Kapitel 4
Zum Weinen bin ich zu alt;
Meine schüchterne Stimme verhallt.
Nicht singen kann ich mein trauriges Lied,
Zum Abschied nicht sagen: »Ich hob euch lieb.«
Die Luft war eisig kalt, und der Wind schnitt durch Kindans Kleidung bis auf die Haut. Der Winter verdrängte den Herbst, doch Kindan fand, dass auf dem Friedhof immer eine beißende Kälte herrschte. Die letzten Worte waren gesprochen worden, und die Bewohner der Festung begaben sich wieder in die Haupthalle. Hier fand der traditionelle Leichenschmaus statt, und man ehrte die Verstorbenen mit angemessenen Trinksprüchen. Kindan ließ die Trauergäste vorgehen und verweilte auf dem Friedhof, eine kleine, schmale Gestalt, die verloren an den frisch zugeschütteten Gräbern stand.
Sein Vater hatte nie viel mit ihm geredet. Als das jüngste von neun Kindern war Kindan seinem Dad nie besonders aufgefallen - für ihn war er nur ein Gesicht unter vielen. Und seine älteren Brüder hatten ihn eher mit Herablassung behandelt, ihn als jemanden betrachtet, den sie nach Belieben herumkommandieren konnten. Kindan hatte sich immer ein bisschen vor ihnen gefürchtet - sie kamen ihm nahezu allmächtig vor, auf einer Stufe stehend wie Meister Natalon.
Doch trotz der gefühlsmäßigen Distanz, die zwischen Kindan und seiner Familie herrschte, trug er nun schwer an dem Verlust. Er wünschte sich, er hätte noch ein paar Worte mehr an ihren Gräbern gesprochen oder irgendetwas hergestellt, was ihrem Andenken diente. Jakris hatte eine Schnitzarbeit angefertigt und Tofir malte ein Bild, ehe sie zu ihren Pflegefamilien zogen.
Terra und ihr Ehemann, Riterin, hatten vier eigene Kinder, die allesamt noch sehr klein waren. Sie erklärten sich bereit, Jakris, den ältesten der verwaisten Knaben, bei sich aufzunehmen. Außerdem war Riterin von Beruf Holzschnitzer, und einen jungen Burschen wie Jakris, der sich auf dieses Handwerk verstand, konnten sie in ihrem Haushalt gut gebrauchen.
Tofir kam zu einer Pflegefamilie, die in Burg Crom ansässig war. Dort würde man sein Talent als Zeichner und Maler fördern, und ihm vielleicht sogar eine Ausbildung als Kartograph angedeihen lassen. Leute, die sich auf das Herstellen von Karten und Plänen verstanden, fanden im Bergbau immer eine Anstellung.
»Kindan!«
Kindan drehte sich um. Er sah Dalor, der auf ihn zugerannt kam.
»Vater sagte mir, dass ich dich hier finden könnte. Ich soll dich holen, ehe du dich noch erkältest.«
Kindan nickte ernst und ging mit Dalor ins Camp zurück. Während der letzten Siebenspanne war Dalor dauernd um ihn herumscharwenzelt, und Kindan argwöhnte, Natalon habe dem Buben befohlen, ein Auge auf ihn zu halten. Der Steiger fühlte sich für die Kinder verantwortlich, die Angehörige bei dem Grubenunglück verloren hatten. Kindan hatte nichts dagegen, wenn Dalor sich um ihn kümmerte, er mochte ihn eigentlich recht gut leiden.
Dalor, der vorausgeeilt war, blickte über die Schulter, um sich davon zu überzeugen, ob Kindan ihm auch wirklich folgte. Sein Blick drückte tiefes Mitgefühl aus.
»In der Burg gibt es Glühwein zum Aufwärmen« nur Dalor und seine Familie bezeichneten ihr Wohnhaus als »Burg« - »und Vater hat gesagt, wir dürften davon trinken.«
***
»Neun Tote, man kann es kaum fassen«, sagte Milla zu Jenella, Dalors Mutter, als die Jungen die Küche betraten. »Die meisten Opfer stammten aus ein und derselben Familie - Danil und seine Söhne. Was soll jetzt nur aus dem armen Kindan werden? Die beiden älteren Buben sind in Pflegefamilien untergekommen, und ich begreife nicht, wieso man den Jüngsten nicht auch zu freundlichen Leuten gegeben hat. Es muss doch ein unheimliches Gefühl sein, wenn er jetzt mutterseelenallein in dem leeren Haus schläft.«
Jenella sah die beiden Jungen hereinkommen und hüstelte betont, um Milla ein Zeichen zu geben. Doch Milla, die der Tür den Rücken zukehrte und damit beschäftigt war, einen Teig zu kneten, ignorierte den Wink. »Kriegst du schon wieder Husten, Jenella? Kein Wunder, bei dieser Kälte. Aber du solltest etwas dagegen nehmen, damit die Erkältung nicht schlimmer wird. Und das ausgerechnet jetzt, wo du wieder in der Hoffnung bist.«
Während sie energisch den Teig bearbeitete, schnatterte sie weiter drauflos: »Neun Tote, drei Verletzte, und der arme Zenor beansprucht den Arbeitsplatz seines Vaters im Pütt. Obendrein wird Norla, seine Mutter, überhaupt nicht mit der Situation fertig.« Sie verteilte die Teigmasse in Backformen. »Jetzt fehlt ein Schichtführer - ich frage mich, woher sie einen neuen bekommen, der der Aufgabe gewachsen ist.«
»Dalor, Kindan, meine Güte, ihr seht ja halb erfroren aus«, rief Jenella den Jungen zu, Milla das Wort ab schneidend. »Milla, bist du so lieb und schenkst ihnen etwas von dem Glühwein ein? Ich würd's ja selbst tun, aber im Augenblick fällt mir das Aufstehen ziemlich schwer.«
Jenella war im siebenten Monat schwanger. Kindan wusste, dass sie ihr letztes Baby verloren hatte. In jener Nacht war Silstra bei ihr gewesen, und als sie später nach Hause kam, hatte sie sich in den Schlaf geweint.
»Ach du meine Güte!« Erschrocken drehte Milla sich um. »Es tut mir Leid, Jungs, ich hab euch nicht hereinkommen hören. In dem Schrank dort findet ihr Becher. Bedient euch selbst, ich muß die Kuchenformen in den Backofen schieben.«
»Kein Problem, Milla«, erwiderte Dalor bereitwillig. Er war größer als Kindan und reichte mit Leichtigkeit an die Becher heran. Kindan vergegenwärtigte sich, dass er sich auf einen Schemel hätte stellen müssen, und wieder einmal fuchste es ihn, dass er offenbar im Wachstum zurückgeblieben war. Er war sechs Monate älter als Dalor, jedoch einen Kopf kleiner als er.
Sie füllten die Becher mit dem heißen, gewürzten Wein - durch das Aufkochen hatte sich der meiste Alkohol verflüchtigt, anderenfalls hätten die Jungen ihn nicht trinken dürfen - und suchten sich einen Platz auf der Bank. Dort saßen sie ganz still da, versuchten, möglichst nicht aufzufallen, und hofften, man würde sie eine Weile in Ruhe lassen. Aber im Grunde wussten beide, dass man ihnen schon bald wieder irgendeine Arbeit aufhalsen würde.
»Natalon möchte mit dir sprechen, Kindan«, wandte sich Jenella an ihn. »Er wird gleich jemanden hierher schicken, der dich abholt.«
»Ja, Ma'am …« Dalor rammte ihm seinen Ellbogen in die Rippen und funkelte ihn warnend an, und hastig korrigierte sich Kindan: »Ja, meine Lady.«
Kindan war sich nie sicher gewesen, wie er Dalors Mutter anreden sollte. Verglichen mit seiner Schwester kam sie ihm reichlich unbedarft vor - Sis war so viel tüchtiger als Jenella -, aber wenn Natalon dafür sorgte, dass aus Camp Natalon ein offizielles Bergwerk würde - die Zeche Natalon -, wirkte sich dies automatisch auf Jenellas gesellschaftlichen Rang aus. Dann bekäme sie die gleichen Rechte und Privilegien wie die Gemahlin eines Burgherrn.
Doch um zu beweisen, dass sich eine Förderanlage lohnte, um die Lagerstätten auszubeuten, mussten sie zuerst einmal genügend Kohlenflöze erschließen. Und während der letzten Siebenspanne hatte die Arbeit im Bergwerk geruht, lediglich die Erkundungsteams waren in die Grube eingefahren.
Es war Brauch, hatte Kindan die Erwachsenen sagen hören, dass man nach einem Grubenunglück den Bergbaubetrieb erst wieder aufnahm, wenn sämtliche Opfer geborgen und die Toten bestattet waren.
»Weißt du schon, dass Zenor demnächst in der Schicht meines Vaters arbeiten wird?«, wandte sich Dalor an Kindan. »Jetzt, wo sein Vater nicht mehr lebt, ist er der einzige Verdiener, der die Familie ernähren muss.«
»Und was wird aus seinem Schulunterricht?«, erkundigte sich Kindan.
Dalor sah ihn grübelnd an und zuckte die Achseln. »Vermutlich schmeißt er die Schule ganz. Bei einem so strengen Lehrer wie Meister Zist könnte man ihn glatt darum beneiden.«
»Du hast ja keine Ahnung!«, rief Kindan empört, ohne daran zu denken, wer noch in der Küche saß. Verschämt schielte er zu Dalors Mutter hin, ehe er murmelte: »Entschuldige, Dalor.«
Ehe es zwischen den beiden Jungen zu einem Streit kommen konnte, betrat Meister Zist die Küche. »Kindan, würdest du bitte mit mir kommen?«
Meister Zist führte ihn in den großen Raum, der normalerweise als Klassenzimmer diente. In dem Zimmer standen drei Tische; zwei lange, die man nebeneinander aufgestellt hatte, und davor ein kleiner. An diesem saß für gewöhnlich Meister Zist, mit dem Rücken zum Kamin.
Natalon und Tarik hatten an einem der langen Tische Platz genommen. Der Steiger winkte Meister Zist und Kindan zu sich und bedeutete ihnen, sich ihm gegenüber zu setzen.
»Kindan«, eröffnete Natalon das Gespräch. »Wie man mir sagte, ist es dein Wunsch, bei uns im Camp zu bleiben.«
Kindan nickte. Bis jetzt hatte er noch gar nicht richtig darüber nachgedacht, was dieser Beschluss für ihn bedeutete. Er braucht eine Familie, die ihn bei sich aufnahm. Er hatte die Erwachsenen tuscheln hören, dass es nicht ginge, wenn er ganz allein in dem Cottage wohnte. Ein Blick auf Tarik verriet ihm, wer Anspruch auf dieses Quartier erhob. Jenella würde bald ihr Kind zur Welt bringen, und Kindan konnte es sich gut vorstellen, dass Tarik und seine Familie keine Lust hatten, sich ständig das Geplärre eines Neugeborenen anhören zu müssen.
Kindan verspürte eine Anwandlung von Groll, als er sich vorstellte, dass Tarik in das Häuschen ziehen würde, welches sein Vater für seine Familie gebaut hatte. Doch dann fiel ihm wieder die Frage ein, die ihm auf der Seele brannte, und auf die er unbedingt eine Antwort wollte.
»Sir«, wandte sich Kindan an Natalon, »was haben die Nachforschungen ergeben?«
Natalon schaute Tarik von der Seite her an. Der schien zu erstarren und maß Kindan mit einem strafenden Blick.
»Die Resultate sind nicht eindeutig«, erwiderte Natalon. »Aber das ist nicht ungewöhnlich, wenn man die Ursachen für ein Grubenunglück herauszufinden versucht.«
Kindan drückte den Rücken durch und schickte sich an, Natalon mit weiteren Fragen zu bombardieren. Doch der Steiger hielt eine Hand hoch, zum Zeichen, dass er mit seinen Ausführungen noch nicht fertig war.
»Wir vermuten«, fuhr er fort, »dass die Kumpel das Pech hatten, eine Gesteinsschicht zu bearbeiten, in der der Fels sehr locker saß. Durch den Einsatz von Spitzhacken brach die Firste ein und verschüttete die Männer.«
»Aber in dem Stollen roch es nach Gas«, wandte Kindan ein. »Dask sagte es mir, und sogar ich konnte die Stickluft riechen.«
Natalon und Tarik tauschten Blicke. Tarik schüttelte den Kopf. »Keiner der Männer, mit denen ich sprach, hat etwas von Stickluft erwähnt«, erklärte er.
»Bist du sicher, dass du Dask richtig verstanden hast?«, vergewisserte sich Natalon.
»Angeblich muss man doch jahrelang trainieren, um einen Wachwher zu verstehen«, murrte Tarik. »Und diese Kreatur muss unter starken Schmerzen gelitten haben.«
»Man braucht nicht viel Zeit, um die Laute zu kennen, mit denen ein Wachwher Stickluft anzeigt«, widersprach Kindan. »Diese Tonfolge und alle anderen Signale, die vor einer drohenden Gefahr warnen, habe ich in null Komma nichts gelernt.« Er verschwieg jedoch, dass er seine Kenntnisse über Wachwhere von Silstra hatte, und auch seine Schwester wusste über diese Geschöpfe nicht besonders viel.
Tarik schüttelte den Kopf. »Es gab keine Anzeichen für Funkenschlag, und es brach auch kein Feuer aus.«
»Möglicherweise war es nur eine kleine Gassäule oder eine Blase voller Gas«, mutmaßte Natalon und strich sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn. »Und die Explosion brachte dann den Stollen zum Einsturz.«
»Eine Ansammlung von Grubengas, die Dask nicht rechtzeitig gemeldet hat?«, höhnte Tarik. »Nach Danils Prahlerei zu urteilen, muss man doch annehmen, das ein Wachwher eine geradezu magische Nase hat, der nicht die geringstes Spur von Stickluft entgeht.«
Kindan furchte ärgerlich die Stirn und funkelte Tarik wütend an. Meister Zist, der wohl befürchtete, sein Schützling könnte aus der Rolle fallen, rüstete sich rasch zum Einschreiten. Er fasste nach Kindans Arm und drückte ihn zur Warnung.
»Wenn jemand mit einem Bergeisen* auf eine Methanblase traf und sich ein Funke entzündete, kam es zu einer Explosion, ehe der Wachwher einen Warnlaut von sich geben konnte«, hielt Natalon ihm entgegen.
* Spitzhammer der Bergleute zum Heraushauen und Bearbeiten des Gesteins mit Hilfe des Schlägels. Schlägel und Eisen bilden das bergmännische Wahrzeichen - Anm, d. Übers.
»Siehst du?«, sagte Tarik und blickte triumphierend drein. »Was nützt ein Wachwher, wenn er seine Aufgabe nicht erfüllen kann? Ich finde, wir sollten froh sein, dass das letzte Exemplar krepiert ist. Ohne diese Biester kommen wir mit unserer Arbeit viel schneller voran.«
Natalon klappte den Mund auf und setzte zu einer scharfen Entgegnung an, doch Meister Zist reagierte schneller und schnitt ihm das Wort ab. »Könnten wir vielleicht zum eigentlichen Thema dieser Zusammenkunft kommen?«, fragte er mit schneidender Stimme. »Wir sind hier, um zu beratschlagen, was aus Kindan wird.«
Natalon und Tarik blickten verdutzt drein, als hätten sie den Jungen völlig vergessen.
»Das Cottage ist für ihn allein viel zu groß«, beeilte sich Tarik zu sagen, der seine Gelegenheit gekommen sah, für sich und seine Familie ein neues Quartier zu beanspruchen. »Es gibt jede Menge Leute in diesem Camp, die den Platz besser nutzen könnten.«
»Und dann sind da noch die Erinnerungen«, sagte Meister Zist leise, als spräche er zu sich selbst. »Es ist nicht gut, an einem Ort zu verweilen, der einen an glücklichere Zeiten erinnert.«
»Nun ja …«, hob Natalon bedächtig an.
»Ich könnte mit meiner Familie in das Cottage ziehen«, sagte Tarik in die eintretende Stille hinein. Mit einem Blick auf Natalon fügte er hinzu: »Bei dir stellt sich demnächst Nachwuchs ein, und wenn wir weiterhin bei euch wohnen bleiben, könnte es ziemlich eng werden.«
»Nun ja«, wiederholte Natalon, »wenn Kindan nichts dagegen hat.«
»Die Entscheidung liegt nicht bei ihm«, trumpfte Tarik auf. »Und sowie es wieder Fäden regnet, muss die Hütte ohnehin aufgegeben werden.«
Kindan war empört, wie rücksichtslos Tarik mit ihm umsprang.
»Das beantwortet aber noch nicht die Frage, wo der Junge in Zukunft wohnen soll«, bemerkte Meister Zist, ohne auf Tariks Einwand einzugehen.
»Er kommt halt in eine Pflegefamilie, zu Leuten, die ein zusätzliches Maul stopfen können«, brummte Tarik. »Vielleicht nimmt Norla ihn auf.«
Norla war Zenors Mutter. Kindan mochte sie sehr gern, doch in dieser Familie gab es viele Töchter, mit denen er so recht nichts anzufangen wusste und die ihm eher lästig waren. Aber wenn er bei ihnen lebte, wäre er mit Zenor zusammen, und die Aussicht darauf behagte ihm. Doch dann kam ihm ein ernüchternder Gedanke. Zenor arbeitete jetzt im Bergwerk, während er selbst noch bei Meister Zist zur Schule ging. Von nun an betrachtete man Zenor als einen Erwachsenen und behandelte ihn dementsprechend, er hingegen blieb nach wie vor ein Kind. Dieser Umstand würde die beiden Freunde notgedrungen voneinander entfremden. Nein, vielleicht war es doch keine gute Idee, wenn er zu Norla zöge. Außerdem hatte er keine Lust, der große Bruder von vier kleinen Mädchen zu werden, von denen eines noch Windeln trug.
»Er sollte in eine Familie kommen, die die wenigsten Kinder hat«, meinte Natalon und berief sich damit auf die bewährten Regeln, nach denen man Pflegefamilien aussuchte. »Die Zieheltern müssten Erfahrung im Umgang mit Kindern haben, aber es darf auf keinen Fall geschehen, dass sie ein neues Familienmitglied als Bürde empfinden.«
Er hob den Kopf und sah Meister Zist direkt in die Augen.
Der Harfner setzte sich kerzengerade hin und machte aus seiner Verblüffung kein Hehl. Mit dieser Entwicklung der Ereignisse hatte er eindeutig nicht gerechnet.
Tariks Augen glänzten. »Du würdest für den Jungen viel Verständnis aufbringen, Meister Zist. Denn du hast am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, einen großen Kummer zu haben.«
Meister Zist sah Tarik aus leicht zusammengekniffenen Augen an. Kindan war dem Gespräch mit wachsender Spannung gefolgt, und nun erkannte er ganz deutlich, dass Tarik nicht die geringsten Skrupel kannte, vom Leid anderer Menschen zu profitieren. Er spürte, welche Mühe es Meister Zist kostete, nicht die Beherrschung zu verlieren, und aus Solidarität mit dem Harfner funkelte er Tarik empört an. Der lehnte sich entspannt auf seinem Stuhl zurück, ließ die wütenden Blicke von sich abprallen und lächelte verstohlen.
»Ich weiß nicht, ob …«, sprachen Meister Zist und Kindan gleichzeitig. Beide verstummten und sahen einander verlegen an.
Natalon stand auf, und damit war die Unterredung beendet. »Ich denke, es ist die ideale Lösung, Meister Zist. Kindan, bitte jemanden, deine Sachen und ein Bett in Meister Zists Hütte zu bringen. Du darfst jeden um Hilfe ersuchen, und berufe dich dabei auf mich.«
»Keine Sorge, ich finde schon jemanden, der das Zeug schleppt«, warf Tarik ein, und sein Lächeln zog sich in die Breite. Er hielt es nicht mehr für nötig, seine Zufriedenheit zu verbergen. »Wenn es dir Recht ist, Natalon, dann beginne ich noch heute mit meinem Umzug.«
***
Am Ende halfen Swanee, der Magazinverwalter des Camps, und Ima, der Metzger, Kindans persönliche Habe zu transportieren.
»Wenn man das Bettgestell auseinandernimmt, kann man die einzelnen Teile leicht tragen«, riet Swanee Kindan, der die Matratze zusammenrollte und auf seine Schultern hievte. Der Magazinverwalter klopfte mit der Hand gegen das Gestell. »Das ist gutes Holz«, meinte er anerkennend. »Zuerst trägst du den Lattenrost in dein neues Heim, und dann kommst du den Rest holen.«
Auf Meister Zists Anweisung hin schleppten die Männer zwei Kommoden und eine kleine Kleidertruhe aus Danils Häuschen.
»Deine Schwester wird die beiden Kommoden mit Sicherheit haben wollen, wenn sie erfährt, was sich hier zugetragen hat«, meinte er. »Ich glaube, dass du mit der Truhe auskommst, aber vorerst stellen wir alle drei Möbelstücke in dein Zimmer.«
»Mein Zimmer?«, wiederholte Kindan verdutzt. Noch nie zuvor hatte er ein eigenes Zimmer gehabt, er hatte sich stets einen Raum mit Tofir und Jakris teilen müssen.
»Dachtest du etwa, du würdest in meinem Zimmer schlafen?«, versetzte Meister Zist trocken.
»Dann bringe ich am besten jede Menge Zudecken mit«, dachte Kindan laut nach. Auch wenn es zwischen ihm und den beiden älteren Brüdern ständig zu Zankereien kam, so hatten sie sich doch selbst in den kältesten Nächten gegenseitig gewärmt - sofern sie Kindan nicht die Decken wegnahmen.
»Wenn du einverstanden bist, Kindan«, bemerkte Swanee, nachdem er sich aufmerksam im Cottage umgeschaut hatte, »dann gebe ich die Sachen, die du nicht brauchst, an Bedürftige, die Verwendung dafür hätten. Alles, was nicht benötigt wird, lagere ich ein. Tarik kriegt nichts, der hat selbst mehr als genug.«
Kindan stimmte dem Vorschlag von Herzen zu, und auch Meister Zist nickte beifällig.
»Einen Moment noch«, wandte Meister Zist unvermittelt ein und hob die Hand. Alle blickten ihn an. »Kindan, gibt es hier noch irgendein Teil, das du gern mitnehmen möchtest?«
Kindan dachte kurz nach. »Darf ich mir aussuchen, was ich will?«
»Selbstverständlich«, betonte Meister Zist. »Alles, was dein Herz begehrt.«
»Tja, dann hätte ich gern Mutters alten Tisch, den mit der Klappe und der Musik darin.«
»Musik?« Meister Zist hob eine Augenbraue.
Kindan nickte. »Sie hat sehr an diesem Tisch gehangen, und mein Vater hielt ihn hoch in Ehren, nachdem sie …«
Meister Zist bedeutete ihm, er habe verstanden. »Ima, Swanee, habt ihr den Tisch gesehen?« Beide Männer bejahten. »Gibt es noch etwas, Kindan?«
»Schau dich in aller Ruhe im Haus um, Junge«, riet Swanee. »Wenn dir noch etwas einfällt, nachdem wir die Sachen verteilt haben, könnten wir das Stück selbstverständlich zurückholen, aber das Einfachste wäre, du würdest dich jetzt gleich entscheiden.«
Kindan wanderte durch das gesamte Cottage und nahm alles gründlich in Augenschein. In der Küche blieb er stehen und wandte sich an Meister Zist. »Brauchst du vielleicht irgendwelche Töpfe oder Geschirr?«
Meister Zist schüttelte den Kopf. »Die Küche in meinem Häuschen ist bestens mit allem ausgestattet.«
Kindan schürzte nachdenklich die Lippen. Dann nickte er. »Ich glaube, jetzt habe ich alles, was ich möchte. Das war's dann, Meister Zist.«
Swanee klatschte in seine derben Hände und sah Ima unternehmungslustig an. »Also gut. Wir tragen deine Sachen zu Meister Zists Cottage, und den Rest verteilen wir. Danke, Junge, es gibt hier etliche Familien, die sich über die Gabe freuen werden.«
Kindan nickte stumm. Ihm war zumute, als nähme er ein zweites Mal Abschied von seiner Familie.
***
Nuella lauerte Dalor auf, als er heimkam, und drängte ihn, er müsse ihr alles erzählen.
»Was, Kindan zieht beim Harfner ein?«, rief sie erstaunt, als er geendet hatte.
»Und Onkel Tarik übernimmt Danils Cottage«, wiederholte er mit Nachdruck. Er freute sich, dass sein griesgrämiger Onkel wegzog. Jetzt brauchte er sich nicht länger das ständige Genörgel dieses unleidlichen Querulanten anzuhören. Nuella war entsetzt. »Aber das ist ja schrecklich«, jammerte sie. »Wie soll ich den Harfner besuchen, wenn Kindan bei ihm wohnt?«
Dalor zog die Stirn kraus. »Tja, deine Besuche wirst du wohl einstellen müssen.«
»Dabei wollte Meister Zist mir das Flötespielen beibringen«, klagte sie.
»Du spielst doch bereits die Flöte«, versuchte Dalor seine Schwester zu trösten. »Und zwar sehr gut. Was solltest du noch dazulernen?«
»Ach, Dalor«, flüsterte sie traurig. »Aber jetzt kannst nur du meine Lieder hören.« Sie fühlte sich sehr elend, und am liebsten hätte sie geweint.
»Und Mutter«, berichtigte er sie.
»Dieses Grubenunglück hat Vaters Pläne mit der Zechengründung ziemlich durcheinander gebracht, nicht wahr?«, fragte sie.
Dalor hob die Schultern.
Nuella seufzte. »Ich wünsche mir …« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. Ihr Wunsch blieb unausgesprochen. Nach einer Weile nahm sie ihre Flöte und stimmte eine leise, traurige Melodie an.
***
Kindan war selbst überrascht, als er ein paar Stunden später in seinem eigenen Zimmer saß, auf seinem eigenen Bett, und den Harfner des Camps, Meister Zist, in einem anderen Raum herumwerkeln hörte.
Mehrere Male hatte Meister Zist bei ihm hereingeschaut und gefragt: »Alles in Ordnung, Junge?«
Beim ersten Mal war Kindan vor Schreck wie erstarrt und konnte als Antwort auf die Frage nur stumm nicken.
»Nun, ich habe auch noch eine Menge Dinge zu erledigen«, hatte Meister Zist dann erklärt. »Wenn du Hunger hast, geh in die Küche und bereite dir etwas zu Essen zu. Ich bin in meinem Arbeitszimmer und möchte nicht gestört werden.«
Ein Blick in das Gesicht des Meisters verriet Kindan, dass er gut daran täte, ihn auf jeden Fall in Ruhe zu lassen. Kindan hatte heftig mit dem Kopf genickt, zum Zeichen, das er verstanden hätte, aber kein Wort gesprochen.
»Also gut«, hatte Meister Zist abschließend gesagt. »Richte dich in deinem Zimmer ein, und wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin, essen wir gemeinsam zu Abend.«
Nun hörte Kindan Stimmen, die aus dem Arbeitszimmer des Harfners kamen. Irgendeine junge Person unterhielt sich mit dem Meister. Neugierig geworden, spitzte Kindan die Ohren. Es klang beinahe so, als sei Dalor bei ihm, aber er war sich nicht sicher. Vielleicht gab Meister Zist Dalor Nachhilfeunterricht, damit er den versäumten Lernstoff aufholte.
Kindan fragte sich, ob Dalor möglicherweise bereits von dem Harfnergesellen Jofri privat unterrichtet worden war. Immerhin war er der Sohn des Obersteigers, und er hielt es nicht für ausgeschlossen, dass man ihm eine Sonderbehandlung zukommen ließ. Vielleicht wollten seine Eltern ihn auch nicht dem normalen Schulalltag aussetzen, in dem es häufig recht rau und turbulent zuging.
Alle Kinder im Camp hielten Dalor für etwas kränklich. Aber Kindan konnte sich nicht erinnern, dass Dalor irgendwann einmal wirklich krank gewesen wäre. Doch seine Mutter Jenella hatte viele Kinder geboren, die tot zur Welt kamen oder gleich nach der Niederkunft starben, und eventuell behielt sie Dalor aus lauter Vorsicht und Ängstlichkeit im Haus, wenn sie glaubte, er könnte krank sein.
Kindan stellte sich an die Zimmertür und horchte angespannt. Nein … es war doch nicht Dalors Stimme, die er hörte, obwohl sie der seinen zum Verwechseln ähnlich klang. Er überlegte, ob er die Tür einen Spalt breit öffnen sollte, um besser hören zu können.
Noch während er mit der Idee liebäugelte, fiel eine dritte Stimme ein. Es war der unverwechselbare Bass von Natalon. Der Obersteiger schien sich über etwas geärgert zu haben. Dann hob abermals die junge, helle Stimme an, und auch Meister Zist ließ sein sonores Organ vernehmen.
Aus dem Tonfall und der Art und Weise, wie diskutiert wurde, entnahm Kindan, dass Natalon und diese junge Person gut miteinander bekannt sein mussten. Vielleicht handelte es sich doch um Dalor, überlegte Kindan. Womöglich wollte Natalon nicht, dass Dalor Meister Zist besuchte, weil er dachte, der Junge könnte ihm lästig werden.
Als es ans Verabschieden ging, wurden die Stimmen lauter, dann vernahm Kindan, wie zwei Menschen das Haus verließen. Eine Weile später schritt Meister Zist durch die Diele und klopfte an Kindans Tür.
Der Junge war es nicht gewöhnt, dass man seine Privatsphäre respektierte, und hatte nicht die geringste Ahnung, wie er auf soviel Höflichkeit reagieren sollte.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte Meister Zist, nachdem er eine Zeit lang gewartet hatte.
Schwungvoll riss Kindan die Tür sperrangelweit auf. »Selbstverständlich, Meister Zist.«
Der Meisterharfner betrat das Zimmer und schaute in die Runde. »Hast du alle deine Sachen eingeräumt?«
»Ja. Und noch einmal vielen Dank, dass ich mein eigenes Zimmer haben darf«, antwortete Kindan.
»Keine Ursache«, winkte Meister Zist ab. »Komm mit in die Küche, wir essen jetzt zu Abend.«
Kindan erschnupperte den würzigen Duft von geschmortem Fleisch, ehe er den Kessel auf dem Herd stehen sah. Es war ein Topf, der aus Jenellas Küche stammte. Flink holte er Essgeschirr und Besteck aus dem Schrank und deckte den Tisch.
Meister Zist füllte die Teller mit großzügigen Portionen, und dann begannen sie zu essen. Bei Tisch herrschte ein verlegenes Schweigen. Kindan vertilgte seine Ration in Windeseile und wartete höflich ab, ob der Meister ihn aufforderte, sich einen Nachschlag zu nehmen. Meister Zist hingegen nahm sich viel Zeit mit dem Essen und schien jeden Happen gründlich durchzukauen. Als er endlich fertig war, zappelte Kindan vor lauter Nervosität auf seinem Stuhl.
»Möchtest du einen Nachtisch?«, erkundigte sich Meister Zist.
»Ja, sicher«, begann Kindan zögernd, dann platzte er heraus: »Aber dürfte ich mir vorher noch einen kleinen Nachschlag holen?«
Der Meisterharfner deutete auf den Kessel. »Hier sitzen nur wir beide, Kindan. Nimm dir, soviel du willst.«
Während Kindan seinen Teller bis zum Rand füllte, betrachtete Zist den Jungen mit nachdenklicher Miene. Als er sich dann wieder an den Tisch setzte, sagte er: »Wenn wir allein sind, Kindan, dann darfst du dir immer einen Nachschlag holen. Du brauchst mich nur zu fragen, denn ich lege Wert auf gute Manieren.«
Kindan, der mit vollen Backen kaute, lächelte selig und nickte.
»Du hattest viele Geschwister, die allesamt älter waren als du, nicht wahr?«
Abermals nickte Kindan.
Meister Zist seufzte. »In meiner Familie war ich das älteste Kind. Deshalb kann ich mich schlecht in deine Situation hineinversetzen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass du immer der Letzte warst, der sich eine zweite Portion holen durfte … oder den Nachtisch.«
»Ach, so schlimm war das gar nicht«, erwiderte Kindan. »Sis, meine große Schwester, sorgte schon dafür, dass ich nie hungrig vom Tisch aufstand.« Dann zog er eine Grimasse. »Aber mein Bruder Kaylek versuchte immer, meinen Nachtisch zu stibitzen - das heißt, falls wir einen hatten.« Sein Gesicht nahm einen ernsten, in sich gekehrten Ausdruck an.
»Mit Kaylek kamst du wohl nicht besonders gut aus, nicht wahr?«, hakte Meister Zist freundlich nach.
»Das stimmt«, räumte Kindan ein. »Aber dann er zählte mir mein Freund Zenor, dass Kaylek ihm bei dem Grubenunglück das Leben gerettet hat.« In Kindans Augen schimmerten Tränen. »Zu mir war Kaylek immer gemein, aber er opferte sein Leben, um Zenor zu retten.«
»Solche Dinge sind manchmal schwer zu verstehen«, meinte der Harfner. »Ich habe schon öfter derlei Überraschungen erlebt. Menschen, denen man nie etwas Gutes zutraute, haben sich dann in kritischen Situationen als wahre Helden entpuppt, indem sie selbstlos anderen halfen.«
Kindan nickte.
»Sag mal, Kindan«, fuhr Meister Zist fort, »ist dir überhaupt bewusst, welche Pflichten und Aufgaben ein Harfner erfüllen muss?«
»Ein Harfner gibt Schulunterricht, und bei festlichen Anlässen singt er Lieder. Die meisten Harfner beherrschen mehrere Musikinstrumente.« Erwartungsvoll sah Kindan Meister Zist an, denn er war sich nicht sicher, ob seine Antwort vollständig war.
Der Meister nickte. »Richtig. Aber das ist noch längst nicht alles. Außerdem sammeln die Harfner Informationen und geben sie weiter. Wir dienen als Bewahrer und Hüter von Wissen. Und wir helfen den Heilern.«
»Meine Schwester verstand sich aufs Heilen«, warf Kindan ein.
Zist nickte. »Obendrein versuchen wir, Probleme zu lösen.«
Kindan blickte verständnislos drein. Meister Zist seufzte. »Wir hören jedem zu, der uns etwas zu berichten hat, und wenn wir glauben, dieser Mensch benötigt Hilfe, greifen wir ein.«
Kindan versuchte, sich den Anschein zu geben, als verstünde er das Gesagte. Er hatte seinen Teller leergegessen, und nun lief ihm beim Gedanken an die Nachspeise das Wasser im Mund zusammen. Doch er wusste, dass Meister Zist weitersprechen und nicht eher Ruhe geben würde, bis er glaubte, Kindan hätte begriffen, was er meinte.
Nun deutete der Harfner ein Lächeln an. »Wir werden darauf geschult, gute Beobachter zu sein. Natürlich können wir keine Gedanken lesen, aber mit der Zeit lernt man, aus gewissen Zeichen zu erkennen, wo einen Menschen der Schuh drückt.« Unvermittelt stand er auf, räumte Kindans Teller ab und servierte dann die Leckereien, die die Bäckerin ihnen geschickt hatte.
»Ein Harfner muss nicht nur lernen, Wissen weiterzugeben und für eine musikalische Unterhaltung zu sorgen, sondern er wird auch darin ausgebildet, Menschen zu beobachten und sich ihre Sorgen und Kümmernisse anzuhören«, fuhr der Meister fort, nachdem er in ein Stück Gebäck gebissen hatte.
Kindan nickte nur, weil er mit vollem Mund nicht sprechen konnte.
»Aber da wäre noch etwas!«, ergänzte Meister Zist mit wichtiger Miene. »Ein Harfner wird regelrecht darauf getrimmt, ein Geheimnis für sich zu behalten.«
»Ich kann auch dicht halten«, sagte Kindan eifrig.
Der Harfner hob mahnend den Zeigefinger. »Das ist gut so. Doch nicht jeder schafft es, seine Neugier zu zügeln und nicht zu versuchen, die Geheimnisse anderer Menschen zu lüften. Und falls man dahinterkommt, dass irgendjemand ein Geheimnis hütet, darf man ihn um keinen Preis verraten. Meinst du, das schaffst du auch? Anderen Leuten ihre Geheimnisse zu lassen?«
Kindan setzte eine zweifelnde Miene auf.
»Wir werden ja sehen«, meinte Zist. »Vorerst erwarte ich von dir, dass du nie wieder versuchst, Gespräche zu belauschen, die ich in meinem Arbeitszimmer oder in irgendeinem anderen Raum dieses Hauses führe. Wenn du etwas hörst, worüber du mit mir reden möchtest, kommst du damit zu mir, und wir unterhalten uns. Ich werde entscheiden, ob es ein Geheimnis ist oder nicht. Bist du mit diesem Vorschlag einverstanden?«
Kindan nickte.
»Du bist ein braver Junge.« Meister Zist schluckte den letzten Bissen des Gebäcks herunter, sah, dass Kindan seinen Nachtisch auch aufgegessen hatte und stand vom Tisch auf. »Spül bitte das Geschirr ab und geh früh zu Bett. Du hattest einen anstrengenden Tag. Morgen beginnen wir dann mit deinem Unterricht.«
»Was für ein Unterricht?«, wiederholte Kindan entgeistert.
»Du wirst schon sehen«, beschied ihn der Harfner. »Schließlich hast du noch eine Menge zu lernen, was über den allgemeinen Schulstoff hinausgeht.« Er deutete in die Richtung seines Arbeitszimmers. »Harfner machen sich auch Notizen. Und Jofri hat mir seine Aufzeichnungen überlassen. Darin steht, dass ein bestimmter Sohn des Bergmanns Danil nicht nur eine gute Singstimme hat, sondern sich auch für den Beruf des Harfners interessiert.«
Erstaunt riss Kindan die Augen auf. »Das hat Jofri geschrieben?«
Meister Zist nickte in feierlichem Ernst, doch seine Augen blinzelten fröhlich. »Allerdings«, bestätigte er. »Und nun begib dich hurtig an die Arbeit, und dann ab mit dir ins Bett.«
***
Sein neues Leben kam Kindan viel anstrengender vor als seine alte Existenz. Alles war irgendwie anders, dachte er traurig. Er schob immer noch Wache auf der Bergkuppe, die sich mehrere hundert Meter über dem Eingang zur Grube befand, und von der aus man einen herrlichen Ausblick über das Tal hatte. Obschon die meisten Leute immer nur von ihrem »Tal« sprachen, waren Kindan und Meister Zist dazu übergegangen, diese Senke als »Natalons Tal« zu bezeichnen.
Doch eine bedeutende Veränderung hatte es gegeben. Jetzt war Kindan nicht nur einer von vielen jungen Burschen, die den Aussichtsposten besetzt hielten, sondern er fungierte als Aufsichtsperson, dem alle anderen Jugendlichen, die zum Wachdienst abkommandiert wurden, unterstanden. Wären Jakris oder Tofir im Camp geblieben, wäre ihnen diese Aufgabe zugefallen. Und zu seinem gelinden Schreck musste Kindan feststellen, dass er mittlerweile der älteste Junge im Camp war, der nicht im Pütt arbeitete.
Als Kindan von seinem erhöhten Beobachtungspunkt aus Zenor zum ersten Mal in seinem Grubenzeug* sah, das früher seinem Vater gehört und passend für ihn zurecht geschneidert worden war, empfand er eine seltsame Mischung aus Scham, Respekt und Kummer. Scham, weil er nicht selbst unter Tage ging; Respekt, weil sein bester Freund Zenor die Arbeit eines erwachsenen Mannes verrichtete; und Kummer, weil Zenors neue Tätigkeit ihn immer wieder an das Unglück erinnerte, das nicht nur viele Menschenleben gekostet, sondern auch die Kindheit seines Freundes jählings beendet hatte.
* Bekleidung des Bergmanns - Anm. d. Übers.
Doch bald merkte Kindan, dass die vielen Pflichten, die man ihm aufbürdete, ihm nicht viel Zeit ließen, seinen traurigen Erinnerungen nachzuhängen. Er wusste nicht, ob man ihn mit Absicht so viel beschäftigte, um ihn von seinem Verlust abzulenken, oder ob man im Camp seine Arbeitskraft wirklich so nötig brauchte. Wenn er sich davon überzeugt hatte, dass der Zeitplan für die Wachen eingehalten wurde und Kuriere bereit standen, um eventuelle Eilmeldungen in alle Himmelsrichtungen zu übermitteln, musste er eine Gruppe von Kindern beaufsichtigen. Diese Jungen und Mädchen, zwischen neun und zehn Planetenumläufen alt, halfen dabei, die Äste von den Bäumen zu entfernen, die die Erwachsenen tags zuvor gefällt hatten.
Zenors Mutter, Norla, betätigte sich derweil als Kindergärtnerin, wobei ihr ihre Erfahrung mit ihrer eigenen Nachkommenschaft zugute kam. Ehe die Frauen des Camps zur Feldarbeit loszogen, brachten sie ihr die Kinder, die noch zu klein waren, um sich selbst überlassen zu bleiben. Tag für Tag bestellten die Frauen die im Tal gelegenen Äcker, arbeiteten in den Gärten oder halfen den Männern, das Holz der gefällten Bäume zu Stempeln zu verarbeiten, mit denen man die Gänge in der Grube abstützte.
Der Vorschlag, Norla solle eine Kinderkrippe einrichten, stammte von Meister Zist. Er fand, der jungen Frau, die nur schwer über den Tod ihres Ehemannes hinwegkam, täte es gut, wenn sie eine sinnvolle Beschäftigung hätte, und auf diese Weise konnte sie ihre jüngsten Kinder stets bei sich haben.
Früher hatten sich die Mütter der Reihe nach abgewechselt und die Kinder der Frauen betreut, die gerade einer Arbeit nachgingen, nun übernahm Norla vollständig diese Aufgabe. Frühmorgens brachte man ihr die Kinder, und in ihrem Cottage stapelten sich saubere wie benutzte Windeln. Hin und wieder, wenn eine Frau die Zeit erübrigen konnte, schaute sie bei Norla vorbei, um sich davon zu überzeugen, dass es ihrem Sprössling gut ging. Und die verwitwete Norla hatte ständig Kontakt mit anderen Menschen und lief nicht Gefahr, zu vereinsamen.
Die Kohlenhalde auf der anderen Seite des Tals wuchs beständig, doch ganz ohne Probleme ging dies nicht vonstatten.
Kindan bekam viele Gespräche mit, die des Nachts in der Hütte des Harfners geführt wurden. Die Männer unterhielten sich meistens im Flüsterton, doch im Wesentlichen wusste Kindan, worum es ging. Indes erinnerte er sich an die mahnenden Worte des Harfners und hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das Gehörte weiterzuerzählen.
Mit Ausnahme von Tarik, der demonstrativ fern blieb, suchten nach und nach alle Bergleute des Camps den neuen Harfner auf, um ihm ihren Respekt zu erweisen. Viele von ihnen ließen es nicht bei diesem einen Besuch bewenden, sondern kehrten zurück. Und alle waren besorgt.
»Gewiss, wir fördern reichlich Kohle, aber wie lange noch?«, lautete die allgemeine Klage. »Wenn wir nicht weitere Stollen graben und neue Flöze erschließen, müssen wir anfangen, die Kohlensäulen abzubauen. Oder wir stellen den Grubenbetrieb ganz ein.«
Am nächsten Morgen war Kindan nicht überrascht, als der Meisterharfner ihn aufforderte, ihm zu erklären, was man unter einer Kohlensäule verstand.
»Kohle findet man in Flözen unter der Erde«, hatte Kindan geantwortet. »Darüber liegt das Gebirge, welches einen ungeheuren Druck ausübt. Wenn man eine Lagerstätte erschließt und Hohlräume schafft, lässt man in gewissen Abständen große Säulen aus Kohle stehen, damit die Decke des Stollens nicht einbricht.«
»Aber das ist doch sicher nicht die einzige Möglichkeit, die Gänge zu sichern, oder?«
»Nein«, antwortete Kindan. »Man kann einen Stollen auch mit einem Ausbau aus Holz abstützen und danach die Kohlensäulen abbauen. Wenn eine Lagerstätte nicht besonders groß oder das Vorkommen erschöpft ist, geht man auf diese Weise vor. Aber bei uns dürfte das noch lange nicht der Fall sein, vielleicht erst am Ende des nächsten Vorbeizugs des Roten Sterns …«
»Das wären ja noch mehr als fünfzig Planetenumläufe.« Meister Zist zeigte sich gebührend beeindruckt.
Kindan nickte. »Das Flöz, welches jetzt erschlossen wird, ist über drei Meter mächtig und reicht weit in die Tiefe. Wenn das Camp erst einmal offiziell zur Zeche erklärt sein wird, wollen die Bergleute weiter Schächte abteufen. Dabei gibt es Schächte für den Transport von Menschen und Material, und solche, die für die Bewetterung da sind und die Grubenbaue mit Frischluft versorgen. Vermutlich legt man unterirdische Strecken an, die so breit sind, dass Arbeitstiere die Kohle befördern können. Bis jetzt ziehen Menschen die Grubenwagen oder benutzen Schubkarren zum Transport von Kohle.«
Meister Zist nickte verstehend. »Was weißt du noch über diese Kohlensäulen?«
»Nun ja, wie ich schon sagte, räumt man nicht das ganze Flöz leer, sondern lässt immer wieder Säulen stehen, die verhindern, dass der Druck des Gebirges die Hohlräume zum Einsturz bringt. Wenn man anfängt, diese Säulen abzubauen …«
»Könnte dadurch das gesamte Stollennetz einstürzen, nicht wahr?«, sinnierte Meister Zist.
Kindan nickte heftig mit dem Kopf. »Ganz genau!«
»Dann sollte man sich doch tunlichst hüten, diese Säulen auch nur anzurühren. Oder kannst du dir eine Situation vorstellen, in der es einen Sinn ergäbe, sie anzugreifen?«
Kindan zuckte die Achseln. »Soviel weiß ich auch nicht über Bergbau, Meister Zist«, erwiderte er zögernd.
»Was könnte Bergleute denn veranlassen, so vorzugehen? Überleg mal«, forderte der Harfner ihn auf.
»Nun ja, zwei Möglichkeiten fallen mir ein. Man fördert die Kohle, die sich in den Säulen befindet, wenn man in großer Eile ist und keine neuen Felder erschließen kann. Oder eine Lagerstätte ist ausgebeutet, und man ersetzt die Säulen durch einen hölzernen Ausbau.«
»In beiden Fällen bedeutet das eine baldige Schließung der Grube, nicht wahr?«, meinte der Harfner.
»Ja«, pflichtete Kindan ihm besorgt bei. Er fragte sich, ob man plante, den Bergwerksbetrieb aufzugeben. Was würde dann aus ihm, wenn es das Camp Natalon nicht mehr gäbe?
Meister Zist schien seine Gedanken zu erraten, denn er klopfte Kindan leicht auf die Schulter und sagte in aufmunterndem Ton. »Ein Harfner findet überall Arbeit, mein Junge.« Der alte Mann blickte aus dem Fenster. »Da wir gerade von Arbeit sprechen, für uns beide gibt es viel zu tun. Fangen wir an.«
***
Der Unterricht bei Meister Zist war mit den Schulstunden, die der Harfnergeselle Jofri abgehalten hatte, nicht zu vergleichen. Seit Kindan bei Zist im Hause lebte, befand er sich in einer ganz besonderen Position. Der Junge besaß einen stark ausgeprägten Sinn für Loyalität, deshalb vereidigte er die schroffe Art des Meisters und nahm ihn gegenüber den anderen Kindern in Schutz. Hätte Kindan jedoch noch bei seiner eigenen Familie gewohnt, wäre sein eigensinniger Charakter durchgebrochen und er hätte alles darangesetzt, um die Disziplin in der Klasse zu unterminieren.
Dalor fiel auf, wie sehr sich Kindan für Meister Zist einsetzte, doch er gab dazu keinen Kommentar ab. Cristov bemerkte gleichfalls, dass Kindan ihren Lehrer unterstützte, und er ließ keine Gelegenheit verstreichen, um den Knaben zu hänseln. Tariks Sohn hatte schon immer versucht, die anderen Kinder im Camp zu schikanieren. Nun machte er sich eine besondere Freude daraus, Kindan zu sticheln. Unentwegt betonte er, dass er nun in Kindans Zimmer schliefe, und wie schön es sei, in dessen ehemaligem Zuhause zu wohnen.
Kindan ließ sich diese Häme eine Zeit lang gefallen, ohne sich zu wehren. Bis er eines Tages Cristov begegnete, der die Festung verließ und zum Mittagessen nach Hause eilte. Kindan stellte ihm geschickt ein Bein, und Cristov fiel der Länge nach auf den schlammigen, von Schneematsch durchsetzten Boden.
»Du solltest besser auf deine Füße aufpassen«, riet Kindan dem Burschen, der mit dem Gesicht nach unten im Dreck lag. »Und auf deine Zunge auch.«
Cristov sprang auf die Füße, doch ehe die beiden Jungen aufeinander losgehen konnten, packte eine große Hand Kindan beim Ohr und zerrte ihn in die Festung zurück.
»Ich kümmere mich darum«, grollte Meister Zist mit seinem tiefen Bass. Cristov grinste triumphierend, als er zusah, wie Kindan buchstäblich abgeführt wurde.
»Wisch dir die Schuhe ab«, befahl der Harfner, als sie den Eingang zur Festung erreichten. Kindan gehorchte, weil der schmerzhafte Griff an sein Ohr gar nichts anderes zuließ, und Meister Zist bugsierte ihn ins Klassenzimmer.
»Setz dich hin«, ordnete der Meister an und deutete auf einen Stuhl an einem der langen Tische. Kindan nahm Platz und rieb sich das brennende Ohr.
»Hör auf, an deinem Ohr herumzureiben, du hast die Schmerzen verdient«, donnerte der Harfner. »Und jetzt möchte ich von dir hören, was du falsch gemacht hast, und welche Reaktion richtig gewesen wäre.«
Kindan zog die Stirn kraus und versuchte, nicht an sein schmerzendes Ohr zu denken. »Cristov hat gesagt …«
»Vergiss nicht, dass du bei mir eine Ausbildung zum Harfner bekommst«, unterbrach der Meister seine Tirade. »Von dir erwarte ich, dass du besser mit Worten umgehst als die meisten anderen Menschen. Denn Worte sind später dein Handwerkszeug.«
»Aber …«
Meister Zist hob die Hände, und Kindan verstummte. »Nenne mir drei gute Eigenschaften von Cristov«, forderte der Harfner den Buben auf.
Kindan klappte den Mund zu und dachte angestrengt nach. »Nun ja, er ist stark.«
Meister Zist reckte einen Finger in die Höhe und nickte Kindan ermutigend zu.
»Seine Mutter liebt ihn.«
»Das ist eine gute Eigenschaft der Mutter«, wandte der Meister trocken ein.
»Muss ein angehender Harfner nicht in der Harfnerhalle unterrichtet werden?«, versuchte Kindan das Thema zu wechseln.
»Ein Meisterharfner ist dazu berechtigt, Lehrlinge an jedem beliebigen Ort auszubilden«, erwiderte Zist. »Wenn es an der Zeit ist, Prüfungen abzulegen, schickt er sie zur Harfnerhalle.« Mahnend hielt er Kindan seinen Zeigefinger unter die Nase. »Du bist noch nicht fertig.«
»Hmm, na ja … rechnen kann er nicht … und im Schreiben ist er auch eine Niete …«
»Das sind Fehler, und keine Tugenden«, korrigierte Zist den Jungen und stieß einen Seufzer aus.
»Ich weiß«, wehrte sich Kindan. »Ich denke nur laut nach …«
»Ich sehe schon, so kommen wir nicht weiter«, meinte der Harfner. »Es dauert mir zu lange, und wir beide haben heute noch viel zu tun. Um deiner Phantasie auf die Sprünge zu helfen, habe ich mir Folgendes ausgedacht: Ab jetzt gehst du jeden Abend, nachdem du deine üblichen Pflichten erledigt hast, zu Tarik nach Hause und wäscht dort die schmutzige Kleidung. Das wirst du so lange tun, bist du mir drei gute Eigenschaften von Cristov aufzählen kannst. Außerdem musst du dich bei ihm entschuldigen, weil du ihm ein Bein gestellt hast.«
»Aber … aber …«, stotterte Kindan. »Ich glaube nicht, dass Cristovs Mutter es mir erlaubt, deren Wäsche zu waschen.«
»Sorge dafür, dass sie es dir gestattet«, entgegnete der Harfner mitleidlos. »Wie du es anfängst, ist deine Sache. Aber ich bestehe darauf!«
Kindan verdrehte die Augen.
Meister Zist drohte ihm mit dem erhobenen Zeigefinger. »Wenn du mit diesem Gesicht vor Dara trittst, wird sie dich gleich hinauswerfen. Lass dir also etwas einfallen.« Dann erhob er sich von seinem Stuhl. »Und jetzt lauf los und besorg dir etwas zu essen! Wenn du dich beeilst, ist vielleicht noch etwas übrig.«
»Und was ist mit dir, Meister? Bist du denn gar nicht hungrig?«
Meister Zist drückte die Schultern durch und nahm eine vornehme Pose an. »Ich habe eine Verabredung mit einer jungen Dame, da denkt man nicht ans Essen.« Als er Kindans verdutzte Miene sah, scheuchte er ihn mit raschen Handbewegungen aus dem Zimmer. »Nun mach schon, Junge. Ab mit dir!«
***
Zwei Abende lang schuftete Kindan in Tariks Haus, ehe er herausfand, welche drei Tugenden Cristov besaß. Es waren Ehrlichkeit, Loyalität und Integrität. Kindan mogelte sich in Daras Waschküche, indem er ihr vorflunkerte, er hätte dort früher immer die schmutzige Wäsche gewaschen und verbände damit schöne Erinnerungen. Ob sie wohl so freundlich wäre, ihn ein paar Mal ihre Wasche waschen zu lassen, damit er die guten alten Zeiten wieder aufleben lassen könnte? Als Kindan scheinheilig Dara seinen Wunsch vortrug, hatte sich Cristov vor Lachen gebogen, und Tarik schaute noch grimmiger drein als sonst, doch Dara stimmte zu, nachdem sie Kindan lange mit einem forschenden Blick gemustert hatte.
Erleichtert trug Kindan Meister Zist seine Erkenntnisse vor und war glücklich, als der Harfner ihn von seinen zusätzlichen Pflichten entband.
»Beschreibe mir das Haus«, verlangte Meister Zist danach von ihm.
Kindan begann, die Örtlichkeiten so zu schildern, wie er sie in Erinnerung hatte, doch der Harfner hob die Hand und gebot ihm Einhalt.
»Nein, ich will nicht wissen, wie es ausgesehen hat, als du selbst dort wohntest; ich möchte erfahren, welche Veränderungen sich seit Tariks Einzug ergeben haben.«
Kindan rang nach Worten, musste jedoch passen und schüttelte den Kopf.
»Ein Harfner muss lernen, ein guter Beobachter zu sein«, erklärte der Meister. »Gleichgültig, wohin du gehst, du musst die Augen weit aufsperren und dir alles genau merken.« Auf Meister Zists Fragen hin entsann sich Kindan allmählich an einzelne Dinge, die sich im Haus geändert hatten. Er war überrascht, wie viel er wusste, obwohl er das meiste gar nicht bewusst wahrgenommen hatte.
»Gut gemacht«, sagte Meister Zist schließlich. »Es ist spät geworden. Du solltest zu Bett gehen.«
Kindan setzte eine rebellische Miene auf, doch der Meister erstickte jeden Protest im Keim.
»Morgen Abend versammeln wir uns alle in der Festung«, erklärte er. »Wir feiern das Ende des Winters, und da ich dich als Trommler einsetzen möchte, musst du ausgeschlafen sein.«
Kindan war überrascht. Gleich nachdem er in Meister Zists Cottage gezogen war, hatte der Harfner ihm Unterricht im Trommeln erteilt; aber da sein Lehrer mit Lob geizte, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, er würde ihn öffentlich auftreten lassen.
»Guck nicht so erstaunt«, wies Meister Zist ihn zurecht. »Schließlich kann ich nicht sämtliche Instrumente zugleich spielen. Und jetzt ab mit dir ins Bett! Morgen hast du einen arbeitsreichen Tag vor dir, der auch ohne die Feier am Abend anstrengend genug sein wird.«
***
Am nächsten Morgen war Dalor an der Reihe, den Ausguck auf der Hügelkuppe zu besetzen. Kindan, der von dem Harfner noch vor dem Morgengrauen geweckt worden war, musste die weiteren Wachen einteilen. Nach einem hastig geschlürften Becher Klah - das Frühstück würden sie später einnehmen - marschierte er los. Er wollte sich mit Dalor am Anfang des Pfades treffen, der sich die Bergflanke hinaufzog.
Schnee bedeckte noch den Boden, obwohl es seit einer Siebenspanne nicht mehr geschneit hatte, und die allmählich steigenden Temperaturen hatten die feste Schneedecke in einen weichen Matsch verwandelt. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, setzte Kindan einen Fuß vor den anderen, und er genoss das knirschende Geräusch, wenn seine Stiefel durch die dünne Eiskruste brachen, die sich in der kalten Nacht über dem Schnee gebildet hatte.
Als er an dem vereinbarten Treffpunkt ankam, war von Dalor nichts zu sehen. Kindan wartete ein Weilchen, dann entsann er sich, dass er noch weitere Pflichten hatte, und ging zur Festung.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, da wusste er schon, dass hier etwas nicht stimmte. Die Luft war übersättigt mit einem eigentümlichen Geruch. Er hatte genug über die gefährliche Stickluft gehört, die sich in der Grube sammelte, um zu ahnen, was passiert war. Entweder war der Kamin verstopft, oder irgendetwas anderes hatte dafür gesorgt, dass die giftigen Gase, die beim Verbrennen von Kohle im Ofen entstanden, nicht abziehen konnten und sich im Haus verteilten.
Er musste sich tief hinunter bücken, denn am Boden war die Luft kühler und vielleicht noch atembar; und vor allen Dingen kam es jetzt darauf an, dass er rasch handelte.
»Hilfe, zu Hilfe!«, brüllte er aus voller Kehle. Er fing an, die Tür hin und her zu schwenken, damit die erwürgende Stickluft nach draußen dringen und frische Luft ins Haus ziehen konnte. Doch dieses Maßnahme genügte nicht. Irgendwie musste er Durchzug schaffen. Von der Küchentür hetzte er ums Haus herum zur vorderen Eingangstür, während er die ganze Zeit über um Hilfe schrie.
Sowie er die schwere Eingangstür geöffnet hatte, schwenkte er sie einige Male auf und zu, um die Luftzirkulation zu beschleunigen.
Meister Zist kam angerannt. »Junge, was ist los?«
»Stickluft!«, ächzte Kindan. »Ich roch es, als ich durch die Küche ins Haus ging. Als ich Dalor nicht traf, wollte ich ihn abholen. Ich habe Durchzug gemacht, aber hoffentlich ist es für die Familie nicht schon zu spät.«
»Zu Hilfe! Zu Hilfe!«, röhrte Meister Zist mit seiner weit tragenden Stimme. Aus verschiedenen Richtungen eilten Menschen herbei. Kindan sah sich um. Rasche Hilfe tat not, wenn man die Bewohner der Festung retten wollte. Ohne lange nachzudenken schlüpfte er in die Diele.
»Kindan!«
»Es geht schon«, rief Kindan zurück. »Ich bin klein und brauche nicht so viel Luft wie ein Erwachsener. Wenn ich in die obere Etage gehe, kann ich die Fenster öffnen und die Familie wecken.«
Je höher er die Treppe hinaufstieg, umso verpesteter war die Luft. Er duckte sich und sog ein paar tiefe Züge von der Luft ein, die noch vergleichsweise frisch war. Dann hielt er den Atem an. Jetzt war er froh, dass Kaylek ihn häufig herausgefordert hatte, wer von ihnen am längsten den Atem anhalten konnte. Als er den ersten Treppenabsatz erreichte, brannten seine Augen. Mit bebenden Fingern öffnete er den störrischen Fensterriegel, und als er endlich das Fenster aufstoßen konnte, steckte er den Kopf nach draußen und schöpfte tief Atem. Alsdann suchte er die Schlafzimmer.
Er riss die erstbeste Tür auf, sauste in den Raum und öffnete das Fenster. Nun hörte er, dass andere Leute ihm ins Haus folgten, hastige Schritte polterten die Treppe hoch. In dem Zimmer stand ein Bett, und darin lag jemand; es war Dalor. Kindan schüttelte ihn, bis er die Augen aufschlug und ihn benommen anstarrte.
»Raus aus dem Bett, Dalor. Komm mit mir!«, schrie Kindan ihn an. »Das Haus ist voller Stickluft, du musst sofort nach draußen.« Ohne lange zu fackeln packte er Dalor beim Arm. Doch der war so wackelig auf den Beinen, dass Kindan ihn stützen musste. So schnell es ging, führte er Dalor, der sich schwer gegen ihn lehnte, aus dem Zimmer, wobei er selbst gegen ein Schwindelgefühl ankämpfen musste.
In der Diele traf er zwei Männer. Einer griff sich Dalor und hievte ihn sich über die Schulter. Der andere tat dasselbe mit Kindan, ohne Rücksicht auf dessen Proteste.
Auf einmal war Kindan draußen; er lag rücklings im Schnee und bemühte sich, langsam und tief einzuatmen. Sein Kopf schmerzte.
***
Irgendetwas stimmte nicht. Jemand rief ihren Namen, doch der Rufer schien sich in weiter Ferne zu befinden. »Nuella! Nuella!« Sie erkannte Zenors Stimme. Ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Zenor. Sie mochte ihn sehr gern. Er war ihr Freund. Das erste Kind im Camp, an das sie sich angeschlossen hatte. Ihr einziger Freund. Sie wollte sich bewegen, doch ihre Arme und Beine fühlten sich schwer an, als bestünden sie aus Stein.
»Nuella!« Zenors Stimme klang näher. Wie durch einen dichten Nebel bekam Nuealla mit, dass eine Tür geöffnet wurde, dann spürte sie, wie jemand nach ihr griff und sie schüttelte. Irgendwer holte sie aus dem Bett und zog sie aus dem Zimmer.
»Im Haus ist Stickluft, Nuella - ich muss dich nach draußen bringen«, erklärte Zenor hastig.
Stickluft?, hallte es in Nuellas Kopf nach. Nach draußen bringen? Sie fühlte sich vage beunruhigt, doch sie wollte jetzt nicht nachdenken, dazu war sie viel zu träge und zu schläfrig. Aber sie durfte nicht nach draußen.
»Lass mich hier«, murmelte sie. Doch Zenor, der sie keuchend die Treppe hinunter schleppte, hörte gar nicht, was sie sagte.
***
»Geht es dir gut Junge?«, erkundigte sich Meister Zist, der neben Kindan auf dem Boden kniete. Kindan nickte und bereute sogleich, dass er den Kopf überhaupt bewegt hatte. Er wedelte schwach mit der Hand. »Die anderen sind gerettet, Kindan«, erzählte der Harfner, der sich denken konnte, welche Frage dem Jungen auf der Seele brannte. »Dass sie noch leben, haben sie nur dir zu verdanken.«
Eine weitere Person ließ sich neben ihm auf die Knie nieder. Es war Natalon. »Danke, Junge. Wenn du nicht so umsichtig gehandelt hättest, wären wir alle im Schlaf gestorben.«
Kindan versuchte sich hinzusetzen, brachte ein dünnes Lächeln zuwege und sah sich um, wobei er den Kopf nur sehr vorsichtig drehte. Jenella wurde gerade in eine Decke gehüllt, und über ihre Wangen strömten Tränen; Swanee war bei ihr und hustete unaufhörlich. Kindan kniff leicht die Augen zusammen, als er Zenor sah, der einem jungen Mädchen half, wieder zu Atem zu kommen. Dann schaute er Meister Zist an und hob fragend die Augenbrauen. Der Harfner erwiderte seinen Blick und deutete ein Kopfschütteln an.
Kindan rappelte sich hoch, ohne auf die stechenden Schmerzen hinter seinen Augen zu achten, und suchte Dalor auf. Er zupfte an seinem Hemdärmel, und als sein Freund aufmerksam wurde, setzte er eine komplizenhafte Miene auf. Mit dem Kinn deutete er auf das Mädchen, und Dalors Augen weiteten sich vor Schreck. Kindan vermochte seine Neugier nicht mehr zu bezähmen. Dalor mit sich ziehend, schlenderte er zu Zenor und dem Mädchen hin.
Zenor hatte dem Mädchen eine Decke umgelegt und einen Zipfel über ihren Kopf gezogen. Er hob den Blick, als sich die beiden Buben näherten. Kindan legte einen Finger an seine Lippen und stellte sich so hin, dass er den anderen Leuten den Blick auf das Mädchen versperrte.
»Komm mit, Dalor, in der Hütte von Meister Zist kannst du dich am Feuer aufwärmen«, verkündete Kindan mit lauter Stimme und bedeutete Zenor und dem Mädchen, aufzustehen.
Geschickt arrangierten sie es, dass Dalor und das Mädchen in dieselbe Decke eingehüllt waren, und zu viert marschierten sie zum Cottage des Harfners.
Kindan hoffte, in dem allgemeinen Chaos möge niemandem aufgefallen sein, dass man zwei Kinder aus Natalons Haus gerettet hatte, und nicht nur eines, Dalor, den jeder im Camp kannte.
Nicht lange, und die vier saßen in der Küche von Meister Zists Quartier und wärmten sich am munter prasselnden Feuer. Dalor und das Mädchen trugen nur ihre Nachtgewänder und waren bis auf die Knochen durchgefroren.
»Wie kam es, dass du uns gerettet hast?«, fragte Dalor, dessen Lippen immer noch bläulich angelaufen waren.
»Als du nicht auftauchtest, um deine Wache anzutreten, wollte ich dich holen. Und dabei bemerkte ich, dass sich in eurem Haus giftige Gase gestaut hatten.«
»Danke, dass du das getan hast. Ohne dich wären wir jetzt tot«, erwiderte Dalor.
Das Mädchen hob zögernd die Hand und strich Kindan über die Wange. »Ich danke dir auch, Kindan«, sagte sie.
»Keine Ursache, Nuella«, gab Kindan zurück. Vor Überraschung stieß Dalor zischend den Atem aus, und Zenor sperrte Mund und Augen auf. »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, dass ich euer Geheimnis verrate«, beruhigte Kindan seine Freunde. »Meister Zist hat mich als Harfnerlehrling in die Ausbildung genommen. Er sagt, ein Harfner muss verschwiegen sein und die Geheimnisse anderer Menschen respektieren.« Er stand auf, trat an den Küchenschrank und holte ein paar Becher heraus.
»Zenor, hilfst du mir, an die Leute da draußen heißes Klah zu verteilen?«, wandte sich Kindan an den Jungen. »Dalor kann am Feuer sitzen bleiben, ich sehe, dass ihm immer noch kalt ist.« Bewusst vermied er es, Nuellas Namen auszusprechen, damit alle wussten, dass ihr Geheimnis bei ihm gut aufgehoben war. Zenor schmunzelte verstehend und erwiderte: »Selbstverständlich. Soll Dalor nur bleiben, wo er ist. Wir beide schaffen das schon allein.«
Kindan blinzelte Dalor, der ein verblüfftes Gesicht machte, verschwörerisch zu und meinte: »Wir sehen uns dann später.«
***
Am Abend hatte es sich herausgestellt, dass der Kamin von Natalons Festung verstopft war, und die Verbrennungsgase des Kohlefeuers nicht abziehen konnten. Nachdem man das Haus gründlich gelüftet und den Kamin wieder hergerichtet hatte, konnte man das Ende des Winters im großen Saal bedenkenlos feiern.
Dennoch ließ man die beiden großen Türflügel und sämtliche Fenster weit offen, um die ängstlicheren Gemüter zu beruhigen. Die langen Tische, an denen tagsüber die Schüler saßen, und auch das kleinere Pult von Meister Zist hatte man an eine Wand geschoben, um eine freie Fläche zum Tanzen zu haben.
Kindan und Meister Zist hatten auf einem der Tische Position bezogen. Der Harfner hatte dem Jungen einige einfache Trommelrhythmen beigebracht, damit er die Melodien begleiten konnte.
Das Getrommel fiel Kindan so leicht, dass er die Muße fand, die Feiernden zu beobachten. Im Camp Natalon lebten keine zweihundert Leute, doch so viele Menschen hätten niemals in den Saal hineingepasst. Er schätzte, dass ungefähr fünfzig Personen anwesend waren, es fanden sich wesentlich weniger Gäste ein, als er angenommen hatte.
Vielen Bewohnern des Camps schien heute nicht nach Feiern zumute zu sein. Kein Wunder, wenn man bedachte, was sich an diesem Tag ereignet hatte. Die Angst vor einer Vergiftung durch Gase saß tief. Nicht einmal die fleißige Milla, die sonst mit Begeisterung Brot und Kuchen herstellte, hatte sich in die Küche begeben, um ihre Naschereien zu backen. Natalons Frau, Jenella, litt noch unter den Nachwirkungen einer leichten Gasvergiftung; hinzu kam, dass sie schwanger war, und die Heilerin des Camps hatte ihr strikte Bettruhe verordnet.
Auch Zenor fehlte bei der Feier. Er musste sich um seine kleinen Schwestern und die Mutter kümmern. Wegen des Grubenunglücks war es immer noch notwendig, zwei volle Schichten zu fahren, so dass die zweite Schicht sich immer noch unter Tage befand. Eine Gruppe von Männern war abkommandiert, die ganze Nacht hindurch die Pumpen zu bedienen, die für die Bewetterung* sorgten. Jeweils zwei Kumpel arbeiten zusammen und wechselten sich schichtweise ab. Diese Tätigkeit verrichteten meistens die ganz jungen Burschen, die als Hauer noch unerfahren waren, ältere Knappen, denen das Schuften im Pütt schon schwer fiel, oder Männer, die sich durch kein besonders großes handwerkliches Geschick auszeichneten.
* Wetter: Nach mittelalterlichem Sprachgebrauch die Luft im Grubengebäude. Unter Bewetterung versteht man die Versorgung der Grubenbaue mit Frischluft - Anm. d. Übers.
Kindan war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht merkte, wie Meister Zist zu spielen aufhörte. Automatisch und selbstvergessen trommelte er weiter. Deshalb fuhr er erschrocken zusammen, als der Harfner ihm ins Ohr raunte: »Immer schön weitertrommeln, Junge. Bin gleich zurück.«
Kindan nickte, ohne im Trommeln inne zu halten. Meister Zist kletterte vom Tisch herunter und begab sich an den Tisch mit dem Erfrischungen. Als der Junge dies sah, trommelte er besonders heftig und beschleunigte den Rhythmus. Der Harfner verstand den Wink, drehte sich um, nickte Kindan zu und bedeutete ihm, er würde ihm ein paar Leckereien mitbringen.
Bis es so weit war, ließ Kindan den Blick über die Menge schweifen, spitzte die Ohren und versuchte, ein paar Gesprächsfetzen aufzuschnappen.
»Eine Handelskarawane wird die Kohle abholen …« Kindan wusste, was der Mann, der dies erzählte, meinte. Nun, da die Schneeschmelze die Straßen wieder passierbar machte, erwartete man im Camp jeden Tag die Ankunft einer Karawane, die den während der letzten sechs Monate geförderten Kohlenvorrat mitnehmen sollte.
»… bringen hoffentlich ein paar Lehrlinge mit …« Natalon hatte eine getrommelte Nachricht an den Bergwerksmeister in Crom geschickt und um ein paar Lehrlinge gebeten.
»… zu nichts nütze. Du wirst schon sehen, sie schicken uns die schlechtesten, die guten Arbeiter behalten sie doch wieder für sich.«
Kindan seufzte, denn der Mann hatte ja recht. Die Lehrlinge, die man von ihren Pflichten daheim entband, damit sie in einer anderen Grube arbeiteten, waren nicht selten bereits durch Faulheit oder Ungeschicklichkeit aufgefallen. Eine wirklich tüchtige Arbeitskraft wurde vom Meister erst gar nicht freigestellt. Manchen der jungen Burschen mangelte es einfach nur an Erfahrung, aber dies machten sie durch Eifer und Strebsamkeit wett. Andere wiederum richteten mehr Schaden als Nutzen an.
»… ohne einen Wachwher ist die Sicherheit unter Tage nicht gewährleistet.« Bei dieser Bemerkung horchte Kindan auf und versuchte, den Sprecher ausfindig zu machen.
»… es gab viel zu viele Unfälle, und es wurden immer mehr, seit …« Kindan glaubte herauszuhören, dass sich die Unglücke seit dem letzten Stolleneinsturz häuften, doch die letzten Worte gingen im allgemeinen Lärm, der nun im Saal herrschte, unter.
Aber der Junge wusste, dass es seit der Katastrophe, bei der sein Vater und Dask ums Leben gekommen waren, immer wieder kleinere Vorfälle in der Grube gegeben hatte, die ebenfalls hätten tragisch enden können. Eines Nachts, als er noch wach in seinem Bett lag, obwohl er längst hätte schlafen müssen, hatte Natalon Meister Zist aufgesucht, und die Männer führten ein langes, intensives Gespräch. Natürlich hatte der Junge gelauscht, und dabei bekam er mit, wie der Obersteiger sagte, das Bergwerk würde mit zu wenigen Arbeitskräften betrieben. Der Mangel an erfahrenen Knappen* stellte eine zusätzliche Gefahr in einer Situation dar, die ohnehin schon viele Risiken barg. Jede Arbeit in einem Bergwerk war ein gewagtes Unternehmen; Männer, die überarbeitet und erschöpft waren, neigten zur Nachlässigkeit, und jeder noch so geringe Fehler konnte mit einem Desaster enden.
* Älterer Ausdruck für Bergmann - Anm. d. Übers. ** Vierrädriger Förderwagen im Bergbau - Anm. d. Übers
Forschend blickte Kindan über die Menge und entdeckte Panit, einen von Tariks Spießgesellen, der mit einem eingegipsten Bein durch die Gegend stapfte. Der alte Bergmann war unachtsam gewesen, als er mit einem Grubenhunt herumfuhrwerkte, und der Karren war über seinen Fuß gerollt.
»Eigentlich liegt die Schuld für die Anhäufung von Unfällen beim Obersteiger, nicht wahr?«, wandte sich Panit an ein kleines Grüppchen von besorgt dreinblickenden Bergleuten. Kindan erstarrte, als er diesen ungeheuerlichen Vorwurf hörte. »Vielleicht ist nicht der fehlende Wachwher für das Chaos verantwortlich, sondern der Leiter der Grube.«
Kindan lauschte gespannt auf die Antwort der Kumpel, doch dabei geriet er mit seinem Getrommel aus dem Takt. Mit einem furiosen Wirbel vertuschte er den Fehler, doch einige Leute hatten den veränderten Rhythmus bemerkt, und etliche Köpfe drehten sich in seine Richtung. Auch Panit starrte ihn an.
Plötzlich tauchte Meister Zist neben dem wie besessen trommelnden Jungen auf. »Wenn du schon Gespräche anderer Leute belauschen musst, dann benimm dich so diskret, dass es keinem auffällt«, flüsterte der Harfner ihm ins Ohr.
Kindan rang sich ein verlegenes Lächeln ab. »Es tut mir Leid«, murmelte er zurück.
Meister Zist nickte. Er hielt Kindan einen Becher Klah und einen Teller mit Leckereien entgegen und meinte: »Es wird höchste Zeit, dass du eine Pause einlegst.«
Es dauerte nicht mehr lange, und ein Gast nach dem anderen machte sich auf den Heimweg. Das Fest ging zu Ende. Kindan und Meister Zist verließen als Letzte den Saal. Ermüdet von einem anstrengenden Tag schleppten sie ihre Instrumente heimwärts.
Später konnte sich Kindan nicht mehr erinnern, wie er in jener Nacht in sein Bett gekommen war.
***
»Meister Zist! Meister Zist!« Noch vor Tagesanbruch wurde Kindan von Dalors Geschrei geweckt. Benommen rührte er sich, alarmiert von Dalors angstvoll klingender Stimme.
»Was gibt's?«, rief Meister Zist aus seinem Zimmer, als Kindan in die Küche stolperte.
»Es ist meine Mutter!«, keuchte Dalor mit kalkweißem Gesicht. »Das Baby kommt, aber es ist viel zu früh.«
Im Nachtgewand eilte der Harfner aus seinem Zimmer. Nach einem kurzen Blick auf Dalor wandte er sich resolut an Kindan. »Lauf rasch zu Margit und gib ihr Bescheid, dass sie bei der Geburt helfen muss.« Dann richtete er das Wort an Dalor. »Ich komme auch, sowie ich mich angezogen habe. Du läufst nach Hause zurück und setzt Wasser zum Kochen auf den Herd, falls es nicht schon jemand anders getan hat.« Mit sanfter Stimme fügte er hinzu: »Es wird schon alles gut gehen, Junge. Und nun beeil dich!«
Sowie Dalor aus der Hütte geflitzt war, sagte Kindan zu dem Harfner: »Margit taugt nicht viel als Hebamme. Silstra half immer bei Geburten, und Harfner Jofri hat ihr assistiert.«
»Geselle Jofri wandte sich der Heilkunde zu, nachdem ich ihn aus meiner Gesangsklasse hinausgeworfen hatte«, erklärte Meister Zist. Er seufzte. »Ich hingegen widmete mich dem Singen, weil der Meisterheiler sich weigerte, mich weiterhin zu unterrichten.«
Kindan blickte bestürzt drein. Meister Zist wedelte mit beiden Händen. »Nun mach schon und lauf zu Margit. Was stehst du hier herum und hältst Maulaffen feil? Gemeinsam werden wir das Kind schon zur Welt bringen.«
Kindan drängte Margit, sie möge sich sputen, doch die Frau dachte nicht daran, sich von ihm hetzen zu lassen. Als sie endlich bei Jenella ankamen, stand Milla Hände ringend in der Tür zum Kreißzimmer und jammerte immerzu: »Das Kind kommt zu früh. Viel zu früh!«
»Blödsinn, das stimmt doch gar nicht!«, widersprach Margit in nüchternem Ton. »Jenella ist im achten Monat, und das Baby wird auf jeden Fall lebensfähig sein.« Sie baute sich vor der hysterischen Bäckerin auf und drohte ihr: »Wenn du dich nicht besser beherrschen kannst, Milla, schicke ich dich zurück in deine Küche.«
Milla, die die ganze Aufregung um keinen Preis hätte missen mögen, zog pikiert die Nase hoch, hielt jedoch den Mund.
Kindan, der Margits Hebammentasche trug, folgte ihr in das Gebärzimmer. Natalon war da und hielt Jenellas Hand. Meister Zist hatte Decken und Laken so platziert, dass die Intimsphäre der Gebärenden gewahrt blieb, und bereitete sich darauf vor, das Baby mit den Händen aufzufangen.
Doch er hatte nicht mit Margit gerechnet, die völlig Herrin der Lage war. Ohne viel Federlesens schob sie den Harfner zur Seite und nahm eine Untersuchung vor. Zufrieden wandte sie sich an Jenella. »Hab keine Angst, meine Liebe«, beruhigte sie die Frau. »Es werden keine Komplikationen eintreten. Bei den nächsten Wehen musst du pressen, so fest du kannst. Aber der Ablauf ist dir ja vertraut, schließlich ist es nicht deine erste Niederkunft.«
Dalor, der sich in eine Ecke des Zimmers verkrümelt hatte, trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Meister Zist warf einen Blick auf ihn, machte schmale Augen und wandte sich an Kindan. »Junge, geh in die Küche und sag Bescheid, man soll ein paar Tücher in kochendes Wasser tun. Wir brauchen absolut sauberes Zeug, um später die Mutter und das Baby zu waschen. Aber nimm Dalor mit, er hat hier nichts zu suchen.«
Kindan schwante, dass Meister Zist nur daran gelegen war, Dalor aus dem Zimmer zu schaffen. Verschmitzt lächelte er dem Harfner zu. Dann ging er zu Dalor und schleppte den widerstrebenden Jungen in die Küche.
Als sie außer Hörweite waren, schlug Kindan seinem Freund vor: »Wenn wir es richtig anstellen, können wir deine Schwester in das Gebärzimmer schmuggeln. Jeder wird glauben, du seist zurückgekommen.«
»Ach ja, bitte«, tuschelte eine Mädchenstimme, und aus den Schatten löste sich eine kleine Gestalt. Es war Nuella. »Ich möchte so gern dabei sein, wenn das Baby kommt; und Mutter wird auch wollen, dass ich helfe.«
»Aber wenn Margit oder Milla etwas merken …«, hielt Dalor ihr zweifelnd entgegen.
»Keinem wird etwas auffallen, wenn sich nur jeweils einer von euch im Zimmer aufhält und ihr die gleiche Kleidung tragt«, meinte Kindan. »Bei der Aufregung, die jetzt herrscht, haben alle nur Augen für die Mutter und das Neugeborene.«
»Das klappt nur, wenn du meine Mütze trägst«, überlegte Dalor. Er zog sich seine Mütze vom Kopf und stülpte sie über Nuellas Haare.
»Perfekt«, stellte Dalor fest. »Jetzt siehst du genauso aus wie ich.«
»Aber wenn du die Mütze weglässt oder sie dir vom Kopf rutscht, fliegt der Schwindel auf«, warnte Kindan. Dalor blickte skeptisch drein.
Nuella nickte. Für sie war die Angelegenheit damit erledigt. Sie wandte sich an Kindan. »Du läufst jetzt in die Küche und sagst der Köchin, sie solle das schärfste Messer, das sie hat, sterilisieren. Sie wird sich vielleicht sträuben, aber darauf gehst du gar nicht ein. Wir brauchen es, um die Nabelschnur durchzuschneiden. Das sterilisierte Messer soll sie dann auf die Tücher legen, die in kochendem Wasser keimfrei gemacht wurden. Auf diese Weise wird es nicht von neuem verunreinigt.«
Kindan machte sich auf den Weg in die Küche und staunte über Nuella, die wie selbstverständlich das Heft in die Hand genommen hatte.
Doch sein Plan funktionierte reibungslos. Kindan sorgte dafür, dass Nuella und Dalor jede Viertelstunde ihre Plätze in dem Kreißzimmer tauschten. Als Jenella ihre Tochter erkannte, riss sie erschrocken die Augen auf. Nuella nickte der Mutter beruhigend zu und deutete verstohlen in Kindans Richtung. Jenella lächelte verstehend, griff nach Nuellas Hand und drückte sie fest.
Als das Baby geboren wurde, trat Margit zur Seite, damit Meister Zist es in Empfang nehmen konnte. Kindan hatte ganz entschieden den Eindruck, dass sie von nun an dem Harfner die Verantwortung für das Baby übertrug.
Endlich war es soweit. Meister Zist beugte sich vor, und das Neugeborene glitt in seine großen Hände. Es fing an zu schreien, und Kindan fand, es klänge wie das Miauen eines kleinen Kätzchens.
»Kindan, das Messer!«, befahl der Harfner. Als der Junge ihm das Messer hinhielt, sah er, dass das winzige Baby noch durch die Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden war.
»Mach eine Schlinge in die Nabelschnur«, wies Meister Zist ihn an. Nachdem Kindan dies getan hatte, wandte sich der Harfner an Natalon. »Und nun komm du hierher, Natalon, damit du die Nabelschnur durchtrennst und deine kleine Tochter willkommen heißt.«
Mit einem stolzen Blick auf seine Gemahlin und einem breiten, glücklichen Lächeln schnitt Natalon die Nabelschnur durch. Margit nahm dem Harfner das Kind ab, säubert es mit den sterilen Tüchern und sah sich nach einer Decke um, in die sie das Neugeborene einwickeln konnte.
Nuella wusste sofort, wonach Margit suchte. »Warte, ich hole eine Decke«, erbot sie sich und lief aus dem Zimmer.
Margit sah ihr mit einem eigentümlichen Blick hinterher und sagte zu Jenella: »Dein Sohn ist wirklich ein braver Junge, Jenella. Normalerweise kümmern sich die Mädchen um alles, was mit Kindern und einer Geburt zusammenhängt.«
»Dalor hat sich sehr auf den Familienzuwachs gefreut«, warf Kindan hastig ein. »Obwohl ihm ein Bruder lieber gewesen wäre.«
»Ich bin mir sicher, dass er auch seine Schwester liebhaben wird«, entgegnete Natalon, der über das ganze Gesicht strahlte.
Dalor kam zurück, sichtlich aufgeregt, und reichte Margit die Babydecke. Die hüllte das kleine Mädchen darin ein und legte sie in Jenellas Arme.
»Ein wunderschönes Kind, nicht wahr, Meister Zist«, wandte sich Margit dann zufrieden an den Harfner.
Überrascht sah Kindan, dass Meister Zist die Tränen über die Wangen liefen.
Margit biss sich auf die Lippen, als sie die Reaktion des Harfners bemerkte. »Ach, Meister Zist, es tut mir ja so schrecklich Leid. Ich hatte ganz vergessen, dass du auch ein Kind hattest.«
Meister Zist nickte und wischte sich die Augen. »Ja, ich hatte einmal ein Kind«, erwiderte er, nachdem er sich mehrmals geräuspert hatte. Er schaute Jenella an. »Ein Mädchen, und es sah genauso aus wie deine Tochter.«
»Verrätst du uns ihren Namen?«, fragte Kindan mit leiser Stimme.
»Carissa«, antwortete Meister Zist. Er zwang sich zu einem Lächeln und erkundigte sich bei den stolzen Eltern: »Wie soll eure Tochter heißen?«
Natalon und Jenella tauschten Blicke aus. »Wir haben noch keinen Namen ausgesucht«, gaben sie betreten zu.
»Lasst euch mit der Auswahl ruhig Zeit«, meinte Margit. »Und nun bitte ich euch alle, das Zimmer zu verlassen, damit ich mich um Jenella und das Baby kümmern kann.« Sie unterstrich ihre Bitte, indem sie mit den Händen scheuchende Bewegungen vollführte. »Milla, du darfst bleiben und mir helfen.«
Als sich die anderen in der unteren Etage des Hauses versammelten, graute bereits der Morgen. Natalon unterdrückte eine Verwünschung. »Ich komme zu spät zu meiner eigenen Schicht!«
»Ich glaube, unter diesen Umständen wird jeder Verständnis dafür aufbringen«, erklärte Meister Zist.
Dalor drängte sich vor. »Ich habe bereits Swanee losgeschickt, um den Kumpeln Bescheid zu geben, Vater.«
Natalon bedacht ihn mit einem dankbaren Blick und seufzte erleichtert auf.
***
»Es war für uns alle ein langer Tag«, sagte Meister Zist zu Kindan, als sie sich auf den Heimweg machten. »Aber manchmal kommt eben alles zusammen, und man kann nichts daran ändern.«
Kindan nickte zustimmend und wollte etwas antworten, doch dann musste er gähnen, dass seine Kiefer krachten.
»Ein Becher Klah wird uns wieder munter machen«, fuhr Meister Zist fort.
Kindan platzte vor Neuigkeiten, als er den Hügel erklomm und darauf wartete, dass die ersten Wachen eintrafen. Ein eisiger Wind fegte über die Höhen und es war bitterkalt. Deshalb hielt er sich warm, indem er Holz für ein Feuer sammelte. Nachdem die Jungen eingetroffen waren und er alles über die Geburt von Jenellas und Natalons kleiner Tochter erzählt hatte, lief er wieder zurück, um rechtzeitig zur ersten Unterrichtsstunde in der Schule zu sein. Um die Mittagszeit, als sich der zäh im Tal verharrende Nebel endlich lichtete, kletterte er abermals auf den Ausguck, weil er Renna, Zenors älteste Schwester, ablösen musste, So kam es, dass er der Erste war, der die heranrückende Handelskarawane entdeckte.