Tal des Todes
Eine ziemlich wütende Nadia warf Alex am nächsten Morgen aus dem Bett. Er hatte glatt verschlafen.
»Heute ist die letzte Gelegenheit, den Stormbreaker zu testen!«, sagte sie vorwurfsvoll.
»In Ordnung«, gab Alex ziemlich gleichgültig zurück.
»Am Nachmittag beginnen wir mit der Auslieferung der Geräte an die Schulen. Mr Sayle hat vorgeschlagen, dass du am Nachmittag frei bestimmen kannst, was du machen willst. Vielleicht einen Spaziergang nach Port West? Es gibt einen sehr schönen Fußpfad über die Klippen am Meer entlang. Das würde dir doch gefallen, nicht wahr?«
»Oh, super.« Alex tat so, als hielte sich seine Begeisterung in Grenzen. Tatsächlich war er sehr begeistert. Endlich ließen sie ihn in Ruhe.
»Gut. Ich gehe jetzt, damit du dich anziehen kannst. Ich komme dann in ungefähr zehn Minuten zurück. In Ordnung?« Alex nickte. Er ging ins Bad und tauchte sein Gesicht in eiskaltes Wasser. Dann zog er sich an. Er war noch immer sehr müde. Schließlich war er erst um vier Uhr morgens ins Bett gekommen. Die nächtliche Expedition war nicht so erfolgreich gewesen, wie er gehofft hatte. Zwar hatte er ein paar interessante Dinge gesehen – das U-Boot, die silbern glänzenden Behälter – aber was hatte er wirklich in Erfahrung gebracht? Nicht viel.
Arbeitete Yassen Gregorovich für Herod Sayle? Er hatte keinerlei Beweis, dass Sayle überhaupt wusste, dass sich Yassen seit heute Nacht auf dem Gelände befand. Und was war mit den Behältern? Was für gefährliches Zeug wurde da aufbewahrt?
Heute war der 31. März. Wie Volonska gesagt hatte, wurden die Computer heute ausgeliefert. Bis zur Feier im Londoner Science Museum hatte Alex also nur noch einen einzigen Tag.
Aber Alex hatte bislang nichts in der Hand, was er MI6 berichten konnte. Selbst das einzige Stückchen Information, das er durchgegeben hatte – Ian Riders Zeichnung –, war eine Niete gewesen.
Er hatte den Gameboy eingeschaltet, bevor er um vier Uhr morgens ins Bett gestiegen war, und die Antwort sah er jetzt auf dem Bildschirm.
Diagramm und Zahlencode nicht identifizierbar. Möglicherweise Hinweis auf Landkarte, aber Karte nicht feststellbar. Weitere Informationen erforderlich.
Alex überlegte, ob er berichten sollte, dass er Yassen Gregorovich gesichtet hatte. Aber er entschied sich dagegen. Mrs Jones hatte angekündigt, dass sie ihn sofort zurückrufen werde, wenn Yassen auftauchte. Aber Alex wollte diese Sache nun unbedingt bis zum Ende durchstehen. Hier bei Sayle Enterprises ging etwas Ungutes vor sich. Das war absolut klar. Er würde es sich selbst nie verzeihen, wenn er nicht herausfinden würde, was los war. Zumal der Tod seines Onkels unmittelbar damit in Zusammenhang stand.
Nadia Volonska holte ihn wie angekündigt ab und die nächsten drei Stunden verbrachte er am Bildschirm des Stormbreaker. Doch dieses Mal machte die Sache nicht mehr so viel Spaß. Außerdem stellte er fest, als er sich zur Tür schlich und sie vorsichtig öffnete, dass man einen Wachmann aufgestellt hatte – bewaffnet. Offenbar wollte Sayle Enterprises nicht mehr riskieren, dass sich Alex ein zweites Mal einen nicht genehmigten Spaziergang erlaubte.
Um ein Uhr ließ ihn der Wärter aus dem Zimmer und brachte ihn bis zum Haupttor. Es war ein prächtiger Tag; die Sonne schien hell und warm. Er spazierte zum Tor hinaus und die Straße entlang. Ein letzter Blick zurück: Mr Grin war eben aus einem der Gebäude gekommen, stand mitten in der Auffahrt und telefonierte mit einem Mobiltelefon. Irgendetwas an dieser Szene beunruhigte Alex. Grin telefonierte. Warum ausgerechnet jetzt? Und überhaupt: Wer verstand auch nur ein Wort von dem, was Grin von sich gab?
Erst als Alex ein gutes Stück von dem Gelände entfernt war, ließ seine innere Anspannung ein wenig nach.
Ohne Probleme fand er die Stelle, an der der Fußpfad von der Straße abzweigte. Er schätzte, dass er mehrere Kilometer von Port West entfernt war; er würde also ungefähr eine Stunde brauchen, wenn die Strecke nicht zu steil war. Aber der Weg führte fast sofort steil in die Höhe, und plötzlich stand Alex vor dem Atem beraubenden Panorama des Ärmelkanals. Der Pfad folgte den Klippen in unzähligen Windungen, immer gefährlich nahe am Abgrund – mindestens fünfzig Meter, die fast senkrecht zum Meer abfielen. Auf der anderen Seite erstreckten sich schier endlose Felder, die mit hohem Gras bewachsen waren, das in der Brise hin und her wogte. Port West lag geschützt in einer Bucht am Ende der Klippen. Von hier oben wirkte es wie eine winzige Legostadt.
Nach einer Weile kam Alex zu einer Weggabelung. Ein Pfad führte nach rechts über die Felder, schien aber sehr viel weniger benutzt als der Weg über die Klippen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er eigentlich geradeaus weitergehen müsse, aber der Wegweiser wies eindeutig nach rechts. Etwas an dem Schild kam ihm seltsam vor, ließ ihn zögern, doch er kam nicht darauf, was es war. Er verdrängte den Gedanken und bog nach rechts ab. Schließlich spazierte er hier durch freies Gelände. Was sollte schon passieren?
Der Pfad führte ungefähr einen halben Kilometer weit über die Felder, dann kam ein unerwarteter Abstieg in eine Senke. Hier stand das Gras so hoch, dass es ihm fast bis über den Kopf ging – ein grün schimmernder Käfig. Vögel stiegen urplötzlich aus dem Gras auf, ein Wirbel von Federn und Flügeln. Und dann hörte Alex noch etwas anderes – Motorengeräusch. Ein Traktor? Wohl kaum, der Motor klang viel heller. Er heulte geradezu, offenbar wurde er in einem kleinen Gang in Höchstgeschwindigkeit gefahren. Und kam auf ihn zu.
Alex spürte sofort die Gefahr, auch wenn er sie noch nicht sehen konnte. Die Gefahr war aber da. Und als etwas Großes durch das Gras brach, befand sich Alex bereits im Hechtsprung zur Seite. Keine Sekunde zu früh.
Schlagartig wurde ihm klar, dass er sich im Tal des Todes befand. Das Gras bot einen hervorragenden Sichtschutz für einen kleinen Mord. Und genauso schlagartig wurde ihm klar, was ihm an dem Wegweiser hätte auffallen sollen: Er war brandneu gewesen.
Alex rollte blitzartig zur Seite. Das Fahrzeug hatte scharf gewendet und brach durch das Gras, ein Vorderrad raste eine Handbreit an Alex’ Kopf vorbei. Alex sah kurz ein großes schwarzes Ding mit vier gewaltigen Reifen, eine Mischung aus Kleintraktor und Motorrad, eine Art Beachbike. Der Fahrer trug graue Motorradkleidung mit Helm und Schutzbrille. Dann war das Gefährt auch schon wieder verschwunden.
Alex kam auf die Füße und rannte davon. Über die Schulter erkannte er zwei Bikes. Wie wütende Wespen begannen sie ihn zu umkreisen. Ein Dröhnen war zu hören, dann tauchte das zweite Bike vor ihm auf, schnitt eine Schneise durch das Gras und raste mit aufbrüllendem Motor auf ihn zu. Wieder warf sich Alex in letzter Sekunde zur Seite, krachte auf den Boden und renkte sich dabei fast die Schulter aus. Fahrtwind und Abgase fegten über sein Gesicht.
Er musste irgendwo in Deckung gehen. Aber er befand sich inmitten eines Feldes und sah nichts, was ihm Schutz bieten konnte. Verzweifelt rannte er durch das Gras, dessen scharfe Halme sein Gesicht zerschnitten. Halb blind versuchte er, auf den Pfad zurückzugelangen. Was er jetzt brauchte, waren Menschen – unbeteiligte Spaziergänger, Bauern. Wer auch immer diese Maschinen geschickt hatte (war es Grin, der vor dem Gebäude telefoniert hatte), er würde es nicht wagen, ihn zu attackieren, wenn Zeugen in der Nähe waren.
Aber da war niemand. Und hinter ihm heulten die Motoren – sie verfolgten ihn, dieses Mal gemeinsam. Alex hörte, wie sie näher kamen. Er warf einen Blick über die Schulter: Sie fuhren nebeneinander, waren schon so nahe, dass sie ihn fast zwischen sich hatten. Und als die Sonnenstrahlen plötzlich streifenartig im Gras reflektiert wurden und das Gras zwischen den Bikes wie unter einer Sense fiel, wurde ihm schlagartig klar, was sie planten. Sie hatten einen scharfen Draht zwischen sich gespannt, der jetzt durch das Grün schnitt wie ein Rasierapparat.
Alex hechtete kopfüber ins Gras. Der Draht rasierte über ihn hinweg.
Er kam wieder auf die Beine. Die Bikes trennten sich, schwangen nach außen und beschrieben große Bogen auf beiden Seiten. Das konnte nur bedeuten, dass sie den Draht fallen gelassen hatten. Alex spürte, dass er sich beim letzten Sturz den Knöchel leicht übertreten hatte. Er humpelte auf die Stelle zu, an der sich die Bikes getrennt hatten. Sein Blick irrte über die Landschaft, aber es gab auch hier keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Er hatte keine Waffen, nichts, womit er sich hätte verteidigen können, nicht einmal ein Taschenmesser. Im Augenblick waren die beiden Bikes etwa fünfzig Meter weit entfernt. Was planten sie als Nächstes?
Die Motoren heulten wieder heran, und plötzlich explodierte ein roter Feuerball über dem Gras, das aufglühte und sofort verbrutzelte. Alex spürte ein Brennen an der Schulter. Er warf sich zur Seite. Einer der Fahrer hielt einen Flammenwerfer in der Hand! Er hatte gerade einen Feuerstoß abgegeben, mindestens acht Meter lang, und hatte Alex nur knapp verfehlt. Sie wollten ihn abfackeln, und es war ihnen schon beim ersten Versuch beinahe geglückt. Alex’ Rettung war ein kleiner Graben, in den er gestürzt war, sodass die Flammen über ihn hinweggingen. Das war knapp gewesen.
Hustend und keuchend kam er auf die Beine. Er rannte blind weiter, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte, wenn sie erneut angriffen. Er wusste nur, dass die Bikes in ein paar Sekunden wieder auftauchen würden. Nach zehn Schritten merkte er plötzlich, dass er das Ende des Grasfelds erreicht hatte. Er sah ein Warnschild, dahinter einen Elektrozaun, der sich auf beiden Seiten erstreckte. Beinahe wäre er dagegengerannt. Der Zaun selbst war fast unsichtbar, teilweise vom Gras überwachsen, und seine Verfolger würden ihn weder sehen noch über dem Motorenlärm das Summen hören können ...
Er hielt an und drehte sich um.
Ungefähr fünfzig Meter entfernt wurde das Gras umgemäht – dort mussten die Bikes heranjagen. Doch dieses Mal wartete Alex auf sie. Er nahm all seinen Mut zusammen – er hatte keine andere Wahl. Er stand da, sprungbereit. Noch zwanzig Meter, noch zehn ... Jetzt starrte er direkt in die Schutzbrille des Fahrers, sah die ungleichen Zähne, als der Mann ihn angrinste, sah, dass er den Flammenwerfer in der Hand hielt. Das Bike stürzte sich brüllend über ihn – nur war Alex nicht mehr da, hatte sich zur Seite geworfen. Zu spät sah der Fahrer den Zaun, raste direkt in die Drähte. Er schrie, als ein Draht in seine Brust schnitt. Das Bike wirbelte durch die Luft und schlug schwer auf den Boden auf. Der Mann fiel ins Gras und lag still.
Alex rannte zu dem leblos daliegenden Körper. Einen Augenblick lang hatte er gedacht, es sei Yassen, aber jetzt sah er, dass es ein jüngerer Mann war, mit dunklen Haaren und hässlichem Gesichtsausdruck. Alex kannte ihn nicht. Der Mann war bewusstlos, atmete aber noch. Hinter sich hörte Alex jetzt das andere Bike herankommen, aber es war noch etwas weiter entfernt. Er musste hier weg.
Er rannte zu dem umgestürzten Bike hinüber, stellte es auf die Räder und sprang auf den Sattel. Er drückte den Startknopf. Der Motor sprang sofort an. Wenigstens musste sich Alex nicht um die Gangschaltung kümmern. Er jagte den Motor hoch und packte den Lenker. Die Maschine schoss davon.
Er schnitt durch das hohe Gras wie ein raketengetriebener Rasenmäher, zurück zum Fußpfad. Das andere Bike konnte er jetzt nicht mehr hören, aber er wusste, dass der Fahrer kaum gesehen haben konnte, was am Zaun geschehen war. Im Moment wurde Alex also nicht verfolgt. Seine Knochen schmerzten von den Stürzen, jetzt wurden sie noch einmal durchgeschüttelt, als das Bike in Bodenlöcher krachte oder über Wurzeln und Steine donnerte.
Wieder schnitt Alex durch ein Grasfeld. Plötzlich zog er heftig an den Bremshebeln und riss das Bike herum. Er hatte den Fußpfad erreicht, der an den Klippen entlangführte – und damit auch die Steilküste. Nur drei Meter hatten gefehlt, und er wäre fünfzig Meter tief ins Meer gestürzt. Ein paar Sekunden lang blieb Alex bewegungslos stehen. In diesem Augenblick tauchte das zweite Bike auf. Irgendwie musste der Fahrer bemerkt haben, was geschehen war, denn er hatte versucht, Alex den Weg abzuschneiden. Er stand abwartend in ungefähr zweihundert Metern Entfernung.
Alex blickte den Weg zurück, den er zu Fuß gekommen war. Das ging nicht. Der Weg war zu schmal für das Gefährt. Sollte er ins hohe Gras zurück? Nein, auch das war sinnlos. Er musste geradeaus weiterfahren, selbst wenn das hieß, direkt auf den Gegner zuzurasen und einen Frontalzusammenstoß zu riskieren.
Offenbar gab es keine andere Lösung.
Der Mann jagte den Motor hoch und schoss vorwärts; Alex tat dasselbe. Jetzt rasten die beiden Bikes aufeinander zu. Die Klippen türmten sich hier zu einer hohen Felswand und der Pfad führte im oberen Drittel um den Felsen herum. Auf der einen Seite fielen die Klippen steil ins Meer ab, auf der anderen stiegen sie scharf in die Höhe, wie eine Wand. Die Bikes konnten nicht aneinander vorbei, der Pfad war zu eng. Sie mussten entweder anhalten oder sie würden frontal zusammenprallen ... aber wenn sie anhalten wollten, mussten sie das in den nächsten zehn Sekunden tun.
Die Bikes rasten immer näher aufeinander zu und beide beschleunigten. Weit unter ihnen glitzerten die silbernen Wellen und brachen sich an den Felsen. Alex raste an einem vorstehenden Felsblock vorbei. Der Motorenlärm dröhnte in seinen Ohren. Der Wind riss an ihm, hämmerte in sein Gesicht und gegen seine Brust. Eigentlich war es ein ziemlich kindisches Spiel – nach dem Motto »Der Klügere gibt nach«. Nur dass der Klügere in diesem Fall tot sein würde.
Drei, zwei, eins ...
Der Gegner knickte zuerst ein. Er war nur noch etwa fünf Meter entfernt, so nahe, dass Alex die Schweißperlen auf seiner Stirn sehen konnte. In dem Augenblick, in dem der Zusammenstoß unvermeidlich schien, riss der Mann sein Bike herum und zog es auf die kleine Böschung, die sich zwischen dem Pfad und der Felswand gebildet hatte. Es war zu spät. Sein Bike kippte auf zwei Räder. Der Mann schrie auf. Er kämpfte mit dem Lenker, versuchte, das Gefährt wieder auf den Boden zu bekommen. Da stieß es gegen einen Felsen und prallte hoch, landete kurz auf dem Pfad und schoss schon auf die Klippen zu.
Alex spürte, wie die Maschine an ihm vorüberraste, aber er sah nicht viel mehr als einen verschwommenen Farbfleck. Er trat mit aller Kraft auf die Bremse, blickte zurück und sah gerade noch, wie sein Gegner über die Klippen stürzte. Der Mann schrie, hatte sich von dem Bike losgestoßen. Beide stürzten ins Meer. Das Bike versank sofort, der Mann ein paar Sekunden später.
Alex starrte wie gelähmt hinunter. Seine Knie zitterten und der Schock setzte plötzlich mit aller Kraft ein. Er übergab sich. Ihm war klar, dass er jetzt eigentlich tot sein sollte. Was hatte ihm das Leben gerettet? Die Schnelligkeit seiner Reaktionen? Der elektrische Zaun? Seine Kaltblütigkeit? Das Training im Lager des Geheimdienstes? Oder war es nur einfach unverschämt viel Glück gewesen? Er wusste es nicht; wahrscheinlich eine Mischung von allem. Er legte sich ins Gras, Arme und Beine weit von sich gestreckt, die Augen geschlossen und hörte auf seinen Herzschlag bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte.
Doch dann kamen die Fragen. Wer hatte die Männer mit den Bikes geschickt? Nadia Volonska hatte Alex zwar vorgeschlagen, den Spaziergang am Meer entlang zu machen, aber Grin hatte ihn beobachtet, als er das Gelände verließ. Alex war ziemlich sicher, dass Mr Grin den Befehl gegeben hatte.
Alex brauchte fast eine halbe Stunde, ehe er sich wieder unter Kontrolle hatte. Er stieg auf das Bike, fuhr bis zum Ende des Pfads und stellte es dort ab. Die Sonne schien noch immer sehr warm, als er durch das kleine Fischerdorf ging. Jetzt nach diesem Anschlag auf sein Leben war er mehr denn je entschlossen herauszufinden, was bei Sayle Enterprises vor sich ging.