Diese alten Cowboylieder
Es gibt die Überlieferung, dass
Pioniere in das Land kamen, sich niederließen, ein hartes Leben
führten, ihre Brut kärglich aufzogen und Rancherdynastien
begründeten. Manche taten das. Aber die große Mehrzahl hatte keine
Chance und war bald vergessen.
Archie und Rose, 1885
Archie und Rose McLaverty steckten sich ihren
Homestead dort ab, wo der Little Weed von der Sierra Madre
heruntergerattert kommt; der Fluss verdankt seinen Namen nicht dem
kleinwüchsigen Unkraut, sondern P.H. Weed, einem Goldsucher, der
nahe der Quelle des Flusses verhungert ist. Archies Gesicht war so
glatt wie geschältes Espenholz, mit Lippen, die so unauffällig
waren, als hätte man sie mit einem Messer in die Oberfläche
geritzt. Sein natürlicher Putz beschränkte sich auf die roten
Wangen und die widerspenstigen Wellen kastanienbraunen Haars, die
wie elektrisiert aussahen. Meistens log er, was sein Alter betraf -
er war nicht einundzwanzig, sondern sechzehn. Im ersten Sommer
wohnten sie in einem Zelt, während Archie ein kleines Blockhaus
baute. Um sich zwei Glasfenster leisten zu können, musste er einen
Monat lang verirrte Kühe für Bunk Peck einfangen. Es war ein
schmuckes Blockhaus aus drei Meter langen behauenen Baumstämmen,
die an den Enden mit senkrechten Balken verzapft waren, eine
Bauweise, die Archie mithilfe ihres einzigen Nachbarn handhaben
konnte; Tom Ackler, der Nachbar, war ein lederhäutiger Goldsucher,
der im Sommer eine Hütte auf dem Berg bewohnte. Die Ritzen
verputzten sie mit schwerem, gelbem Lehm. Eines Tages schleppte
Archie einen großen flachen Stein als Schwelle an. Es war angenehm,
in der Kühle des Abends zu sitzen, die Füße auf dem Stein, das Wild
zu beobachten, das zum Trinken an den Fluss kam, und kurz vor
Einbruch der Dunkelheit die flussaufwärts fliegenden Reiher, deren
Farbe der des Himmels so ähnlich war, dass sie Wolkenfetzen hätten
sein können. Archie grub eine Höhle als Kühlkammer in den Berg, die
er mit Stein auskleidete, und sägte Holz, während Rose Späne
zerteilte, bis sich vier Klafter Holz vor der Blockhütte stapelten,
die fast bis zum Dach reichten und sofort von einem Wiesel zum
Wohnsitz erkoren wurden.
»Der hält die Mäuse in Schach«, sagte Rose.
»Ja, aber hoffentlich beißt er uns nicht«, sagte
Archie mit einer Bewegung des rechten Zeigefingers. »Und putz die
Fenster nicht so oft, dass nichts von ihnen übrig bleibt«, obwohl
ihm der Anblick von Barrel Mountain in dem Rahmen des Südfensters
gut gefiel. Ein leichter irischer Akzent färbte seine Aussprache;
er war in Irland gezeugt worden und 1868 im damaligen Territorium
Dakota geboren, wohin seine Eltern von Bantry Bay gelangt waren und
wo sein Vater als Schwellenleger für Union Pacific Railroad
arbeitete. Als er sieben Jahre alt war, starb seine Mutter an
Cholera und wenige Wochen später sein Vater, weil er eine ganze
Flasche strichninversetzte Patentmedizin geleert hatte, die als
Mittel gegen Cholera und Masern galt, teelöffelweise einzunehmen.
Vor ihrem Tod hatte seine Mutter ihm Dutzende alter Lieder
beigebracht und ihm eine rudimentäre musikalische Bildung
vermittelt, indem sie schwarze und weiße Tasten auf ein Brett malte
und ihn dazu anhielt, die richtigen Tasten zu berühren, wozu sie
mit ihrer klaren Stimme die Töne sang. Das Familiensterben beendete
den irischen Einfluss. Mrs. Sarah Peck, eine warmherzige
methodistische Witwe aus Missouri, zog zur großen Erbitterung ihres
Sohnes Bunk den Waisenknaben auf.
Ein unablässiger Reigen von Pferdeknechten löste
sich in der Arbeiterbaracke der Pecks ab, und Archie lauschte ihren
Liedern, seit er denken konnte. Melodien merkte er sich auf Anhieb,
und auch für Reime, Verse und Betonungen hatte er ein gutes
Gedächtnis. Als Mrs. Peck den letzten Weg in das Land ging, wo man
kein Frühstück braucht, als Folge einer kleinen Feuersbrunst, die
sie beim Absengen frischgeschlachteter Hühner verursachte, war
Archie vierzehn und Bunk Anfang zwanzig. Ohne Mrs. Peck als
Prellbock veränderte ihr Verhältnis sich schnell zu dem zwischen
Tagelöhner und Arbeitgeber. Ein Gefühl von
Familienzusammengehörigkeit, fiktiv oder real, hatte nie zwischen
ihnen bestanden. Und mehr als alles andere verargte Bunk Peck
Archie die hundert Dollar, die Bunks Mutter ihm in ihrem Testament
vermacht hatte.
In dem dünnbesiedelten Land war jeder für eine
witzige Marotte oder Begabung bekannt. Chay Sump konnte gut mit den
Ute-Indianern, und wer schönes gegerbtes Leder brauchte, wandte
sich an ihn. Lightning Willy hatte es mit ununterbrochenem Üben so
weit gebracht, dass er mit Pistole und Karabiner aus der Hüfte
schießen konnte, anscheinend ohne zu zielen. Bible Bob genoss den
Ruf einer Spürnase für Gold, seit er oben am Singlebit Peak eine
Entdeckung von vielversprechender Farbe gemacht hatte. Und Archie
McLaverty hatte eine Singstimme, die man nicht mehr vergaß, wenn
man sie einmal gehört hatte. Es war eine klare, harte Stimme, und
die Wörter klangen halb geschrien und halb gesungen. Eine traurige,
monotone, unspektakuläre Stimme, die Dinge ausdrückte, die man
empfand, aber nicht sagen konnte. Er sang schlicht und ohne
Effekthascherei: »Brandy bleibt Brandy, was man auch reintut,
Texaner bleibt Texaner, was man ihm auch antut«, und die Zuhörer
mussten lachen, wenn er »antut« so komisch betonte, dass allen klar
war, es bedeutete »kastrieren«. Und wenn er zu The Old North
Trail überging, das er lakonisch sang, mit leicht heiserer
Stimme, fühlten sich die Zuhörer für eine halbe Stunde in die
Geschehnisse versetzt, die sie alle kannten, während er die
zahllosen Verse abspulte. Er kannte jedes Lied - Go Long Blue
Dog, When the Green Grass Comes, Don’t Pull off My
Boots und Two Quarts of Whiskey, und bei Männerabenden
nach dem Viehzusammentreiben sang er Vers um Vers von The
Stinkin Cow, The Buckskin Shirt oder Cousin
Harry. Rose umwarb er mit »Heirate niemals einen Burschen, der
nichts taugt«, was eine humoristische Bescheidenheitsfloskel war.
Und später sang er zwinkernd und anzüglich: »Kleines Mädchen, wie
wär’s mit einem Brandzeichen?«
Auf Anraten eines ehemaligen Homesteaders, der für
Bunk Peck arbeitete, kaufte Archie mit dem Geld, das Mrs. Peck ihm
vererbt hatte, achtzig Morgen Land aus Privatbesitz. Sie hätten
sich um doppelt so viel Land aus Staatseigentum oder für die
achtfache Menge an Wüstenland bewerben können, ohne einen Cent zu
bezahlen, doch Archie wollte verhindern, dass man herausfand, dass
er minderjährig war, und er wollte nicht fünf Jahre lang
verpflichtet sein, das Land nach Vorschrift zu bebauen und zu
bewässern. Da er von Mrs. Peck nichts erwartet hatte, war der Kauf
des Grundstücks mit der überraschenden Erbschaft so, als würde es
ihm geschenkt. Und das Land gehörte ihnen auf der Stelle, ohne
Bedingungen. Archie, der es ungeheuer aufregend fand, Grundbesitzer
zu sein, sagte zu Rose, er müsse die Grundstücksgrenzen singend
abmessen. Er fing an der südwestlichen Ecke an und schritt zügig in
Richtung Osten. Es war ihm wichtig. Rose begleitete ihn anfangs und
versuchte sogar mitzusingen, war aber schnell außer Atem. Und sie
kannte die Lieder nicht gut genug. Archie war nicht aufzuhalten. Es
dauerte Stunden. Am späten Nachmittag hatte er die westliche Grenze
erreicht, näherte sich allmählich dem Haus und sang krächzend: »Und
dann gehen wir in die Stadt und kaufen uns was Neues …«, schleppte
sich in der Abenddämmerung die letzten dreißig Meter die Anhöhe
herunter, und seine Stimme versagte ihm fast den Dienst, so dass
Rose sich anstrengen musste, um ihn die Worte hecheln zu hören: »…
hatte nie Geld und das macht mir nichts aus.«
Kein Glück ist so groß wie das eines jungen Paares
in einem Haus, das die beiden an einem schönen und einsamen Ort
errichtet haben. Archie hatte einen Tisch mit Beinen aus
Baumschösslingen und zwei Bänke zusammengenagelt. Wenn beim
Abendessen der gelbe Schein der Petroleumlampe ihre Gesichter
beleuchtete und bizarre Schatten an die Zimmerdecke warf, schien
alles in ihrer Welt geregelt zu sein, bis Motten gegen den
Lampenschirm flogen und sich auf den Tellern in klebrigem
Todeskampf wanden.
Rose war nicht hübsch, aber herzlich und fröhlich.
Sie war auf der Postkutschenstation Jackrabbit aufgewachsen,Tochter
des schmerbäuchigen Sundown Mealor, der von waghalsigen Ritten auf
feurigen Pferden träumte, aber einen Frachtwagen fuhr, weil er an
der Flasche hing. Die Station lag an einem Trail mit nord-südlichem
Verlauf zwischen kümmerlichen Ranches und Rawlins, das als
Eisenbahnstadt aus dem Boden spross, nachdem die
Union-Pacific-Linie dort vorbeiführte. Rose’ Mutter war früh
ergraut und siechte an einem Leiden dahin, das sie ans Bett
fesselte. Sie weinte, weil Rose so jung heiratete, schenkte ihr
aber einen wertvollen Familienbesitz, einen großen Silberlöffel,
der über den Atlantik gereist war.
Der Stationsvorsteher war Robert F. Dorgan, ein
leutseliger Mann mit Hängebacken und politischen Ambitionen, dessen
sehnlichster Wunsch es war, eine bedeutende Stellung zu erlangen,
und er sah die Station nicht nur als kurzen Haltepunkt für
Frachtwagen, sondern auch in seiner eigenen Karriere. Seine zweite
Frau Flora, Stiefmutter seiner Tochter Queeda, reiste jeden Winter
mit Queeda nach Denver, was beide zu Autoritäten in Sachen Mode und
Lebensart machte. Ihr Verhältnis war so innig, als wären sie
blutsverwandt. In Denver suchte Mrs. Dorgan die Bekanntschaft
wichtiger Leute, die der Karriere ihres Mannes förderlich sein
konnten.Viele Politiker verbrachten den Winter in Denver, und einer
von ihnen, Rufus Clatter, der Verbindungen nach Washington hatte,
hielt es für möglich, dass Dorgan zum Inspektor ernannt
wurde.
»Ich wette, vom Inspizieren versteht er eine
Menge«, sagte er augenzwinkernd.
»Oh, in der Tat«, sagte sie und dachte sich, dass
Dorgan sicher einen strebsamen Feldmesser finden konnte, der für
ein paar Dollar die Arbeit erledigte.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Clatter
und presste sich gegen ihren Oberschenkel, bereit, zurückzuweichen,
sollte sie sich gekränkt zeigen. Sie ließ ihn ein paar Sekunden
lang gewähren und wandte sich dann lächelnd ab.
»Sollte es zu einer solchen Beförderung kommen,
wird Ihnen mein Dank gewiss sein.«
Als sie im Frühjahr zu der Station zurückkehrte, wo
ihre Ringe und die glitzernden Applikationen ihrer Kleider sie in
einen goldenen Schein hüllten, kurbelte sie den örtlichen Klatsch
und Tratsch an, indem sie verkündete, Archie McLaverty habe Rose
ins Unglück gestürzt, indem er die knapp Vierzehnjährige zu einer
verfrühten Heirat drängte, doch was sollte man anderes von einem
Mädchen erwarten, dessen Vater ein Säufer war, einem verwahrlosten
Mädchen, das die Station geführt hatte, ungehobelten Kutschern
freche Antworten gegeben und mit Bauernlümmeln und Viehhirten
vulgäre Bemerkungen getauscht hatte, darunter Archie McLaverty,
dieser Habenichts mit seinen ordinären Liedern. Sie schlug die
Hände zusammen, als wollte sie Schmutz abklopfen.
Der andere Bewohner der Station war ein alter
Hagestolz - die Gegend war reich an Hagestolzen -, Harp Daft, der
Telegrafist. Sein Gesicht und Hals waren wie eine Maske aus
Narben,Warzen, Geschwüren, Eiterpickeln und Ausschlägen. Ein Bein
war kürzer als das andere, und seine Stimme näselte katarrhalisch.
Sein Fenster lag dem Haus der Dorgans gegenüber, und manchmal sah
man darin einen dunklen Kreis, ein Teleskop, wie Rose wusste.
Für Queeda Dorgan empfand Rose Bewunderung und
Verachtung zugleich. Gierig nahm sie jede Einzelheit der schönen
Kleider auf, die Brosche mit Feueropal, die Satinschuhe und die
kessen Hüte, die auf der staubigen Station so köstlich unpassend
wirkten, doch sie wusste, dass Miss Etepetete ihre blutigen
Menstruationslappen wie alle anderen Frauen auswaschen musste, auch
wenn sie sie zu verstecken versuchte und nachts oder in
Kissenhüllen aufhängte. Unter den Seidenröcken musste auch sie sich
mit tropfenden Windeln aus alten Bettlaken abfinden, deren
verkrustete Ränder an den Schenkeln rieben und in denen sich die
Schamhaare verfingen. Zu diesen Zeiten übertönte der animalische
Geruch Queedas parfümiertes Bollwerk. Mrs. Dorgan war für Rose eine
eisenharte Feindin mit zwei Gesichtern, liebreizend in der
Öffentlichkeit, unflätig im Privaten. Sie hatte gesehen, dass die
Frau wie ein Fuhrknecht auf den Boden spuckte und ihr Geschlecht an
der Tischkante rieb, wenn sie sich unbeobachtet wähnte. Da Mrs.
Dorgan sich für etwas Besseres hielt, ignorierte sie die Mealors
genauso wie den verachtenswerten Hagestolz, der an seinem
Telegrafen klapperte oder, wie er es nannte, nach Sternbildern
Ausschau hielt.
In der kleinen Hütte flocht Rose jeden Morgen ihr
glattes braunes Haar, betupfte es mit Fliederwasser aus dem blauen
Flakon, den Archie ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, und legte es
als Krone um ihren Kopf, so wie Queeda Dorgan ihr Haar aufsteckte.
Abends löste sie ihr Haar, und man konnte den Duft riechen. Sie
wollte nicht so werden wie die Siedlerfrauen, die nach Schweiß
stanken und ihr fettiges Haar zum Knoten zusammenwürgten. Archie
hatte kastanienbraune Locken, und Rose hoffte, dass ihre Kinder
seine Locken und seine hübschen Züge mit den roten Wangen erben
würden. Sie schnitt ihm das Haar mit einer Handarbeitsschere, die
eine Reisende aus der Postkutsche vor Jahren an der Station
verloren hatte und deren silberne Griffe wie gebogene Kranichhälse
geformt waren. Aber es war schwer, sauber zu bleiben. Queeda Dorgan
hatte an der Station nicht viel anderes zu tun, als sich zu putzen,
zu waschen und zu schmücken, doch Rose musste in ihrer Hütte
schwere Kessel schleppen, Feuerholz zerkleinern, Brot backen, Töpfe
scheuern, draußen den steinigen Boden umgraben, wo sie einen Garten
anlegen wollten, und Wasser holen, wenn Archie nicht da war. Im
ersten Winter fror zu ihrem Glück der Fluss nicht ein. Zum Waschen
und Geschirrspülen und Putzen benötigte Rose vier Eimer Wasser
täglich, die vom Little Weed geholt werden mussten, wobei jedes Mal
die Enten aufgescheucht wurden, die in dem nahen Nebenarm ihre
Geschäftstreffen abzuhalten pflegten. Auch Archie versuchte sie
sauber zu halten. Wenn er den ganzen Tag Pecks Kühe oder in der
Wüste Wildpferde gejagt hatte, kam er mit Bartstoppeln im Gesicht,
einem Hals voller Schnakenstiche, verdreckten und zerschundenen
Händen, abgebrochenen Nägeln und stinkenden Füßen nach Hause. Sie
zog ihm die Stiefel aus, wusch seine Füße in der emaillierten
Spülschüssel und trocknete sie mit einem sauberen Futtersack
ab.
»Wenn du Strümpfe hättest, würde es weniger
stinken«, sagte sie. »Wenn ich Stricknadeln und Garn hätte, könnte
ich dir Strümpfe stricken.«
»Mrs. Peck hat mir mal welche gestrickt. Nach einer
Stunde war das erste Loch drin. Und sie verdrehen sich in den
Stiefeln. Unnützes Zeug, diese Strümpfe.«
Zum Abendessen gab es Wildhackbraten oder
gebackenes Steppenhuhn, das Rose geschossen hatte, Hagebuttengelee
und frischgebackenes Brot, aber keine Bohnen, die laut Archie das
Hauptnahrungsmittel bei Pecks bildeten, einst wie jetzt. Ab und zu
ritt ihr Nachbar Tom Ackler zum Abendessen zu ihnen herunter,
manchmal in Begleitung seiner gelben Katze Gold Dust, die hinter
ihm auf dem Sattel hockte. Während Tom redete, hockte Gold Dust vor
dem Holzstapel und versuchte, das Wiesel zu erwischen. Rose mochte
den schwarzäugigen, fast kahlköpfigen Goldsucher, und sie fragte
ihn, was der goldene Ohrring an seinem linken Ohrläppchen
bedeutete.
»Bin früher um die Welt gesegelt, Mädelchen. Das
Ohr ist backbord, und der Ring sagt denen, die Bescheid wissen,
dass ich östlich von Kap Horn war. Und wer nach Osten gelangt, war
vorher im Westen. War überall auf der Welt.« Er hatte ein reiches
Repertoire an Geschichten von Stürmen, heftigen Orkanen und
südlichen Taifunen, von Wasserhosen und Walen, die wie Forellen aus
dem Wasser sprangen, von Eisbergen und Windstillen und Seetang, in
dem sich die Schiffe verfingen, von wilden Zeiten in fernen
Häfen.
»Und warum hast du das Seemannsleben aufgegeben?«,
fragte Rose.
»Da wird man nicht reich, Mädelchen. Und nach dem
Herumgeschubse an Deck hat sich der alte Bursche hier einen
gemütlichen Hafen gewünscht.«
Archie fragte ihn nach Seemannsliedern, und bei
seinem nächsten Besuch brachte Tom Ackler seine Ziehharmonika mit,
und stundenlang erklangen Shantys und Seemannsverse in der Hütte;
ab und zu bat Archie Tom, ein Lied zu wiederholen, doch oft stimmte
er schon nach wenigen Takten ein.
Dein Pferd wird sterben, alter
Mann.
So sagen sie, so hoffen sie.
Dein Pferd wird sterben, armer Mann.
O armer, armer alter Mann …
So sagen sie, so hoffen sie.
Dein Pferd wird sterben, armer Mann.
O armer, armer alter Mann …
Rose war eine feurige Liebende, wenn Archie rief:
»Reck den Hintern hoch wie ein Ziegenmelker«, und sie verstand es,
seine gelegentlichen schwermütigen Anwandlungen in fröhliches
Lachen aufzulösen. Sie schien nicht zu wissen, dass sie in einer
Zeit lebte, in der die Liebe für Frauen tödlich war. Eines
Sommerabends, als sie in der halbfertigen Hütte ihr Bett auf dem
Boden zwischen Holzspänen und Sägemehl bereitet hatten, konnten sie
nicht mehr aufhören, sich zu küssen. Wie in Trance begann Rose
Bisse unter ihre Küsse zu mischen, leckte und biss seinen Hals,
seine Schulter, die nach Moschus riechende Höhlung zwischen Arm und
Oberkörper und seine Brustwarzen, bis sie spürte, dass er zitterte,
und als sie aufsah, hatte er die Augen geschlossen,Tränen hingen in
seinen Wimpern, und sein Gesicht war schmerzverzerrt.
»O Archie, ich wollte dir nicht wehtun, Archie
…«
»Du hast mir nicht wehgetan«, stöhnte er. »Es ist
nur. Bin nie. Geliebt worden. Ich kann es fast nicht aushalten«,
und dann stammelte er: »Als wäre auf mich geschossen worden«,
schlang die Arme um sie und rollte sich halb auf sie, so dass die
salzigen Tränen und sein Speichel ihr besticktes Hemdchen
benetzten, er nannte sie sein kleines Vögelchen, und in diesem
Augenblick wäre sie für ihn über glühende Kohlen gegangen.
Wenn er nicht da war, grub sie den Garten um oder
nahm sein altes Zündnadelgewehr und ging Steppenhühner jagen. Sie
schoss einen Habicht, der es auf ihre drei Legehennen abgesehen
hatte, rupfte ihn, nahm ihn aus und warf ihn zusammen mit einer
Handvoll Wildlauchzwiebeln und etwas Pfeffer in den Suppentopf. Ein
andermal hatte sie fast zwei Kilo Walderdbeeren gesammelt; ihre
Finger waren dunkelrot gefärbt, da half kein Waschen.
»Sieht aus, als hättest du eigenhändig einen
Grizzly erlegt und gehäutet«, sagte Archie. »So ein Bär könnte dir
jederzeit in den Beeren begegnen, pflück lieber keine mehr.«
Der zweite Winter stand bevor, und Bunk Peck
entließ alle Männer, auch Archie. Viehhirten wanderten von Ranch zu
Ranch und verrichteten Hilfsarbeiten für einen Schlafplatz und drei
handfeste Mahlzeiten. Unten am Little Weed waren Archie und Rose
auf die kalte Jahreszeit vorbereitet. Archie hatte auf den Schnee
gewartet, in dem Wildfährten gut erkennbar waren, und hatte im
November, als es kalt wurde, zwei Wapitis und zwei Stück Rotwild
geschossen und Tom Ackler einen Teil des Fleisches zum Dank für
seine Hilfe überlassen, denn ein Mann allein konnte mehrere Tage
brauchen, um einen großen Hirsch zu zerlegen, und sobald die Beute
unbeaufsichtigt war, machten sich Bären, Pumas und Wölfe, Kojoten,
Raben und Adler darüber her. Etwa ein Morgen Land war gerodet, und
dort wollte Archie Winterweizen säen. Die Kühlkammer war gefüllt.
Sie besaßen ein Fass Mehl und genug Backpulver und Zucker für ganz
Chicago. An manchen Morgen wirbelte der Wind den Schnee auf, der
wie Gaze die Berge bleichte und den Morgenhimmel opal färbte.
Einmal sandte die Sonne von unterhalb des Horizonts grelle rote
Strahlen gegen die Unterseite der Wolke, die über Barrel Mountain
hing, und als Archie aufblickte, sah er Rose in der Tür stehen,
gespenstisch beleuchtet von dem unheimlichen Glühen.
Im Frühjahr waren beide das Wapiti- und
Wildfleisch leid, und sie waren es leid, einander in der kleinen
Hütte auf die Füße zu treten. Rose war schwanger. Ihre Lebenskraft
schien versiegt zu sein und ebenso ihre gute Laune. Archie brachte
ihr Eimer voll Wasser vom Fluss und gelobte, im Sommer einen
Brunnen zu graben. In der Hütte war es stickig; die Aprilsonne
brannte so heiß wie ein Glutofen.
»Du solltest dir jemanden suchen, der was vom
Brunnengraben versteht«, sagte Rose verdrießlich und knallte die
Näpfe für den ewigen Wapitieintopf auf den Tisch; der Eintopf
bestand aus nichts als Fleisch, Wasser und Salz, weichgekocht und
tagelang immer wieder aufgewärmt. »Weißt du noch, wie Mr. Town ums
Leben kam, als sein Brunnen einbrach und er drinsteckte?«
»Wenn unser Brunnen einbricht, muss ich nicht
drinstecken«, sagte Archie. »Ich will keinen lebensgefährlichen
tiefen Brunnen graben, sondern das kleine Wasserloch östlich von
unserer Kühlkammer ausbauen. Könnte eine prima Quelle abgeben, und
ich könnte ein Brunnenhaus bauen, ein paar Bretter einziehen,
vielleicht eine Kuh halten. Milchkuh für Milch und Sahne. Verdammt,
ich fang gleich heute mit der Arbeit an.« Er war nicht groß, aber
kräftig, und durch die Arbeit waren seine Brust und Schultern
breiter geworden. Er sang: »… darf die Schaufel nicht vergessen,
wenn ich graben gehen will«, und hängte einen von Toms
Seemannsausrufen an, doch sein scherzhaftes Lied konnte Rose in
ihrer Missstimmung nicht besänftigen. Eine ältere Frau hätte
gewusst, dass sie von der ersten Zeit inniger Liebe in den langen
und mühseligen Prozess des Ehelebens überwechselten, auch wenn sie
fast noch Kinder waren.
»Kühe sind teuer, Milchkühe besonders. Wir können
uns nicht mal ein Geschirr für die Butter leisten. Und ich würde
ein Butterfass brauchen. Wenn wir schon träumen, können wir auch
gleich von einem Schwein träumen, das wir im Herbst schlachten
können. Wild kann ich nicht mehr sehen. Zu schade, dass du dein
ganzes Geld für das Grundstück ausgegeben hast. Hättest besser
etwas übrig behalten.«
»Ich finde, es war trotzdem richtig, aber es
stimmt, wir brauchen ein bisschen Kleingeld. In ein paar Tagen
reite ich zu Bunk, um zu sehen, ob ich bei ihm Arbeit bekomme.« Er
zog seine schmutzige Arbeitshose an, die von dem dreitägigen
Ausheben der Latrinengrube voller Lehm war. »Koch nichts für mich.
Ich grabe bis mittags und komm zum Kaffee. Haben wir noch
welchen?«
Bunk Peck war es ein Vergnügen, ihm zu sagen, dass
er keine Arbeit für ihn habe. Auf den anderen Ranches sah es nicht
besser aus. Acht oder zehn texanische Viehhirten, die nach dem
Montana-Viehtrieb im letzten Herbst dageblieben waren, hatten sich
alle Arbeit unter den Nagel gerissen.
Archie versuchte, es Rose scherzhaft beizubringen,
doch daran, wie er die Luft durch die Zähne einsog, war zu merken,
dass er es nicht lustig fand. Nach ein paar Minuten sagte Rose
leise: »An der Station hieß es immer, oben in Butte würde man einen
Hunderter im Monat verdienen.«
»Missus McLaverty, in ein Bergwerk kriegst du mich
nicht rein. Du hast einen Cowboy geheiratet.« Und er sang: »Bin nur
ein einsamer Cowboy, und Rose, die ist mein Schatz, und ob ich
meinen Hut verlier oder mir die Zehen abfrier, sie gibt mir einen
Schmatz, doch in einer Kupfermine, da ist nicht mein Platz.« Er
nahm ein Stück Rübe aus der Bratpfanne auf dem Herd und aß es. »Ich
reite Richtung Cheyenne und seh, was ich finden kann. Da drüben
gibt es ein paar große Ranches, wo sie vielleicht Arbeiter
brauchen. Unterwegs mach ich halt bei Tom und bitte ihn, sich um
dich zu kümmern.«
Am nächsten Tag machte er sich auf den Weg.Wir
brauchen das Geld, dachte sie, oder?
Trotz des warmen Aprilsonnenscheins lag noch
tiefer Schnee am Fuß der Kiefern und in den nördlich gelegenen
Senken um Tom Acklers Hütte; sie wirkte verlassen, als wäre Tom für
längere Zeit fort. Gold Dust, seine Katze, kam schnurrend zur
Treppe, doch als Archie sie streicheln wollte, hieb sie ihre
Krallen in seine Hand und flitzte dann mit angelegten Ohren in das
Kieferndickicht. In der Hütte fand Archie einen Bleistiftstummel
und schrieb an den Rand einer alten Zeitung eine Notiz, die er auf
den Tisch legte.
Tom ich such Arbeit in der Gegend von
Schaien.
Kuk ab u. zu nach Rose, oke?
Arch McLaverty
Kuk ab u. zu nach Rose, oke?
Arch McLaverty
In einem Saloon an einer Straße in Cheyenne, wo es
von Schnapsbuden und Spielhöllen wimmelte, hörte er von einem
Rancher in der Gegend von Lusk, der Arbeiter suchte, die im
Frühjahr beim Viehzusammentreiben halfen. Die Whiskeyflaschen
glitzerten in den Lichtstreifen, die hereindrangen, wenn die
Schwingtür bewegt wurde - Kellogg’s Old Bourbon, Squirrel,
McBryan’s, G. G. Booz, Day Dream und ein paar Ginflaschen von
eckiger Kontur. Er lud den Mann auf einen Drink ein. Es sei nur so,
sagte der Informant, ein Mann mit gewaltigem Schnurrbart, der
unentwegt lächelte und dabei verfaulte Stummelzähne entblößte,
während er Daumen und Zeigefinger schützend um das Glas legte,
damit der Barmann nicht genau sehen konnte, wie viel er
einschenkte, es sei so, dass Karok zwar gut zahle und man sich
darauf verlassen könne, von ihm nicht im Herbst vor die Tür gesetzt
zu werden, aber verheiratete Männer nehme er nicht, weil er der
Ansicht sei, sie hätten die schlechte Angewohnheit, wegzulaufen, um
nach Frau und Kindern zu sehen, während Karoks Kühe in
Schlammlöcher stolperten, Pumas und Viehdieben zum Opfer fielen,
sich ins Tal verirrten und hundert andere Missgeschicke erlebten,
wie sie unbeaufsichtigtem Vieh zuteil werden konnten. Der Barmann,
der mit halbem Ohr zuhörte, nahm aus einer kleinen Flasche neben
der Registrierkasse einen Schluck von Wheatley’s Spanischem
Schmerztöter.
»Der Magen«, sagte er zu niemand Bestimmtem und
rülpste.
Der Schnurrbartträger kippte sein randvolles
Whiskeyglas auf einen Zug und redete weiter. »Ist ein Ausländer aus
dem Osten, und für ihn zählen nur seine Kühe. Das hat er als Erstes
gelernt, als er damals herkam: dass Kühe das Einzige sind, was
zählt. Der Fraß bei ihm ist auch ziemlich schäbig. Kein Huhn in der
Hühnersuppe.«
»Klar, und kein Meer im Meerrettich«, sagte Archie,
der die abgedroschenen Witze allesamt kannte.
»Tja. Manche Leute kommen einfach nicht mit ihm
zurecht. Und gehen. Ich zum Beispiel. Einmal war ein Fritze von der
Justiz bei uns draußen, der die Finger nicht von seinem Schießeisen
lassen konnte und dem anzusehen war, dass er am liebsten ein
bisschen Blut vergossen hätte. Jedenfalls war ich verdammt froh,
von dort wegzukommen. Aber es gibt Leute, die mit Karok ganz gut
auskommen.Vielleicht gehören Sie dazu. Wer für ihn reitet, der
lernt, nachts mit dem Lasso umzugehen. Seine Herde vermehrt sich
nämlich ziemlich eigenwillig, falls Sie verstehen, was ich meine.
Aber ich will Ihnen einen guten Rat geben: Früher oder später wird
es auf der Ranch mächtig Stunk geben. Der Justizfritze hat nicht
ohne Grund rumgeschnüffelt.«
Archie ritt nach Lusk über Land, das so vergilbt
und flach war wie eine alte Zeitung, und sprach bei Karok vor. Am
Tor war ein großes Schild angebracht: KEInE EhEMäNnER. Als der
sauertöpfische Rancher ihn fragte, log Archie, sagte, er sei ledig,
er müsse nur seine Sachen holen und könne in sechs Tagen
wiederkommen.
»Fünf Tage«, sagte der Rancher und beäugte Archie
misstrauisch. »Andere Burschen auf Arbeitssuche haben ihre Sachen
dabei und müssen nicht erst nach Hause und sie holen.«
Archie tischte ihm eine Geschichte auf, er wäre in
Cheyenne zu Besuch gewesen und hätte nicht gewusst, dass er seine
Arbeit verloren hatte, bis einer der anderen Cowboys auftauchte und
ihm sagte, dass sie alle auf der Straße standen, woraufhin er,
Archie, auf der Stelle zu Karok gekommen war, als er gehört hatte,
dass es dort möglicherweise Arbeit gab.
»So, so. Dann mach dich auf die Beine. Der
Viehtrieb hat vor zwei Tagen angefangen.«
Als er bei Rose am Little Weed ankam, erklärte
Archie die Situation nur in Andeutungen; er sagte, sie könne ihm
keine Briefe oder Nachrichten schicken, bis er sich etwas
ausgedacht hätte, sagte, er müsse schnellstens nach Lusk
zurückkehren und dort mehrere Monate lang bleiben, und sie solle am
besten ihre Mutter holen, damit sie ihr helfen konnte, wenn das
Baby Ende September auf die Welt kam.
»Die Reise kann sie nicht machen. Du weißt, wie
krank sie ist. Kommst du nicht zur Geburt des Babys?« In den
wenigen Tagen seiner Abwesenheit schien er sich verändert zu haben.
Sie berührte ihn, schmiegte sich an ihn und wartete, dass das
vertraute Gefühl der Einheit sie zusammenschmiedete.
»Wenn ich mich freimachen kann, komme ich. Aber es
ist eine gute Stelle, fünfundfünfzig Dollar im Monat, fast doppelt
so viel, wie Bunk Peck zahlt, und ich spare jeden Cent. Wenn deine
Mutter nicht herkommen kann, gehst du besser zur Station, wo Frauen
sind.Vielleicht kann Tom dich hinbringen, im Juli oder im August?
Oder schon früher?« Er war unruhig, als wollte er jeden Augenblick
aufbrechen. »Hast du ihn gesehen? Als ich bei ihm vorbeikam, war
alles zu. Ich schau noch einmal bei ihm vorbei.«
Rose sagte, Anfang September sei früh genug. Sie
wollte nicht dorthin gehen, wo sie ihre kranke Mutter pflegen und
ihren betrunkenen Vater ertragen musste, das Gesicht des
Telegrafisten sehen, das wie eine zerfurchte Felsklippe aussah,
sich Mrs. Dorgans herablassende Bemerkungen über »gewisse Leute«
anhören, die an Queeda gerichtet, in Wahrheit aber für Rose
bestimmt waren, sie wollte nicht neben Queedas hübschen Kleidern
und ihrer zierlichen Figur unbeholfen und unförmig aussehen, und
sie wollte nicht den Eindruck erwecken, allein zu sein, verlassen
von dem Ehemann, von dem man vorausgesagt hatte, er werde sich aus
dem Staub machen. Bis September waren es noch fünf Monate, genügend
Zeit, sich etwas zu überlegen. Zusammen rechneten sie aus, was ein
Jahr Arbeit bei Karok einbringen konnte.
»Wenn du das ganze Geld sparst, haben wir
sechshundertfünfzig Dollar. Dann sind wir reich, oder?«, fragte sie
in einem klagenden Ton, den er geflissentlich überhörte.
Er bemühte sich um Enthusiasmus. »Dabei ist noch
nicht mal eingerechnet, was ich an Prämien bekommen kann, wenn ich
Wölfe abschieße. Vielleicht noch einen Hunderter. Genug als
Startkapital. Ich könnte mir vorstellen, dass wir Pferde züchten.
Pferde werden immer gebraucht. Nach einem Jahr höre ich auf der
Ranch auf und komme zurück.«
»Und wie kann ich dir Bescheid sagen - wenn das
Baby da ist?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber ich lass mir was
einfallen. Weißt du was? Mir ist, als würde ich mir gern die Haare
kämmen lassen. Willst du mir die Haare kämmen?«
»Ja«, sagte sie und lachte, als er gerade
befürchtete, sie in Tränen ausbrechen zu sehen. Doch zum ersten Mal
begriff sie, dass sie nicht zwei Hälften einer Person waren, die
zueinander drängten, sondern zwei einzelne Personen, und dass er
als Mann gehen konnte, wann er wollte, während sie das als Frau
nicht tun konnte. In der Hütte hing der Geruch von Verlassenheit
und Verrat.
Archie und Sink
Männer, die von Kindesbeinen an mit Pferden zu tun
haben, erkennen merkliche Unterschiede auf einen Blick, doch einige
können sich in das Temperament von Pferden besser einfühlen als
andere. Sink Gartrell zählte zu Letzteren und war das völlige
Gegenteil von Wally Finch, dem Zureiter wilder Pferde aus Montana,
der heimlich ein verstecktes Seil benutzte und die Pferde, die er
zuritt, zu unreitbaren »Verbrechern« machte. Sink strahlte
unnahbaren Sachverstand aus. Bei einem Roundup war dem soignierten
britischen Privatier Morton Frewen aufgefallen, wie Sink mit einem
nervösen und schreckhaften Pferd umging, was er mit der Bemerkung
kommentierte, Sink habe »göttliche Hände«. Dieses Adjektiv
versetzte die Cowboys tagelang in Heiterkeit, wenn sie Frewens
näselnden Akzent nachäfften, aber Spott glitt an Sink Gartrell ab
wie Wasser an Felsen im Flussbett.
Sink hatte den Eindruck, dass der neue Junge
hervorragend mit Pferden umgehen konnte, aber lernen musste, sich
bedeckt zu halten. Am zweiten oder dritten Morgen nach seiner
Ankunft war Archie früh aufgewacht, hatte sich in seinem Bett
aufgesetzt, während der Koch Hel sein Feuer anfachte, und hatte
einen Weckruf losgelassen, garniert mit Jodlern, so dass der alte
Hel vor Schreck die Kaffeekanne ins Feuer fallen ließ und die
unsanft Geweckten laut fluchten. Der bittere Geruch verbrannten
Kaffees war ein schlechter Tagesbeginn. Vorarbeiter Alonzo Lago,
der bisher nicht weiter Notiz von Archie genommen hatte, starrte
den lockenköpfigen neuen Arbeiter an, der an dem Lärm schuld war.
Und Sink registrierte seinen Blick.
Später nahm Sink den Jungen beiseite und warnte
ihn, redete Klartext, erklärte ihm, dass der alte Lon ihn
zusammenrammeln würde, wenn er bereit wäre, in seinen Schlafsack zu
kriechen, erklärte ihm, dass der lederhäutige alte Vorarbeiter
dafür bekannt war, junge neue Arbeitskräfte ohne Sattel
einzureiten. Archie, dem all das aus Pecks Arbeiterbaracke vertraut
war, sah Sink an, als verdächtige er ihn, ähnlich niedrige
Absichten zu hegen, sagte, er könne auf sich selbst aufpassen und
werde sich schon zu wehren wissen, wenn ihm jemand zu nahe käme.
Dann ging er weg. Als Sink nach seiner Wache nach Mitternacht in
die Unterkunft kam, ging er an der Schlafstelle des Vorarbeiters
vorbei, doch unter der Segeltuchdecke ragte nur ein Kopf hervor;
der Junge hatte sich nach draußen ins Gebüsch zu den Kojoten
verzogen. Na wenn schon, dachte Sink, er würde trotzdem aufpassen,
wenn Lon das nächste Mal außer Kontrolle geriet und anfing, dieses
bescheuerte Gedicht über italienische Musik in Dakota vom Stapel zu
lassen, denn der Vorarbeiter war so unbezähmbar wie eine
Naturgewalt.
Für Archie war die Arbeit das übliche Los des
Rancharbeiters - schwer, schmutzig, langwierig und langweilig. Das
Leben bestand aus Satteln, Reiten, Lassowerfen, Einfangen,
Zusammentreiben, Absatteln, Essen, Schlafen und das Ganze wieder
von vorn. In klaren, trockenen Nächten schien das Gekläff der
Kojoten in geraden Linien von einem einzigen Punkt auszugehen,
gekreuzt wie gespannte Drähte. Wenn der Himmel sich bedeckte,
folgte das Geheul anderen geometrischen Gesetzen und überschnitt
sich wie konzentrische Kreise um eine Handvoll ins Wasser geworfene
Steine. Doch meistens schmirgelte der Wind, der über die Ebene
brauste, die Schreie zu einer Art Kojotenstaub aus vielen kleinen
Klangpartikeln. Archie sehnte sich nach seinem geliebten Zuhause,
wo er die Weide für seine Pferde einzäunen und mit Rose glücklich
sein konnte. Er dachte an das Kind, das sie erwarteten, stellte
sich einen halbwüchsigen Jungen vor, der ihm half, in der Wüste
Fallen für wilde Pferde zu errichten und die Mustangs zu fangen.
Ein Baby konnte er sich nicht recht vorstellen.
Gegen Ende des Spätsommers sah Sink, dass Archie
aufrecht im Sattel saß, still und beherrscht war und mit Pferden
umgehen konnte. Der Junge gehörte zu jenen, denen Pferde trauten,
war ruhig und gelassen. Er jodelte morgens nicht mehr und sang nur
noch nach dem Abendessen, wenn andere zu singen begannen und seine
Stimme sich einfügte, ohne aufzufallen. Er war ein Einzelgänger,
starrte oft in die Ferne, doch jeder von ihnen hatte jenseits des
Horizonts etwas Wertvolles. Trotz seines Könnens im Umgang mit
Pferden hatte ihn ein Wildpferd abgeworfen, das von Wally Finch
zugrunde gerichtet worden war, und als er instinktiv eine Hand
ausgestreckt hatte, um sich abzustützen, hatte er sich das
Handgelenk verstaucht und hatte monatelang mit badangiertem Arm
reiten und alle Arbeiten einhändig verrichten müssen. Vorarbeiter
Alonzo Lago hatte Wally Finch gefeuert und sich geweigert, ihn für
ruinierte Pferde zu bezahlen, auch wenn es wilde Mustangs waren,
und hatte ihn zu Fuß nach Montana zurückgeschickt.
»Junge, man kann so fallen, dass man sich nicht
wehtut«, sagte Sink. »Du musst die Arme verschränken, eine Schulter
hochziehen und deinen Kopf ducken. Wenn du hinfällst, drehst du
dich ein bisschen, damit du mit der Schulter auf den Boden triffst,
und dann rollst du dich ab und kommst auf die Füße.« Er wusste
nicht, warum er ihm das erzählte, und sagte mürrisch: »Scheiße
auch, wirst schon sehen.«
Rose und die Kojoten
Es war ein heißer Juli, die Luft summte, das Land
war so trocken wie ein abgewetzter Schafhuf. Die Sonne sog die
Farbe aus allen Dingen, und der Little Weed tröpfelte zwischen
stumpfen Steinen dahin. Einen Monat später würde sogar dieses
Tröpfeln von den heißen Steinen im Fluss aufgesogen sein, das Gras
weiß gebleicht, und Prediger würden um Regen beten. In der Hütte,
in der es so heiß war wie in einer schwarzen Hutschachtel, konnte
Rose nicht mehr schlafen. Einmal trug sie ihr Kissen zu der breiten
Türschwelle und legte sich auf den kühlen Stein, bis die Moskitos
sie in das Haus zurücktrieben.
Eines Morgens erwachte sie erschöpft und
verschwitzt und ging zum Little Weed in der Hoffnung auf
nachtkühles Wasser. Im Süden ballte sich eine dunkle Wolke, und
erleichtert hörte Rose fernes Donnergrollen. Vorausschauend stellte
sie den großen Kessel und zwei Eimer für das Regenwasser draußen
auf. Der Wind, der das Unwetter ankündigte, schüttelte Äste und
Zweige und riss die Blätter entzwei. Das Gras beugte sich zur
Seite. Auf dem Gipfel von Barrel Mountain tanzten Blitze, und dann
verschwand die Landschaft in dem klirrenden und dröhnenden Schauer
eines Hagelsturms. Rose lief in die Hütte und schaute zu, wie die
Hagelkörner auf die Felsbrocken im Fluss trafen und sich dann in
einen Platzregen verwandelten. In der Gischt des steigenden Wassers
verschwanden die Felsen. Der Regen endete fast so schnell, wie er
begonnen hatte, ein paar vereinzelte Hagelkörner fielen, und ein
doppelter Regenbogen vor der abziehenden Wolke versprach alles.
Rose’ Eimer waren voll frischem Wasser mit einer Decke von
Hagelkörnern. Sie entkleidete sich und goss sich immer wieder
eiskaltes Wasser über den Kopf, bis ein Eimer fast geleert war und
sie vor Kälte zitterte. Die Hitze war gewichen, und es war so kühl
und frisch wie im September. Gegen Mitternacht begann es wieder zu
regnen, langsam und gleichmäßig. Im Halbschlaf hörte sie, wie der
Regen auf die Schwelle tropfte.
Am nächsten Morgen war es kalt und eisig, und ihr
Rücken schmerzte; sie wünschte, die Sommerhitze wäre wieder da. Sie
schwankte beim Gehen und konnte sich nicht dazu überwinden, Kaffee
zu machen. Sie trank Wasser und betrachtete die Eisnadeln, die an
der Fensterscheibe hinunterglitten. Später am Vormittag wurden die
Rückenschmerzen schlimmer und nahmen eine beharrliche
Gleichförmigkeit an. Ganz langsam wurde ihr klar, dass das Baby
nicht bis September warten würde. Am Nachmittag waren die
Rückenschmerzen eine Pythonschlange, die sie umklammerte, und sie
konnte nichts tun als keuchen und stöhnen; das unentwegte Prasseln
des Regens übertönte ihre schwachen Hilferufe. Sie wand sich aus
ihrem beengenden Kleid und zog ihr ältestes Nachthemd an. Die
Schmerzen steigerten sich zu Wellen unerträglicher Krämpfe, nach
denen sie um Luft rang, immer wieder, während der Tag in die Nacht
verschwand, der Regen vom Wind fortgewirbelt wurde und die Stunden
erstickender Dunkelheit ihr unendlich vorkamen. Ein neuer Morgen
dämmerte, klebrig vor neuer Hitze, doch ihre geschundenen Lenden
konnten das Kind noch immer nicht gebären. Am vierten Nachmittag
hatte sie keine Stimme mehr, nachdem sie ununterbrochen Archie,
ihre Mutter,Tom Ackler und Tom Acklers Katze gerufen hatte, sie
alle miteinander mit lauten Schreien verwünscht hatte und dann
Gott, alle Götter, und danach die Enten im Fluss und das Wiesel,
und plötzlich lockerte der Python seine Umklammerung, glitt von dem
blutigen Bett und ließ Rose zurück, die in einem blauvioletten
Nebel abwärts trudelte.
Es schien später Nachmittag zu sein. Rose war wie
an das Bett geschmiedet; bei der leisesten Bewegung spürte sie
einen heißen Schwall und wusste, dass es Blut war. Sie stützte sich
auf die Ellbogen und sah das verklumpte Kind, grau und steif, die
Schlinge der Nabelschnur und die Nachgeburt. Sie weinte nicht; von
archaischem Zorn erfüllt, trennte sie den winzigen Leichnam ab,
kniete sich auf den Boden, ohne sich darum zu kümmern, dass heißes
Blut aus ihr rann, und wickelte den Säugling in das Bettlaken, das
bereits steif wurde. Das Bündel war eine ungefüge Masse, und auch
den Verlust des Lakens empfand sie als Tragödie. Als sie sich
aufrichten wollte, floss das Blut in Strömen, doch sie musste das
Kind begraben, um das Grauen dieser Geburt zu beenden. Sie kroch
zum Küchenschrank, nahm ein Geschirrtuch heraus und wickelte es zu
einem kleineren Bündel um das Kind. Ihre Hand berührte den
Silberlöffel, den ihre Mutter ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, und
sie steckte ihn in den Halsausschnitt ihres Nachthemds, wo das
kühle Metall sich wie Balsam anfühlte.
Sie hielt den Knoten des Bündels mit den Zähnen
gepackt und kroch zur Tür hinaus, bis zu dem sandigen Boden nahe
dem Fluss, wo sie, immer noch auf allen vieren und blutend, mit dem
Silberlöffel eine flache Grube aushob, in die sie das Kind legte;
dann bedeckte sie es mit Sand und häufte darauf so viele Steine aus
dem Fluss, wie in Reichweite lagen. Sie brauchte über eine Stunde,
um ihrer blutigen Spur zu der Hütte zurück zu folgen, und als sie
die Schwelle erreichte, herrschte tiefe Dämmerung.
Das blutige Laken lag zusammengebauscht auf dem
Boden, die nackte Matratze wies einen dunklen Fleck mit den
Umrissen Südamerikas auf. Rose lag auf dem Fußboden, denn das Bett
war meilenweit entfernt, eine Klippe, die nur Vögel erreichen
konnten. Alles schien abwechselnd zu schwellen und zu schrumpfen,
das zuckende Bein des Betts, ein dumpfiger Lappen, der über den
Rand der Spülschüssel hing, sogar die Zimmerwand blähte sich nach
innen, der Stuhl flog wie verhext durch die Luft - alles bewegte
sich im Rhythmus ihres heißen, pochenden Blutes. Barrel Mountain
brachte die Dunkelheit und presste seine Masse gegen das Fenster,
und Eulen flogen krachend hindurch mit Schwingen wie Eisenstangen.
Während sie sich in der letzten Stunde durch den zähen Sirup des
Unterbewusstseins mühte, hörte sie draußen die Kojoten, und sie
wusste, was sie dort taten.
Als die Nächte im September abkühlten, wurde
Archie nervös, ging so oft wie möglich in die Stadt und suchte die
Post auf, doch man sah ihn nie Briefe oder Päckchen mitbringen.
Sink und Archie wurden von Alonzo Lago beauftragt, einzelne
abgelegene Täler zu überprüfen, angeblich um nach abtrünnigen alten
Kühen zu suchen, die zu verschlagen, und nach ungebärdigen Kälbern,
die zu jung waren, als dass sie sich beim Roundup erwischen lassen
würden.
»Was ist los mit dir?«, fragte Sink, als sie
aufbrachen, doch der Junge schüttelte den Kopf. Eine halbe Stunde
später öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen, wandte den
Blick von Sink ab und zuckte leicht die Schultern.
»Du hast was auf dem Herzen«, sagte Sink. »Mein
Gott, raus damit. Oder kennst du mich auf einmal nicht mehr? Hast
du etwa nicht gewusst, dass wir mit den Brandzeichen rummachen
sollen? Bist du seit neuestem Moralapostel geworden?«
Archie sah sich um.
»Ich bin verheiratet«, sagte er. »Sie kriegt ein
Baby. Schon bald.«
»Ach, du Scheiße! Wie alt bist du?«
»Siebzehn. Alt genug für das, was war und was sein
muss. Wie alt bist du überhaupt?«
»Zweiunddreißig. Alt genug, um dein Daddy zu sein.«
Sie schwiegen eine halbe Stunde lang, dann fing Sink wieder an. »Du
weißt, dass der alte Karok keine verheirateten Burschen behält.
Wenn er das rauskriegt, setzt er dich an die Luft.«
»Von mir kriegt er nichts raus. Und ich verdiene
mehr als am Little Weed. Aber ich muss einen Weg finden, wie Rose
mir Bescheid sagen kann.«
»Ich bin kein Kindermädchen.«
»Weiß ich.«
»Ein Glück.« Saudummer Junge, dachte er; sein Leben
war jetzt schon so schwierig, dass er es nicht meistern konnte;
aber laut sagte er: »Also ich würde mich nie im Leben von einem
nichtsnutzigen Weibsbild einfangen lassen.«
In der Woche darauf ging die halbe Mannschaft in
die Stadt, und Archie verbrachte eine ganze Stunde auf der Bank vor
der Post damit, auf braunes Packpapier etwas zu schreiben, und
adressierte die verunstaltete Botschaft an Rose in der
Postkutschenstation, denn er dachte, dort halte sie sich auf.Was
ist mit dem Baby?, schrieb er. Ist er geboren? Aber in der Post
erfuhr er von dem glasäugigen Beamten mit Fingernägeln wie gelben
Sticheln, dass die Gebühren erhöht worden seien.
»Zum ersten Mal seit hundert Jahren. Kostet jetzt
zwei Cent, einen Brief zu schicken«, sagte der Beamte und grinste
schadenfroh. Archie, der nur einen Cent hatte, zerriss seinen Brief
und warf die Fetzen auf die Straße. Der Wind verteilte sie in der
Prärie, und seine Kälte kündigte einen strengen Winter an.
Rose’ Eltern, die Mealors, zogen auf der Suche
nach Remedur für Mrs. Mealors Siechtum im November nach
Omaha.
»Meinst du, du kannst lange genug nüchtern bleiben,
um hinzureiten und Rosie und Archie zu sagen, dass wir wegziehen?«,
flüsterte die Kranke Sundown zu.
»Immer sachte, ich reite los, sobald ich den
zweiten Stiefel finde. Mach dir keine Sorgen, das kriege ich schon
hin.«
Eine ganze Flasche Whiskey half ihm bis zur Furt
über den Fluss. Berauscht und benommen ritt er zu der kleinen Hütte
am Fluss, die er ohne Lebenszeichen und mit geschlossener Tür
vorfand. Hin und her schwankend und mit dem Gefühl, als schlitterte
die Landschaft um ihn herum, rief er ein paarmal, doch er konnte
nicht vom Pferd steigen, und er wusste, dass es auch gar keinen
Sinn hatte abzusteigen, weil er nie wieder hinaufgekommen
wäre.
»Schluss, zurück!«, sagte er zu Old Slope, und das
Pferd machte kehrt.
»Sie sind nicht da«, berichtete er seiner Frau.
»Nicht da.«
»Wo sollen sie sein? Hast du ihnen einen Zettel auf
den Tisch gelegt?«
»Hab nicht dran gedacht. Waren sowieso nicht
da.«
»Ich schreibe ihr aus Omaha«, flüsterte sie.
Keine Woche nach ihrer Abreise kam als Nachfolger
Buck Roy mit seiner dickleibigen Frau und einem Stall voll Kinder.
Die Mealors, die es nicht einmal fertiggebracht hatten, auf dem
Friedhof der Station begraben zu werden, wurden vergessen.
Karoks Vieh suchte seinesgleichen, wenn es ums
Streunen ging, und unter den Ranchern hieß es, dass es schon
verblüffend sei, wo man überall auf seine Kühe stoßen konnte. Der
Dezember war scheußlich, ein Sturm nach dem anderen fuhr herein wie
eine Handvoll zornig geworfene Pokerchips, und der Januar war so
kalt, dass die Vögel in der Luft erfroren. Vorarbeiter Alonzo Lago
schickte Archie allein auf die Suche nach möglichst vielen
verirrten Rindern in eine Senke, wo der Boden im Juni sumpfig war,
um diese Jahreszeit jedoch aus zahllosen tiefen Löchern und
gewundenen Rinnsalen bestand, die eine glatte Schneedecke
verbarg.
»Halt die Augen auf nach Tätowierkünstlern von der
Wing Cross Ranch. Am besten nimmst du selber ein paar Stöcke und
ein Brandeisen mit.« Archie begriff, dass er nach Wing-Cross-Vieh
Ausschau halten und die Brandzeichen fälschen sollte. Da die
Wing-Cross-Leute sich in dieser Hinsicht auch keinen Zwang antaten,
dachte er sich, dass es nur ausgleichende Gerechtigkeit wäre.
Das Pferd scheute vor dem sumpfigen Labyrinth
zurück. Es war einer der typischen warmen Tage zwischen zwei
Stürmen, und der Schnee war weich. Archie stieg ab und führte sein
Pferd, hielt sich am Rand des Sumpfs und watete stundenlang durch
nassen Schnee. Die Anstrengung brachte ihn zum Schwitzen. Nur zwei
Kühe ließen sich aus der Senke hinaustreiben, die anderen verzogen
sich in das Dickicht aus Kojoten-Weiden hinter dem Sumpf. Es war
ein Ding der Unmöglichkeit, in diesem trüben, halbvereisten
Universum aus Brackwasser und zertrampeltem Gestrüpp ohne Hilfe
Brandzeichen anzubringen. Archie sah zu, wie die Kühe in einem
Bogen in den Hintergrund verschwanden. Der Wind stieß herab und
brachte kalte Luft mit. Das Wetter schlug um. Als Archie vier
Stunden nach Einbruch der Nacht die Arbeiterunterkunft erreichte,
war das Thermometer auf null Grad gefallen. Seine Stiefel waren
gefroren, ihm war kalt bis ins Mark, und er schlief ein, ohne
gegessen oder mehr als die Stiefel ausgezogen zu haben.
»Mach dich auf die Socken und komm nicht ohne die
Kühe zurück!«, zischte Alonzo Lago ihm zwei Stunden später ins
Gesicht. »Steh auf und mach, dass du fortkommst! Wird’s bald! Mr.
Karok will die Kühe haben.«
»Scheißkurze Nächte auf dieser Scheißranch«,
brummte Archie und zog seine nassen Stiefel an.
Als er den Sumpf erreichte, machte sich das erste
Licht bemerkbar wie graue Politur auf der kalten Welt; die Luft war
so unbewegt, dass Archie das winzige Wölkchen Atemluft eines Finken
auf einem Weidenzweig sehen konnte. Unter der Eiskruste schwamm
schwabbeliger Schnee. Archies neues Pferd war Poco, der keine
Sümpfe kannte. Poco stolperte voran, strauchelte, als er in eine
unsichtbare Doline trat, und riss Archie tief mit hinein. Schnee
rutschte ihm in den Kragen, in die Ärmel, in die Stiefel, füllte
Augen, Nase und Ohren und verklebte seine Haare. Beim Aufstehen
trat Poco auf seinen Hut und stampfte ihn in den Schlamm. Seine
Körperwärme schmolz den Schnee, und als er in den Sattel
zurückkletterte, gefror der Wind, der mit dem blassen Sonnenlicht
aufgekommen war, seine Kleidung zu Eis. Es gelang ihm irgendwie,
acht verirrte Wing-Cross-Kühe aus dem Sumpf zu jagen und auf festen
Boden zu bugsieren, doch seine Streichhölzer ließen sich nicht
entzünden, und während er sich damit abmühte, Feuer zu machen,
rannten die Kühe davon. Er konnte sich kaum noch rühren, und als er
zu der Unterkunft zurückkam, war er im Sattel festgefroren und zwei
Männer mussten ihn vom Pferd holen. Er hörte Stoff zerreißen.
Sink dachte bei sich, dass der Junge eine Menge
Mumm hatte, und während er brummte, er sei kein Kindermädchen, zog
er ihm die vereisten Stiefel aus, knöpfte Jacke und Hemd auf,
schleppte ihn zu seiner Pritsche und holte zwei heiße Steine unter
dem Ofen hervor, mit denen er aufgewärmt werden sollte. John Tank,
ein Herumtreiber aus Texas, sagte, er habe einen alten Overall, den
Archie haben könne, alt und geflickt, aber noch ganz
brauchbar.
»Scheiße auch, immer noch besser, als im Januar mit
nacktem Arsch draußen rumzureiten.«
Aber am nächsten Morgen konnte Archie nicht
aufstehen, weil ihm sofort schwindelig wurde. Sein Blut kochte,
seine Wangen färbten sich feuerrot, seine Hände brannten vor
Fieber, und rasselnder Husten schüttelte ihn. Sein Kopf schmerzte,
die Unterkunft schaukelte vor und zurück, als säße sie auf Kufen.
Er konnte sich nicht auf den Beinen halten, und sein Atem ging so
keuchend wie der Blasebalg eines Schmieds.
Sink sah ihn an und dachte sich, dass das schwer
nach Lungenentzündung aussah. »Du siehst ganz schön übel aus. Ich
werde Karok Bescheid sagen.«
Als er eine halbe Stunde später wiederkam, brannte
Archie vor Fieber.
»Karok sagt, ich soll dich wegschaffen, aber der
Saukerl rückt den Wagen nicht raus. Sagt, er hätte ein
Krebsgeschwür im Bein und bräuchte den Wagen selber, damit der Doc
im Fort es ihm rausschneiden kann. Lon baut uns eine Art Trage.
Seine Ma hatte Indianer in der Familie, deshalb kennt er sich mit
so was aus. Manchmal ist er ganz okay. Wir bringen dich nach
Cheyenne, dann kannst du mit dem Zug zu deiner Mutter oder zu
deinen Leuten fahren, nach Rawlins oder wohin auch immer. Sagt
Karok. Und er sagt, dass du gefeuert bist. Ich musste sagen, dass
du verheiratet bist, damit er dich weglässt. Er war ganz versessen
darauf, dich in unserer Unterkunft sterben zu lassen. Wir finden
einen Arzt, mach bloß nicht schlapp. Ist nur eine Lungenentzündung.
Hatte ich schon zweimal.«
Archie wollte sagen, dass seine Mutter schon lange
tot war und dass er zu Rose am Little Weed musste, wollte sagen,
dass es von Rawlins bis zu ihrer Hütte mehr als sechzig Meilen
waren, doch er brachte kein Wort heraus, weil der keuchende und
pfeifende Husten ihm die Luft nahm. Sink schüttelte den Kopf und
besorgte sich beim Koch Zwieback und Speck.
Alonzo Lago hatte zwei lange Stangen geglättet und
dazwischen ein Ochsenfell mit Schlingen befestigt. Sink umwickelte
einem Pferd namens Preacher die Beine mit Sackleinwand, damit die
Eiskruste ihnen nichts anhaben konnte, und band die Stangen an
seinem Sattel fest, was ziemlich knifflig war, bis das
Gleichgewicht stimmte. Die dünnen Stangenenden ragten über die
Ohren des Pferds hinaus, doch der Vorarbeiter sagte, das sei
notwendig, weil die anderen Enden schnell abgenutzt würden. Sie
packten Archie mitsamt seinem Schlafsack in eine Decke aus
Büffelfell ein, und Sink begann, ihn die dreißig Meilen südwärts
nach Cheyenne zu schleppen. Mit dem Wagen wäre es ein Kinderspiel
gewesen. Sink fand, dass die Trage keineswegs so praktisch war, wie
die Indianer behaupteten. Der Wind, der über Nacht etwas
nachgelassen hatte, blies wieder heftiger und schob eine luftige
Wolkenwand vor sich her. Nach vier Stunden hatten sie neun Meilen
zurückgelegt. Es begann zu schneien und schneite immer stärker, bis
sie nichts mehr sahen.
»Junge, ich kann nix sehen«, rief Sink. Er hielt
an, stieg ab, ging zu Archie. Anfangs war der Schnee geschmolzen,
sobald er das rotglühende, fiebrige Gesicht berührte, doch nach und
nach hatte sich einen Fingerbreit über der Oberfläche der heißen
Haut die graue Glasur einer Maske aus Eis zu bilden begonnen. Sink
fürchtete, die Maske könnte das wahre Gesicht werden.
»Wir igeln uns besser ein. Irgendwo in der Gegend
gibt es eine Hütte, wenn wir sie finden. Vor ein paar Jahren habe
ich den ganzen Sommer da gewohnt. Unterhalb von einem
Gebirgskamm.«
Preacher, das Pferd, hatte den Sommer damals auch
dort verbracht und ging nun zielstrebig auf die Hütte zu. Sie lag
auf der windgeschützten Seite des Kamms unterhalb des Gipfels. Der
Wind hatte Unmengen Schnee auf das winzige Häuschen geweht, aber
Sink fand die Tür zu dem Anbau, in dem Preacher untergebracht
werden konnte. An der Wand der Box, die er enthielt, lehnte eine
Schaufel mit abgebrochenem Griff. In der Hütte gab es einen Tisch
und einen Stuhl ohne Lehne und eine Pritsche aus Brettern, die
vielleicht einen halben Meter breit war. Auf dem Ofen türmte sich
Schnee, das Ofenrohr lag auf dem Fußboden. Teller und Tasse aus
schadhaftem Email erkannte Sink auf dem Tisch wieder.
Er zerrte Archie in die Hütte und hievte ihn samt
Büffelfell auf die Pritsche; dann setzte er das Ofenrohr zusammen
und schob es durch das Loch im Dach. Weder im Haus noch im Anbau
war ein Stück Feuerholz zu entdecken, doch Sink erinnerte sich an
die Stelle, wo Kleinholz und Reisig gelegen hatten, und mit der
Schaufel ohne Griff kratzte er genug schneeverkrustete Späne
zusammen, um ein Feuer in Gang zu setzen. Während die Späne im Ofen
zischten und dampften, nahm er Preacher den Sattel ab, löste die
Säcke von den Beinen und rieb das Pferd ab. Er suchte den niedrigen
Speicher des Anbaus nach Heu ab, aber ergebnislos.
»Verdammte Scheiße«, sagte er und riss ein paar
Bretter aus dem Speicherboden, um sie in den Ofen zu werfen.
Draußen grub er mit der kaputten Schaufel im Schnee und legte ein
Stück Erde frei; dann nahm er sein Messer und sägte an dem
sonnengedörrten Gras herum, bis er ein paar Handvoll geerntet
hatte.
»Mehr ist nicht drin, Preacher«, sagte er und warf
das Gras dem Pferd hin.
In der Hütte war es fast warm geworden. Aus seiner
Satteltasche nahm Sink eine kleine Handvoll der Kaffeebohnen, die
er immer dabeihatte. Die alte Kaffeemühle hing zwar an der Wand,
aber eine Maus hatte ihr Nest darin gebaut, und es gab kein
Werkzeug, mit dem man die Maschine auseinandernehmen konnte, um sie
zu säubern. Da Sink keine Lust auf heiße Mäusescheiße hatte,
zerdrückte er die Bohnen mit dem flachen Messer auf der
Tischplatte. Mit dem Blick suchte er nach der Kaffeekanne, die zu
der Hütte gehörte, konnte sie aber nicht entdecken. Neben der
Pritsche stand ein leerer Petroleumkanister. Sink schnüffelte
daran, konnte keine üblen Gerüche ausmachen, füllte Schnee hinein
und stellte ihn auf den heißen Ofen. Während er draußen mit dem
Kanister Schnee gesammelt hatte, war eine Ecke des Kanisters
dröhnend gegen die Kaffeekanne getroffen, die aus unerfindlichen
Gründen vor dem Haus lag. Sink füllte sie ebenfalls mit Schnee. Er
hatte den Eindruck, dass der letzte Bewohner der Hütte ziemlich
sauer gewesen sein musste und seiner Wut auf Karok Luft gemacht
hatte, indem er mit Kaffeekannen um sich warf und das ganze
Feuerholz aufbrauchte. Vielleicht ein Wing-Cross-Cowboy.
Der Kaffee war heiß und schwarz, doch als Sink
Archie die Tasse brachte, trank der Junge einen Schluck, hustete
und erbrach den Kaffee. Sink trank den restlichen Kaffee allein und
aß einen Zwieback.
Es war eine schlimme Nacht. Die Pritsche war zu
eng, und der Junge war so heiß und zappelig, dass Sink immer wieder
einschlief und aufwachte, bis er schließlich aufstand und auf dem
Stuhl schlief, den Kopf auf der Tischplatte. Im Verlauf dieser
Nacht fielen ein gewaltiger Blizzard und tödliche Kälte von der
kanadischen Prärie ein, und als das Wetter zwölf Tage später
umschlug, waren die Herden dezimiert, Kühe dutzendweise an
Stacheldrahtzäunen erstarrt, Gabelantilopen zu Statuen vereist,
Züge drei Wochen lang durch meterhohe Schneewehen aufgehalten und
zwei Kuhhüter in einer Hütte zusammen in einem Büffelfell
erfroren.
Erst im Mai ritt Tom Ackler aus Texas zurück, wo
er Herbst und Winter verbracht hatte. Trotz des kraftvollen
Sonnenscheins lag der Schnee um seine Hütte noch hoch. An
schneefreien Stellen sprießte helles Grün, durchsetzt von
Distelnestern. Er fragte sich, ob Gold Dust den Winter überlebt
hatte. Katzenspuren waren nicht zu sehen. Er zündete ein Feuer an,
das er mit einer alten Zeitung entfachte, die auf dem Tisch lag;
kurz bevor die Flammen aufloderten, sah er ein paar mit Bleistift
gekritzelte Wörter und die Unterschrift »Arch McLaverty«.
»Zu spät. Ich reite morgen hin und seh nach, wie es
ihnen geht.« Dann packte er seine Satteltaschen aus und zerrte
seine Decken aus dem Sack, der von einem Deckenbalken hing, damit
die Mäuse nicht herankamen.
Am Morgen stolzierte Gold Dust zwischen den Bäumen
hervor; ihr Fell war dicht. Tom ließ sie herein und warf ihr ein
leckeres Stück Speck hin.
»Dir scheint es ja prächtig zu gehen«, sagte er.
Die Katze schnüffelte nur an dem Speck, ging zur Tür, und als er
sie öffnete, lief sie in den Wald zurück. »Hat sich wahrscheinlich
mit einem Luchs zusammengetan«, sagte er, »und jagt jetzt selber.«
Gegen Mittag sattelte er sein Pferd und machte sich auf den Weg zur
Hütte der McLavertys.
Aus dem Schornstein stieg kein Rauch. Vor dem
Holzstoß lag ein Schneehaufen.Tom Ackler fiel auf, dass nur wenig
Holz verbraucht worden war. Überall waren Wieselfährten zu sehen
und führten bis unters Dach. Offensichtlich hatte das Wiesel den
Weg ins Haus gefunden. »Sicher gemütlicher als ein Holzstoß.« Als
er die Spuren näher betrachtete, sprang das Wiesel plötzlich aus
einem Loch in der Dachrinne und sah ihn an. Es war weißer als der
schmutzige Schnee, und sein Schwanz mit der schwarzen Spitze
zuckte. Ein so großes und schönes Wiesel, mit glänzenden Augen und
seidigem Fell, hatte er nie zuvor gesehen. Er dachte an seine Katze
und sagte sich, wie gut doch wilde Tiere den Winter überstanden.
Als er überlegte, ob Gold Dust mit einem Luchs Junge bekommen
konnte, fiel ihm ein, dass Rose ein Kind erwartet hatte. »Sind
wahrscheinlich zu der Station zurückgegangen.« Dennoch öffnete er
die Tür, blickte in die Hütte und rief: »Rose? Archie?« Was er sah,
ließ ihn im Galopp zur Postkutschenstation jagen.
Auf der Station herrschte regelrechter Aufruhr;
alle waren auf der staubigen Straße vor dem Haus der Dorgans, wo
Mrs. Dorgan weinte, Queeda mit offenem Mund dastand und Robert F.
Dorgan seine Frau beschimpfte und beschuldigte, ihn mit einem
menschlichen Wrack betrogen zu haben. Fast niemand beachtete Tom
Ackler, als er auf seinem schweißnassen Pferd angeprescht kam und
rief, Rose McLaverty sei von den Utes vergewaltigt und ermordet und
verstümmelt worden, irgendwann im Winter, Genaueres wisse er nicht.
Nur Mrs. Buck Roy, die Ehefrau des neuen Frachtkutschers, die sich
vor Indianern fürchtete, hörte ihm zu. Die Dorgans brüllten sich
weiter an.Was sie beschäftigte, war der Selbstmord des alten
Telegrafisten, der an diesem Morgen Lauge getrunken hatte, nachdem
er wochenlang an einem Brief von vierhundert Seiten an Robert
Dorgan geschrieben hatte, in dem er seine hoffnungslose Verehrung
für Mrs. Dorgan ausdrückte und dessen zerknitterte Blätter
ausgiebige Anspielungen auf »elfenbeinerne Schenkel«, »Adams und
Evas Tanz«, »ihren verborgenen Schlitz« und dergleichen mehr
enthielten. Was Tom Ackler für einen alten Sattel und einen Stapel
Getreidesäcke auf der Veranda gehalten hatte, war der Tote.
»Kein Rauch ohne Feuer!«, belferte Robert F.
Dorgan. »Das ist der Dank dafür, dass ich dich aus diesem Puff in
Omaha geholt und zu einer anständigen Frau gemacht und dir jeden
Wunsch von den Augen abgelesen habe, du verkommenes Miststück! Wie
oft bist du zu ihm rübergeschlichen? Wie oft hast du dir seinen
verpickelten alten Schwanz reinstecken lassen?«
»Niemals! Nicht im Traum! Dieses dreckige alte
Scheusal!«, schluchzte Mrs. Dorgan, außer sich vor Zorn, weil
dieser niederträchtige alte Kerl sie zum Gegenstand seiner
Aufmerksamkeit auserkoren und die Dreistigkeit besessen hatte,
seine lüsternen Phantasien als wahre Begebenheiten zu Papier zu
bringen, angereichert mit der detaillierten Schilderung ihres rosa
durchschossenen Hemdchens und des roten Mals an ihrer linken
Hinterbacke, bevor er zuerst das ganze Telegrafenbüro mit schwarzem
Blut vollgekotzt hatte und danach die Veranda der Dorgans, wohin er
sich geschleppt hatte, um zu sterben, das vierhundertseitige Bündel
Lügen in sein Hemd gestopft. Seit Jahren hatte sie sich bemüht, zu
einer ehrbaren Vertreterin des weiblichen Geschlechts aufzusteigen,
denn sie war Robert F. Dorgan dankbar, dass er sie von der
wirtschaftlichen Ausbeutung ihrer Sexualität erlöst hatte, und sie
war entschlossen, diese Vergangenheit zu vergessen.Wenn Dorgan sie
jetzt fortjagte, würde sie wieder auf den Strich gehen müssen, denn
das war das einzige Gewerbe, das sie kannte. Und womöglich auch
Queeda, die sie zur Dame erzogen hatte! Ihr Selbstwertgefühl war
schwer angeschlagen, doch dann flammte es auf wie mit Kerosin
getränkt und entzündet.
»Du elende alte Schnapsnase«, sagte sie heiser,
»wie kommst du dazu, dir einzubilden, du hättest ein Recht auf eine
schöne Frau und eine schöne Tochter? Wie kommst du auf die Idee,
dass wir bei dir bleiben würden? Schau dich doch an - du willst
Inspektor werden, aber wenn Queeda und ich nicht wären, dann würden
die Männer mit politischem Einfluss einen großen Bogen um dich
machen und du könntest sehen, wo du bleibst.«
Dorgan wusste, wie recht sie hatte, und kaute
wütend auf seinem ungepflegten Schnurrbart herum. Er drehte sich
um, stapfte theatralisch in sein Haus und schlug die Tür mit einem
so lauten Knall zu, dass die Mäuse im Keller tot umfielen. Mrs.
Dorgan hatte den Sieg davongetragen und folgte ihrem Mann ins Haus,
um sich mit ihm zu versöhnen.
Tom Ackler sah Queeda an, die mit der Spitze ihres
Glacélederstiefels einen Halbkreis in den Staub malte. Aus dem Haus
hörten sie das Klappern einer Ofentür - Mrs. Dorgan machte Feuer,
um Salon und Schlafzimmer zu wärmen.
»Rose McLaverty …«, sagte er, aber Queeda zuckte
nur die Achseln. Ein Windstoß wirbelte den Staub zu einer
Miniaturwindhose auf, die es in Form und Beschaffenheit mit jedem
Tornado aus finsteren Wolken aufnehmen konnte und sich Strohhalme,
Pferdehaare, winzige Glimmerpartikel und eine Feder einverleibte.
Dann fiel der Staubsturm zusammen und erstarb. Queeda wandte sich
ab und ging zur schattigen Rückseite des Hauses der Dorgans. Tom
Ackler stand mit den Zügeln in der Hand da, und dann stieg er
wieder auf sein Pferd und ritt zurück, wobei sein Reittier eine
Gangart wählte, die man bei einem Menschen als Schlendern
bezeichnet hätte.
Auf dem Rückweg dachte er an den Whiskey in seinem
Schrank und dann an Rose, und er beschloss, sich abends zu
betrinken und sie am nächsten Tag zu begraben. Mehr konnte er nicht
für sie tun. Er dachte auch, dass sie vielleicht nicht von Utes
ermordet worden war, sondern von ihrem jungen Ehemann in einem
Anfall besinnungsloser Wut und dass Archie danach in irgendeine
ferne Hafenstadt geflohen war. Er erinnerte sich an die verbrannte
Zeitung mit Archies Botschaft, die in Flammen aufgegangen war,
bevor er sie entziffern konnte, und überlegte sich, dass Archie
wohl kaum bei seinem Nachbarn vorbeischauen würde, um eine
signierte Botschaft zu hinterlassen, nachdem er seine junge Frau im
Affekt erschlagen hatte. Es sei denn, es handelte sich um ein
Bekenntnis. Man würde nie erfahren können, was vorgefallen war. Je
länger er an Archie dachte, desto deutlicher erinnerte er sich an
die klare, harte Stimme und die Lieder. Er dachte an Gold Dusts
ungezähmte Vitalität und dichtes Fell, an das geschmeidige Wiesel
vor der Hütte der McLavertys. Die einen lebten und die anderen
starben, so war das eben.
Er begrub Rose vor der Hütte; als Grabstein
richtete er den großen Sandstein auf, den Archie als Schwelle
herbeigeschleppt hatte. Er wollte ihren Namen einmeißeln, schob es
jedoch so lange hinaus, bis der erste Schnee fiel. Dann war es zu
spät, denn da musste er sich nach Taos aufmachen.
Als er im Frühjahr darauf an der Hütte der
McLavertys vorbeiritt, sah er, dass der Frost den Stein umgekippt
hatte und dass der Firstbalken des Dachs unter den Schneemassen
gebrochen war. Er ritt weiter, sang: »… wenn das Gras grünt und die
wilde Rose blüht«, eines von Archies Liedern, und er fragte sich,
ob Gold Dust auch diesen Winter überstanden hatte.