O, preist die starken Drachenschwingen,

Die Mut und neue Hoffnung bringen!

11

Domick hielt sie am nächsten Morgen zurück, als sie den Speisesaal verlassen wollte.

»Erinnerst du dich noch an diese Meeres-Ballade, die du beim Fest gesungen hast? Glaubst du, es dauert lange, sie niederzuschreiben? Ich kenne sie nämlich nicht.«

Das klang beinahe gekränkt.

»Und Meister Robinton legt Wert darauf, daß wir auf dem Festland die Lieder der Meere verbreiten und umgekehrt …«

Meister Domicks Tonfall verriet Mißbilligung, doch als er Menollys Miene sah, fügte er hastig hinzu: »Oh, ich bin ja nicht grundsätzlich dagegen, mich stört nur, daß er die Noten sofort will. Heute werden nämlich die Gesellen auf Wanderschaft geschickt, und sie sollen die Balladen gleich mitnehmen. Das erspart spätere Reisen …«

»Wenn Sie möchten, schreibe ich gleich mehrere Kopien«, bot sie ihm an.

Domick schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich, ich hatte völlig vergessen, daß du eine gute Handschrift besitzt. Das mußte sogar Arnor eingestehen.« Domick lachte. »Also schön, verschwenden wir keine Zeit mehr! Du bist so nett und fertigst einige Kopien der Meeres-Ballade an. Wenn dir noch Zeit bleibt, kannst du auch dein Feuerechsen-Lied abschreiben. Ich weiß nicht genau, wie viele Abschriften Arnor geschafft hat – und du hast seine Laune ja gestern kennengelernt. Geh übrigens in Zukunft zu Dermently, dem Archiv-Gesellen, wenn du Schreibmaterial brauchst!«

Damit ließ er sie stehen und schlenderte leise pfeifend auf die geschlossene Tür des Großen Saales zu.

Meeresballaden auf dem Festland und Festlandslieder an der Küste, dachte Menolly, während sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging. Was mochte wohl ihr Vater dazu sagen? Und angenommen, Harfner Elgion trug eines Tages ein Lied vor, das sie, Menolly, geschrieben hatte? Eine Schande für die Burg – pah!

Sie spielte mit dem Gedanken, an Mavi, ihre Mutter, oder an ihre Schwester zu schreiben und ganz nebenbei zu erwähnen, daß sie nun der Schützling des Meisterharfners von Pern war. Daß alle sie verkannt hatten … Nein, sie würde weder ihren Eltern noch ihrer Schwester Nachricht geben. Aber vielleicht richtete sie ein paar Zeilen an ihren Bruder Alemi. Er hatte als einziger ihren Gesang geschätzt und ihr seine Anteilnahme gezeigt. Und er würde die Neuigkeit für sich behalten.

Sie verdrängte diese Gedanken und machte sich an die Arbeit. Bis der Mittagsgong ertönte, hatte sie sechs Kopien der Meeres-Ballade zum Trocknen ausgelegt.

Domick stand im Korridor, in ein ernstes Gespräch mit Jerint vertieft, der über irgend etwas verärgert schien. Der Meister kam erleichtert auf sie zugeschossen.

»Sechs …«, sagte er strahlend, »und jede sauber ausgeführt. Ich danke dir, Menolly. Könntest du…? Nein, nachmittags mußt du mit Meister Shonagar arbeiten, ich weiß.«

»Ich brauche vermutlich neues Papier, Meister Domick, aber ich kann sicher noch vor dem Abendessen ein oder zwei Blätter schaffen.«

Domick ließ die Blicke über den Speisesaal schweifen, der sich langsam füllte. »Hmm – mit zwei oder drei Kopien deiner Feuerechsen-Ballade wäre mir sehr geholfen. Komm! Arnor hat seine Höhle inzwischen sicher verlassen, und von Dermently kriegen wir soviel Papier, wie wir wollen. Zumindest heute.«

Sie machten kehrt und eilten zum Archiv.

»Glaub nicht, daß ich es mir zur Gewohnheit machen will, dich für solche Arbeiten auszunutzen, Menolly. Es ist viel wichtiger, wenn du komponierst. Abschreiben kann jeder Lehrling.

Aber im Moment verlassen uns eine Menge Gesellen … Deshalb war Jerint auch so verärgert. Und warte nur, bis Arnor die Neuigkeit erfährt!«

»Die Gesellen verlassen die Gilde?«

»Du hast doch nicht geglaubt, daß sie hierbleiben, bis sie verschimmeln?«

Bedauern überkam Menolly, als sie an Talmor und Sebell dachte; Sebell hatte ja bereits angedeutet, daß er auf Wanderschaft gehen mußte.

»Mach dir keine Sorgen wegen unseres Quartetts«, meinte Domick, der ihr Schweigen richtig deutete. »Die wirklich tüchtigen Leute kommen wieder. Und wir bilden ja immer neue aus.

Die Hauptaufgabe der Harfner-Gilde besteht darin, Wissen zu verbreiten.« Domicks Armbewegung schien ganz Pern zu umfassen. »Wir dürfen es nicht in Archiven zusammenraffen. Das war unser größter Fehler in der Vergangenheit. Deshalb hat sich unsere Welt nicht weiterentwickelt. Das Wissen wurde gehütet und verwaltet von Kleingeistern, die wichtig und unwichtig nicht unterscheiden konnten, sich gegen das Neue sperrten, nicht aus Erfahrungen lernen wollten …«

Domick lächelte. »Aus dem gleichen Grunde weiß ich, daß deine Lieder für die Gilde und für Pern genauso wichtig sind wie meine Kompositionen. Sie bringen neue Themen, frische Ansichten unter das Volk – mit Hilfe von Melodien, die einfach jeder mitsummen muß!«

»Würden Sie die Gildehalle je verlassen?« fragte Menolly in einem Anflug von Neugier.

»Ich?« fragte Domick verwirrt und runzelte die Stirn.

»Vielleicht, aber das hätte wenig Sinn. Würde höchstens mir guttun.« Dann schüttelte er den Kopf und tat die Idee mit einer Handbewegung ab. »Ich komme hin und wieder auf eine der großen Burgen, wenn ein Konzert stattfindet – und eine Gegenüberstellung möchte ich auch einmal erleben … Aber im Grunde braucht man mein Talent außerhalb der Gilde nicht.« Domick stellte das ganz ruhig fest, ohne jede Arroganz.

»Bleiben Meister immer in der Gildehalle?«

»Beim Ei, nein. Viele leben auf den großen Burgen. Das wirst du schon noch merken, wenn … oh, Dermently, einen Augenblick …« Und Domick winkte den Gesellen, den er am Ende des langen Korridors erspäht hatte, zu sich.

Menolly fand gerade noch Zeit, den Papierstoß in ihr Zimmer zu bringen und zurück in den Speisesaal zu hasten, ehe die Mahlzeit begann. Nun, da sie darauf achtete, erkannte sie, daß Meister Jerint und Meister Arnor in der Tat äußerst gereizt wirkten. Sie überlegte, wer wohl auf die Wanderschaft geschickt wurde. Aber ihr blieb wenig Zeit zu Spekulationen. Nach dem Mittagessen mußte sie sofort weiter zum Unterricht.

Kaum hatte Meister Shonagar sie entlassen, da eilte sie zurück an die Schreibarbeit. Anfangs kam es ihr komisch vor, die eigenen Melodien zu kopieren, bald aber begann ihr die Sache Spaß zu machen. Ihre Lieder würden landeinwärts wandern und von den Feuerechsen künden, die man bis vor kurzem für Märchengeschöpfe gehalten hatte. Und die Lieder vom Meer, die sie sang, seit sie erstmals mit Musik in Berührung gekommen war, vermittelten den Festlandbewohnern vielleicht einen ganz neuen Eindruck von den Seeleuten und den rauhen Küsten des Kontinents.

Auch Domicks Einstellung gegenüber ihrer Musik war ein Trost gewesen. Das Gefühl, daß er ihre Melodien nicht verachtete, sondern sogar wichtig fand, erleichterte sie. Ja, allmählich wuchs sie hinein in das Leben und die Arbeit der Harfner-Gilde. Robinton und T'gellan hatten recht behalten. Sie gehörte hierher.

Die Zeit verging im Flug. Ehe sie es merkte, war der Abend hereingebrochen. Sie räumte vorsichtig ihr Schreibzeug und das kostbare Papier auf die Seite, brachte die fertigen Kopien zu Meister Domicks Studio und ging nach draußen, um ihre Freunde zu füttern.

Prinzessin und die Bronze-Echsen umdrängten sie, aber mitten im Fressen schauten sie plötzlich zum Himmel. Die kleine Königin stieß einen kehligen Laut aus, und Rocky und Taucher stimmten ein. Sekunden später wandten sie sich wieder ihrem Futter zu.

»Was sollte das denn?« erkundigte sich Piemur.

Menolly hob die Schultern.

»Nun sieh dir das an!« rief Piemur aufgeregt und deutete zum Himmel, wo drei, nein, vier Drachen auftauchten und langsam in die Tiefe kreisten. »Und deine Feuerechsen haben es gewußt! Ist dir das klar, Menolly? Deine Feuerechsen haben gewußt, daß die Drachen gleich aus dem Dazwischen kommen würden!«

»Was tun die denn hier?« fragte Menolly, und die kalte Furcht in ihrem Innern wuchs, obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, daß Baron Sangel Drachenreiter ausschicken würde, um ein einfaches Harfnermädchen fortzuholen. »Es steht doch kein Sporenregen bevor?«

»Menolly, du paßt aber wirklich nicht auf!« Piemur schüttelte den Kopf über soviel Unwissen. »Die Meister hatten gestern und heute lange Debatten, wohin sie welche Gesellen schicken sollten. Na ja, und die Drachenreiter bringen die Leute eben zu den jeweiligen Burgen. Zwei Blaue, ein Grüner und – Mann! – ein Bronze-Drache!« Er bekam große, runde Augen. »Für wen der wohl bestimmt ist?«

Nun schmetterte der Wach-Drache von der Burg seinen Willkommensgruß, und die vier Neuankömmlinge erwiderten ihn. Prinzessin und ihr Schwarm zirpten aufgeregt.

»O nein!« stöhnte Piemur. »Sie landen auf dem Feld, und das haben wir heute erst in Ordnung gebracht!«

»Drachen sind keine Zugtiere«, wies Menolly ihn zurecht. »Und stopf die Echsen nicht so voll, sonst ersticken sie noch! Du siehst die Drachenreiter früh genug, wenn sie die Gesellen abholen.«

Piemur war nicht der einzige Lehrling mit scharfen Augen. Bald drängten sich auf dem Hof Gruppen von neugierigen Jungen. Die Drachenreiter traten aus dem Schatten des Torbogens, und Menolly erkannte die Farben von Istan, Igen, Telgar und Benden auf den weiten Umhängen der Männer. Keiner von ihnen kam aus Boll. Dann sah sie, daß der Reiter vom Benden-Weyr T'gellan war.

»Menolly!« rief er und schwenkte ein unförmiges Bündel über dem Kopf. »Ich habe etwas für dich!« Während seine Gefährten auf die Stufen der Halle zugingen, wo Domick, Talmor und Sebell sie empfingen, lief T'gellan ihr entgegen.

Menolly erkannte, daß er ein Paar Stiefel an den Bändern hochhielt: hellblaue Harfnerstiefel mit Stulpen aus dunkelblau eingefärbtem Wildwherleder. »Hier, Menolly. Felena machte sich schon Sorgen, daß du barfuß laufen müßtest. Na, wenn ich deine Pantoffeln so anschaue – viel hat nicht mehr gefehlt. Die lassen dich wohl ganz schön rumrennen, was? Aber gut siehst du aus. Und deine Feuerechsen wachsen.« Er strahlte Menolly an und winkte dann Piemur und Camo zu, deren Blicke wie gebannt an dem Bronze-Reiter hingen. »Ein Glück, daß du so tüchtige Helfer hast.«

»Das hier sind Piemur und Camo, und ich wüßte wirklich nicht, was ich ohne sie anfangen würde.«

»Mit anderen Worten – der Kleine hier bekommt eines Tages eine junge Echse von dir, was?« T'gellan blinzelte Menolly zu.

»Deshalb hilft er ja so eifrig.« Menolly konnte es sich nicht verkneifen, Piemur ein wenig zu necken.

»Menolly!«

Piemur wurde rot, schlug die Augen nieder und machte ein so tieftrauriges Gesicht, daß Menolly ihre Worte sofort leid taten.

»Nein, im Ernst, T'gellan, Piemur hat mir das Eingewöhnen sehr erleichtert. Ohne ihn und Camo wäre ich mit meiner Schar kaum fertig geworden.«

»Camo schöne Kleine füttern. Camo gut füttern. Viel füttern.«

T'gellan warf Menolly einen erstaunten Blick zu, aber dann klopfte er dem Schwachsinnigen freundlich auf die Schulter. »Du bist ein tüchtiger Kerl, Camo. Hilf Menolly nur weiter beim Füttern!«

»Schöne Kleine noch hungrig?« Camo horchte auf.

»Nein, jetzt nicht mehr, Camo«, sagte Menolly hastig. »Die Kleinen sind satt.«

»Kannst du Camo wieder entbehren, Menolly?« Abuna erschien an der Küchentür.

»Oh …«

Sie war überrascht, in welcher vornehmen Gesellschaft sich der Knecht befand.

»Camo, hilf jetzt Abuna! Die Kleinen sind satt, Camo. Du sollst Abuna helfen, verstehst du?« Menolly drehte ihn herum und schob ihn zur Küche.

»Komm, Menolly, setz dich auf die Stufen«, drängte T'gellan, »und probier die Stiefel an! Felena bat mich ausdrücklich, darauf zu achten, daß sie auch passen.«

»Das müßten sie eigentlich, denn der Gerber von Benden hatte eigens Maß genommen.« Menolly streifte die zerrissenen Pantoffeln ab und schlüpfte in die Stiefel. »Da, sie passen! Wie angegossen! Und innen sind sie mit einem ganz weichen, dünnen Leder gefüttert!«

»Du kannst den doppelten Schutz gebrauchen, Menolly«, sagte T'gellan grinsend. »Vor allem, wenn du in nächster Zeit wieder einen Wettlauf beabsichtigst …«

»Bestimmt nicht«, versicherte Menolly und schob den Gedanken an Baron Sangel und Pona ganz weit von sich. »Richte Felena und Manora meinen Dank aus und grüße Mirrim und die anderen …«

»He, Moment! Ich bin doch eben erst angekommen. Wir sehen uns sicher noch im Laufe des Abends.«

»Ein Drachenreiter …«, flüsterte Piemur ehrfürchtig, als T'gellan sich zum Gehen gewandt hatte. »Ein Bronze-Reiter bringt dir blaue Stiefel …«

»Na ja, erst sollte ich doch im Weyr bleiben«, erklärte Menolly. »Und da das Leder schon mal zugeschnitten war, wollten sie es sicher nicht verschwenden.«

Dennoch war auch sie tief gerührt von dem Geschenk. Sie strich über das feine Leder. Und ausgerechnet Blau, die Farbe der Harfner!

Der Gong zum Abendessen ertönte, und die Trauben neugieriger Lehrlinge lösten sich auf. Als Menolly mit Piemur zum Speisesaal ging, sah sie im Korridor Gepäck und Instrumentenkästen liegen.

»Da!« Piemur stieß sie in die Rippen. »Heute abend erhalten die Gesellen ihre neuen Arbeitsplätze. Am ovalen Tisch werden morgen einige Lücken sein.«

Menolly nickte und dachte an die Meister, die noch grimmiger als sonst herumlaufen würden, weil ihnen die Arbeitskräfte fehlten.

T'gellan saß am Rundtisch, aber die anderen Drachenreiter hatten sich bei den Gesellen niedergelassen. Menolly ging zu ihrem Platz zwischen Audiva und Piemur.

Statt der gewohnten Suppe gab es Platten mit kaltem Fleisch, Fisch und scharfgewürztem Käse und danach Beerenkuchen. Piemur schimpfte, weil der Kuchen kalt war, aber Menolly meinte, er solle froh sein, wenn er so kurz nach dem Fest schon wieder eine solche Leckerei bekam.

Im Speisesaal herrschte knisternde Spannung, besonders am Tisch der Gesellen. Aber auch die Lehrlinge steckten die Köpfe zusammen und tuschelten unentwegt.

»Sie haben nur erfahren, daß sie die Gilde verlassen müssen«, erklärte Piemur. »Wohin die Reise geht, wissen sie nicht. Acht machen sich diesmal auf die Wanderschaft, wenn ich das Gepäck richtig gezählt habe. Der Meisterharfner meint es ernst mit seinem Vorsatz, das Wissen möglichst breit zu fächern.«

»Wie meinst du das?« fragte Timiny verblüfft.

»Mann, kriegst du denn gar nichts mit?« Piemur schüttelte den Kopf. »Wetten, daß kein einziger Geselle in die Burg oder Zunft zurückkehrt, aus der er stammt? Früher war das üblich, aber Meister Robinton möchte, daß sie in der ganzen Welt herumkommen. Austausch von Wissen. Und sie nehmen alle deine Lieder mit, Menolly, habe ich recht?«

Und dann kam der Moment, dem sie alle entgegengefiebert hatten. Der Gong ertönte, und noch ehe das metallische Dröhnen verklungen war, herrschte im Saal vollkommene Stille. Alle Augen waren auf den Meisterharfner gerichtet, der sich vom Tisch erhoben hatte.

»Nun, meine Freunde, damit die Spannung nicht ins Unerträgliche wächst und unsere Lehrlinge wieder richtig Luft holen können, will ich die neuen Arbeitsgebiete unserer scheidenden Gesellen verkünden.« Er machte eine Pause, lächelte und fuhr fort:

»Geselle Farnor, Sie gehen nach Gar in Ista. Geselle Sefran, Ihnen vertraue ich Baien auf Telgar an. Campiol, auch Sie werden zu Telgar gehören und unter Facenden in der Bergwerks-Zunft arbeiten. Vielleicht gelingt es, eine Metallegierung zu entwickeln, die sich besser als das bisherige Material für unsere Blasinstrumente eignet. Geselle Dermently, Sie sollen Wansor, den Schmiedemeister von Telgar, unterstützen.«

Ein erstauntes Murmeln erhob sich. »Sie besitzen ein besonderes Zeichentalent. Es tut mir leid, daß ich Meister Arnor seinen besten Mann wegnehmen muß, aber wenn Wansors Erfindungen Früchte tragen sollen, muß sie jemand in Wort und Skizze festhalten.

Geselle Strud, es gibt eine kleine Siedlung im Delta des Igen-Flusses; Ihre Toleranz und Ruhe wird Ihnen dort eine große Hilfe sein. Außerdem möchte ich Sie bitten, an den Stränden nach Echsen-Gelegen Ausschau zu halten. Melden Sie Funde jedoch nicht mir, sondern dem Baron.«

Das leise Bedauern in der Stimme des Meisterharfners löste ein Schmunzeln unter den Zuhörern aus. »Auch Geselle Deece geht nach Igen, und zwar auf die Stammburg. Harfner Bantur benötigt dringend einen jungen Assistenten. Sie werden dort die vielfältigen Aufgaben eines Meisters kennenlernen. Und er wartet schon auf die neuen Balladen, die Sie ihm mitbringen. Petillo, ich weiß, Sie haben eine schwere Aufgabe. Aber ich verlasse mich auf Ihren Takt und Ihre Geduld bei der Arbeit auf Bitra unter Harfner Fransman.

Geselle Rammany, Baron Asgenar von Lemos hat um einen Mann aus Meister Jerints Werkstatt gebeten. Sie sollen in der Hauptsache Benelek bei der Auswahl der Hölzer beraten, die sich für den Instrumentenbau am besten eignen. Bestimmt eine angenehme Arbeit bei dem Wälderreichtum von Telgar.

Darf ich später die Gesellen zu einem Abschiedstrunk in den Großen Saal bitten? Ein Faß Benden-Wein steht bereit. Doch zuvor habe ich noch eine erfreuliche Mitteilung zu machen:

Ein guter Harfner benötigt, wie Sie alle wissen, eine ganze Reihe von Talenten und Fähigkeiten.« Meister Robinton warf einen Blick auf die jüngeren Lehrlinge, die verlegen kicherten.

»Nicht alle davon werden in der Gildehalle entwickelt. Im Gegenteil, viele unserer wertvollsten Erfahrungen machen wir durch eine harte Lehre in der Fremde.« Nun schaute er die Gesellen an, die zustimmend nickten.

»Wenn die Voraussetzungen unseres Standes erfüllt sind, soll jedoch keinem der Rang vorenthalten werden, der ihm gebührt, auch wenn er sein Wissen nicht hier bei uns erworben hat. Dies gilt um so mehr, wenn es sich, wie in diesem Falle, um ein seltenes Talent handelt. Sebell, Talmor, da keiner von euch zugunsten des anderen verzichten wollte …«

Eine Stille, nur unterbrochen von Piemurs erstauntem Ausruf, machte sich im Saal breit, als Sebell und Talmor sich vom Tisch der Gesellen erhoben und feierlich durch den Mittelgang zum Kamin gingen. Sie blieben vor Menolly stehen, die hilflos von einem zum anderen schaute. Sebell lächelte schüchtern, und Talmor nickte ihr aufmunternd zu.

Sie begriff nicht, was die Zeremonie zu bedeuten hatte, obwohl sie Audivas Freudenschrei hörte und das starre Staunen auf den Gesichtern von Briala und Timiny bemerkte. Sie warf Meister Robinton einen Blick zu. Der strahlte und gab ihr durch einen Wink zu verstehen, daß sie sich erheben sollte. Aber erst Piemurs Tritt gegen das Schienbein löste sie aus der Erstarrung.

»Du rückst zum Gesellentisch auf, Menolly!« zischte der Kleine ihr zu. »Los, steh doch auf! Du bist jetzt Gesellin. Mädchen, du hast es geschafft!«

»Menolly ist Gesellin! Menolly ist Gesellin!« riefen die anderen Lehrlinge und klatschten im Takt dazu. »Menolly ist Gesellin! Geh, Menolly, geh! Geh, Menolly, geh!«

Sebell und Talmor faßten sie an den Ellbogen und zogen sie hoch.

»Ich habe noch nie einen Lehrling erlebt, der sich so gegen das Aufrücken sträubte!« flüsterte Talmor Sebell zu.

»Wir können sie ja notfalls tragen«, entgegnete Sebell ebenso leise.

»Danke, ich kann selbst gehen.« Menolly schüttelte die Hände der beiden ab. »Ich besitze sogar Harfner-Stiefel. Von heute an gehe ich überallhin!«

Der letzte Rest von Furcht verließ Menolly.

Als Gesellin, in Harfner-Blau gekleidet, besaß sie Rang und Status. Sie mußte sich nie mehr verstecken, nie mehr die Flucht ergreifen. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, sie ganz allein.

Sie war in dieser kurzen Siebenspanne einen weiten, weiten Weg gegangen. Eine Melodie schoß ihr durch den Kopf.

Später… Später konnte sie die Noten niederschreiben. Jetzt ging sie hocherhobenen Hauptes an den Tisch der Gesellen, begleitet von Talmor und Sebell und den Feuerechsen, die durch die offenen Fenster in den Saal schossen und sie jubelnd umkreisten.

ENDE