KAPITEL XI
MEISTER DER UNTERERDE

Burin erwachte, aber er konnte nicht erkennen, wo er war. Seine Umgebung war in völlige Dunkelheit gehüllt. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass Kims Ring sie aus dem Thronsaal in Zarakthrôr in ein Meer aus Farben geschleudert hatte. Unwiderstehlich war er von Kim, dessen Hand er umklammert hielt, fortgezerrt worden; ja, er hatte das Gefühl, dass sein Griff mit sanfter Gewalt gelockert worden war. Aber wo war er gelandet? Im Hintern eines Esels war es ja heller als hier – wo immer dieses Hier auch sein mochte.

»Kim? Fabian? Marina?«, rief er. »Gwrgi?« Den Sumpfling hatte er fast vergessen.

Keine Antwort. Niemand schien ihn zu hören.

Burin setzt sich auf und hielt sich den Kopf. Wie ein Stich raste der Schmerz durch seinen Schädel. Er fühlte sich, als hätte er am Abend zuvor zu viel schlechten Wein oder Bier getrunken. Burin holte Atem und versuchte das Bergwerk in seinem Schädel zum Stillstand zu bringen, aber die Erzförderung lief unerbittlich weiter.

Es wäre schon schöner, wenn ich mich an das Besäufnis erinnern könnte, dachte er bei sich. Dann wüsste ich wenigstens, woran ich bin.

Er stöhnte probehalber, aber auch das vertrieb die hämmernde Pein in seinem Schädel nicht. Der Geschmack in seinem Mund war widerlich, und seine Zunge fühlte sich an, als sei sie von einem dichten Winterfell überzogen.

Der Zwerg versuchte seine Umgebung zu ertasten, aber außer nacktem Fels schien da nichts zu sein. Schließlich fühlte er den vertrauten Schaft Ynzilagûns zwischen den Fingern. Sofort schloss sich seine Faust fest um den Schaft der Doppelaxt. Ein Stück Selbstvertrauen kehrte zurück.

Wo, bei Azrathoth, sind meine Gefährten, fragte er sich, musste aber sogleich feststellen, dass heftige Gedanken die Pein in seinem Kopf nur verschlimmerten.

Es muss das Gelage aller Gelage gewesen sein, dachte er. Waren all die Gefahren, die er mit seinen Gefährten überwunden hatte, am Ende nur ein Traum im Suff gewesen?

Nein, das alles war wirklich geschehen; zu klar waren die Erinnerungen an all die Dinge, die er und die anderen auf der Wanderung von Elderland nach Zarakthrôr hatten durchmachen müssen. Sogar seinen Ring hatte er zu guter Letzt enthüllt, obwohl er ihn eigentlich noch länger hatte verbergen wollen, denn der Ring war das Geheimnis der Zwerge der Mittelreiche gewesen. Nun, es lohnte nicht, über verschüttete Milch zu sinnieren. Früher oder später wäre das Geheimnis doch ans Licht gekommen.

Ächzend erhob er sich – und prallte mit dem Kopf gegen die Decke. Vor seinen Augen drehten sich farbige Kreise, und fast hätte ihn der Schmerz ohnmächtig werden lassen. Schwindel überkam ihn, aber Burin kämpfte ihn nieder. Seine Hand fuhr zu seinem Kopf empor und bekam kühles Metall zu fassen; zum Glück hatte sein Helm die Wucht des Schlages aufgefangen. Er nahm die Kopfbedeckung ab und fand nicht einmal eine Delle daran.

Vorsichtig tastete er mit den Händen nach oben, und musste feststellen, dass selbst ein Zwerg wie er nur gebeugt gehen konnte. Die Decke war aus Stein, und sie konnte nicht höher als vier Ffuß sein.

Burin fluchte leise vor sich hin. Beim Meister, wo war er nur? Ringsum war immer noch nichts zu erkennen.

»Burin?«, ertönte die fragende Stimme Marinas rechts von ihm aus der Dunkelheit. Marina, die unentbehrliche Gefährtin, meldete sich, und Burin verspürte ein Kribbeln in der Magengegend, als er an sie dachte. Wurde ihm nun zu allem Überfluss auch noch übel? Das fehlte noch. Aber nein, dieses Kribbeln im Bauch war anders …

»Ja«, antwortete Burin in die Finsternis hinein und bewegte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Zumindest die kleine Ffolksfrau schien also das Abenteuer ebenfalls überlebt zu haben; er sah sie vor seinem inneren Auge, jede Einzelheit ihres kleinen, drallen Körpers, und er begann sich vorzustellen, wie …

Peng! Irgendetwas aus Stein war seinem Kopf im Weg, und er hatte es mit der Stirn erwischt. Diesmal ohne Helm. Mit einem Schmerzenslaut ging der Zwerg in die Knie. Tränen schossen ihm in die Augen, und der hämmernde Schmerz in seinem Kopf steigerte sich ins Unerträgliche.

Aber dann waren da diese Hände, die so fein und zart waren. Sie tasteten nach seinem Gesicht, nach seinem Kopf, und er wünschte sich einen verrückten Augenblick lang, dass es immer so sein mochte.

»Du musst vorsichtig sein, die Decke ist sehr niedrig«, sagte Marinas sanfte Stimme zu ihm. »Gwrgi und ich haben schon nach den anderen gesucht. Nun haben wir wenigstens dich gefunden. Folge mir einfach, halte dich an mir fest. Es wird bald heller.«

Burin fühlte, wie sich die Hand Marinas in die seine drängte und ihn mit sich zog. Der Zwerg hatte seine Lektion gelernt und ging gebückt, um nicht noch einmal missliebige Bekanntschaft mit etwas machen zu müssen, das härter war als sein Kopf.

Fast hatte er das Gefühl, Marina führe ihn durch ein Labyrinth, weil er mehrfach um scharfe Ecken herumgehen musste.

Dann konnte Burin einen Lichtschimmer ausmachen, und gleich darauf ließ Marina seine Hand los, was Burin mit einem gewissen Bedauern registrierte.

»Wo sein andere?«, quäkte dem Zwerg die vertraute Stimme Gwrgis entgegen.

»Ich weiß nicht. Burin war der Einzige in der Kammer.« Täuschte er sich, oder sprach Marina seinen Namen wirklich weicher aus? Oder hatte er vielleicht nur den Eindruck, weil er einen Schlag gegen den Kopf abbekommen hatte.

Burin brauchte ein paar Augenblicke, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Er blinzelte vorsichtig in das Licht, das so hell war wie die Sommersonne, und bereute es gleich darauf, weil ihm der Kopfschmerz sofort umso mehr zusetzte.

Schließlich gewöhnten sich seine Augen an das taghelle Licht, das keinesfalls von der Sonne kam; denn der Himmel draußen war wintergrau. Sie befanden sich am Rande einer riesigen, steingefassten Terrasse, einem Hof, der mit großen sechseckigen Platten gedeckt war. Ringsum erhob sich polygonales Mauerwerk. Zwergenarchitektur ohne jeden Zweifel. Die Hämmer hatten dem Felsen Gestalt abgerungen.

Alles war Burin vertraut, aber zugleich doch fremd. Der Saal, in dem er sich nun befand, war reich mit Ornamenten geschmückt, geometrischen Bändern und Mustern, aber die Ausführung war anders, als er sie kannte. Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was an diesen Kunstwerken so seltsam war. Sie waren perfekt, vollkommen; er hätte nichts mehr daran verbessern können. So als hätten Zwerge nicht Hunderte von Jahren daran gewirkt, sondern Tausende, Zehntausende.

»Das hier ist nicht mehr Zarakthrôr«, sagte Burin. Er war sich sicher.

»Riechen anders«, bestätigte der Sumpfling eifrig nickend.

»Auch ich habe nicht das Gefühl, dass dies noch die Zwergenstadt ist«, sagte Marina und zog geistesabwesend ihr Messer hervor. »Leg dir das auf die Stirn, oder du wirst aussehen wie ein Einhorn. Die Wege fühlen sich anders an.«

Burin griff nach dem Messer, und flüchtig berührten sich ihre Hände; ihre Blicke kreuzten sich, und der Zwerg hatte das Gefühl, die kleine Ffolksfrau blicke ihm auf den Grund der Seele und würde seine geheimsten Gedanken erraten. Schnell wandte er den Blick ab und drückte den kalten Stahl ihres Messers an die Stirn.

Marina lächelte.

Der Himmel war bleigrau wie im tiefsten Winter, wenn sich Schnee ankündigt, aber es war keine Wolkendecke. Das Grau schien vielmehr die natürliche Farbe des Himmels zu sein, und mit jedem Augenblick, in dem sich Burins Kopf klärte, verdichtete sich das Wissen um diesen Ort in seinen Gedanken und in seinem Herzen.

Er spürte es. Er spürte die Ruhe, die in dem Gestein lag, aus dem die Welt geschaffen ist, und er spürte es in sich selbst – wie ein Gewicht, das zur Ruhe gekommen ist; ein Blei, das seine Tiefe ausgelotet; eine Kugel, die das Ende ihrer Bahn erreicht hat. Es war ein Ort, an dem es Antwort gab auf alle Fragen und am Ende keine Fragen mehr.

Kein Schmerz. Kein Kummer.
Keine Liebe. Keine Pein.
Kein Fühlen. Kein Verlangen.
Kein Denken. Kein Sein.

Kein Raum. Keine Zeit.

Kein

Aber dennoch blieben im Augenblick Fragen genug: Was sollten sie hier? Was war aus Meister Gregorin geworden? Hatten die Gnome ihn überwältigt? Was war mit den Dunkelelben? Und wo waren Kim und Fabian?

Burin wusste keine Antwort. Das mochte ja heiter werden! Der Zwerg versuchte sich Kims Worte ins Gedächtnis zu rufen.

Mein Ring wird uns ein Tor zu dem Ort öffnen, wo wir gebraucht werden, hatte sein Freund gesagt.

Bitte, da wären wir nun, dachte Burin, und was sollen wir jetzt machen?

»Hast du eine Ahnung, wo wir sind?«, fragte Marina.

»Mich dünkt, wir sind in der Untererde, der Heimat der Zwerge«, antwortete Burin.

»Sehen wir draußen nach«, sagte Gwrgi und trat hinaus auf die Terrasse.

Hm, dachte Burin, er macht Fortschritte. Nachdem er auf dem Steig das ›ich‹ entdeckt hat, ist er jetzt schon beim ›wir‹. Er musste diesen kleinen Kerl im Auge behalten. Hinter ihm verbarg sich mehr, als der Anschein vermuten ließ.

»Aber wieso gibt es hier einen Himmel?«, fragte Marina, als sie und Burin dem Sumpfling folgten. »Ich dachte immer, die Untererde sei, nun ja, unterirdisch.«

»Es ist die Welt am Ende der Zeit«, sagte Burin nur. »Warte nur, und du wirst sehen – wenn es stimmt, was ich weiß und vermute.«

Sie überquerten den Hof und kamen sich dabei vor wie Käfer, die über ein riesiges Spielbrett marschierten. Die Fläche mochte sich hundert Schritt in jede Richtung erstrecken. Durch die hohen Mauern zu allen Seiten war ringsum nichts von der Umgebung zu sehen. Aber geradeaus konnten sie in der Mauer den tieferen Schatten eines Tores erkennen. Gwrgi ging schnurstracks darauf zu.

Als sie das Tor fast erreicht hatten, öffneten sich die Flügel wie von Geisterhand und verschwanden nach rechts und links in den Wänden. Zögernd traten die drei hindurch – und befanden sich im Freien.

Gwrgi duckte sich unwillkürlich, als habe er Angst, der Himmel könne ihm auf den Kopf fallen. Marina hielt den Atem an. Burin, der als Letzter heraustrat, blickte sich nur wortlos um, und er wusste, er war zu Hause.

Vom Eingang aus schweifte der Blick über endlose Terrassen, die sich links und rechts von ihnen bis in den Himmel zu erheben schienen, während sie sich vor ihnen Stufe um Stufe hinabsenkten, bis sie in der Ferne erneut zu Gebäuden anstiegen, deren scharf umrissene Silhouetten den Horizont verdeckten.

Aber was für Gebäude! Höher und größer waren sie, als sie je ein Architekt der Mittelreiche in seinen kühnsten Träumen ersonnen hätte. Und doch besaßen sie Maß und Proportion. Wie von titanischen Kräften der Erde entrungen, ragten sie auf, und doch, wusste Burin, waren sie Stein um Stein aufeinandergefügt von kunstreichen Zwergen, sei es durch eigene Hand oder mittels der sinnfälligen Vorrichtungen, die sie erdacht hatten.

Glatte, ebene Wege führten, mal in Serpentinen, mal als schiefe Ebenen hinauf und hinab. Es war wie ein Labyrinth aus Straßen und Wegen, die durch eine durch und durch künstliche Landschaft führten, in der es so gut wie kein Grün gab.

Fast alles war aus Stein.

»Unnatürlicher Stein«, sagte Gwrgi, der sich gebückt hatte.

Burin beugte sich ebenfalls hinunter und betrachtete den Weg, den sie soeben betreten hatten. Das Pflaster der Straße war aus einem anthrazitgrauen Material, das mit ungeheurem Druck auf den Boden, vermutlich in ein Fundament aus Sand und Kies, gepresst worden war, sodass es einen nahezu ebenen Untergrund bildete.

»Seltsam«, sagte Marina, die das fast schwarze Band der Straße ebenfalls betrachtete. »Wie haben die das gemacht?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Burin und sah sich bewundernd und fragend zugleich um. »Ich habe so was noch nie gesehen.«

»Viele Wunder scheint es in der Untererde zu geben«, meinte Marina. »Aber ich weiß nicht, ob ich das hier schön finden soll. Es gibt so gar kein Grün.«

Burin richtete sich ruckartig auf, wollte beleidigt sein, aber als er in das ernste Gesicht der Ffolksfrau blickte, riss er sich zusammen. »Das ist Ansichtssache«, meinte er, um fortzufahren. »Sieh es dir genau an. Alles scheint ein einziger bearbeiteter Felsen zu sein. Nichts steht für sich allein, weil das Einzelne auf dem anderen aufbaut und jeder Teil zu dem Ganzen in Beziehung steht. Schau dir die Bogen da oben an«, und der Zwerg wies auf einen Punkt, der rechts von ihnen weit oben an einer Terrasse lag. Dort verbanden drei Torbogen auf drei Ebenen in elegantem Schwung über einem Einschnitt die Terrassen.

»Doch, schon beeindruckend, aber mir fehlen Gras, Bäume und Blumen«, sagte Marina. »Es ist nicht richtig so.«

»Das ist die Untererde«, sagte Burin, als ob das alles erklären würde; doch er verstand es selbst nicht. Schon beim ersten Blick auf diese Welt war ihm klargeworden, wie sehr sich die Zwerge der Mittelreiche von denen der Untererde entfernt hatten, wie viele Geheimnisse hier zurückgeblieben waren, als man sich entschloss, in den Reichen der Menschen zu siedeln. Die ersten Zwerge der Mittelreiche hatten offenbar auf vieles verzichtet.

Aber warum, fragte sich Burin. Das Leben in seiner Heimat könnte viel einfacher sein, wenn seine Vorväter damals ein paar der Geheimnisse der Untererde in die Mittelreiche mitgenommen hätte …

Ein Brummen, das allmählich lauter wurde, unterbrach den Fluss seiner Gedanken. Es klang vollkommen gleichmäßig. Es drang von den über ihnen liegenden Terrassen herab, sodass keiner von ihnen sehen konnte, was da auf sie zukam.

Das war kein Lebewesen!

Gwrgi und Marina sahen sich nach Deckung um, konnten keine finden und wollten zurück in die Halle laufen, aus der sie gekommen waren.

»Bleibt!«, hielt Burin sie zurück. »Dies hier ist die Untererde, und keinem Zwergen wird hier ein Leid geschehen. Und euch auch nicht. Dafür verbürge ich mich.«

»Sicher?«, fragte Gwrgi, der äußerst angespannt wirkte.

»Sicher«, sagte Burin, obwohl er sich dessen ganz und gar nicht sicher war; denn er hatte außer ein paar Überlieferungen, die unter den Zwergen von Mund zu Mund weitergegeben wurden, keinerlei Beweise. Und eben die Überlieferungen hatten, wie er inzwischen hatte feststellen können, einige der Wunder dieser Welt verschwiegen. Wer sagte ihm, worin sie wohl sonst noch fehlgingen?

Niemand, lautete die beunruhigende Antwort.

Unauffällig tastete Burin nach dem Schaft von Ynzilagûn, weniger, um sich auf einen Angriff vorzubereiten, sondern vielmehr, um sich selbst Mut zu machen. Seine Axt gab ihm immer das Gefühl von Sicherheit; sie war gut gegen alles, ausgenommen vielleicht die Schattenhunde … Die Schattenhunde.

Er merkte, dass er hier sogar an sie denken konnte. Und selbst wenn er in sich hineinlauschte, konnte er keine Spur ihrer tödlichen Ausstrahlung finden. Ihn schauderte allenfalls bei dem Gedanken an das, was sie ihm gezeigt hatten: wie die Steinwerdung von ihm Besitz ergriff, langsam, bei vollem Bewusstsein des nahenden Endes. Doch es war nun ein abstrakter Gedanke geworden, bar jeder Drohung, selbst bar jeder Angst. Hier in der Untererde gab es keine Schatten. Er fragte sich, was aus den Schattenhunden geworden war, als sie mit Gilfalas in den Strudel stürzten, und auf welchem tiefen Grund der Welt ihr Elbengefährte sein Ende gefunden haben mochte.

»Kommt«, sagte er und packte den Griff seiner Axt fester. »Zwergenwerk ist zwar für die Ewigkeit, aber was ein Zwerg schuf, kriegt ein anderer Zwerg auch kaputt.«

Das Brummen über ihnen wurde immer lauter, und jeder der drei Gefährten versuchte einen Blick auf das zu erhaschen, was ihnen da entgegenkam. Noch war nichts zu erkennen, aber wenn es zu ihnen wollte, würden sie es bald zu sehen bekommen; denn es kam offensichtlich in ihre Richtung. Gespannt blickten alle drei den Weg hinauf.

Burin spürte, wie sich Marinas Hand in die seine schob und ihn fest umklammerte. Gemeinsam, dachte er, lässt sich dem Ungewissen besser ins Auge sehen als allein. Dennoch hatte er kein Bedürfnis, auch Gwrgi in ihren Bund mit einzuschließen, und was das süffisante Grinsen betraf, das der Sumpfling aufsetzte …

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als oben an der Straßenbiegung das Geräusch in ihre Richtung schwenkte. Die Kurve beschrieb einen weiten Zirkel, so dass es einen Moment dauerte, bis sie erkennen konnten, was es war. Marinas Händedruck verstärkte sich. Gwrgi grinste nicht mehr, sondern zog sein Messer.

Dann konnten sie es sehen, und ihnen allen stockte der Atem!

Was, beim Meister, war das?

Es schien über und über aus Metall zu bestehen; da waren Zylinder und gebogene Bleche mit blitzenden Nieten, Kessel und Ventile, aus denen pfeifend Dampf entwich, sowie Röhren, eine Vielzahl davon, solche von Daumendicke ebenso wie feine und feinste Verästelungen. Das Ganze blinkte von Messing und Kupfer, Silber und Gold. Es hatte keine Räder, sondern zwei große, metallene Walzen, die jenes seltsame, summende Geräusch von sich gaben, wenn sie über den Asphalt rollten. Das Gefährt bewegte sich scheinbar aus eigener Kraft; denn es waren weder Pferde noch sonstige Zugtiere zu sehen – es sei denn, sie wären im Inneren der Konstruktion gefangen. Doch welches Tier hätte es in dem Gepfeife und Gesumme lange ausgehalten, ohne wild um sich zu treten? Und außerdem war die ganze Konstruktion viel zu schwer und massiv, um selbst von dem stärksten Ochsen angetrieben zu werden.

Den oberen Teil des Gefährts bildete eine Art geschlossene Kutsche, die mit dem Fahrwerk fest verbunden war. Darinnen waren Fenster, aus einem kristallklaren Glas, und durch das Glas waren zwei Gestalten zu erkennen, die im Inneren standen oder saßen.

»Was ist das?« Marina sprach aus, was alle dachten.

»Ich weiß es nicht«, gestand Burin. »Aber es erinnert mich an den Brutofen von Zarakthrôr – nur in einer viel vollkommeneren Form.«

Ein Pfeifen ertönte, schriller und gellender als alles zuvor, und eine große Dampfwolke hüllte alles ein und wehte bis zu Burin und seinen Gefährten herüber. Unwillkürlich wichen sie zurück, aber wie von Geisterhand hielt das Ding in den Dampfschwaden an, und zugleich erstarb das Summen. Klappen öffneten sich zu beiden Seiten, und hervor traten zwei massige, gedrungene Gestalten, schwarze Schemen im treibenden Dunst.

Burin hob seine Axt. Gwrgi stieß ein Zischen aus, das genauso gut aus der Maschine vor ihnen hätte kommen können, und Marina packte ihr Messer fester.

Der Dunst verflüchtigte sich und gab den Blick auf die Ankömmlinge frei.

»Moli, zu Euren Diensten«, sagte die eine der Gestalten. »Und Nóri«, fügte die andere hinzu.

Es waren Zwerge, kahlköpfig, mit sorgsam gestutzten Bärten.

Ihre Kleidung hätte aus den Mittelreichen stammen können, wenngleich sie fremdartig wirkte. Sie trugen eine Art Anzug mit langen Ärmeln und Hosenbeinen, aus einem weichen, schwarzen Material, das wie Leder wirkte, dazu schwarze, glänzende Halbstiefel. Metall blinkte an Gürteln und Verschlüssen. Doch nie hätte ein Schneider der Mittelwelt so feine Nähte steppen oder zwei solche Anzüge herstellen können, die sich glichen wie ein Ei dem anderen.

Burin hatte sich wieder gefangen und erwiderte den Gruß: »Burin, Balorins Sohn, zu Euren Diensten und zu denen Eures Hauses«, sagte er förmlich und fügte hinzu: »Dies sind Marina und Gwrgi. Sie stehen unter meinem Schutz.« Er kam sich mit der schweren Axt in der Hand etwas lächerlich vor, obwohl ihn die Neugierde gepackt hatte, ob wohl ein Schlag mit Ynzilagûn diesem glänzenden Gebilde, das vor ihnen aufragte, etwas anhaben könnte.

»Seltsame Drei seid ihr«, sagte der Zwerg, der sich Moli genannt hatte. »Aber das müssen sie sein«, sagte Nóri.

»Steigt ein«, ergriff Moli wieder das Wort. »Wir sollen euch abholen.«

»Was?«, fragte Burin. »Ich meine, wie?«

»Ich glaube, sie sind mit dem Prinzip des Automobils nicht vertraut«, sagte Nóri wieder.

»Wie kommen die Leute in den Mittelreichen denn voran?«, antwortete Moli mit einer Frage, welche die Gefährten nur noch mehr verwirrte.

»Ich habe nicht den leisesten Schimmer«, sagte Nóri.

»Auf Pferden, in Kutschen und zu Fuß«, erklärte Burin. »Wie sonst?« Er ärgerte sich ein bisschen über das Unverständnis ihrer Gastgeber; gleichzeitig wurde er sich bewusst, wie weit sich die Zwerge der Mittelreiche und der Untererde voneinander entfernt hatten. Keiner hatte eine Ahnung von der Welt des anderen.

»Was sind Pferde?«, fragte Nóri.

»Tiere«, sagte Marina. »Sie tragen uns.«

»Wie unpraktisch«, ließ sich Nóri vernehmen. »Die haben doch einen eigenen Willen und wollen nie das tun, was sie sollen.«

»Zu Fuß gehen?«, fragte Moli. »Das ist anstrengend. Der Meister gab uns die Füße zum Dampfmachen.«

»Dampf … machen?«, fragte Burin.

»Automobil fahren. Du drückst das Pedal, der heiße Dampf wird in den Zylinder geleitet, und der Kolbendruck treibt das Mobil an«, erklärte Nóri.

Marinas Gesicht war ein einziges Fragezeichen, während Gwrgi den Mund verzog, als wolle man ihm einen Molch aufbinden – oder welchen Ausdruck auch immer die Sumpflinge dafür hatten, wenn man einen Unkundigen für dumm zu verkaufen versucht. Burin hatte der Erklärung zumindest in Ansätzen folgen können, funktionierten doch einige der Pumpen im Zwergenreich so. Allerdings trieben dort Muskelkraft oder Esel die Zylinder an.

»Kommt, wir zeigen es euch. Ihr werdet ohnehin erwartet.« Moli öffnete den hinteren Verschlag des gut zwölf Ffuß langen Wagens, und zögernd gingen die Gefährten auf die pferdelose Kutsche zu.

Burin erreichte den offenen Schlag als Erster, und so konnte er auch als Erster in den Innenraum sehen. Ihm stockte der Atem. Er war es gewohnt, in Kutschen harte Holzbänke vorzufinden, wie in den Postkutschen, die Magna Aureolis mit dem Rest des Imperiums verbanden; hier jedoch blickte er auf lederüberzogene, offensichtlich weiche Sitze, wie sie auf der ganzen Mittelwelt weder in Herrscherhäusern noch in den Villen der reichsten Handelsherren zu finden waren. Am oberen Ende der Lehnen waren seltsame Aufbauten, die offensichtlich den Kopf stützen sollten.

Burin zögerte nur einen Augenblick, dann zog er, der noch immer vorhandenen, aber nicht mehr so quälenden Kopfschmerzen gedenkend, den Kopf ein, und gleich darauf fühlte er sich, als wäre er im siebten Himmel. Das Leder der Bezüge schmiegte sich warm und weich an seinen Körper. Er hatte nie bequemer gesessen.

Marina folgte ihm, und auch ihr stand die Überraschung über den Komfort ins Gesicht geschrieben. Nur Gwrgi rümpfte die Nase. »Kein Leder«, sagte er. »Stinkt.« Und in der Tat, das Material war zu glatt, um wirklich auf dem Rücken eines Tieres gewachsen zu sein, und es war umgeben von einem leicht, ganz leicht unangenehm süßen Geruch.

Nori erschien in der Tür. »Bitte schnallt euch an«, sagte er nur, und als er ihre Gesichter sah, hielt er sich nicht lange mit Erklärungen auf, sondern griff nach einem schwarzen Strang und zog daran. Dieser wurde immer länger, als wäre es ein Seil auf der Rolle, und schließlich drückte Nóri einen silbernen Dorn, der am vorderen Ende des schwarzen Gurts angebracht war, in einen Verschluss. Es schnappte laut und vernehmlich, und Burin war gefesselt. Er öffnete vor Überraschung den Mund, aber kein Laut kam heraus.

»Nur zu eurer Sicherheit«, sagte der Zwerg. Dann verfuhr er ebenso mit Gwrgi und Marina.

»Wieso Sicherheit?«, fragte Burin, als er versuchte, sich aufzusetzen. »Das gibt doch gar keinen Sinn. Dieser schwarze Riemen gibt ja nach.«

»Dann werft euch mal ruckartig nach vorn«, sagte der Zwerg milde lächelnd.

Als die drei Gefährten der Aufforderung Folge leisteten, gab der Gurt nicht nach, sondern war plötzlich hart wie ein festgezurrter Lederriemen.

»Entspannt euch, und ihr könnt euch wieder bewegen«, erklärte Nóri und warf die Tür des Wagens zu, die mit einem leisen, aber satten Geräusch ins Schloss fiel.

Dann stieg er durch den vorderen Schlag ein, ebenso wie Moli, der hinter einem kreisrunden Rad Platz nahm. Der vordere Teil des Gefährts war übersät mit Anzeigen und Skalen, Lämpchen und Hebeln, allesamt aus feinstem Messing gearbeitet, sowie aus einem glatten Metall, das wie Silber blinkte. Nur das Steuerrad schien aus Holz zu sein, und Moli liebkoste es, als wäre es eine ganz besondere Kostbarkeit.

Burin konnte sehen, wie der Zwerg an einem Hebel zog. Das Summen, das sie zunächst gehört hatten, klang wieder auf, war allerdings im Wagen nur gedämpft zu vernehmen. Schubartig, in einem Rhythmus, der an schnaufende Atemzüge gemahnte, steigerte es sich zu einem schnellen Stakkato. Dann schob der Wagenlenker auf einer Konsole einen Griff nach hinten, ein Pfiff ertönte, und gleich darauf fuhr das seltsame Gefährt mit einem Ruck an.

Staunend, nicht fähig, auch nur ein Wort herauszubringen, verfolgten die Gefährten das Tun der beiden Zwerge und des Automobils.

»Mächtiger Zauber«, sagte Gwrgi.

»Das hat wenig mit Zauber zu tun«, erklärte Moli. »Das Prinzip der Dampfmaschine ist physikalisch völlig logisch und bedarf keiner übernatürlichen Hilfen, im Gegensatz zu manch anderen Dingen. Wenn der Meister nicht seine Hand über uns halten würde, hätten wir uns krumme Buckel gearbeitet oder uns bei dem Versuch vergiftet, das Unkraut von Straßen, Wegen und Plätzen fernzuhalten.«

»Frevel!«, entfuhr es Marina ungewohnt heftig.

»Häh?«, schnaubte Nóri voll Unverständnis.

»Es gibt kein Unkraut«, sagte Marina hart. »Jedes Kraut hat seinen Zweck und seine Bestimmung. Man kann Kräutern helfen zu wachsen, aber sie doch nicht vernichten.«

»Wie ist denn das mit eurem Garten, dem Elderland. Da hat doch auch alles seine Ordnung«, warf Burin ein.

»Ordnung, ja, aber wir hindern kein Kraut zu wachsen; wir zeigen ihm nur, wo und wie es wachsen soll. Irgendwann nehme ich mir mal viel Zeit und werde es dir erklären«, sagte Marina, und ihr Blick fesselte Burin auf seinen Platz.

Der Wagen fuhr mit zunehmender Geschwindigkeit durch ein verwirrendes Netzwerk von Straßen, die über die Terrassen führten.

Moli machte ordentlich Dampf, wie er sagte, und Burin war sich sicher, dass kein Pferd mit dem Mobil würde Schritt halten können.

Nach und nach tauchten mehr solcher Fahrzeuge auf. Alle fuhren wie von Geisterhänden gezogen, ohne dass ein Pferd nötig gewesen wäre. Burin, Marina und Gwrgi versuchten so viele Einzelheiten wie nur möglich in sich aufzunehmen.

»Hast du schon Bescheid gesagt?«, fragte Moli, an Nóri gewandt.

»Gut, dass du es sagst«, antwortete Nóri und griff vor sich auf eine Konsole. Links davon konnte Burin allerlei Anzeigen erkennen, unter deren Glas sich Zeiger teilweise heftig hin und her bewegten.

Nóri nahm ein Ding in die Hand, welches Burin an den Trichter einer Posaune erinnerte, und zog es mit einem Ruck aus der Armatur. An seinem unteren Ende baumelte ein ebenfalls metallener Schlauch. Er hielt sich die Öffnung ans Ohr, drehte eine Kurbel und bückte sich, um in einen weiteren Trichter zu sprechen, der gebogen war wie der Rüssel eines Olifanten. Burin sah dem Geschehen so fasziniert zu, dass er gar nicht mitbekam, was Nóri sagte.

Allerdings schien eine Stimme aus dem Ohrstück zu antworten, leise und für alle anderen unverständlich, und Nóri gab ihr Antwort: »Verstanden. Ende.«

Es klang so endgültig, dass Burin schauderte. Was sollte mit ihnen geschehen?

»Mächtige Beschwörung«, ließ sich Gwrgi neben ihm vernehmen. »Was hatte sie zu bedeuten?«

»Ich habe nur unsere Ankunft angekündigt«, sagte Nóri. »Dies ist doch nur …«

Dann wurde sich der Zwerg der Herkunft seiner Gäste bewusst, und er mühte sich redlich, ihnen die Funktion des Geräts zu erklären, das er Telephon nannte. Aber schon bald konnten weder Burin noch Marina, noch Gwrgi den Erklärungen Nóris auch nur ansatzweise folgen.

Immer mehr Mobile zeigten sich auf den Straßen, und vereinzelt kam es zu Stockungen.

Dann ertönte ein schrecklicher Laut, der dem eines Kriegshorns glich, nur ungleich lauter. Burins Hand fuhr unwillkürlich zum Schaft seiner Axt, aber wiederum wandte sich Nóri sogleich um und machte eine beruhigende Geste. Das sei nur die Hupe, sagte er, und man müsse sich davor in keiner Weise fürchten. Es sei nur ein Warnsignal an die Fahrer der anderen Automobile, dass sie besser daran täten, ihnen Platz zu machen.

Unerbittlich walzte das Automobil über die Straßen. Der Zauber, wie Gwrgi immer noch glaubte, oder die Maschine, wie Moli und Nóri behaupteten, war ausdauernd. Jedes Pferd wäre schon zusammengebrochen, bei all den Steigungen, die das Mobil im vollen Galopp nahm, wie Burin es zu seiner eigenen Beruhigung in eine ihm bekannte Umschreibung fasste.

Da keine Sonne zu sehen war, konnten sie nicht erkennen, welche Tageszeit es war, doch nach und nach verdunkelte sich der gleichförmig graue Himmel. Das war ein sicheres Zeichen, dass die Nacht über die Untererde hereinbrach. Moli betätigte einen Schalter, und direkt vor ihnen stachen zwei Lanzen aus Licht in die beginnende Dunkelheit.

Nóri versuchte es ihnen zu erklären, aber Burin winkte ab. Keiner von ihnen verfügte über das Wissen, diese Errungenschaften zu verstehen. Und er wusste, die Mittelreiche standen erst am Anfang dieser Entwicklung, von der man nicht wusste, wohin sie führte. Auch ihm begannen inzwischen die Pflanzen zu fehlen, so sehr er auch das kunstreiche Zwergenwerk ringsum zu schätzen wusste. Kein Stein war unbehauen, kein Fels ohne Spuren der Meißel oder was immer man in der Untererde als Ersatz benützte. Jedes Bauwerk war auf der einen Seite im höchsten Grade funktional, auf der anderen Seite aber reich durch das Kunsthandwerk der Erbauer verziert.

Die Straßen führten über mehrere Ebenen, und in kühnen Serpentinen waren Verbindungen geschaffen worden. Wer sich hier zurechtfand, musste ein Genie sein. Burin selbst hatte jede Orientierung verloren. Es musste Hunderttausende von Zwergen geben, die zeitgleich in ihren Fahrzeugen über dieses verwirrende Geflecht von Wegen verschiedensten Zielen entgegenstrebten. Burin drängte sich der Vergleich mit dem planvollen Durcheinander in einem Ameisenhaufen auf. Er vermutete, dass zumindest einige Zwerge, die es in die Mittelreiche gezogen hatte, weniger darauf bedacht gewesen waren, den großen Makel des Volkes der Zwerge auszugleichen, als vielmehr diesem Durcheinander hier zu entfliehen.

So hart und primitiv das Leben in den Mittelreichen im Vergleich zur Untererde auch sein mochte, es hatte doch einiges, was diese Welt hier einfach nicht bieten konnte. Der Flug eines Schmetterlings. Eine Blumenwiese im Frühling. Ein Sonnenaufgang in den Bergen … Ja, er hatte über Kims Begeisterung angesichts der Majestät des Sichelgebirges gelächelt, aber mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie sehr ihn solche Schönheit selbst berührte, da er sie in allen Einzelheiten klar vor seinem inneren Auge sah.

In rasender Fahrt ging es ihrem unbekannten Ziel entgegen, höher und höher die Terrassen hinauf, und erst jetzt ertappte sich Burin bei dem Gedanken, dass weder seine Gefährten noch er wussten, wohin es gehen sollte. Es war ihm auch nicht klar, warum Moli und Nóri sie gesucht hatten; es war fast, als wären sie erwartet worden.

Irgendetwas ging hier vor, gleich Rädern innerhalb von Rädern, die wieder in andere Räder griffen. Irgendeine Macht trieb sie voran. Deutlich erinnerte sich Burin an die Kraft, die ihn und seine Gefährten auseinandergerissen hatte. Was mochte aus Fabian und Kim geworden sein? Wohin waren die beiden von Kims Zauberring geschleudert worden? Es war nicht allein der Aufmarsch der Dunkelelben, der ihm Sorge bereitete. Nein, hier war etwas, das über den Rand der Mittelreiche hinaus Bedeutung besaß. Etwas ging mit ihnen vor. Und er hatte das Gefühl, auch wenn er sich selbst im Augenblick in Sicherheit glaubte, dass Kim und Fabian in großer Gefahr waren – und nicht nur sie. Es war alles eine Frage der Zeit, und die Zeit drängte.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Marina, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Ich bin ja bei dir.«

Und plötzlich erkannte er, dass ihm allein ihre Gegenwart den Halt gab, jene Angst vor der Unsicherheit, die vor dem unvermeidlichen Ende kommt, zu überwinden. Ob dies Liebe war? Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Mann aus seinem Volk sich einer Frau der Mittelreiche genähert hätte.

Und es war auch nicht das erste Mal, dass er das Gefühl hatte, dass diese kleine Frau für ihn etwas ganz Besonderes darstellte. Bisher hatte er es immer verleugnet – oder sich den Kopf gestoßen, wenn er es sich eingestehen wollte.

Burin war nicht der Mann großer Liebesgedichte. Ob Marina es mochte, wenn er sie direkt heraus fragen würde? Andererseits wusste er, dass Frauen es schätzten, mit romantischen Worten umgarnt zu werden. Einmal, während seiner Zeit in Allathurion, war Burin unfreiwilliger Ohrenzeuge eines solchen Gespräches geworden. Und hätte er diesen Studenten nicht gekannt, dann hätte er angenommen, dass dieser keinen Verstand, sondern nur heiße Luft zwischen den Ohren hatte. Sollte es wirklich so weit kommen, dass er sich derart zum Narren würde machen müssen …?

Burin wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Moli das Mobil zum Stehen brachte und Nóri sich umwandte und sagte: »Wir sind da.«

Nóri sprang dienstbeflissen aus dem Automobil und öffnete mit einer schwungvollen Verbeugung die Seitenklappe für die drei Gefährten.

»Und wie sollen wir uns aus dieser Fesselung wieder befreien?«, knurrte Burin.

»Du musst nur auf den roten Knopf drücken«, seufzte der Zwerg.

Sie befanden sich auf der höchsten Terrasse der Stadt und schauten hinunter in das geordnete Geflecht von Straßen und Häusern, durch das die Automobile krochen, Leuchtkäfern gleich in der Dunkelheit.

Auf der anderen Seite stand ein Palast.

Oder war es ein Tempel? Mächtig wuchteten die Mauern empor, schwangen sich über Absätze und Gesimse hinauf zu einer Spitze, welche den Himmel selbst zu berühren schien. Vor den Gefährten führte eine Freitreppe hinauf zu einem Portal, das mindestens zwölf Ffuß in der Höhe messen mochte, als sei es für Riesen, nicht für Zwerge geschaffen worden.

»Nur keine Scheu«, sagte Moli, der hinter ihnen ausgestiegen war. »Ihr werdet erwartet.«

Die schweren Flügel des bronzenen Portals glitten, wieder wie von Geisterhand bewegt, mit einer Leichtigkeit auf, die Burin kaum fassen konnte.

Sie wurden durch das Tor in einen Gang geführt, der den Gefährten den Atem stocken ließ. Die Decke war kaum zu erkennen, so hoch waren die Wände. Sie waren übersät mit Schmuck. Es waren nicht die üblichen Verzierungen durch geometrische Muster, die Felder waren vielmehr eingelegt mit feinsten Mosaiken aus farbigem Gestein, deren Aderungen und Strukturen ihnen ein eigenes Leben zu verleihen schienen. Sie zeigten das altbekannte Motiv der Schöpfung der Zwerge, in allen Variationen, doch nein, etwas daran war anders. Es war, als sei an dieser Wand die Schöpfung eines jeden Zwergen durch das göttliche Paar für alle Zeiten festgehalten.

»Sehr beeindruckend«, quäkte Gwrgi.

Es ging den Gang entlang, und Burin wurde das Gefühl nicht los, als wäre der Weg länger, als es den Anschein hatte. Alles wirkte normal, doch war ihm so, als würde er mit jedem Schritt eine weit größere Distanz zurücklegen. Er konnte es nicht sehen, nur spüren. Ein Blick auf die Gefährten an seiner Seite zeigte ihm, dass auch Gwrgi und Marina von ähnlichen Empfindungen geplagt wurden.

Moli und Nóri wirkten von all dem völlig unbeeindruckt, und sie plapperten miteinander über belanglose Dinge, die den Gefährten freilich rätselhaft blieben. Einmal war die Rede von einem ›Refrigerator‹, aber Burin konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wozu es gut wäre, einen Schrank zu haben, in dem er Eis aufbewahren konnte. ›Television‹ hingegen fand er zunächst ganz nützlich; aber als er hörte, dass es mehr oder weniger vom Zufall und nicht vom Willen des Betrachters abhing, was man fernsah, erschien es ihm ein ziemlich absurder Zeitvertreib. Und ein ›Typograph‹, eine Schreibmaschine, lag nun doch jenseits des Glaubhaften; denn zum Schreiben bedurfte es eines Gelehrten oder Dichters oder zumindest eines klugen Kopfes, aber wie sollte eine Maschine wissen, was sie zu schreiben hatte?

Die Versuche der beiden Zwerge, ihre Gäste in das Gespräch einzubeziehen, waren daher notgedrungen zum Scheitern verurteilt. Außerdem waren die Wesen der Mittelreiche offensichtlich von einem Misstrauen gegen die Wunder der Untererde erfüllt, wenngleich der Zwerg dies nicht so drastisch zum Ausdruck brachte, wie es Marina angesichts des Mangels an Bäumen und Pflanzen getan hatte, oder so ironisch wie der sonderbare kleine Kerl mit den Kiemen.

Das Ende des Ganges war plötzlich zu erkennen, als wäre es aus dem Nichts aufgetaucht, und es kam rasend schnell näher, was Burins anfängliche Vermutungen bestätigte.

Vor ihnen glitt eine weitere doppelflügelige Tür auf, die diesmal aus Stein gemeißelt war. Dann wurden sie von Moli und Nóri in einen Raum geführt, den sie hier so nicht erwartet hatten. Burin kam sich vor, als betrete er eine gute Stube. Alles war gemütlich eingerichtet. Tische, Stühle, Sofa, Bilder an der Wand; nichts fehlte, um ein wohliges Gefühl auszulösen.

Die Gefährten bemerkten kaum, wie sich ihre beiden Führer zurückzogen.

»Fühlt ihr euch wohl?«, fragte eine warme weibliche Stimme, und unwillkürlich nickten die Gefährten, ohne ein Wort hervorzubringen. »So ist es gut«, sagte dieselbe Stimme aus einem Nachbarzimmer.

Dann trat eine Dame durch die Tür – eine Zwergenfrau, wie Burin zu seiner größten Verwunderung erkannte, hatte er doch immer geglaubt, es gebe in der Untererde gar keine Frauen …

»Ich vergesse manchmal, was ihr euch unter Gemütlichkeit vorstellt«, sagte sie, als sei alles in der kleinen Stube für sie fremd.

Burin wurde ganz seltsam zumute. Er spürte eine Gegenwart, die ihn mit Wärme und Freude erfüllte, aber zugleich war ihm bewusst, dass Weisheit in ihr lag und Zaubermacht. Die Worte des alten Gebetes der Zwerge kamen ihm in den Sinn, und plötzlich wusste er, wen er da vor sich hatte.

»Preis sei Euch, Herrin!«, sagte er und fiel auf die Knie.

»Sachte, sachte«, sagte die Meisterin. »Genau das wollte ich eigentlich vermeiden, junger Burin. Bitte nicht hinknien, ihr anderen auch nicht. Setzt euch doch. Nehmt ihr Zucker zum Tee?«

Vorsichtig, nicht recht wissend, wie ihm geschah, erhob sich Burin wieder auf die Füße.

Vor ihm stand eine reizende ältere Dame. Sie hatte für eine Zwergin ein feingeschnittenes Gesicht, das trotz der weißen Haare seltsam jugendlich wirkte, und auch ihre Bewegungen waren nicht die einer Greisin. Aber das war sie ja auch nicht. Sie war ein Teil jenes göttlichen Paares, das die Zwerge der Untererde erschaffen hatte.

»Na, gefalle ich dir, Burin?«, fragte die Meisterin milde lächelnd. Natürlich war ihr sein forschender Blick nicht entgangen.

Burin starrte sie sprachlos an.

»Und ihn rühmt man wegen seiner unermüdlichen und scharfen Zunge! Nun ist er sprachlos«, spöttelte die Meisterin. »Aber kommt, ich bin unhöflich. Nehmt Platz. Der Tee wird kalt und der Kuchen trocken.«

»Jawohl, Meisterin«, sagte Burin und verneigte sich tief und voller Ehrfurcht.

»Es ist mir eine Ehre, Euch zu begegnen, und ich darf Euch den Gruß der Großen Mutter entbieten«, sagte Marina und verneigte sich tief.

»Eine Dienerin der Mutter findet nicht oft den Weg hierher. Eigentlich ist es das erste Mal, dass …«, einen Augenblick zögerte die Meisterin, »eine Priesterin aus den Mittelreichen den Weg zu mir findet. Dennoch danke ich dir recht herzlich dafür, Godin«, sagte die Meisterin.

»Aber das bin ich noch nicht«, sagte Marina. »Ich bin nur ihre designierte Nachfolgerin.«

»Nur eine Frage der Zeit«, erklärte die Meisterin. »Und Zeit hat hier keine Bedeutung.«

»Wie war das?«, fragte Burin, der die ganzen Weiterungen aus diesem überraschenden Bekenntnis noch nicht begriffen hatte. »Priesterin?«

»Nenn mich ruhig weiter Marina«, antwortete diese. »Und ich werde euch beiden jetzt den Schwur abnehmen, das Gehörte niemandem zu Gehör zu bringen, und die Meisterin wird den Schwur segnen, sodass ihr euch bei der Formulierung nicht allzu viel einfallen lassen müsst. Männer sind ohnehin so phantasielos«, sagte sie halb im Ernst, halb im Spaß. »Ihr braucht nur zu sagen: Ich schwöre.«

Burin und Gwrgi folgten der Aufforderung.

»Und lass den Kopf nicht hängen, Burin.« Die Meisterin lächelte und sah dem Zwerg fest in die Augen. »Eine Priesterin der Mutter darf heiraten.«

»Was?«, sagte Burin und fühlte sich ertappt.

»Ja, Bubu«, sagte Marina, die Anrede der Freunde verwendend. »Ich darf heiraten, und vielleicht ziehe ich es in Betracht, einen Zwerg zu heiraten. Es ist ohnehin an der Zeit, die Beziehungen zwischen Zwergen und Ffolk auf eine andere Basis zu stellen als ein Gelage am Schwarzbierfass. Da passt es doch, dass wir politische Notwendigkeit und persönliche Zuneigung verbinden.«

Burin war wie vor den Kopf geschlagen. Marina liebte ihn, wenn sie es auch nicht direkt gesagt hatte. Alle möglichen Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Dann schien er neben sich zu treten, als gehöre ihm sein Körper nicht mehr. Burins Gefühle sprudelten über. Er sah sich auf die Knie fallen, aber diesmal nicht mehr vor der Göttin, und hörte sich romantische Dinge sagen, wie er es sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können.

»Ich liebe dich, Marina«, schloss er. »Willst du diesen unnützen Zwerg als Gemahl, dich zu achten und zu ehren bis zum Ende?«

Marina reichte ihm die Hand und zog ihn sanft hoch.

»Ja«, sagte sie nur und küsste ihn.

»Gut, dass das erledigt ist«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. Sie war tief und klar.

Burin und Marina ließen voneinander und betrachteten den Neuankömmling. Er trug einen Gehrock wie die Gelehrten an der Universität. Sein Haar war weiß wie das der Meisterin, und sein Bart war lang und gelockt. In seinen Zügen glaubte man etwas von Gregorin zu erkennen und seinen Brüdern, Strenge und Güte zugleich. Der Meister war gekommen.

»Hast du die Dinge getan, die du tun wolltest?«, wandte sich der Meister an die Meisterin.

»Natürlich«, lächelte sie. »Aber nun wollen wir uns wirklich setzen und Tee und Kuchen genießen.«

Alle nahmen Platz. Burin und Marina saßen nebeneinander, aber der Meister forderte mit seiner Gegenwart alle Aufmerksamkeit.

»Es gibt wichtigere Dinge«, begann er, »als das Liebesglück zweier Wesen der Mittelreiche.«

Burin nickte, fast gegen seinen Willen, denn seine Liebe für Marina war das Einzige, was er im Augenblick im Kopf hatte.

»Die Ordnung der Welt ist in Gefahr«, fuhr der Meister fort, während die Meisterin den Kuchen zerteilte.

Burin hatte noch nie feineren Kuchen gegessen oder besseren Tee getrunken. Alles war richtig, und er hatte nicht das Gefühl, als könne der Tee kälter werden oder der Butterkuchen austrocknen.

»Was bringt euch nun hierher?«, fragte der Meister.

»Der Ring des Kustos von Elderland«, erklärte Burin. »Kim – unser Freund Kimberon Veit – hat gesagt, er bringt uns dahin, wo wir gebraucht werden. Allerdings weiß ich nicht, was wir hier sollen. Die Gefahr droht den Mittelreichen.«

»Das ist ein Irrglauben, aber wir haben nichts gegen Ketzer. Wir überzeugen sie.« Die Meisterin schmunzelte trotz des Ernstes ihrer Worte.

»Wenn der siebente Ring sich offenbart«, fuhr der Alte fort, »ist das Gefüge der Welten bedroht. Es sind die Dunkelelben, nicht wahr?«, fragte er unvermittelt. »Sie haben sich wieder geregt?«

»Ja«, sagte Burin, und dann erzählte er alles, was nach Fabians und seiner Ankunft in Elderland geschehen war.

»Die Dunkelelben«, sagte der Meister, »wollen nicht das Imperium, sie wollen das Tor zur Untererde erzwingen. Ihr habt gesehen, welche Geheimnisse diese Welt birgt. Die Zwerge, unsere Geschöpfe, haben die Mechanik der Dinge zu einer Vollendung gebracht, haben Feuer, Wasser, Luft und Erde gebändigt. Doch diese Technik hat hier keine Waffen hervorgebracht; würden sie kämpfen müssen, nähme jeder von ihnen noch immer seine Axt oder sein Schwert zur Hand. Aber man kann die Erkenntnisse, die gewonnen wurden, auch dazu verwenden, Waffen zu bauen. Ihr versteht?« Doch die Frage war rein rhetorisch, denn er fuhr im selben Atemzug fort: »Wenn es den Dunkelelben gelingt, die Untererde zu erobern, würden die Mittelreiche ihnen schutzlos preisgegeben sein – und vielleicht sogar die Überwelt.«

»Aber das könntet Ihr doch verhindern. Eure Macht …«

»Unsere Macht«, sagte die Meisterin, »ist beschränkt, auch wenn ihr sie als gewaltig empfindet. Wir könnten nichts verhindern, was die Dunkelelben in der Untererde anrichten.«

»Warum nicht?«, fragte Burin weiter, der nicht begreifen konnte, dass auch dem göttlichen Paar Grenzen gesetzt waren.

»Das ist ganz einfach«, ergriff Marina das Wort. »Allen Wesen, auch den Göttern, sind Grenzen gesetzt. Greifen sie selbst ein, verwirbelt das Gefüge, und Überwelt, Mittelreiche und Untererde würden im Nichts vergehen.«

»Du bist eine gute Schülerin unserer …«, wieder zögerte die Meisterin, »… Schwester.«

»Aber was können die Dunkelelben gegen die Zwerge ausrichten? Ihr seid so viele, und selbst wenn ihr keine Waffen außer Äxten habt, kommt ihr schneller voran und könnt den Feind aufhalten.«

»Es ist das Verhängnis, das uns Sorgen bereitet. Keine Axt wird es bezwingen können.«

»Welches Verhängnis?«, fragte Burin.

»Ihr habt die Hallen von Zarakthrôr gesehen. Vor den Schattenkriegen gingen auch die Dunkelelben dort einher und erschauten die Geheimnisse dieser Hallen.

Dem wollten die Dunkelelben nacheifern, aber es gelang ihnen nicht. Im ersten und einzigen Experiment, eine neue Rasse zu schaffen, scheiterten sie – zumindest sahen sie es so. Sie schufen ein kluges und weises Wesen, das allerdings nicht stark war. Es entsprach nicht im Entferntesten ihren Erwartungen, und so ließen sie es ziehen, in Erwartung, dass die wilden Tiere es töten würden.«

»Aber es überlebte?«, fragte Marina.

»Soweit ich weiß, ja«, sagte der Meister, »aber nicht einmal die Götter wissen genau, was aus ihm geworden ist. Denn es gibt Wesen, die außerhalb der Regeln stehen, die wir aufgestellt haben.«

Für einen Augenblick trat Stille ein, und der Meister nahm einen Schluck Tee. Er wollte seinen Gästen Zeit geben, sich zu fangen.

»Doch die Dunkelelben fanden einen anderen Weg, sich ein Sklavenvolk zu schaffen. Sie pervertierten Menschen und veränderten sie. Das Ergebnis kennt ihr, und ihr seid ihnen begegnet.«

»Ihr meint die Bolgs?«, fragte Marina.

»Ja, die Bolgs«, sagte der Meister. »Sie sind der verlängerte Arm der Dunkelelben. Sie gehorchen jedem noch so widersinnigen Befehl.«

Wieder trat Schweigen ein.

Burin beobachtete den Meister, der völlig gelassen wirkte. Aber wer konnte schon hinter die Maske eines Gottes schauen, und für einen Augenblick fragte sich Burin, ob dies die wahre Gestalt des Schöpfers der Zwerge war; aber er wusste keine Antwort darauf, und da der Meister fortfuhr, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf dessen Worte.

»Während der Schattenkriege hielten die Dunkelelben einen Teil Zarakthrôrs besetzt und schufen das letzte Wesen, das jemals dort entstand. Es ist das Große Verhängnis.

Die Schlacht wurde gewonnen, und dieses Wesen wurde, bevor es seine Macht entfalten und bevor wir seine Natur begreifen konnten, mit seinen Schöpfern hinter den Gürtel verbannt. Doch seit einiger Zeit spüre ich seine Gegenwart und weiß, dass das Verhängnis naht. Und seitdem habe ich mich gefragt, wann mir der siebente Ring einen Retter schicken wird.«

»Und er hat uns geschickt«, sagte Burin.

»Ja, und ich zweifle an der Weisheit des Hohen Elbenfürsten«, sagte der Meister, um schnell fortzufahren, »was nicht gegen euch gerichtet ist. Ihr seid tapfere und aufrechte Leute, aber nicht der, auf den ich gehofft habe.«

»Wen habt Ihr denn erwartet?«, fragte Marina.

»Er sitzt auf einem Thron und wartet darauf zu versteinern«, antwortete der Alte.

»Hamagregorin.«

Der Alte nickte. »Vor tausend Jahren, als ich das Ende kommen sah, schuf ich die drei: Bregi, Fregi und Gregi. Ich schuf sie nach meinem Ebenbilde, damit sie Anführer des Volkes der Zwerge seien, und meine Meisterin hauchte ihnen Leben ein. Der eine von ihnen, Bregi, ging hinaus in die Mittelreiche und ward nie wieder gesehen –«

»Er ruht im Stein in den Hallen von Yngladân«, sagte Burin, selbst erstaunt darüber, dass er es wagte, den Meister zu unterbrechen. »Er war mein Vorvater.«

»Den zweiten, Fregi, zog es in die Tiefen der Welt, doch er forschte zu tief und weckte Dinge, die jenseits der Regeln der Götter stehen. Aber er bereute am Ende, und er sandte mir seinen Ring zurück, als Zeichen der Unterwerfung. Den dritten, Gregi, sandte ich aus mit der Macht des anderen Ringes, doch er verweigert sich mir, weil er die Bitte seines Bruders höher stellt als das Gebot seines Schöpfers.« Die Stimmung war gedrückt. Verlegen nippte Burin am Tee.

»Und gerade jetzt zieht die unheilvoll dräuende Wolke einer Schlacht herauf. Ich spüre genau, dass die Dunkelelben sich vor dem zweiten Tor zur Untererde versammeln, um sich diese Welt zu unterwerfen. Wenn aber die Wesen vom Anfang der Zeiten das Ende der Welt erreichen, dann wird das Gefüge zusammenbrechen, und die Welt wird vergehen. Und das Verhängnis ist mit ihnen; wer kann es aufhalten?«, sagte der Meister.

»Wo ist dieses Tor?«, wollte Burin wissen.

»In Elderland«, sagte die Meisterin. »Dort liegt in den Hügeln nahe einer Stadt das zweite Tor verborgen. Dort wird die letzte Schlacht ausgetragen werden.«

»Und die Zwerge können dabei nicht helfen?«, fragte Marina.

»Wer soll sie führen?«, ergriff der Meister wieder das Wort. »Die Fürsten, welche die Macht hätten, weilen nicht mehr unter uns. Zwei von ihnen sind zu Stein geworden, der dritte will es werden. Ohne sie wird es nicht möglich sein, die Zwerge der Untererde in den Kampf zu führen.«

»Ich bin der Erbe Hamabregorins!«, entfuhr es Burin. »Ich könnte sie führen.«

»Das wird nicht möglich sein«, sagte der Meister. »Die Zwerge würden niemals einem vom Weib Geborenen folgen. Es ist wider ihre Natur. Sie würden nie einem Befehl von dir gehorchen.«

Burin folgte dem Beispiel Fabians und fluchte.

»Aber auf mich«, sagte eine Stimme neben Burin, die auf einmal nicht mehr quäkte, »könnten sie hören.«

»Auf dich?«, fragte Burin und sprach das aus, was selbst das göttliche Paar zu denken schien. »Ja.«

»Wer bist du?«, fragte die Meisterin und nahm den Sumpfling näher in Augenschein, als sehe sie ihn zum ersten Mal.

»Von mir war schon die Rede«, erklärte Gwrgi. Auch seine Haltung hatte sich verändert.

Er schien von einem Augenblick zum anderen größer geworden zu sein, nicht mehr der kleine, geduckte Wicht, sondern ein Geschöpf eigener Art, von einer ungeahnten Würde.

»Wann denn?«, fragte Marina.

»Die Dunkelelben schufen ein Geschöpf, aber sie waren enttäuscht von ihm«, antwortete Gwrgi.

»Das ist doch Hunderte von Jahren her«, sagte Burin.

»Genau«, sagte Gwrgi. »Ich glaube, die Dunkelelben wollten etwas Unsterbliches schaffen. Und wer weiß, vielleicht kann mich nur ein Schwert oder ein herabstürzender Berg töten.«

»Aber wie bist du zu den Sumpflingen gekommen?«, fragte Marina.

»Sie sind mein Volk«, sagte er schlicht. »Ich wanderte ziellos umher, bis ich sie traf. Sie waren damals nicht viel mehr als Tiere, gerade erst diesem Stadium entwachsen und bereits vom Aussterben bedroht. Und so nahm ich mich ihrer an und wurde einer von ihnen.

Mit der Zeit wurden sie zahlreicher, und so wanderte ich«, ein Hauch von Wehmut schlich sich in Gwrgis Stimme, »von Dorf zu Dorf, um ihre Kinder und Kindeskinder zu unterweisen. Und so entstand nach und nach die Legende von dem Schamanen, der ruhelos durch die Sümpfe streift. Meine eigentliche Rolle wurde vergessen, und so übernahm ich eine neue: Lehrer und Beschützer meines Volkes.«

»Dann bist du der Schamane, dem wir den Vertrag zwischen Sumpf und Elderland zu verdanken haben?«, fragte Marina, wartete aber gar nicht auf die Antwort, sondern fuhr sogleich fort: »Warum hast du ihn dann gebrochen?«

»Ich habe den Vertrag geschlossen«, begann Gwrgi, »darum konnte ich ihn auch wieder lösen, als die Zeit gekommen war.«

Marinas Miene drückte Unverständnis aus.

»Es ist ganz einfach. Von Zeit zu Zeit überfallen mich diese Visionen, wie ihr es miterlebt habt. Ich sehe Bilder und weiß dann, was ich zu tun habe. Am besten trifft es wohl das Wort Prophezeiung.«

»Ich nehme an«, sagte die Meisterin, die Gwrgi beobachtete, »dass du darüber nichts mehr sagen willst.«

»Richtig«, erwiderte Gwrgi. »Auch ich brauche meine Geheimnisse. Aber es war fast lustig zu sehen, wie alle sich nach meinem Anfall im Gebirge um mich herumgedrückt haben.«

»Das ist nicht witzig«, sagte Marina streng.

»Doch, wenn es nur von der richtigen Seite gesehen wird«, meinte Gwrgi gelassen und lächelte. »Aber ich glaube, wir haben meine Geschichte erschöpfend behandelt. Ich könnte die Zwerge befehligen, denn ich wurde erschaffen wie sie. Ich bin bereit, diesen Teil meiner Bestimmung anzunehmen.«

»Das ist eine Sache, die sich meiner Gewalt entzieht«, sagte der Meister. »Darüber kann ich nicht entscheiden.«

»Aber ich bin ein Wesen dieser Welt«, sprach Gwrgi. »Ich habe ein Recht darauf, um sie zu kämpfen. Ich bitte Euch bloß darum, dass Ihr mir die Gelegenheit gebt zu beweisen, ob es mir möglich ist, das Tor zu öffnen und die Zwerge in die Schlacht zu führen.«

»Und wie soll das geschehen?«

»Es gibt noch einen Ring – den, welchen Fregorin trug. Er ist in Eurem Besitz.«

»Gewiss«, sagte der Meister. Er öffnete die Hand, und darin lag ein Ring, gleich dem, den sie an Gregorins Hand gesehen hatten, als sie ihn verließen: golden, mit einem violetten Stein wie aus Amethyst. »Was soll er jetzt noch nützen?«

»Gebt mir den Ring!«