Null-null-nix
Schon zum hundertsten Mal verfluchte Alex diesen Oberspion Alan Blunt, wobei er Wörter benutzte, von denen er vorher nie vermutet hätte, dass er sie überhaupt kannte. Es war jetzt fast fünf Uhr nachmittags, aber es hätte genauso gut fünf Uhr morgens sein können: Der Himmel hatte sich während des ganzen Tages kaum verändert. Er war stahlgrau und kalt. Noch immer regnete es, ein feiner Nieselregen, der über die Landschaft geweht wurde und sogar durch Alex’ angeblich wetterfeste Kleidung drang. Darunter vermischte sich der Regen mit seinem Schweiß, und Alex fror bis auf die Knochen.
Er entfaltete die Karte und überprüfte seine Position noch einmal. Eigentlich müsste er jetzt den letzten TP – also den letzten Treffpunkt – des heutigen Tages schon fast erreicht haben, aber er konnte ihn nirgendwo sehen. Er stand auf einem schmalen Pfad, der mit grobem Kies bestreut war. Bei jedem Schritt knirschte es laut unter seinen schweren Springerstiefeln.
Der Pfad wand sich um einen steilen Berghang. Alex befand sich irgendwo in den Brecon Beacons, einem Gebirge in Wales, und eigentlich hätte hier die Aussicht fantastisch sein sollen, aber im Regen und in dem rasch schwächer werdenden Licht konnte davon nicht die Rede sein. Ein paar Bäume mit scharfkantigen Blättern, die so hart waren wie Dornen, lehnten sich müde aus dem Berghang. Hinter Alex, vor ihm und rechts unter ihm sah alles gleich aus – Niemandsland.
Alex spürte jeden einzelnen Knochen in seinem Körper. Der Rucksack, den er mitschleppen musste, wog über zehn Kilo, rieb ihm den Rücken wund und die Träger schnitten ihm in die Schultern. Unterwegs war er gestürzt; die Wunde an seinem rechten Knie blutete zwar nicht mehr, brannte aber wie Feuer. An der Schulter hatte er eine leichte Prellung und am Nacken einen tiefen Kratzer. Die Tarnkleidung, die er statt seiner GAP-Hose hatte anziehen müssen, war zwar wirklich gut, passte ihm aber nicht richtig. Die Hose zwickte im Schritt und die Jacke war unter den Achseln zu eng, aber dafür war sie sonst überall viel zu weit.
Alex wusste, dass er kurz vor der völligen Erschöpfung stand und fast zu müde war, um überhaupt noch all die Schmerzen zu spüren. Hätte er nicht mehrere Traubenzucker- und Koffeintabletten geschluckt, wäre er schon längst unterwegs liegen geblieben. Und er wusste auch, dass er keinen Schritt mehr weitergehen konnte, wenn er den Treffpunkt nicht bald fand. Dann allerdings würde er aus dem Trainingskurs geworfen, »ausgemüllt«, wie die anderen das nannten. Daran würden sie ihre helle Freude haben.
Alex schluckte den bitteren Geschmack hinunter, den er bei dem Gedanken an eine Niederlage im Mund spürte. Er faltete die Karte zusammen und trieb sich selbst weiter. Er hasste Niederlagen und er hasste es aufzugeben.
Heute war sein neunter – oder war es vielleicht schon der zehnte? – Tag im Trainingslager. Irgendwie hatte er jedes Zeitgefühl verloren, die Tage waren so gestaltlos wie der ewige Regen. Nach dem Essen mit Alan Blunt und Mrs Jones war er von der Villa in eine der grob gezimmerten Holzhütten umgezogen, die im Trainingslager standen. Das Lager selbst lag ein paar Kilometer von der Villa entfernt. Insgesamt gab es neun bewohnte Hütten; in jeder befanden sich vier Bettgestelle und vier Spinde aus Metall. In eine von ihnen hatte man für Alex ein fünftes Bett und einen zusätzlichen Spind gezwängt. Zwei weitere Hütten standen etwas abseits. In einer befanden sich Küche und Esssaal, in der anderen Toiletten, Waschräume und Duschen, letztere natürlich ohne warmes Wasser.
Am ersten Tag war Alex dem Ausbildungsoffizier vorgestellt worden, einem extrem fit aussehenden schwarzen Sergeant. Er gehörte zu den Männern, die immer behaupteten, sie hätten schon alles gesehen und erlebt und nichts auf der Welt könne sie noch überraschen. Bis er Alex vor sich stehen sah. Lange Zeit hatte er den Jungen sprachlos gemustert.
»In meinem Job stellt man keine Fragen«, sagte er schließlich. »Aber wenn, dann würde ich doch zu gerne wissen, wer auf die gottverdammte Scheißidee gekommen ist, mir ein Kind zu schicken.« Die Adern an seinem muskulösen Hals schwollen sichtbar an. »Weißt du eigentlich, wo du hier bist, Bengel?« Seine Stimme steigerte sich zu einem Brüllen. »Das hier ist nicht das Elitecollege von Eton! Es ist auch nicht der Club Fei-ne-pin-kel!« Diese vier Silben spuckte er förmlich aus. »Man schickt mir dieses Bürschchen hier und verlangt von mir, es in elf Tagen durch ein Training zu powern, das normalerweise vierzehn Wochen dauert! Bei erwachsenen Männern, wohlgemerkt! Das ist Wahnsinn! Nein, schlimmer: Das ist Mord!«
»Ich hab mir das nicht ausgesucht«, wandte Alex ein.
Diese Bemerkung machte den Sergeant noch wütender. »Du redest kein Wort, bevor ich es dir erlaube, verstanden?«, donnerte er. »Und wenn, wirst du mich IMMER mit ›Sir‹ anreden, ist das klar!«
»Jawohl ... Sir!« Im Vergleich zu diesem Sergeant war Alex’ ständig herumbrüllender Geografielehrer in der Schule ein sanftes Lämmchen.
»Wir operieren hier im Moment mit fünf Einheiten«, fuhr der Sergeant fort, jetzt wieder in halbwegs normalem Ton. »Diese Einheiten werden mit Buchstaben bezeichnet. Du wirst der K-Einheit zugeordnet. Wir benutzen keine Namen. Ich habe keinen Namen. Du hast keinen Namen. Wenn dich irgendjemand fragt, was du hier machst, gibst du keine Antwort. Manche Männer werden vielleicht ein wenig hart mit dir umspringen. Manche Männer mögen es vielleicht nicht, dass du hier bist. Aber damit musst du leben. Und noch was anderes solltest du dir gut merken: Ich kann dich ein wenig schonen. Du bist schließlich ein Junge und noch kein Mann. Aber wenn du dich beklagst, auch nur ein einziges Mal, wirst du ausgemüllt. Wenn du nur ein einziges Mal zurückbleibst, wirst du ausgemüllt. Und ich sag’s dir lieber gleich, Junge, ganz im Vertrauen: Am liebsten würde ich dich jetzt sofort ausmüllen.«
Nach dieser ermutigenden Begrüßung hatte sich Alex dem K-Team angeschlossen. Wie der Sergeant vorausgesagt hatte, waren die Männer nicht gerade überglücklich, ihn bei sich zu haben. Was Alex zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, aber bald herausfinden würde, war, dass er sich in einem Trainingslager befand, das normalerweise vom SAS, dem Special Air Service, genutzt wurde. Die Abteilung für Spezialoperationen beim M1 6 lehnte ihre Trainings an die Methoden der SAS an und wählte auch ihre Teams nach deren Kriterien aus.
Die K-Einheit bestand aus vier Männern. Jeder der vier Männer verfügte über ganz spezielle Kenntnisse. Und hier kam nun ein Junge, der offenbar von nichts eine Ahnung hatte.
Alle vier Männer waren Mitte zwanzig; als er zu ihnen in die Hütte kam, lagen sie schweigend auf ihren Pritschen. Zwei rauchten. Einer war unaufhörlich damit beschäftigt, seine Waffe auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen – eine 9-mm-Pistole Browning High Power. Jeder hatte einen Codenamen – Wolf, Fox, Eagle und Snake. Alex gaben sie den Namen »Cub«.
Wolf, der Mann mit der Browning, war ganz klar der Anführer. Ein kleiner Typ mit breiten Schultern, Stiernacken und schwarzen, kurz geschorenen Haaren. Sein Gesicht war eigentlich gut geschnitten, wurde jedoch durch die Nase entstellt, die offenbar schon mehrfach gebrochen worden war.
Wolf sprach als Erster. Er legte die Waffe hin und musterte Alex mit kalten, dunkelgrauen Augen. »Und wer bist du?«
»Cub«, sagte Alex.
»Du bist ein verdammter Schuljunge!« Wolf hatte einen seltsamen, ausländisch klingenden Akzent. »Ich kann’s nicht fassen! Gehörst du zu einer Spezialoperation?«
»Darüber darf ich nichts sagen.« Alex ging zu seinem Bett und setzte sich auf die Matratze. Sie war genauso hart wie das Bettgestell. Trotz der Kälte gab es nur eine einzige Wolldecke.
Wolf schüttelte den Kopf und grinste, aber seine Augen blieben humorlos und kalt. »Schaut euch bloß mal an, wen sie uns da geschickt haben!«, murrte er. »Null-null-sieben-Miniausgabe? Kommt mir eher wie Null-null-nix vor.«
Der Name saß, und die anderen wieherten. Von diesem Zeitpunkt an nannten sie Alex nur noch Null-null-nix.
In den folgenden Tagen wurde Alex zu einem Schatten der Gruppe. Er blieb nie weit zurück, aber er schloss sich den Männern auch nicht direkt an. Er tat fast alles, was sie machten. Er lernte, sich nach der Karte zu orientieren, erlernte den Funkverkehr und erste Hilfe, sah sich den Spezialunterricht für Nahkampf an, wetzte durch Tunnel und Gräben, schwang sich an herunterhängenden Seilen über Abgründe und kletterte riesige Steilwände empor. Der Abschluss fand in einem Trainingsgebiet statt, das sich im Wald neben dem Lager über beinahe einen halben Kilometer erstreckte. Alex kam es wie ein riesiger Abenteuerspielplatz für Kinder vor – allerdings nur für die Kinder des Teufels. Beim ersten Durchgangsversuch fiel er von einem Seil in eine Grube, die (absichtlich, wie er glaubte) mit tiefem Schlamm gefüllt war. Halb erfroren und schmutzig, wie er war, hatte ihn der Sergeant wieder an den Start zurückgeschickt. Alex war überzeugt, dass er den Durchgang niemals bis zum Ende schaffen würde. Doch als er den zweiten Versuch unternahm, kam er in fünfundzwanzig Minuten durch, und am Ende der Woche schaffte er den Durchgang in siebzehn Minuten. Er war zerschlagen und erschöpft, aber doch sehr zufrieden mit sich selbst. Selbst Wolf kam nie unter zwölf Minuten ins Ziel.
Das war Klasse, doch Alex hatte neben all den Anstrengungen noch ein großes Problem. Und das hieß Wolf. Wolf tat, was er konnte, um Alex zu quälen oder vor den anderen bloßzustellen. Es war, als sei er persönlich beleidigt, weil Alex seiner Gruppe zugeteilt worden war. Und je besser Alex zurechtkam, desto wütender verfolgte der Typ ihn. Als das Team einmal an Netzen emporkletterte, kickte Wolf vor ihm plötzlich mit dem Fuß aus und verfehlte Alex’ Gesicht nur um einen Zentimeter. Wenn er getroffen hätte, wäre es ihm natürlich nicht schwergefallen, die Sache als Unfall darzustellen. Ein anderes Mal war er erfolgreicher: Er stellte Alex im Esssaal ein Bein und Alex stürzte mit seinem Tablett in den Händen der Länge nach hin. Besteck, Geschirr und das Essen flogen in alle Richtungen davon. Und wann immer Wolf Alex anredete, triefte seine Stimme nur so vor Verachtung.
»Gute Nacht, Null-null-nix. Piss nicht ins Bett.« Alex biss sich auf die Lippe und sagte nichts.
Am achten Tag hätte Wolf es beinahe geschafft, Alex endgültig zu erledigen.
Es ereignete sich im Haus des Todes.
Das Haus des Todes war natürlich eine Attrappe, die Nachbildung eines Botschaftsgebäudes, in dem der SAS seine Leute in der Kunst der Geiselbefreiung unterrichten ließ. Alex hatte zweimal beobachtet, wie das K-Team das Haus stürmte; beim ersten Mal hatten sie sich vom Dach abgeseilt. Alex hatte danach an den Überwachungsmonitoren verfolgt, wie sie sich im Innern vorarbeiteten. Alle vier Männer waren bewaffnet. Alex nahm an dieser Übung nicht teil, weil irgendjemand beschlossen hatte, dass er keine Schusswaffen tragen dürfe. Im Haus des Todes spielten Stuntleute und Schauspieler die Rollen der Terroristen und Geiseln. Wolf, Fox, Eagle und Snake zertrümmerten die Türen und rückten vor, indem sie Stun-Granaten in die Räume warfen, die mit ohrenbetäubendem Lärm explodierten. Beide Male hatte das Team sein Auftragsziel erreicht.
Beim dritten Mal durfte Alex an der Erstürmung des Hauses teilnehmen. Man hatte Minen im Haus ausgelegt, aber wie sie ausgelöst wurden, war dem Team nicht bekannt. Alle fünf gingen unbewaffnet hinein; ihr Auftrag klang einfach und lautete, vom Vordereingang zum Hintereingang zu gelangen, ohne »gekillt« zu werden.
Sie schafften es – beinahe. Im ersten Raum, der als Speisezimmer eingerichtet war, fanden sie die Auslöserkontakte unter dem Teppich. Die Türen waren durch Infrarotstrahlen gesichert. Für Alex war es eine unheimliche Erfahrung, als er auf Zehenspitzen hinter den anderen durch den Raum schlich und zusah, wie sie die Infrarotstrahlen entdeckten, indem sie sich eine Zigarette ansteckten und den Rauch ausbliesen. Es war ein eigenartiges Gefühl, sich vor etwas zu fürchten, das man nicht sah. Im Flur befand sich ein Bewegungsmelder, der ein Maschinengewehr aktivieren sollte, das man hinter einer Schirmwand versteckt hatte und das natürlich mit Übungsmunition geladen war. Der dritte Raum war völlig leer. Das vierte Zimmer war ein Salon mit großen Terrassentüren an beiden Seiten. Durch den gesamten Raum war ein elektrischer Draht gespannt, der kaum dicker war als ein Menschenhaar; die Terrassentüren waren mit Alarmanlagen gesichert. Snake schaltete die Alarmanlagen aus, während sich Fox und Eagle daranmachten, den Draht zu deaktivieren.
Aber Wolf hielt sie davon ab. »Lasst das. Wir hauen ab.« Im selben Moment gab ihnen Snake das Zeichen, dass er die Alarmanlagen ausgeschaltet hatte. Die Terrassentüren konnten geöffnet werden.
Snake ging zuerst durch die Tür, gefolgt von Fox und Eagle. Alex sollte den Raum als Letzter verlassen, aber an der Tür versperrte ihm Wolf den Weg.
»Pech, Null-null-nix«, sagte Wolf. Seine Stimme war leise und klang fast freundlich.
Bevor Alex reagieren konnte, krachte Wolfs Handballen gegen seine Brust. Alex verlor das Gleichgewicht und stolperte rückwärts. Er erinnerte sich im Fallen an den Draht – aber er hatte keine Chance. Er fiel auf den Boden und riss den Draht mit sich. Eine Explosion erschütterte ihn, als hätte jemand sein Herz herausgerissen. Gleichzeitig entzündete sich ausgestreutes Magnesium und brannte volle zehn Sekunden lang. Die Blendwirkung war so intensiv, dass es nichts half, die Augen zu schließen. Alex lag mit dem Gesicht auf dem harten Holzboden, die Hände schützend gegen den Kopf gepresst. Unfähig, sich zu bewegen, wartete er auf das Ende.
Aber es war noch nicht vorbei. Als das Magnesium endlich abgebrannt war, wirkte die Blendung noch nach. Es war, als gebe es überhaupt kein Licht mehr. Alex kam zitternd auf die Beine, er konnte weder hören noch sehen und war so verwirrt, dass er nicht wusste, wo er sich befand. Der Boden schien heftig unter seinen Füßen zu schwanken. Ein durchdringender Chemikaliengeruch hing in der Luft.
Erst Minuten später stolperte er ins Freie. Wolf und die anderen warteten auf ihn. Wolfs Gesicht war vollkommen ausdruckslos, und Alex wurde klar, dass der Gruppenchef aus der Terrassentür gesprungen sein musste, noch bevor Alex auf dem Boden aufgeschlagen war. Der Sergeant kam auf sie zu, offensichtlich kochte er vor Wut. Alex hatte nicht erwartet, in seinem Gesicht auch nur eine Spur von Besorgnis zu sehen. Er wurde nicht enttäuscht.
»Sagst du mir mal, was du da drin angestellt hast?«, bellte der Offizier. Alex gab keine Antwort, und der Mann brüllte weiter: »Du hast die gesamte Übung vermasselt. Du hast versagt! Wegen dir wird vielleicht das gesamte K-Team ausgemüllt! Also noch mal: Was genau ist schiefgelaufen?«
Alex warf Wolf einen Blick zu, aber der hatte die Augen abgewandt. Was konnte Alex sagen? Sollte er die Wahrheit melden?
»Nun, was ist?«, bellte der Sergeant.
»Nichts ist passiert, Sir«, antwortete Alex. »Ich habe nur nicht aufgepasst, bin auf etwas getreten, und schon war da eine Explosion.«
»Wenn das in Wirklichkeit passiert wäre, wärst du jetzt tot!«, schnauzte der Sergeant. »Hab ich’s nicht gleich gesagt? Ein Fehler, mir ein Kind zu schicken! Noch dazu einen hirnlosen Kaugummifresser wie dich, der nicht mal guckt, wo er hintritt! Das ist das Schlimmste an der Geschichte!«
Alex blieb unbeweglich stehen und ließ alles über sich ergehen. Aus dem Augenwinkel glaubte er ein leises Lächeln in Wolfs Gesicht zu sehen.
Aber der Sergeant hatte es auch bemerkt. »Du findest das wohl besonders komisch, Wolf? Dann kannst du gleich dort reingehen und den Saustall aufräumen. Und heute Abend rate ich euch allen, früh ins Bett zu gehen und euch auszuruhen, denn morgen unternehmen wir einen Spaziergang – vierzig Kilometer. Nur Notrationen. Kein Feuer. Das ist eine Überlebensübung. Wenn ihr überlebt – wenn, sage ich –, dann hast du vielleicht Grund zum Grinsen, Wolf.«
Das war gestern gewesen, und jetzt, genau 24 Stunden später, erinnerte sich Alex wieder an die Worte des Sergeants.
Seit elf Stunden war Alex auf den Füßen und folgte dem Pfad, der auf einer Karte eingezeichnet war. Die Übung hatte um sechs Uhr morgens begonnen, nach einem reichhaltigen Frühstück mit Würstchen und gebackenen Bohnen – im grauen Licht der Morgendämmerung. Wolf und die anderen waren schon lange aus seinem Blickfeld verschwunden, sie hatten nur acht Stunden Zeit bekommen, um den Kurs zu durchlaufen. Als Ausgleich für sein Alter hatte man Alex zwölf Stunden zugestanden.
Er lief eine Wegbiegung entlang; seine Stiefel knirschten laut im Kies. Weiter vorne stand jemand auf dem Pfad. Beim Näherkommen erkannte er den Sergeant. Der Mann hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und Alex sah, dass er die Streichhölzer wieder in die Tasche steckte. Dem Sergeant wieder zu begegnen, rief in ihm den ganzen Terror und all die Wut und Scham wach, die er am Vortag im Haus des Todes empfunden hatte. Doch der Gedanke mobilisierte auch seine letzten Kräfte. Nur nicht noch einmal versagen ... Er hatte gründlich genug von Blunt, Jones, Wolf ... von diesem ganzen, verdammten Trainingslager. Mit letzter Kraft stolperte er die nächsten hundert Meter voran und blieb erschöpft vor dem Offizier stehen. Regen und Schweiß liefen ihm über das Gesicht. Er war keineswegs sicher, ob sich nicht auch Tränen darin vermischt hatten. Sein Haar glänzte jetzt dunkel vor Schmutz, Schlamm und Nässe und klebte in dicken Strähnen über seiner Stirn.
Der Sergeant blickte auf die Uhr. »Elf Stunden, fünf Minuten. Nicht schlecht, Cub. Aber die anderen waren schon vor drei Stunden hier.«
Scheiß auf die anderen, dachte Alex, sagte aber nichts. »Jedenfalls solltest du es noch bis zum letzten Treffpunkt schaffen«, fuhr der Sergeant fort. »Er ist dort oben.« Er deutete auf eine Felswand. Nicht einfach ein Abhang, sondern eine Wand, wirklich steil – solider Fels, der über fünfzig Meter hoch in den Himmel ragte. Schon bei dem bloßen Anblick rutschte Alex der Magen in die Knie. Ian Rider hatte ihn zum Klettern mitgenommen – in Schottland, Frankreich, überall in Europa. Aber noch nie hatte Alex eine so schwierige Wand zu besteigen versucht. Nicht allein. Und schon gar nicht in diesem erschöpften Zustand.
»Das schaffe ich nicht«, sagte er müde. Jetzt endlich gingen ihm diese vier Wörter ganz leicht über die Lippen.
»Das will ich nicht gehört haben«, entgegnete der Sergeant.
»Ich sagte, ich schaffe es nicht, Sir«, sagte Alex lauter. »Das ist ein Satz, den wir hier nicht kennen.«
»Ist mir egal. Mir reicht’s, ich hab echt genug. Ich hab gerade ...« Alex’ Stimme brach. Er traute sich nicht weiterzureden. Er stand einfach nur da, müde, erschöpft, kalt und innerlich ausgebrannt. Und wartete darauf, dass die Axt auf seinen Kopf niederging.
Aber nichts geschah. Der Sergeant starrte ihn eine unendliche Minute lang an. Dann nickte er langsam. »Hör mir genau zu, Cub«, sagte er. »Ich weiß, was im Haus des Todes abging.«
Alex blickte auf.
»Wolf hat die Videokameras vergessen. Wir haben alles auf dem Film.«
»Aber warum ...«, begann Alex.
»Hast du dich über ihn beschwert, Cub?«
»Willst du dich jetzt über ihn beschweren, Cub?« Eine Pause. »Nein, Sir.«
»Gut.« Der Sergeant wies auf die Steilwand. »Sieht schwieriger aus, als es wirklich ist«, sagte er. »Und sie warten auf dich hinter der Felskante. Dort gibt’s ein schönes kaltes Abendessen. Überlebensration. Das willst du doch sicherlich nicht verpassen.«
Alex holte tief Luft und setzte sich in Bewegung. Als er an dem Offizier vorbeiging, stolperte er und streckte instinktiv den Arm aus, um sich zu stützen. Dabei streifte er den Mann. »Tut mir leid, Sir.«
Er brauchte zwanzig Minuten, um die Wand zu bezwingen, und als er oben ankam, saßen die Männer des K-Teams bereits vor drei kleinen Zelten, die sie am Nachmittag aufgestellt hatten. Zwei Zweimannzelte und ein Einmannzelt für Alex.
Snake, ein dünner, blonder Mann, der mit einem schottischen Akzent sprach, blickte auf, als Alex über die Kante kletterte. Er aß mit einem Teelöffel kaltes Büchsenfleisch aus einer Dose. »Hätte ich nicht gedacht, dass du das schaffst«, sagte er.
Alex glaubte eine gewisse Wärme in seiner Stimme zu hören. Und zum ersten Mal hatte er ihn nicht Null-null-nix genannt.
»Ich auch nicht«, brachte Alex hervor.
Wolf hockte vor etwas, was er offenbar zu einem Lagerfeuer machen wollte, und versuchte vergeblich, Funken aus zwei Feuersteinen zu schlagen. Fox und Eagle sahen ihm schweigend zu. Die Steine erzeugten nur winzige Funken, und das Laub und die winzigen Streifen Zeitungspapier waren viel zu feucht. Alle starrten mit leeren Gesichtern auf die kalte Feuerstelle.
Alex holte die Schachtel Streichhölzer heraus, die er dem Sergeant aus der Tasche gefischt hatte, als er unten am Felsen absichtlich gegen ihn gestolpert war. »Vielleicht schaffst du es damit«, sagte er, warf Wolf die Streichholzschachtel zu und verschwand in seinem Zelt.
Es war geschafft.