
»Bei der Beerdigung deines Dads«, sagte Beth.
»O Mann«, sagte er, »ich glaube, das war der Tag,
an dem Mutter anfing, zwei und zwei zusammenzuzählen. Ich hatte
schon vorher damit angefangen, jedenfalls war mir schon länger
klar, dass irgendwas Fieses im Busch war, aber richtig begriffen
habe ich es erst Jahre später. Ich liebte meinen Dad, und deshalb
wollte ich es nicht begreifen. Ich habe immer noch das kleine
Jagdmesser, das er mir mal geschenkt hat, und ich würde es für
nichts in der Welt hergeben«, sagte er.
Er schwieg, stand auf, um das Messer zu holen, fand
es, zeigte es Beth und verstaute es wieder sorgfältig in der
obersten Schublade.
»Wir waren also alle da und marschierten im
Gänsemarsch aus der Kirche zu den Autos, um zum Friedhof zu fahren,
und ich hielt Mutters Arm, als auf einmal eine Dame ruft: ›Mrs.
Forkenbrock! Oh, Mrs. Forkenbrock!‹ Mutter dreht sich um, und da
sehen wir eine dicke, fette Dame in Schwarz mit einem verwelkten
Fliederzweig an ihrem Mantel auf uns zustürmen«, sagte er.
»Aber sie segelt einfach an uns vorbei und geht zu
einer dünnen, hausbackenen Frau mit einem Jungen in meinem Alter,
der sie kondoliert. Und dann sieht sie den Jungen an und sagt:
›Ach, Ray, von jetzt an musst du der Mann im Haus sein und deiner
Mutter helfen, so gut du kannst!‹«, sagte er. Er schwieg und
schenkte sich einen Whiskey ein.
»Darüber solltest du nachdenken, Beth«, sagte er.
»Du hast es doch so mit dem Familiensinn. Und jetzt stell dir vor,
dass du mit Mutter und Schwestern auf der Beerdigung deines Vaters
bist, und jemand ruft nach deiner Mutter und geht dann auf eine
Fremde zu. Und diese Fremde hat ein Kind dabei, und dieses Kind hat
deinen Namen. Ich war - ich konnte nur denken, dass sie die
Forkenbrocks aus Dixon sein mussten und offenbar doch mit uns
verwandt waren. Mutter sagte kein Wort, aber ich spürte, wie ihr
Arm zuckte«, sagte er. Das illustrierte er, indem er mit dem
Ellbogen wackelte.
»Ich bin auf dem Friedhof zu dem Jungen
hingegangen, der so hieß wie ich, und hab ihn gefragt, ob sie in
Dixon wohnten und eine Ranch hätten und mit meinem Vater verwandt
wären, der gerade beerdigt wurde. Er starrt mich an und sagt, sie
hätten keine Ranch und wohnten auch nicht in Dixon, sondern in
LaBarge, und außerdem würde sein Vater gerade beerdigt. Ich
war so durcheinander, dass ich bloß sagte:›Du spinnst ja!‹ und zu
meiner Mutter zurückging. Sie hat den Zwischenfall mit keiner Silbe
erwähnt, und dann sind wir nach Hause gegangen, wo wir wie immer
mit verdammt wenig Geld auskommen mussten. Mutter fand Arbeit als
Köchin auf der Sump-Ranch. Erst als sie 1975 starb, habe ich mir
alles zusammengereimt«, sagte er. »Die ganze Geschichte.«
Am Sonntag machten Berenice und Chad ihren
gewohnten Ausflug. Berenice nahm ihre neue Digitalkamera mit. Aus
irgendeinem Grund steuerte Chad wieder das Gewirr der Firmenstraßen
an, mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor - ein Spinnennetz von
unbeschilderten Schotterwegen, die in die Irre führten. Weit weg
waren Lastwagen am Straßenrand zu sehen. Es gab einen tiefen
Graben, in dem ein schwarzes Rohr verlief, das so dick war, dass
ein Hund bequem hineingepasst hätte. Sie kamen um eine Kurve und
sahen Männer, die ein Stück Rohr in eine riesige Maschine
einführten, in der die Rohrabschnitte miteinander verschweißt
wurden. Berenice fand die Maschine interessant und hob ihre Kamera.
Hinter der Maschine stand ein Laster mit laufendem Motor, am Steuer
ein schmuddeliger Knabe mit dunklen Brillengläsern. Zehn Meter
weiter weg füllte ein Bagger den Graben auf. Chad ließ das Fenster
herunter, grinste und fragte den Burschen mit der dunklen Brille,
wie die Maschine funktionierte.
Der Bursche warf einen Blick auf Berenice’ Kamera.
»Was geht Sie das an?«, sagte er. »Und was haben Sie hier überhaupt
zu suchen?«
»Das ist eine Landstraße«, sagte Chad, der zornig
wurde, »und ich lebe hier zufällig. Ich bin hier geboren. Ich habe
auf diesen Straßen hier mehr zu suchen als Sie.«
Der Bursche lachte höhnisch. »Von mir aus können
Sie auf einem Fahnenmast geboren sein, aber Sie haben kein Recht,
hier herumzuschnüffeln und Fotos zu machen.«
»Herumschnüffeln?« Doch bevor Chad weitersprechen
konnte, war der Mann, der die Maschine bedient hatte,
heruntergeklettert, und die zwei Männer, die das Rohr gehalten
hatten, kamen dazu. Der Baggerfahrer sprang von seinem Sitz. Alle
waren sie kräftig und aggressiv. »He«, sagte Chad, »wir machen bloß
einen Sonntagsausflug. Wusste nicht, dass hier sonntags gearbeitet
wird. Dachte, so was gäbe es nur bei uns Ranchern. Schönen Tag
noch«, und er trat das Gaspedal durch und brauste in einer
Staubwolke davon, dass der Kies nur so gegen den Wagenboden
prasselte.
Berenice machte den Mund auf, um zu fragen, was das
alles sollte, aber Chad fuhr sie an: »Halt die Klappe!« und raste
in halsbrecherischem Tempo weiter, bis sie die asphaltierte Straße
erreichten, wo er richtig Gas gab und dabei die ganze Zeit in den
Rückspiegel sah. Sie wechselten kein Wort, bis sie bei Berenice zu
Hause ankamen. Chad stieg aus und begutachtete den Truck von allen
Seiten.
»Chad, wie kannst du dich von diesen Leuten nur so
ins Bockshorn jagen lassen?«, sagte Berenice.
»Berenice«, antwortete er bedächtig, »vermutlich
hast du nicht mitgekriegt, dass einer von ihnen eine 44er hatte,
die er gerade aus dem Halfter zog. Es ist nicht besonders clever,
sich am Arsch der Welt vor einem Graben mit fünf Bauarbeitern
anzulegen. Der Verlierer landet im Graben, und der Typ im Bagger
legt fünf Minuten Sonderschicht ein. Schau dir das hier an«, und er
führte sie zum Heck des Trucks. In der Heckklappe war ein
Einschussloch.
»Das war die 44er von unserem Freund«, sagte er.
»Ein Glück, dass die Straße so holperig war. Ich könnte jetzt tot
sein, und du wärst vielleicht noch da draußen, und sie würden sich
mit dir amüsieren.« Berenice schauderte es. »Wahrscheinlich«, sagte
Chad, »haben sie uns für irgendwelche Umweltapostel gehalten. Deine
Kamera. Lass sie nächstes Mal lieber zu Hause.«
Von diesem Augenblick an kühlten Berenice’ Gefühle
für Chad ab. Er kam ihr weniger männlich vor. Sie würde sich von
niemandem vorschreiben lassen, was sie mit ihrer Kamera zu tun
hatte.
Am Montag suchte Berenice in der Küche nach der
Eismaschine, die seit zwei Jahren nicht benutzt worden war. Mr.
Mellowhorn war gerade aus Jackson zurückgekommen und hatte ein
Rezept für Apfelkucheneis mitgebracht, mit dessen Umsetzung er die
Heimbewohner umgehend beglücken musste. Als Berenice in dem dunklen
Wandschrank kramte, kam Deb Slaver hereingerauscht, so dass die
Schranktür gegen Berenice schlug.
»Aua!«, sagte Berenice.
»Geschieht dir recht«, sagte Deb giftig und stürmte
wieder hinaus. Aus dem Flur ertönte ein Geräusch, als träte jemand
gegen einen ausgestopften Hund.
»Die ist ganz schön von der Rolle«, sagte die
Köchin. »Duck ist am Leben geblieben. Aus der Traum von der
Versicherungsmillion, aber schlimmer noch: Er ist für den Rest
seines Lebens ein Pflegefall, muss von vorne bis hinten bedient und
betütelt werden. Sie muss sich bis ans Ende ihrer Tage um ihn
kümmern. Ich weiß nicht, ob sie weiter arbeiten geht und sich eine
Tagespflegerin sucht oder was. Aber vielleicht lässt Mr. Mellowhorn
ihn hier wohnen. Dann dürfen wir ihn alle bedienen und
betüteln.«
Es wurde Samstag, und aus reiner Gewohnheit - denn
mit Chad hatte sie Schluss gemacht, und die Bledsoes und ihre Ranch
interessierten sie nicht mehr - lungerte Berenice in der Nähe von
Mr. Forkenbrocks Zimmer herum. Beth hatte ihm eine Portion
Schokoladenpudding mitgebracht. Er sagte, der Pudding sei gut, aber
Whiskey sei besser, und sie schenkte ihm das übliche Glas
ein.
»Gut«, sagte Beth. »Bei der Beerdigung bist du den
anderen Forkenbrocks begegnet, aber die lebten damals nicht mehr in
Dixon?«
»Nein. Nein, nein«, sagte er. »Du hast nicht
zugehört. Die bei der Beerdigung waren gar nicht die Forkenbrocks
aus Dixon. Das waren die Forkenbrocks aus LaBarge. In Dixon gab es
wieder andere. Als Mutter starb, mussten meine Schwestern und ich
ihre Sachen durchsehen und uns alles zusammenreimen.«
»Tut mir leid«, sagte Beth. »Das habe ich offenbar
falsch verstanden.«
»Sie hatte alle Todesanzeigen von Dad aufbewahrt,
an die sie rangekommen war. Hat uns nie ein Wort davon gesagt. Es
steckte alles in einem großen Umschlag, auf dem draufstand: ›Unsere
Familie‹. Ich weiß bis heute nicht, ob sie das ironisch gemeint hat
oder nicht. Das übliche Zeug, dass er in Nebraska geboren war, für
Union Pacific und später für Ohio Oil und diese und jene Firma
gearbeitet hat und dass er immer ein aufrechter Pfadfinder war. In
einer Todesanzeige stand, er hätte Lottie Forkenbrock und sechs
Kinder in Chadron, Nebraska, hinterlassen. Der Sohn hieß Ray. In
einer anderen stand, die trauernde Familie in Dixon, Wyoming,
bestünde aus Ehefrau Sarah-Louise und den zwei Söhnen Ray und
Roger. Die Anzeige aus dem Käseblättchen von Casper lautete, er
wäre ein angesehener Pfadfinder gewesen und hätte die Ehefrau
Alice, die Söhne Ray und Roger und die Töchter Irene und Daisy
hinterlassen. Das waren wir. In der letzten stand, seine Frau oben
in LaBarge hieße Nancy, und die Kinder wären Daisy, Ray und Irene.
Das macht vier Familien. Verstehst du? Er hat allen Kindern die
gleichen Namen gegeben, damit er sich nicht vertun konnte und nicht
auf einmal Fred statt Ray sagte.«
Er war außer Atem, seine Stimme klang schrill und
zitterte. »Was meine Mutter von dieser Überraschung hielt, die er
ihr hinterlassen hat, habe ich nie erfahren, weil sie kein Wort
darüber verloren hat«, sagte er.
Er stürzte seinen Whiskey hinunter und hustete
heftig, bis er keuchte, als müsste er sich übergeben. Er wischte
sich Tränen aus den Augen. »Meine Schwestern haben sich die Augen
aus dem Kopf geflennt, als sie diese Todesanzeigen lasen, und haben
ihn verflucht, aber als sie wieder zu Hause waren, haben sie kein
Wort gesagt«, sagte er. »Und die anderen, die in LaBarge und in
Dixon und in Chadron und wer weiß wo noch, die haben auch alle den
Mund gehalten. Und er war fein raus. Bis jetzt. Ich glaube, ich
will noch einen Whiskey. Das viele Reden trocknet einem die Kehle
aus«, sagte er und nahm sich die Whiskeyflasche.
»Na ja«, sagte Beth in dem Versuch, das vorherige
Missverständnis wettzumachen, »dafür haben wir jetzt eine Art
erweiterte Familie. Ich finde es aufregend, plötzlich so viele
Cousins und Cousinen zu haben.«
»Beth, es sind keine Cousins und Cousinen. Denk
doch mal nach«, sagte er. Er hatte gedacht, sie wäre clever. Das
war sie nicht.
»Ehrlich, ich finde es toll. Wir könnten uns alle
zu Thanksgiving treffen. Oder am Nationalfeiertag.«
Ray Forkenbrock ließ die Schultern hängen. Die Zeit
pendelte aus wie ein Gummireifen am Ende eines Seils, immer
langsamer, und kam zum Stillstand.
»Grandpa«, sagte Beth freundlich, »du musst dich
daran gewöhnen, deine Verwandten zu lieben.«
Er schwieg. Dann sagte er: »Ich habe meinen Vater
geliebt.«
Und er wiederholte: »Den habe ich geliebt, sonst
niemanden«, obwohl er wusste, dass es sinnlos war, dass sie nicht
clever war und nichts von dem verstanden hatte, was er erzählt
hatte, und dass all das, was er ins Mikrofon gesprochen und für ein
Buch gehalten hatte, als seniles Gebrabbel eines alten Mannes
betrachtet werden würde. So unversehens, wie die Scherkraft des
Windes ein Flugzeug beutelt, brach die Erinnerung an den Verrat vor
langer Zeit aus dem Gefängnis seines Zorns hervor, und er
verwünschte sie alle miteinander, stieß den Kassettenrecorder weg
und sagte zu Beth, sie solle lieber gehen.
»Es ist wirklich idiotisch«, sagte Beth zu Kevin.
»Er war auf einmal völlig aus dem Häuschen wegen seinem Vater, der
irgendwann in den Dreißigern gestorben ist. Man sollte meinen, dass
er damit inzwischen abgeschlossen hätte.«
»Sollte man«, sagte Kevin, dessen Gesicht das
abwechselnde Hell und Dunkel des Fernsehschirms zu einer Grimasse
verzerrte.