Kapitel 7
Wachwher, in den finstren Gängen,
Bewahr mich vor des Todes Fängen.
Führe sicher mich zu Tage,
Dass niemand meinen Tod beklage.
Im Dazwischen befindet man sich nur so lange, wie es dauert, um dreimal zu husten«, klärte M'tal seine Passagiere auf, während er ihnen half, auf den Rücken des Bronzedrachens Gaminth zu klettern.
»Dreimal husten?«, wiederholte Natalon. Er hüstelte probehalber. »So etwa?«
Kindan war froh, dass der Steiger die Frage stellte. Er selbst wäre dazu viel zu schüchtern gewesen.
»Und in Anbetracht der besonderen Umstände dauerte es nicht länger?«, vergewisserte sich Meister Zist mit einem sonderbaren Ausdruck in den Augen.
M'tal schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es ist im Nu vorüber. Wir werden rechtzeitig vor Ablauf der vereinbarten Frist eintreffen.«
»Ich begreife nicht, wie das möglich sein soll«, knurrte Natalon.
»Ach«, erwiderte M'tal obenhin und schmunzelte in sich hinein. »Ein Drache ist schneller, als man denkt.«
***
Als alle auf Gaminths breitem Rücken Platz genommen hatten, prüfte M'tal ein letztes Mal, ob seine Passagiere auch sicher saßen, ehe er seinem Drachen zurief: »Es kann losgehen, Gaminth!«
Der riesige Drache sprang in die Luft, schwebte im Gleitflug auf das Camp zu und gewann dann mit wuchtigen Schwingenschlägen an Höhe.
In gemächlichem Tempo kreiste der Drache am Himmel, wobei jede Drehung ihn höher schraubte. Meister Zist wusste, dass Gaminth wesentlich schneller fliegen konnte. Früher, vor vielen Planetenumläufen, hatte M'tal nur zu gern mit den Fähigkeiten seines Drachen geprahlt und ihn zu den rasantesten Flugkünsten animiert. Meister Zist nahm an, dass er sich nur mit Rücksicht auf seine Passagiere so viel Zeit ließ. Er spähte über die Schulter und warf einen Blick auf Kindan. Der Junge hatte vor Begeisterung die Augen weit aufgerissen und grinste von einem Ohr zum anderen. Kindan hatte eindeutig keine Angst; Natalon hingegen war ziemlich blass um die Nasenspitze.
M'tal drehte sich zu ihnen um. »Wir gehen jetzt ins Dazwischen. Seid ihr bereit?«
»Ich verstehe immer noch nicht, wieso wir rechtzeitig zum Vertragsabschluss mit Aleesa zusammentreffen, mein Lord«, nörgelte Natalon mit allen Anzeichen von Nervosität.
M'tal setzte ein unergründliches Lächeln auf. »Hab Vertrauen, es wird alles gut gehen«, antwortete er. »Die Nachwirkungen dieser Blitzreise werden zwar etwas anstrengender sein als bei den üblichen Flügen mit einem Drachen, aber das ist nun mal der Preis für Pünktlichkeit.«
Natalon schluckte krampfhaft und nickte nachdrücklich.
M'tal fasste dies als Zeichen des Einverständnisses auf. »Gut«, sagte er. »Sind alle bereit für den Sprung?«, wandte er sich an Meister Zist und Kindan. Als die beiden bejahten, gab er ihnen die letzten Instruktionen.
»Holt dreimal tief Luft, und dann haltet den Atem an. Fertig? Es geht los! Eins … zwei … drei …«
Plötzlich wurde es dunkel um sie. Kindan verspürte eine Mischung aus Angst und Aufregung, als er sich vergegenwärtigte, dass er nichts mehr fühlen konnte außer der Gegenwart seiner Mitpassagiere und den Körper des Drachen, auf dem sie saßen.
Er erinnerte sich an M'tals Worte, der gesagt hatte, der Flug durch das Dazwischen dauerte nur so lange, wie man brauchte, um dreimal zu husten. Kindan fing an zu husten. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Fünfmal! Allmählich machte er sich Sorgen.
Wir sind gleich da, hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Vor Überraschung war Kindan wie gelähmt.
Dann erschien ein Licht. Immer mehr Lichter tauchten auf. Sie traten wieder in den Normalraum ein. Als sie im Camp Natalon ins Dazwischen gegangen waren, schien die Mittagssonne vom Himmel. Nun jedoch herrschte Dämmerlicht, durchbrochen von vereinzelten hell funkelnden Punkten, die wild umeinander kreisend auf sie zugerast kamen. Endlich begriff Kindan, dass sie sich in einem steilen Sinkflug befanden. In seinem Überschwang stieß er einen lauten Jubelruf aus. Sie waren angekommen - einen Tag früher, als sie abgeflogen waren.
»Das ist die richtige Einstellung, Junge!«, rief Meister Zist ihm über die Schulter zu.
»Ich glaube, mir wird schlecht!«, stöhnte Natalon und kniff fest die Augen zusammen.
***
»Weißt du, was du zu tun hast?«, wandte sich Aleesa an Kindan.
»Ich glaube schon«, sagte der Junge. Er war müde, und sein ganzer Körper schmerzte, als hätte er einen schlimmen Muskelkater. Seine Gliedmaßen fühlten sich an, als seien sie gestreckt worden. Er fragte sich, ob das mit der Zeitreise in die Vergangenheit zusammenhing oder eine Auswirkung seiner Nervosität war. Doch vor lauter Aufregung dachte er gar nicht daran, jemandem von seinem Unwohlsein zu erzählen.
Aleesa hob skeptisch die Augenbrauen. »Es genügt nicht, wenn du es nur glaubst, mein Kleiner.«
Die Whermeisterin war eine hagere, hoch gewachsene Frau, die Kindan überragte. Sie sprach nur das Nötigste. Kindan merkte, dass Natalon sich von ihr ein wenig eingeschüchtert fühlte.
Um sich zu beruhigen, holte er tief Luf. »Ich verbeuge mich vor der Königin und begebe mich dann zum Gelege. Wenn sie es zulässt, darf ich mir ein Ei aussuchen und es mitnehmen. Danach mache ich vor der Königin eine zweite Verbeugung und verlasse rückwärts gehend die Brutstätte.«
»Hoffentlich ist die Königin dir wohlgesonnen«, warf Natalon ein. »Für Aleesa hängt eine Menge davon ab - ein Kohlevorrat, der für einen ganzen Winter reicht.«
Kindan schluckte trocken.
»Denk daran, dass du zügig voranschreitest. Du darfst nicht trödeln«, ermahnte der Harfner ihn.
»Wenn du die Höhle betrittst«, erklärte Aleesa und deutete auf einen Felsspalt in der senkrecht aufragenden Klippe, »biegst du nach rechts ab.«
Die Öffnung im Gestein war gerade breit genug, dass ein Wachwher hindurchpasste, und gerade mal so hoch, dass Kindan beim Passieren den Kopf nicht einzuziehen brauchte. Als der Junge dem Gang in das Innere des Felsmassivs folgte, merkte er, dass kaum ein Meter geradlinig verlief. Mal stieg der Boden an, dann wieder senkte er sich, und der kurze Tunnel schlängelte sich in engen Kurven.
Kindan wunderte sich, dass die Meisterin Aleesa, die aussah, als litte sie unter der schmerzhaften Gelenkfäule, diese schwierige Strecke, auf der sie bei ihrer Größe wohl kriechen musste, zu bewältigen vermochte. Doch dann fiel ihm ein, dass sie vermutlich viele Helfer hatte, die die täglich anfallende Pflege der Wachwhere übernahmen.
Als er schließlich die dunkle Kaverne mit der Brutstätte erreichte, staunte er, wie angenehm es hier roch. Offenbar legte Aleesa viel Wert auf Sauberkeit. Er räusperte sich und stieß die leisen, zirpenden Laute aus, die sein Vater immer von sich gegeben hatte, wenn er Dasks Stall betrat.
Zu seiner Überraschung vernahm er hinter sich Aleesas Stimme, die seine Begrüßung offenbar hören konnte. »Nun ja, wenigstens weißt du, wie du dich einem Wachwher zu nähern hast.«
Vor ihm öffnete sich ein Augenpaar, und in der dämmrigen Beleuchtung sah er die Königin, aber nicht ihr Gelege. Aleesa hatte von zwölf Eiern gesprochen, und nun musste er die Königin darum bitten, dass sie ihm eines davon überließ. Zwei Leute, die mit dem gleichen Ansinnen gekommen waren, hatte sie bereits abgelehnt.
Kindan fuhr fort, die Königin mit zwitschernden und tschilpenden Lauten zu locken. Er tat es mit Inbrunst und bemühte sich, höflich und drängend zugleich zu klingen. Für ihn hing viel davon ab, dass er Erfolg hatte. Er wollte Natalon beweisen, dass er zum Wher-Führer taugte, und dass das Camp nicht umsonst diese große Menge Kohle zur Verfügung stellte.
Indem Kindan versuchte, sich die Königin geneigt zu machen, wuchs seine Zuversicht. Er wusste mehr über den Umgang mit einem Wachwher, als er gedacht hatte. Vielleicht steckte wirklich ein Körnchen Wahrheit in der Vermutung, dass sich bestimmte Eigenschaften vom Vater auf den Sohn vererben und er der geborene WherFührer war. Und tatsächlich überschlugen sich in seinem Kopf die Ideen - ihm fiel ein, was er in diesem Augenblick tun musste.
Als er der Königin so nahe gekommen war, dass er sie berühren konnte, streckte er die rechte Hand nach ihr aus. Am Handballen befand sich eine winzige, kaum sichtbare Narbe. An der Stelle hatte sein Vater seine Haut eingeritzt, bis Blut herausquoll, und den alten Dask das Blut auflecken lassen.
Kindan änderte die Töne, die er von sich gab, und das hohe Zirpen senkte sich zu einem sanften, ruhigen Trillern. Gleichzeitig hielt er der Königin die Hand unter die Nase. Die Zunge des Tieres schnellte aus dem Maul und beleckte den Handballen. Es war ein angenehmes Gefühl, denn die Zunge war nicht etwa feucht, sondern trocken. Dasks Zunge hatte sich manchmal schleimig angefühlt, und mitunter hatte Kindan sich davor geekelt. Nun steigerte er das Trillern zu einer Tonfolge, die Glück und Dankbarkeit ausdrücken sollte.
Die Königin antwortete mit klickenden Geräuschen, und Kindan wusste, dass ihm die Begrüßung gelungen war. Was käme als Nächstes? Er musste ihr zu verstehen geben, dass er eines ihrer Eier mitnehmen wollte. Sein Vater hatte die Frage nie gestellt, deshalb hatte er keine Ahnung, mit welchen Lauten man dieses Anliegen kundtat. Also improvisierte er und gab ein fragend klingendes Brrr von sich. Seine Brüder hatten sich oft über ihn lustig gemacht, weil er in seiner Aussprache das »r« übertrieben rollte. Nun kam ihm diese Eigenschaft vielleicht zugute.
Obwohl Kindans gesamte Familie davon profitierte, dass der Vater Wher-Führer war, hatte keiner seiner Brüder sich berufen gefühlt, dem Vater nachzueifern.
Nun, wenn er, Kindan, das Ei eines Wachwhers nach Hause brachte, gälte er fortan im Camp als eine Art Held.
Während des Anflugs auf die gewaltige Steilklippe, die Aleesas Festung beherbergte, hatten sich die Männer darüber unterhalten, wie wichtig die Anschaffung eines Wachwhers sei. Es kam darauf, an, ein gesundes Exemplar großzuziehen, und vielleicht selbst welche zu züchten, wenn das erstandene Tier den Ansprüchen des Bergwerksmeisters genügte.
Als Dask jung war, hatte er zwei Gelege gezeugt. Möglicherweise war Aleesa deshalb bereit, jemandem aus Danils Familie das Ei eines Wachwhers zu überlassen, weil sie davon ausgehen konnte, dass das Tier gut behandelt würde.
Während Kindan diese Überlegungen durch den Kopf gingen, pfiff und tirilierte er nach Kräften, in dem Versuch, sich der Königin mitzuteilen. Der Wachwher starrte aus weit geöffneten Augen den Jungen an. Unversehens musste Kindan gähnen, denn von den Anstrengungen der letzten Tage war er immer noch ausgelaugt.
»Entschuldige bitte«, sagte er kleinlaut, denn er fürchtete, er könnte die Königin beleidigt haben. »Aber ich bin sehr müde. Um rechtzeitig hier einzutreffen, mussten wir in der Zeit zurückspringen, und - na ja, offen gestanden habe ich ein bisschen Angst.«
Er verneigte sich vor ihr und erzeugte in seinem Geist das Bild von Gaminth, wie er mit seinen Passagieren auf dem Rücken durch die Zeit sprang.
Die Königin stieß ein überraschtes Zirpen aus, und Kindan gewann den Eindruck, dass sie in seinen Gedanken zu lesen vermochte und das Bild empfing. Den Blick unverwandt auf den Jungen geheftet, hob sie einen Flügel. Kindan stieß einen keuchenden Schrei aus, als er die matt glänzenden Eier sah.
»Ach, sind die schön!«, rief er begeistert. In seinem Eifer wollte er sich über das Gelege beugen, doch im letzten Moment fiel ihm ein, dass die Königin es nicht jedem erlaubte, ihrer Brut zu nahe zu kommen. Rasch zog er seine bereits ausgestreckten Hände wieder zurück.
Dies waren gewiss keine Dracheneier - wenn man sich auf die Lehrballaden, die Kindan hatte auswendig lernen müssen, verlassen durfte. Sie waren nur halb so groß wie die Eier einer Drachenkönigin und wiesen Runzeln auf. Ein Ei war sogar von einer Art Kranz umgeben, der auf der Schale aufsaß wie ein Halsband. »So etwas Herrliches habe ich noch nie gesehen«, wisperte er andächtig.
Vor Schreck wäre er beinahe in das Gelege gefallen, als die Königin mit einem jähen Ruck die Schwinge hochhob und sie nach oben klappte, bis sie ihren Rücken bedeckte. Der Rücken eines Wachwhers war glatt, weil die vorspringenden Höcker fehlten, die den Drachen eigneten. Vermutlich saß man auf einem Wachwher ziemlich bequem, behaglicher zumindest als auf einem Drachen. Falls man überhaupt auf einem Wachwher reiten konnte.
Sein Vater hatte sich gelegentlich auf Dasks Rücken geschwungen, an den Abenden, an denen die Luft so schwer war, dass ein Wachwher mühelos fliegen konnte. Normalerweise blieben diese Kreaturen auf dem Boden, da es für sie zu anstrengend war, sich in die Lüfte zu erheben, vor allen Dingen, wenn sie einen Reiter trugen. Aber Kindan hatte mit eigenen Augen gesehen, dass es möglich war, auf einem Wachwher zu reiten wie auf einem Drachen.
Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, und er merkte, dass die Königin ihre abwehrende Haltung aufgab. Er machte ein fragendes Geräusch, und mit einer Anmut, die Kindan diesem uneleganten, kompakten Geschöpf niemals zugetraut hätte, winkte die Königin mit einer Schwingenspitze und zeigte zuerst auf ihn und dann auf das Gelege.
»Soll das heißen, dass ich mir ein Ei aussuchen darf?«, vergewisserte er sich atemlos. Behutsam streckte er seine Hand aus.
Die Königin leckte die Hand mit ihrer trockenen, rauen Zuge, ehe sie ihm den Kopf zuneigte und dann mit dem Maul auf die Eier wies.
»Das ist zu gütig, meine Wachwherkönigin«, bedankte er sich demütig und gab ein melodiöses Trällern von sich. Er vermochte sein Glück kaum zu fassen.
»Soll ich kommen und dich retten? Brauchst du vielleicht Hilfe?«, rief Aleesa von draußen.
»Sie hat mir ihr Gelege gezeigt«, gab Kindan mit gedämpfter Stimme zurück.
»Das bedeutet, dass sie dir eines ihrer Eier überlässt, junger Mann. Such dir eins aus, verabschiede dich von der Königin und verlass die Brutstätte. Hier warten noch andere Bewerber, die ihr Glück versuchen wollen.«
Bei der Vorstellung, tatsächlich ein Wachwherei mit nach Hause nehmen zu dürfen, schnürte sich Kindans Kehle zusammen. Doch für welches sollte er sich entscheiden? Er zögerte, bis ihm ein Abzählreim für Kinder einfiel. Nun, warum nicht? Mit dem Finger auf die einzelnen Eier des Geleges zeigend, skandierte er:
»Eins, zwei, drei, alt ist nicht neu, neu ist nicht alt, heiß ist nicht kalt, kalt ist nicht heiß, schwarz ist nicht weiß, hier ist nicht dort, du musst jetzt fort!
Eins, zwei, drei, du bist frei, vier, fünf, sechs, du bist weg, sieben, acht, neun, du musst es sein!«
Sein Finger deutete auf das Ei mit dem sonderbar aufgewölbten Kranz. Er umschlang es mit beiden Armen. Es wog mehr, als er gedacht hatte, und es fühlte sich warm an, doch der Sand, der in einer dicken Schicht auf dem Boden der Brutstätte lag, war gleichfalls warm. Die Schale schien ziemlich hart zu sein, so dass er seinen Griff festigte, ohne befürchten zu müssen, den fast ausgereiften Embryo darin zu verletzen. Beladen mit seiner unhandlichen Last tapste er unbeholfen ein paar Schritte zurück. Zum Abschied trällerte er die Tonfolge, die Dankbarkeit ausdrückte.
»Ist etwas passiert?«, rief jemand von draußen.
»Nein, es ist alles in Ordnung«, jubelte Kindan und kroch durch den Felsspalt ins Freie. Das letzte Stück war er auf den Knien gerutscht, und nun packten ihn kräftige Arme und richteten ihn auf.
»Los geht's, jetzt bist du an der Reihe, Losfir«, verkündete Aleesa munter und bedeutete einem gedrungenen, stämmigen Mann, sich durch den Felsspalt zu zwängen. Die Wachwhermeisterin schmunzelte, als sie Kindan ins Auge fasste, und ihre Miene drückte eine Mischung aus Anerkennung und Überraschung aus. »Wie ich sehe, hast du dich für das Ei mit dem Ring entschieden. Eine gute Wahl.«
»Warum? Ist es etwas Besonderes?«, fragte Natalon.
»Allerdings«, betonte Aleesa, ohne sich jedoch zu einer Erklärung herabzulassen. »Du wusstest, wie man mit der Königin spricht, Junge. Das hast du gut gemacht.« Ihr Lächeln zog sich in die Breite, und sie schaute horchend zum Höhleneingang hin, aus dem scharrende und hektische Geräusche drangen. Schadenfroh lachte sie leise in sich hinein. »Dieser Mann hat nicht die geringste Ahnung, wie er sich verhalten soll.« Sie musterte Kindans rechte Hand. »Du warst klug genug, um auf die Königin einzugehen und ihr etwas zu zeigen, das sie milde gestimmt hat.«
»Was denn? Was hast du ihr gezeigt?«, wollte Natalon wissen, der sich ärgerte, weil Aleesa in Rätseln sprach.
»Kindan soll dir alles in Ruhe erzählen. Ich muss mich um die anderen Bewerber kümmern. Du sorgst dafür, dass ich mit der nächsten Handelskarawane, die dieses Weges zieht, die versprochene Kohle bekomme, andernfalls lernst du mich kennen, Natalon. Und nun trollt euch, ihr fangt an, mich zu langweilen.«
Kindan ahnte, dass er diese Bemerkung nicht persönlich nehmen durfte. Er half, das Ei in dem mit Schafsfell gefütterten Beutel zu verstauen, in dem es transportiert werden sollte.
»Wie lange wird es noch dauern, bis der junge Wachwher schlüpft?«, wandte er sich an Aleesa, da er glaubte, er sei zu dieser Frage berechtigt.
Prüfend legte sie eine Hand auf das Ei. »Hmmmm. Innerhalb der nächsten Siebenspanne ist es so weit, würde ich sagen. Vielleicht schon früher. Sobald ich höre, dass die ersten Wachwhere schlüpfen, lasse ich euch durch meinen Trommler Bescheid geben.« Sie streichelte ein paarmal über das Ei, als fiele es ihr schwer, es abzugeben.
»Da wäre noch etwas, das ich unbedingt wissen muss«, sagte Kindan, als Aleesa sich zum Gehen anschickte.
»Ja?«, erwiderte sie und blieb stehen. Ihrer Miene entnahm er, dass sie fand, als künftiger Partner eines Wachwhers sollte er über alles, was die Pflege seines Schützlings betraf, bestens im Bilde sein.
Kindan raffte all seinen Mut zusammen. »Mein Vater zog Dask groß, als ich noch nicht auf der Welt war, deshalb weiß ich nicht, womit man einen jungen Wachwher gleich nach dem Schlüpfen füttert.«
Aleesa hob die Augenbrauen. »Wir probieren immer noch aus, welches Futter einem frisch aus dem Ei geschlüpften Jungwher am besten bekommt. Ein Wachwher ist nicht so gierig und unersättlich wie ein junger Drache, aber wenn man ihnen Fleisch gibt, schlingen sie es hinunter und können an einem Brocken ersticken, wie du weißt.« Sie schaute den Jungen durchbohrend an, und Kindan nickte hastig, als wüsste er tatsächlich, was sie meinte. »Steht dir zu Hause Hafer zur Verfügung?«
Kindan nickte und sah zu Natalon hin, um festzustellen, ob auch er Aleesa zuhörte.
»Schön. Von eurem Metzger besorgst du dir frisches Blut. Du machst einen Haferbrei, indem du die Flocken mit Wasser vermengst, und dann rührst du das Blut hinein. Ich denke, ein halber Eimer als Zusatz dürfte genügen. Wenn du das Blut an einem kühlen Ort aufbewahrst, bleibt es ein paar Tage lang genießbar. In den meisten Camps und Burgen wird ohnehin täglich geschlachtet. Füttere den Wachwher, wann immer er nach Nahrung verlangt, und du darfst ihm auch etwas Leber und Lunge geben. Aber mit Fleisch beginnst du erst, wenn das Tier drei Monate alt ist, weil es dann Backenzähne zum Zerkauen der Brocken hat. Und mit dem Blutbrei machst du so lange weiter, wie der Wher ihn annimmt.«
Kindan bedankte sich für den Rat und beteuerte, er würde dem ihm anvertrauten Wachwher die allerbeste Pflege angedeihen lassen. Danach wandte sich Aleesa den Neuankömmlingen zu, die gleichfalls um das Ei eines Wachwhers ersuchten.
»Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Kindan«, lobte Meister Zist und klopfte ihm auf die Schulter. »Und nun erzähl, wie es war. Wie hast du die Königin so weit bekommen, dass sie dir eines ihrer Jungen überlassen hat?«
»Die Kunst der Schmeichelei hat er gewiss von dir gelernt, Zist«, frotzelte M'tal. »Wie dem auch sei, du hast dich bewährt, Kindan. Jetzt fliegen wir heim, und dann wird gefeiert.«
»Gib Acht, dass wir zum richtigen Zeitpunkt ankommen«, ermahnte Zist den Drachenreiter.
»Das dürfte kein Problem sein«, erwiderte M'tal. »Komm, Junge, steig auf Gaminths Knie und halte dich am Sicherungsgurt fest. Ich geb dir einen Schubs, und du ziehst dich hoch.«
Den Beutel mit dem Ei fest mit einer Hand haltend, schwang sich Kindan auf Gaminths Rücken und ließ sich aufseufzend zwischen den Knochenwülsten nieder. Neugierig blickte er zu dem Felsspalt hinüber, hinter dem die Brutstätte der Wherkönigin lag. Just in diesem Moment stolperte ein Mann heraus, der es ziemlich eilig zu haben schien, als flüchte er vor einer großen Gefahr. Zist machte eine Bemerkung über Leute, die nicht wüssten, wann sie unwillkommen seien, und vor Übermut begann Kindan ausgelassen zu kichern.
»Dieser Mann war wohl nicht in der Lage, die Königin zu becircen«, bemerkte M'tal tocken. »Du kannst stolz auf dich sein, Kindan. Ich freue mich, dass ich dir helfen durfte.«
»Das war erst der Anfang«, fügte Natalon hinzu. »Fühlst du dich der großen Verantwortung gewachsen, Junge?«
»Sir!« Kindan drehte den Kopf und sprach Natalon an, der hinter ihm saß. »Könntest du Ima bitten, mir soviel Blut zu überlassen, wie ich brauche?« Ima war der Jäger und Metzger des Camps. »Und Swanee muss mir den Hafer besorgen.«
»Selbstverständlich bekommst du alles, was du für die Aufzucht des Wachwhers benötigst«, versicherte Natalon. »Außerdem leihe ich dir einen großen Kessel, in dem du den Haferbrei anrühren kannst. Ich bezweifle, ob sich in Meister Zists Haushalt ein Topf findet, der diese Menge fasst.«
Natalon blickte ein wenig betreten drein, als ihm einfiel, dass der Junge nicht länger in seinem Elternhaus wohnte, in dem es Kochgeschirr in allen Größen gegeben haben musste.
»Derweil organisiere ich ein paar Kerzen mit Kräuterduft, um den Gestank zu vertreiben, der beim Zusammenbrauen dieses Blutbreis entstehen wird«, versprach Meister Zist, wobei er das Gesicht verzog, als schnupperte er bereits die verpestete Luft. »Und dass du mir ja darauf achtest, den Brei nicht anbrennen zu lassen.«
»Ich pass schon auf«, beteuerte Kindan und blickte starr nach vorn, als M'tal den Eintritt ins Dazwischen ankündigte.
Als sie zum Camp Natalon zurückkehrten, hatte Kindan das Gefühl, die Zeit habe still gestanden. Dabei musste ihre Mission mehrere Stunden in Anspruch genommen haben. Doch derweil hatte sich kaum etwas verändert; die Loren mit der Kohle schienen sich auf ihrem Weg zur Halde kaum vom Grubenausgang fortbewegt zu haben. Um seine Gedanken zu klären, schüttelte er den Kopf, während der Drache zum Landeanflug überging und behutsam in der Nähe von Dasks alter Behausung auf dem Boden aufsetzte.
Natalon stieß einen unterdrückten Schrei aus, als Gaminths Pranken den Grund berührten. Tarik stürmte aus dem Eingang zur Zeche.
Natalon bedeutete Kindan, er möge als erster absitzen. »Hilf ihm vom Drachen herunter, Tarik«, bat er seinen Onkel.
»Habt ihr das Ei?«, erkundigte sich Tarik, obwohl diese Frage überflüssig war, denn der Beutel, den sich Kindan an einem Gurt über die Schulter geschlungen hatte, zeugte von ihrem Erfolg. Als Kindan ein Bein über Gaminths Rücken schwenkte, hegte er den Verdacht, dass Tarik nicht mit einem glücklichen Ausgang ihrer Reise gerechnet hatte. Doch er half Kindan beim Absitzen, und dabei ging er so vorsichtig zu Werke, als sei der Junge plötzlich zerbrechlich geworden.
Kindan bedankte sich bei Tarik, dann eilte er mit seiner kostbaren Fracht zum Stall des Wachwhers. Er hatte alles sorgfältig vorbereitet und eine dicke Lage Stroh ausgelegt. Heiße Ziegel sollten den Boden warm halten. Sie waren kaum ausgekühlt - was ihn wunderte, doch er war froh, dass er nicht sofort neuen Steine erhitzen und herbeischaffen musste.
Er wählte eine Stelle aus, die ihm am wärmsten erschien, raffte dort das Stroh zu einem Nest zusammen und bettete das Ei hinein. Dann bedeckt er es mit noch mehr warmem Stroh, um den Schutz und die Temperatur des Flügels der Königin zu simulieren.
Zum Schluss nahm er sein Werk in Augenschein und schob die Hand in das Nest. Die Wärme schien ausreichend zu sein. Plötzlich spürte er, wie hungrig er war, obwohl er eine deftige Mahlzeit zu sich genommen hatte, ehe sie zu Aleesa aufbrachen. Rasch ging er nach draußen.
Tarik und Natalon unterhielten sich, derweil Zist und M'tal angeregt miteinander plauderten.
»Komm mit, Kindan, wir schulden M'tal unsere Gastfreundschaft. Reisen macht hungrig. Was meinst du, Junge, könntest du auch einen Happen vertragen?«
Als Kindan eifrig nickte, setzte sich Meister Zist in Bewegung und führte seine Gäste in die Harfnerhütte.