Elf Uhr
Alex rannte aus dem Haus. Als er im Freien war, blieb er einen Augenblick lang stehen, um wieder zu Atem zu kommen und die Lage zu sondieren. Da die Sirenen noch immer schrillten, kümmerte er sich nicht weiter darum, in Deckung zu gehen. Er sah ein paar Wachmänner auf sich zurennen. Zwei Autos, die in größerer Entfernung gestanden hatten, drehten um und setzten sich ebenfalls in Richtung des Hauses in Bewegung. Durch den Alarm musste allen längst klar sein, dass etwas geschehen war, aber Alex hoffte, dass sie noch nicht wussten, was es war. In diesem Fall würden sie nicht nach ihm suchen – jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht konnte er dadurch ein wenig Vorsprung gewinnen.
Wenn Alex das Science Museum in 59 Minuten erreichen wollte, musste er irgendwie in das Flugzeug kommen. Aber es hatte sich gerade in Bewegung gesetzt und rollte langsam zur Startbahn hinaus. In einer oder zwei Minuten würden die Tests und Flugvorbereitungen abgeschlossen sein. Dann würde es abheben.
Alex blickte sich verzweifelt um. Er musste so schnell wie möglich auf das Rollfeld. In der Nähe des Haupteingangs zu Sayles Haus entdeckte er einen offen Armeejeep. Daneben stand einer der uniformierten Typen, der sich gerade verwundert umschaute, um herauszufinden, warum die Sirene heulte – aber er blickte in die falsche Richtung. Großartig! Alex sprintete über den kiesbestreuten Vorhof. Eine einzige Waffe hatte er mitgebracht – eine der Harpunen, die sich in Sayles Waffensammlung befunden hatten, war an ihm vorbeigetrieben, als er den Raum verlassen wollte. Ohne zu zögern, hatte er sie aufgehoben, um sich wenigstens verteidigen zu können, wenn sie ihn jagten.
Der Lärm der Sirene war so stark, dass der Mann Alex nicht kommen hörte. Alex holte mit der Harpune aus und traf seinen Hinterkopf. Der Mann ging lautlos zu Boden. Alex nahm für alle Fälle seine Pistole an sich, stieg in den Jeep und stellte erleichtert fest, dass der Zündschlüssel steckte. Ian Rider hatte ihm auch das Autofahren beigebracht. Er jagte den Motor hoch, legte den Gang ein und gab Gas. Die beiden anderen Wagen kamen rasch näher. Die Wachmänner mussten seinen Überfall beobachtet haben. Das Flugzeug war inzwischen fast am Startpunkt der Rollbahn angekommen und drehte sich soeben langsam in Startposition.
Alex’ Hoffnung sank. Er würde das Flugzeug nicht rechtzeitig erreichen.
Vielleicht waren seine Sinne durch die Gefahren geschärft worden, die jetzt von allen Seiten drohten und die er in den letzten beiden Tagen und während des Trainingslagers überstanden hatte. Alex’ Denken war völlig abgeschaltet. Er wusste instinktiv, was er zu tun hatte, als ob er es schon ein Dutzend Mal getan hätte.
Er stoppte den Jeep, griff in seine Tasche und holte das Jojo heraus, das er von Smithers bekommen hatte. An seinem Gürtel befand sich ein starker Metallknopf, an dem er es befestigen konnte. Es klickte, als er das Jojo auf den Knopf presste. Mit fliegenden Fingern band er das Ende des Nylonfadens um das Ende der Harpune. Dann steckte er die Pistole, die er dem Wärter abgenommen hatte, am Rücken in den Gürtel. Er war bereit.
Das Flugzeug hatte seine Flugvorbereitungstests abgeschlossen und stand wartend am Rollfeld. Die Propeller liefen auf Hochtouren.
Alex rammte den ersten Gang hinein, löste die Handbremse und stieg aufs Gas. Der Jeep rutschte unbeholfen, denn in der Aufregung hatte Alex Probleme mit der Kupplung. Doch dann schoss er vorwärts über die Auffahrt und den Rasen direkt auf das Rollfeld zu. Gleichzeitig hörte Alex hinter sich das trockene Rattern von Maschinengewehren. Er riss das Steuer herum und jagte den Jeep zur Seite, dann schwang er wieder in die ursprüngliche Richtung. Der Außenspiegel explodierte förmlich und ein Kugelregen hämmerte in die Windschutzscheibe und die Beifahrertür.
Die beiden Autos, die ihn verfolgten, rasten auf ihn zu – und sie waren schneller. Aus beiden Wagen lehnten sich Uniformierte und legten ihre Gewehre an. Sie holten weiter auf. Alex schwang den Jeep hin und her. Einen furchtbaren Augenblick lang befand er sich tatsächlich zwischen ihnen und beide Wächter feuerten auf ihn. Verzweifelt trieb Alex den Jeep zum Äußersten. Er näherte sich dem Rollfeld, blieb aber auf der breiten Grasnabe – denn nur hier, auf dem unebenen Grasboden, hatte er eine Chance, die Kraft des Allradantriebs voll auszunutzen und die beiden Autos abzuhängen. Der Jeep schoss aus der Lücke zwischen den Verfolgern hervor und gewann Vorsprung. Wie durch ein Wunder hatten die Wachleute ihn noch nicht getroffen, doch jetzt blitzartig ihres Zieles beraubt, trafen sie sich gegenseitig. Alex hörte einen von ihnen aufschreien. Er warf einen kurzen Blick zurück: Einer der Fahrer hatte die Kontrolle über sein Auto verloren. Der Wagen drehte bei hundert Sachen urplötzlich fast im rechten Winkel ab, überschlug sich in der Luft und krachte auf den Boden zurück, wo er auf dem Dach liegen blieb. Der andere Wagen bremste zunächst scharf, nahm dann aber wieder die Verfolgung auf.
Er sah sich um. Das Flugzeug hatte sich auf der Startbahn langsam in Bewegung gesetzt. Alex jagte mit wildem Schaukeln von der Grasnabe auf den Teerbelag des Rollfelds.
Er riss das Steuer herum und drückte das Gaspedal voll durch. Der Jeep raste mit durchdrehenden Reifen hinter dem Flugzeug her.
In diesem Augenblick wurden Alex zwei Dinge schlagartig bewusst: Sein gewagter Plan, die Harpune mit der Jojoschnur neben der hinteren Ladeklappe in das Metall der Flugzeugverkleidung zu schießen, sich durch das Jojo heranziehen zu lassen und dann zu versuchen, unbemerkt in das Flugzeug zu gelangen, würde nicht funktionieren. Niemals würde er bei einem startenden Flugzeug von außen die Tür öffnen können. Und außerdem war der Jeep viel zu langsam, um noch näher an das Flugzeug herankommen zu können.
Er ging vom Gas. Klar, er hatte keine Zeit gehabt, richtig nachzudenken. Jedenfalls würde es so nicht funktionieren. Die Kids in England waren verloren. Und er, Alex, war am Ende. Jetzt würden sie ihn hier fertigmachen.
In diesem Augenblick geschah das Unglaubliche. Das unerhörte Glück, das Alex während der vergangenen Tage gehabt hatte, ließ ihn auch jetzt nicht im Stich.
Das Flugzeug wurde langsamer, hielt schließlich an. Alex fuhr ungläubig hinterher und stoppte den Jeep hinter dem Heck.
Was war los? Warum hielt das Flugzeug wieder an? Es hatte noch keine fünfzig Meter zurückgelegt. Dann wurde ihm plötzlich klar, was geschehen sein musste.
Die hintere Ladeklappe unter dem Heck hatte sich nicht völlig geschlossen; sie schien zu klemmen. Der Startvorgang war abgebrochen worden, um die Heckklappe vollends zu schließen.
Von hinten hörte er die Verfolger heranjagen. Alex riss die Harpune hoch und zielte.
Langsam, unerträglich langsam, wie ihm schien, öffnete sich die Ladeklappe unter dem Heckteil ein Stückweit nach unten. Offenbar war es zugleich eine Auffahrtsrampe. Alex drückte ab.
Die Harpune zischte wie ein Blitz durch die Luft. Das Jojo an seinem Gürtel drehte sich wild und spuckte dreißig Meter Nylonschnur aus. Die Harpune grub sich knapp unterhalb des oberen Randes der Ladetür in die Metallverkleidung.
Die Schnur spannte sich. Alex ließ das Harpunengewehr fallen und drückte auf den Knopf, der den Jojo-Motor startete. Der winzige, aber sehr starke Motor heulte auf, als wolle er gegen diese Arbeit protestieren. Alex wurde mit einem Ruck aus dem Jeep gerissen, sodass seine Beine schmerzhaft über den Rand der Windschutzscheibe scheuerten. Er wurde mit gewaltiger Kraft geradewegs durch die Luft katapultiert. Im letzten Moment gelang es ihm, die Hände hochzureißen und den Aufprall gegen die Ladeklappe abzufedern.
Hinter ihm peitschten Schüsse. Er ignorierte sie. Die Ladeklappe begann sich wieder zu schließen. Gleichzeitig setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Die starken Turbos heulten auf – lauter als zuvor. Der Pilot hatte offenbar beschlossen, nicht zur Startposition zurückzukehren, sondern den Start auf dem Rest des Rollfelds zu versuchen.
Alex klammerte sich mit einer Hand an die Kante der Ladeklappe, schaltete mit der anderen den Jojo-Motor aus. Die Nylonschnur gab augenblicklich nach. Dann schwang er sich über den Rand der Klappe und ließ sich ins Innere des Flugzeugs rutschen.
Die Ladeklappe schloss sich, aber wieder nicht vollständig. Doch dieses Mal hielt das Flugzeug nicht mehr an.
Es donnerte über die Startbahn und hob ab.
Alex blieb fast zehn Minuten lang völlig benommen und erschöpft auf dem Boden liegen. Dann setzte er sich auf und ließ den Blick umherschweifen.
Das Flugzeug war leer – bis auf ein paar Bündel, die am Rand der Ladefläche lagen und die Alex irgendwie bekannt vorkamen. Im Cockpit saß nur ein einziger Pilot. Aber der hatte sich eben von seinem Sitz erhoben. Offenbar hatte er den Autopiloten eingeschaltet.
Alex riss die Pistole des Wachmanns aus dem Gürtel.
Der Pilot hatte sich umgedreht und kam in den Laderaum, vermutlich, um zu kontrollieren, ob die Ladeklappe richtig geschlossen war. Alex stand auf, und der Pilot zuckte zurück.
»Hallo, Mr Grin«, sagte Alex.
»Warg?«, presste der Butler hervor. Instinktiv griff er in die Tasche.
Alex hob die Pistole höher und zielte auf Grins Kopf. Er hätte niemals kaltblütig abdrücken können, aber das brauchte Grin nicht zu wissen.
»Also dann, Mr Grin«, schrie er über den Motorenlärm. »Sie können vielleicht nicht mit mir reden, aber zuhören sollten Sie mir schon. Und zwar sehr genau. Ich will, dass Sie dieses Flugzeug nach London fliegen, direkt zum Science Museum in South Kensington. Wir werden dafür höchstens eine halbe Stunde brauchen. Und wenn Sie glauben, mich austricksen zu können, verpasse ich Ihnen eine Kugel. Haben Sie verstanden?«
Mr Grin sagte nichts. Hasserfüllt starrte er Alex an.
Alex drückte ab. Die Kugel schlug krachend in den Boden, keine Handbreit von Grins Füßen entfernt. Mr Grin starrte das Loch an, dann richtete er den Blick wieder auf Alex. Langsam nickte er.
Er drehte sich um, ging ins Cockpit zurück und griff nach dem Steuerknüppel. Das Flugzeug legte sich in eine steile Kurve und nahm Kurs in Richtung Osten.