Kapitel 3
Wachwher, Wachwher, halte Wacht,
Beschütz uns in der finstren Nacht!
Und wenn endlich graut der Morgen,
Sind zu Ende deine Sorgen.
Nachdem ein paar Monate vergangen waren, kam es Kindan vor, als hätte sich im Wesentlichen kaum etwas geändert. Er übte immer noch dieselben Pflichten aus. Der Harfner erteilte ihm nach wie vor Unterricht, und Kaylek piesackte ihn, wann immer sich ihm eine Gelegenheit bot. Wenn man ihn nicht für Botengänge heranzog, musste er auf der Hügelkuppe Wache schieben.
Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass doch eine bedeutsame Veränderung eingetreten war. Nun stand er des Morgens als Erster auf und musste das Frühstück für die ganze Familie zubereiten. Sein Vater hatte ihm befohlen, sich in der Morgendämmerung um Dask zu kümmern, und auch diese Aufgabe war neu.
Während der Schulstunden bei Meister Zist bemerkte Kindan nach einer Weile, dass Zenor immer häufiger dem Unterricht fern blieb, doch dafür fand sich Dalor mit schöner Regelmäßigkeit ein. Früher hatte Dalor öfter gefehlt, und da keine offizielle Entschuldigung einging, schien er entweder ein kränkliches Kind zu sein, oder sein Vater ließ ihn ständig für sich arbeiten. In einer Siebenspanne glänzte er mindestens zwei Mal durch Abwesenheit.
Nun jedoch nahm Dalor täglich am Schulunterricht teil, der an sechs Tagen einer Siebenspanne stattfand. Ein Tag war traditionsgemäß frei.
Aber vielleicht hatte hier Meister Zist seine Hand im Spiel. Der Meisterharfner war schon streng, wenn es um die Gesangsausbildung ging, doch im normalen Schulunterricht, wenn allgemeines Wissen vermittelt wurde, verstand er überhaupt keinen Spaß und ließ keinen Fehler durchgehen.
»Sieh dir das an! Dieses Gekrakel sollen Buchstaben sein?«, schimpfte er einmal mit der kleinen Sula. »Und mit dieser schlampigen Schrift möchtest du Backrezepte aufschreiben und sie auch noch mit anderen Leuten tauschen? Was denkst du dir eigentlich dabei?«
Sula hatte den Kopf eingezogen und die Standpauke demütig über sich ergehen lassen. Wie alle wussten, wollte sie eines Tages im Geschäft ihrer Mutter arbeiten, die eine Backstube betrieb.
An einem anderen Tag stauchte Meister Zist den sonst so dreisten Kaylek zu einem Häufchen Elend zusammen. Mit hochrotem Kopf konnte er nur noch kleinlaut stammeln. Als der Harfner ihn Rechenaufgaben lösen ließ, beherrschte er nicht die einfachsten Regeln der Multiplikation. »Kaylek«, fuhr Zist den beschämten Burschen an, »wie willst du berechnen, welches Gewicht ein Stützbalken aushalten muss, wenn du nicht einmal imstande bist, die Größe der Firste* zu ermitteln?«
* First (Hangendes) - »Decke« eines durch bergmännischen Betrieb geschaffenen Raums - Anm. d. Übers.
Dalor wurde nicht etwa besser behandelt, nur weil er der Sohn des Obersteigers war. Doch Kindan fiel auf, dass Meister Zist ihn nicht überforderte. Wenn er vormittags Dalor hart rangenommen hatte und der Junge verunsichert war, bemühte er sich, ihn am Nachmittag wieder aufzubauen.
Nicht zu übersehen war, dass Meister Zist Kindan rücksichtsvoller behandelte als alle anderen Schüler. Als Cristov und Kaylek anfingen, darüber stichelnde Bemerkungen zu machen, wünschte sich Kindan, der Meisterharfner möge genauso ruppig mit ihm umgehen wie mit den übrigen Kindern.
»Wieso hat er nur einen Narren an dir gefressen?«, höhnte Cristov einmal während der Mittagspause. »Bist du sein Liebling, weil du so schön singen kannst?«
»Was anderes kann es ja wohl nicht sein«, entschied Kaylek.
Aber Kindan wusste genau, warum Meister Zist ihn niemals zu hart anfasste. Kurz nachdem Silstra mit Terregar das Camp verlassen hatte, war es erneut zu einem Kräftemessen zwischen Kindan und dem Meister gekommen; der Streit, der zwischen ihnen entbrannte, war genauso heftig gewesen wie der Zusammenprall gleich am ersten Tag ihrer Begegnung.
Und wiederum hatte es keinen eindeutigen Sieger oder Besiegten gegeben, doch Kindan hatte erkannt, dass Meister Zist mit seiner scheinbaren Sturheit und Hartnäckigkeit etwas ganz Bestimmtes bezwecken wollte - seine Schüler sollten ihr Bestes geben, ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen. Vor allen Dingen durften sie keine Angst haben, ihn um Hilfe zu bitten. Kindan begriff, dass ihr Lehrer das Optimale aus seinen Schützlingen herausholen wollte und nahm die Herausforderung an.
Anfangs war es schwer gewesen, doch bald genoss Kindan die Zeit, die er mit dem griesgrämigen Meisterharfner verbrachte. Er merkte, dass es vor allen Dingen auf Diplomatie ankam. Wenn er den richtigen Weg fand, um mit Meister Zist umzugehen, konnte er dessen Strenge ertragen und sich gegen ihn behaupten, ohne gleich als aufsässig abgestempelt zu werden.
Als Kindans elfter Geburtstag näher rückte, war er sogar imstande, mit Kaylek auszukommen. Nachdem Meister Zist ihn unablässig wegen seiner miserablen schulischen Leistungen tadelte, ließ Kaylek sich dazu herab, Kindan um Hilfe zu bitten.
Kalyek war gewitzt genug um einzusehen, dass die Arbeit in einem Bergwerk gefährlich war, und dass man ein fundiertes Fachwissen benötigte, um die Risiken zu minimieren. Also beugte Kaylek seinen Stolz - so weit es ihm möglich war - und ließ sich von seinem jüngeren Bruder Nachhilfeunterricht geben.
Dann kam der Tag, an dem Kaylek zum ersten Mal mit seinem Vater und seinen Brüdern in die Grube einfahren sollte. Kindan staunte nicht schlecht, als Kaylek ihn mitten in der Nacht weckte und ihm einen Becher mit heißem Klah in die Hände drückte.
»Ich dachte mir, du möchtest vielleicht bis zum Schachteingang mitkommen«, erklärte Kaylek ein bisschen verlegen.
Kindan wusste, das dies einem Friedensangebot gleichkam und sprang behände aus dem Bett. »Na klar begleite ich euch«, rief er.
Draußen war es stockfinster. Kayleks Schicht begann nach Einbruch der Dunkelheit und dauerte bis zum Morgengrauen. Man bezeichnete sie als »WachwherSchicht«, denn um diese Zeit waren die nachtaktiven Geschöpfe wach.
Ganz leise, um Jakris und Tofir nicht zu stören, zog Kindan seine Sachen an und folgte Kaylek, der schon in die Küche gegangen war.
»Dass du dabei sein sollst, hat Dad aber nicht gesagt«, gab Dakin zu bedenken, als er Kindan gewahrte.
»Ich komme nur bis zum Eingang mit«, beschwichtigte Kindan seinen Bruder.
Dakin zuckte die Achseln. »Von mir aus«, entgegnete er. »Sis ist auch manchmal mitgekommen.«
»Wo ist Dad?«, fragte Kaylek und sah sich in der Küche um.
»Bei Dask im Stall, wo denn sonst?«, antwortete Jaran, der Zweitälteste Sohn der Familie, in sachlichem Ton.
»Wir gehen zu ihm und fragen ihn, ob wir ihm behilflich sein können«, wandte sich Kaylek an Kindan.
»Passt bloß auf, dass Dask euch nicht beißt«, warnte Kenil. Kaylek machte ein verdutztes Gesicht. Mit fragender Miene wandte er sich an Jaran und Dakin. Beide Jungen nickten bestätigend.
»In letzter Zeit ist er ziemlich gereizt«, erläuterte Dakin. Er furchte die Stirn. »Das gefällt mir überhaupt nicht, und ich weiß, dass sich auch Dad deshalb Sorgen macht.«
»Aber es ist nicht das erste Mal, dass Dask aggressiv wird«, sagte Jaran. Offenbar hatte er sich schon eine geraume Weile mit einem seiner Brüder über dieses Thema unterhalten, doch Kindan bekam nur den letzten Satz mit.
»Auf geht's, Jungs, die Zeit drängt!«, rief Danil von draußen.
Die Jungen stellten ihre Klahbecher in den Spülstein und trotteten zur Tür. Kindan folgte ihnen als Letzter.
Das Grüppchen begab sich zum Eingang der Grube, wo die anderen Kumpel bereits warteten. Zu Kindans Verwunderung befand sich Zenor unter ihnen.
»Sag mal, was machst du denn hier?«, sprach er seinen Freund an.
»Ich fahre mit ein - als Helfer. Mein Vater hat es mir erlaubt«, erwiderte Zenor voller Stolz. Talmaric, der Vater, nickte.
»Aber nur heute, ausnahmsweise«, fügte Zenor hinzu, als er Kindans besorgten Blick auffing. Sofort erhellte sich Kindans Miene.
»Wünsch mir viel Glück«, rief Kaylek Kindan zu, als er sich in die Grube begab.
»Glückauf!«*
* Gruß der Bergleute - Anm. d. Übers.
»Was soll das Gefasel von Glück?«, protestierte Kenil. »Bergleute brauchen kein Glück, sie müssen nur vorsichtig sein und ihre Arbeit verstehen.«
»Wenn du meinst«, murmelte Kaylek.
Die Kumpel betraten den Eingangsschacht, und Kindan lief nach Hause zurück, wo er sich gleich wieder ins Bett legte.
***
Es begann mit einer Totenstille. Die Kinder bemerkten, dass die normalen Geräusche des Bergwerksbetriebs plötzlich verstummten und liefen zum Fenster. Meister Zist, dem nichts Ungewöhnliches aufgefallen war, verstand nicht, wieso seine Schüler plötzlich von ihren Stühlen sprangen und nach draußen starrten. Ihrem Lehrer schenkten sie keinerlei Beachtung mehr.
»Begebt euch sofort wieder auf eure Plätze zurück!«, donnerte Meister Zist. Die erste Unterrichtsstunde dieses Vormittags hatte soeben erst angefangen. Ein Kind drehte sich kurz nach dem aufgebrachten Meister um, ohne jedoch etwas zu sagen.
Zist stieß einen knurrenden Laut aus und stürmte zum Fenster. Notfalls hätte er jeden einzelnen Schüler gepackt und ihn auf seinen Stuhl zurückbefördert. Doch als er ihre angespannten Mienen gewahrt, stutzte er. Er schaute in die Richtung, in die alle wie gebannt blickten, und erkannte, dass dort der nördliche Schacht lag.
»Was ist los?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, antwortete ein Mädchen. »Aber irgendetwas ist passiert.«
»Woher wollt ihr das wissen?«, hakte Meister Zist verblüfft nach.
Eines der Kinder schüttelte den Kopf und legte den Finger an die Lippen, zum Zeichen, Meister Zist möge leiser sprechen. »Fällt dir nichts auf? Es ist viel zu still da draußen.«
Mit einem Mal verdunkelte sich der Morgenhimmel. Meister Zist hob den Blick und sah eine dünne Staubsäule, die über der Hügelkuppe aufstieg, sich langsam herniedersenkte und sich wie eine Wolke über dem See verteilte. Es war kein Rauch, es handelte sich um Kohlenstaub.
»Mein Vater ist da unten!«, weinte ein Kind.
»Und mein Bruder!«
»Psst!«, zischte ein älteres Kind, legte den Kopf schräg und lauschte angestrengt, während es keine Sekunde lang die Staubsäule aus den Augen ließ, die weiterhin aus dem Schacht herausquoll.
»Hat es einen Unfall gegeben?«, wollte Zist wissen. Sein Blick fiel auf Kindan. Der Junge stand wie erstarrt da, Mund und Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
Just in diesem Moment löste jemand den Alarm aus, der allen Bewohnern des Camps Bescheid gab, dass es ein Grubenunglück gegeben hatte. Türen wurden aufgerissen, aufgeregte Menschen stürzten aus ihren Häusern und rannten zum Bergwerkseingang.
Kindans Beine versagten ihren Dienst. Er ließ sich auf die Kante seines Schreibpults plumpsen.
»Sind dein Vater und deine Brüder auch auf dieser Schicht, Kindan?«, erkundigte sich Meister Zist. Kindan schüttelte den Kopf, aber nicht, um diese Frage zu verneinen, sondern um die Lähmung zu überwinden, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
»Ja, Meister Zist. Mein Dad ist Schichtleiter, und heute hat er Dask mitgenommen«, stieß Kindan hervor. »Wir müssen alle hin und sehen, ob wir helfen können«, fügte er hinzu. »Jeder, der zwei gesunde Hände hat, wird gebraucht. Und wenn er nur die Steinbrocken wegschleppt, die einen eingestürzten Stollen versperren.«
Er rutschte wieder von dem Pult herunter und schloss sich den älteren Kindern an, die aus dem Klassenzimmer stürmten und zum Schachteingang hetzten. Während Meister Zist noch überlegte, was er in dieser Situation tun konnte, sah er, wie Natalon sein Haus verließ. Der Obersteiger war noch dabei, seine Jacke überzustreifen, doch er erteilte bereits die ersten Befehle. Offenkundig hatte er die Lage im Griff. Männer und Frauen schleppten die verschiedensten Werkzeuge und Gegenstände an - Spitzhacken, Schaufeln, Körbe, Tragbahren - und eilten zur Grube. Der dünne Schleier aus Kohlenstaub, der anfangs den Himmel verdunkelt hatte, ballte sich nun zu fettig schwarzen Wolken zusammen.
Je näher Kindan der Grube kam, umso schneller lief er. Zum Schluss rannte er, was seine Beine hergaben. Meister Zist sah sich im Klassenzimmer um. Sämtliche älteren Kinder, die kräftig genug waren, um zu helfen, hatten sich davongemacht. Jofri hatte ihn nicht instruiert, welche Pflichten ein Harfner in einer Notsituation wie dieser hatte, doch auf alle Fälle mussten die jüngeren Schüler beschäftigt werden. Im Handumdrehen stellte Meister Zist wieder die Ruhe im Schulzimmer her. Durch das Fenster spähend, sah er eine Gruppe von Bergleuten, die mit Fackeln und Glühkörben ausgerüstet in den Schacht einfuhren.
»Mein Dad ist auf dieser Schicht, Meister Zist. Darf ich auch gehen?«
Das Mädchen war noch keine acht Planetenumläufe alt und sehr schmächtig. Zist konnte sich nicht vorstellen, in welcher Weise die Kleine helfen wollte.
»Wüstest du denn, was du zu tun hast?«, fragte er freundlich.
»Sie kann nicht helfen, dafür ist sie noch viel zu klein«, erklärte einer der Jungen in resolutem Ton. »Ich darf ja auch nicht hin. Man muss mindestens acht sein, wenn man mit anfassen will. Und auf alle Fälle größer und stärker als Sula.«
»Ich kann helfen. Meine Mom hat mir viel beigebracht«, wehrte sich Sula pikiert. »Sis hat meiner Mom gezeigt, wie man Wunden behandelt, und ich habe zugesehen.«
Zist wusste, dass Sulas Mutter eine der Heilerinnen des Camps war. Er ging zu der Kleinen und drückte sie sanft auf ihren Platz zurück. »Ich bin sicher, dass du eine große Hilfe sein wirst, falls es Verletzte gegeben hat. Aber noch wissen wir nicht einmal, was vorgefallen ist. Bis wir mehr erfahren, musst du hier bleiben, Sula.«
Ermutigend tätschelte er ihre schmalen Schultern, dann stellte er sich wieder vor die Klasse und begann mit dem Unterricht. Er hatte beschlossen, den Kindern eine neue Ballade beizubringen. In schweren Zeiten konnte Musik beruhigend und tröstend wirken. Als die Kinder sahen, wie er nach seiner Gitarre griff, hörten sie sofort auf zu schwatzen, setzten sich in aufrechter Haltung hin und schenkten ihrem Lehrer die volle Aufmerksamkeit. Allerdings kamen einige der Schüler nicht umhin, immer wieder einen ängstlichen Blick aus dem Fenster zu riskieren.
Meister Zist sah, wie Natalon und Tarik erregt miteinander diskutierten, derweil Natalon ein paar Männern mit Gesten bedeutete, in die Mine einzufahren. Die Kumpel schleppten Werkzeug mit sich oder schoben Grubenwagen, die dazu dienten, Kohle oder auch taubes Gestein zu befördern.
Vielleicht bedeutete dies, dass ein Stollen eingestürzt war. Aber hatte Kindan nicht gesagt, sein Vater hätte Dask mitgenommen? Häufig waren schlagende Wetter die Ursache für solche Einbrüche, doch angeblich verfügten Wachwhere über einen ausgezeichneten Geruchssinn und spürten Stickluft* viel früher auf, als ein Mensch es je vermocht hätte.
* Mit »Stickluft« bezeichnen die Bergleute Ansammlungen oder Säulen von Grubengas, welches zu Schlagwetterexplosionen führen oder die Menschen, die es einatmen, vergiften kann - Anm. d. Übers.
Meister Zist schlug die ersten Akkorde auf seiner Gitarre an und begann zu singen. Indem er ein fröhliches Lied anstimmte, versuchte er, den Kindern ein wenig von ihrer Angst zu nehmen.
Kaum war es ihm gelungen, die Aufmerksamkeit seiner Schüler zu fesseln, da jaulte erneut die Alarmsirene los, und sämtliche Kinder stürzten ans Fenster.
***
Das Erste, was Kindan sah, als er sich dem Eingang zur Grube näherte, war Dask. Eine eiskalte Hand griff nach seinem Herzen, und er machte sich auf das Schlimmste gefasst. Dask hätte seinen Vater niemals verlassen, es sei denn, dieser hätte dem Wachwher befohlen, sich nach draußen zu begeben, oder das Tier war durch einen Einsturz von seinem menschlichen Partner abgeschnitten worden.
»Wo ist Danil, Dask? Wo ist er?«, rief Kindan im Näherkommen. Der Wachwher hatte an den Flanken Verletzungen davongetragen; aus den tiefen Wunden sickerte ein eitriges Sekret, das jedoch sein Blut war.
Dask blinzelte in dem für ihn schmerzhaften Morgenlicht, machte kehrt und watschelte in die Mine zurück. Kindan folgte ihm.
»Was ist passiert?«, fragte Kindan den Wachwher.
Dask drehte den Kopf in seine Richtung und stieß einen Laut aus, der »Stickluft« bedeutete.
»Warum hast du die Kumpel nicht rechtzeitig gewarnt?«, wollte Kindan wissen.
Dask gab ein ärgerliches Trillern von sich und danach zwitscherte er die Tonfolge für das Wort »schnell«.
»Es ging alles zu schnell?«, vergewisserte sich Kindan. Der Wachwher nickte.
Im Innern der Grube konnte Kindan das Gas riechen; der scharfe, bittere Geschmack legte sich auf seine Zunge und kratzte im Hals. Er bekam einen Hustenanfall. Vermutlich war ein Stollen durch eine Schlagwetterexplosion eingestürzt, und derlei Dinge ereigneten sich mitunter so plötzlich, dass selbst der aufmerksamste Wachwher überrumpelt wurde.
Dask fiel in einen schaukelnden Trott und führte den Rettungstrupp zu der Stelle, an der der Gang durch herabstürzendes Gestein versperrt war. Noch bevor die Männer zu ihm aufschlossen, begann er mit den Klauen zu graben und benutzte seinen massigen Kopf, um losen Felsschutt beiseite zu schieben. Die Kumpel suchten Deckung, um nicht von den umherfliegenden Brocken, die Dasks mächtige Pranken nach hinten schleuderten, getroffen zu werden. Ein beherzter Hauer stellte einen Grubenwagen so auf, dass die meisten Trümmer direkt hineinfielen, derweil sich andere Knappen zu Dask gesellten und ihm beim Graben halfen.
Nun, da die Bergleute wussten, wo sie nach den verschütteten Kameraden zu suchen hatten, versuchte Kindan, den verletzten Wachwher von seiner Arbeit abzuhalten, damit er seine Kräfte nicht völlig verausgabte. Doch Dask ließ sich nicht dazu bewegen, mit dem Buddeln aufzuhören; er grub wie besessen weiter, obwohl er aus vielen Wunden blutete.
Stunden vergingen, derweil Dask unermüdlich den Geröllhaufen in Angriff nahm, und die Kumpel die beiseite geräumten Felstrümmer wegkarrten. Mühsam gruben sie sich einen Gang durch den Schuttkegel.
»Natalon?« In seiner Verzweiflung wandte sich Kindan an den Steiger und zerrte an seinem Arm. »Du musst mir helfen. Ich will Dask an die Oberfläche bringen. Er ist verletzt und verliert zu viel Blut.«
Natalon warf einen Blick auf den Wachwher. »Wir brauchen Dask hier. Offenbar kennt er die genaue Stelle, wo sich die verschütteten Kumpel befinden.«
»Aber er wird verbluten, wenn er sich weiterhin so anstrengt!«, schrie Kindan und krallte die Finger in Natalons Jackenärmel.
»Vielleicht kannst du die Blutungen stillen, Junge, aber du musst ihn hier lassen«, gab Natalon zurück. »Denk daran, dass bei den Verschütteten auch dein Vater ist.«
Kindan rannte aus der Grube und sauste zu der hastig eingerichteten Sanitätsstation. Am Stand der Sonne sah er, dass bereits der Nachmittag herangerückt war.
»Bitte, gib mir etwas Verbandzeug, Margit«, flehte er die Frau an, die für die Sanitätsstation zuständig war.
»Hat man schon Überlebende ausgegraben?«, erkundigte sie sich. Sie machte ein enttäuschtes Gesicht, als Kindan verneinend den Kopf schüttelte. Er wusste, dass Margits Ehemann in derselben Schicht arbeitete wie sein Vater.
»Wozu brauchst du dann das Verbandmaterial, Kindan?«, fragte sie.
»Dask wurde verletzt, als er ein paar Männer nach draußen führte, die sich retten konnten«, erklärte er und zeigte auf drei Kumpel, die gerade von den Heilern des Camps versorgt wurden.
»Du willst, dass ich dir mein gutes Verbandzeug für den Wachwher gebe?«, protestierte sie.
»Wenn Dask verblutet, ehe er deinen Mann findet, ist es deine Schuld!«
»Du bist ein vorlauter, frecher Bengel!«, schimpfte Margit und schlug mit einem Tuch nach ihm, das sie in der Hand hielt. Geschickt wich er aus, schnappte sich zwei Rollen Verbandzeug vom Tisch und flitzte zur Mine zurück. Um ein Haar wäre er gegen einen mit Felsbrocken gefüllten Karren geprallt, der von zwei Männern zum Ausleeren vor den Eingang geschoben wurde.
Als Kindan wieder den eingestürzten Stollen erreichte, war er völlig außer Atem. Im Schein der Glühkörbe sah er das grünliche Sekret, das Dasks Körper bedeckte, doch der Wachwher fuhr fort, sich durch den Gesteinsschutt zu wühlen. Kindan drängte sich dicht an das Tier heran, und dabei hörte er, dass Dask vor Anstrengung und Schwäche keuchte. Als das Tier einmal innehielt, weil ein erneuter Schauer aus Staub und Trümmerstücken von der Decke herabregnete, versuchte Kindan, mit einer Bandage die tiefe Nackenwunde zu verschließen, aus der das Blut bei jeder Bewegung des Wachwhers herausspritzte.
Beruhigende Worte murmelnd, bemühte er sich, Dasks Arbeitstempo zu dämpfen. Die Kreatur wandte ihm den Kopf zu, funkelte ihn mit seinen großen Augen wütend an und gab ein warnendes Zischen von sich. Dann begann der Wachwher mit vermehrtem Eifer zu buddeln, und Blut rann in kleinen Rinnsalen aus den klaffenden Schnitten in der Haut.
»Er muss sofort aufhören, sonst verblutet er!«, schrie Kindan Natalon zu.
In diesem Moment hörten sie Rufe von der anderen Seite des Einsturzes. Diese Lebenszeichen feuerten die Kumpel an, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren. Dask wühlte wie von Sinnen, seine Aktivitäten wurden immer unkontrollierter, und erneut hagelte es von der Firste Steine auf den verzweifelten Kindan. Immer tiefer arbeitete sich der Wachwher in den Tunnel vor.
Laute Schreie ertönten, als seine gewaltigen Pranken das letzte Hindernis beseitigten; nun konnte man die aufmunternden Rufe der befreiten Kumpel deutlich verstehen.
»Lauf zum Eingang zurück, Kindan«, befahl ihm Natalon, »und sag den Männern, sie sollen mit Tragen hierher kommen.«
Kindan wollte nicht von Dasks Seite weichen, aber Natalon zog ihn von dem Wachwher fort und versetzte ihm einen Stoß in den Rücken, der ihn ein paar Meter weit stolpern ließ. Noch vor Erreichen des Mineneingangs brüllte Kindan den gespannt wartenden Helfern die gute Nachricht entgegen, und auch, dass Natalon nach Tragen verlangte. In ihrem Eifer, zu erfahren, wer die Geretteten waren, drängten sich die Männer an Kindan vorbei. Der folgte ihnen in langsamerem Tempo, völlig ausgepumpt und nach Luft schnappend.
Als er die Einsturzstelle wieder erreichte, sah er zu seinem Entsetzen, dass Dask zusammengesunken auf dem Boden des Stollens lag; seine großen Augen schimmerten in einem fiebrigen Glanz. Kindan kniete neben ihm nieder, doch Dask hob nicht einmal den Kopf. Während man den ersten der geretteten Kumpel auf einer Trage ins Freie beförderte, versuchte Kindan die Blutung am Hals zu stillen.
»Ach, Dask, was hast du nur gemacht?«, jammerte Kindan, als er den flatternden Puls des Tieres spürte.
Mit einer sichtlichen Anstrengung krümmte Dask seinen Hals, legte den Kopf auf Kindans Schoß und seufzte traurig. Der Junge kraulte den Wachwher hinter den Ohren und tröstete das sterbende Tier, so gut er es vermochte. Nachdem der treue Dask die verschütteten Bergleute befreit und die Retter an die richtige Stelle geführt hatte, hauchte er sein Leben aus.
Während man einen der verunglückten Kumpel nach dem anderen aus dem Stollen holte und sie auf Tragen an die Oberfläche brachte, hielt Kindan unentwegt Ausschau nach seinem Vater und seinen Brüdern.
Erst als Natalon verkündete, der letzte Überlebende sei nach draußen gebracht worden, gab Kindan die Hoffnung auf.
»Jetzt beginnen wir mit der Bergung der Toten«, fuhr Natalon fort. Er kam zu Kindan und streichelte ihm freundlich übers Haar. »Dein Vater brach sich das Genick, Junge. Und deine Brüder wurden vom herabfallenden Gestein begraben. Noch vor Einbruch der Nacht bringen wir ihre Leichen an die Oberfläche.«
Lange saß Kindan da, den schweren Kopf des toten Wachwhers auf dem Schoß, und kraulte geistesabwesend die langsam in Totenstarre übergehenden Ohren des Tieres. Die Kleidung des Jungen war mit dem grünlichen Blut durchtränkt, doch er achtete nicht darauf. Schließlich kehrte Natalon zu einer letzten Inspektion an die Unglücksstelle zurück.
»Was, du bist immer noch hier, Kindan? Komm mit, es wird gleich dunkel.«
»Aber Dask ist tot, Natalon.«
Der Steiger ging neben dem Knaben in die Hocke und blickte in sein tränenverschmiertes Gesicht. Mit seiner großen, schwieligen Hand wischte er Kindan ein paar Tränen von den mit Kohlenstaub geschwärzten Wagen und strich ihm liebevoll über den Kopf.
»Nicht weit von hier gibt es ein tiefes Loch, in dem wir Dask begraben werden, Kindan. Doch jetzt musst du mit mir kommen. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.«
Natalon ignorierte die Beteuerungen des Knaben, er müsse bei Dask bleiben, packte ihn ohne viel Federlesens und stellte ihn auf die Füße.
»Er fand ein würdiges Ende, Kindan; Dask war ein Prachtexemplar von Wachwher, einer der Besten.«
***
Untröstlich wanderte Kindan zwischen den geretteten Bergleuten hin und her, von denen die meisten Verletzungen davongetragen hatten. Obwohl man ihm unmissverständlich gesagt hatte, dass sein Vater und seine Brüder ums Leben gekommen seien, wollte er die irrationale Hoffnung nicht aufgeben, man könnte sich geirrt haben. Die Kehle vor Kummer wie zugeschnürt, hemmungslos weinend, pilgerte er von einer Trage zur nächsten. Rücksichtslos zwängte er sich an Leuten vorbei und zog sich den Zorn der Frauen zu, die sich um die Verwundeten kümmerten.
Plötzlich hörte er, wie jemand heiser seinen Namen krächzte, und hastig drehte er sich um.
»Zenor!« Mit einer Anwandlung von Scham fiel ihm ein, dass Zenor an diesem Tag ebenfalls mit der verunglückten Schicht in die Grube eingefahren war. In der ungeheuren Hektik und Aufregung hatte er seinen Freund total vergessen. Nun rannte er zu ihm hin. Zenor, der auf einer Trage lag, wies etliche Blessuren auf, und er stand sichtlich unter Schock. Kindan griff nach der Hand, die Zenor ihm entgegenstreckte, und drückte sie fest.
»Hat man sie herausgeholt?«, stammelte Zenor. Ein Blick auf Kindans Gesicht verriet ihm die Antwort. »Lebt mein Vater?« Kindan schüttelte den Kopf. »Und dein Vater?« Als Kindan die Tränen aus den Augen strömten, wusste Zenor Bescheid. »Aber Dask ist nichts passiert, oder? Ich konnte hören, wie er sich zu uns durchgrub.«
Zenor schöpfte tief Atem und schaute Kindan in die Augen. »Er hat mich gerettet, Kindan. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber so war es …«
»Dask war ein guter Wachwher«, würgte Kindan mit tränenerstickter Stimme hervor.
Zenor schüttelte den Kopf. »Ich spreche jetzt nicht von Dask, Kindan. Ich meinte Kaylek. Er und mein Vater zogen mich in eine sichere Nische, als der Stollen einbrach. Und er wusste genau, was er tat. Beide kannten das Risiko. Sie verloren ihr Leben, als sie mich an einen geschützten Ort bugsierten …« Zenors Stimme wurde leiser und verstummte ganz, als er in einen heilsamen Schlaf hinüberdämmerte. Der betäubende Fellis-Saft, den man ihm eingeflößt hatte, begann endlich zu wirken.
Kindan blieb an seiner Seite und hielt seine Hand. Stunden später bemerkte Margit den Jungen, der ausgestreckt im Gras lag und fest schlummerte. Energisch trocknete sie ihre eigenen Tränen, holte eine Decke und breitete sie über Kindan aus.