KAPITEL IV
ÜBER STOCK UND STEIN

Sie zogen nun schon den zweiten Tag die Stufe hinauf, jene sichelförmige Hochebene, welche sich mehrere Meilen breit zwischen den Bergen und jenem flachen Kessel erstreckte, die man als Elderland kannte.

An der Universität von Allathurion gab es mehrere Auffassungen, wie die Stufe wohl entstanden sei. Die Mitglieder der theologischen Fakultät hatten sich als Erste, und das vor fast fünfhundert Jahren, festgelegt. Der Vater habe sie einfach erschaffen, und wie so vieles, was der Vater erschuf – Giftschlangen etwa, Raubtiere und der Tod –, werde es stets ein Rätsel für alle bleiben, warum es diese Stufe gibt.

Vor hundert Jahren jedoch hatte es an der Alchemistischen Fakultät dagegen einen klugen und gelehrten Mann gegeben, welcher diese dogmatische Festlegung der Theologen bestritten hatte und dafür Ketzer genannt wurde. Seine Theorie besagte, dass das Sichelgebirge einst das Elderland vollkommen umschlossen habe, welches somit ein großes Binnenmeer gewesen sei. Aber in Höhe der Muren habe das Gestein, das weich und nachgiebig war, dem Druck des Wassers nicht mehr standhalten können. So sei es vor tausend Jahren oder mehr gebrochen. Die letzten Überbleibsel dieses großen Binnenmeeres seien die beiden Flüsse Elder und Ander, die mit ihren Quellen das Binnenmeer gespeist hatten.

Vielerlei Belege hatte Magister Queribus Thrax im Laufe der Jahre gesammelt. Er hatte sogar, zum höchlichen Erstaunen diverser Ffolksleute, auf den Äckern Elderlands gegraben und dort Muscheln und Fischgebein gefunden. Und so sagte dieser Gelehrte, dass die Stufe nichts weiter sei als die Steilküste eines leer gelaufenen Binnenmeeres.

Es gab indes noch eine dritte Lehre. Sie wurde vertreten von den Mystikern außerhalb der Universität, die sich nichtsdestotrotz für kenntnisreich hielten. Sie sagten, dass die Geschichte mit dem Meer schon stimme, aber nicht der Druck des Wassers, sondern das Ringen des Elbenfürsten mit den Dunkelelben sei dafür verantwortlich, dass das Westufer gebrochen und das Meer leergelaufen sei.

Während die theologischen Thesen in Dissertationen verbreitet und die alchemistischen verboten wurden, waren die Mystiker bemüht, ihr Wissen für sich zu behalten und nur den Eingeweihten zugänglich zu machen. Aber der Geheimdienst des Imperiums, der alle obskuren Gesellschaften im Auge zu behalten verstand, hatte auch diese Gruppe unterwandert, und so war ihre Theorie zumindest in den Akten der imperialen Verwaltung verzeichnet.

Desgleichen war sie auch von auserwählten Gelehrten der Fakultäten begutachtet und als Unsinn verworfen worden.

Die Hohenpriester und Geistlichen, die nicht an der Universität lehrten, zogen es vor, sich aus der Sache herauszuhalten, weil jedwede Reaktion nur dazu geführt hätte, dass eben jene Thesen unter den Menschen bekannt würden. Es war beschlossene Sache unter der hohen Geistlichkeit, das Problem geflissentlich zu ignorieren, solange dieses nur dem akademischen Streit diente und Anlass für ein paar Wirtshausschlägereien unter Studenten war, welchselbige sich von Zeit zu Zeit ohnehin austoben mussten.

Man munkelte zwar, dass auch die hohe Geistlichkeit für den Fall der Fälle schon gerüstet sei, aber wurde einer von ihnen darauf angesprochen, was denn dann wäre, lächelte man nur vage und gab sich verschlossen; manchmal fügte man noch hinzu, dass der Vater dies alles richten werde.

Kim hätte unter normalen Umständen die Reise genossen, hätte sich gefühlt wie sein Ahnherr Alderon, der vor mehr als siebenhundert Jahren auf der Stufe gestanden und auf das weite grüne Land unter ihm geblickt hatte. Dort, vor Alderon und seiner Gefährtin Yadira, hatte sich seinerzeit eine endlose Tiefebene ausgebreitet, unbewohnt, weil durch Sümpfe und Bergketten von der Welt abgeschnitten. Die Untiefen und Riffe vor der Küste Elderlands hatten ein übriges getan, Feinde und andere Gefahren abzuhalten. Dort, in diesem menschenleeren Winkel der Mittelreiche, konnte das Ffolk eine Heimat finden. Alles, was vorher gewesen war, lag im Nebel der Vergangenheit verborgen.

Es gab keine Aufzeichnungen und nicht einmal Legenden – so, als habe das Ffolk erst dort auf der Passhöhe angefangen zu existieren.

Aber Kim konnte an dem Anblick keine Freude finden; denn immer wieder sah man durch Lücken in den Bäumen, wenn nicht Nebel oder Wolken den Blick verhüllten, in der Ferne Rauchwolken aufsteigen. Dunkel, schwarz und drohend standen sie über dem Land, das niemals Krieg gekannt hatte, soweit die Erinnerungen zurückreichten.

»Der Feind ist nicht zimperlich«, knurrte Burin, als sie wieder auf eine der Rauchsäulen hinunterstarrten.

Manchmal, wenn der Wind, der nun von Norden blies, in Böen durch die Baumwipfel pfiff, glaubte Kim Waffengeklirr und Todesschreie darin zu hören. Doch das musste Einbildung sein. Oder etwa nicht?

»Werden wir noch rechtzeitig kommen?«, fragte Kim resignierend. »Können wir es überhaupt schaffen, bevor die Dunkelelben mit ihren Armeen aufmarschiert sind?«

»Wenn wir erst über den Pass sind«, antwortete Fabian, »werden wir bald in einer Garnison sein. Und da die Legionen des Kaisers ständig unter Waffen stehen, werden wir sehr schnell eine Kerntruppe aufbieten können, während aus dem Hinterland die Milizen und die weiter im Süden stationierten Streitkräfte nachrücken.«

»Aber wird es reichen?«

»Zweifelt nicht daran«, sagte Gilfalas ernst. »Auch der Feind wird Zeit brauchen, seine Heere aufmarschieren zu lassen. So übel es dort unten aussieht, das kann noch nicht die Hauptmacht der belegim sein. Auch sie müssen das Meer überwinden. Und wie Ihr wisst, ist der Gürtel nicht das einzige Hindernis; denkt nur an die Schären vor der Küste Elderlands. Auch die schwarzen Schiffe der Dunkelelben können sinken.«

»Richtig«, pflichtete Burin ihm bei. »Armeen sind groß. Und egal, wer sie bei einer Invasion führt, er muss sie dahin karren, wo sie hin sollen, sammeln, aufstellen und füttern. Armeen sind wie Kuhherden; auch die musst du pflegen, sonst werden sie krank. Wir können gewinnen, wenn wir den Steig bezwingen und Fabian schneller im Imperium ist als der Feind hier. In jedem Fall operieren wir in einem Gebiet, wo wir uns auskennen, die anderen nicht.«

So marschierten sie weiter.

Kim versuchte die Sorgen um Freunde, Bekannte und ganz besonders um Magister Adrion abzuschütteln und die Augen nur noch auf den Weg zu heften. Aber immer wieder ging sein Blick zurück gen Elderland, wo Krieg und Verderben wüteten.

»Warum tun sie das?« Die Frage war mehr an ihn selbst gerichtet, aber er hatte sie laut ausgesprochen.

»Die Dunkelelben? Weil sie Spaß daran haben, Dinge zu zerstören, Leben zu nehmen und das Chaos zu bringen. Ordnung wie in Elderland stört ihr persönliches Empfinden«, knurrte Burin. »Und außerdem beschäftigt es die Bolgs. Die würden sich langweilen, wenn sie nichts zum Draufknüppeln hätten. Es ist ein Zeitvertreib für sie, bis die Armee steht und bereit ist, gegen das Menschenreich zu ziehen.«

Kim schluckte. Obwohl sein Freund alles leicht dahingesagt hatte: Er hatte recht. Der Einmarsch in Elderland war für die Heere des Chaos nicht mehr als eine Übung. Hinzu kam, dass unter dem Befehl des Junckers von Gurick-auf-den-Höhen die Ffolkswehr in den Kampf gezogen sein musste. Hoffnungslos unterlegene einfache Männer des Ffolks gegen Bolg-Krieger und gegen die dunklen Herren selbst. Wie lange würden sie standhalten können?

Die Trauer und der Schmerz, die Kim empfand, wichen einem Gefühl ohnmächtiger, aber dafür umso größerer Wut. Er konnte es nicht erwarten, an der Seite Fabians und der Legionen zurückzukehren, um das dunkle Gezücht wieder dahin zurückzutreiben, wo es hingehörte – hinter den Gürtel, ans Ende der Welt. Dann brauchten die fähigen Zauberer nur mehr den Bann zu erneuern.

Und die Gefahr wäre vorbei … Aber Kim ahnte, dass dies so einfach nicht sein würde.

Langsam neigte sich die Sonne im Westen dem Horizont zu, um sich wieder feuerrot ins Meer zu senken.

»Heute Nacht Frost«, meldete sich Gwrgi zu Wort, der schweigsam geworden war. Langsam schien er jedoch die Fassung zurückzugewinnen.

»Wir werden ein Feuer machen müssen«, sagte Burin.

»Wer weiß, wie kalt es wird. Und die Nacht wird sternenklar sein.«

Sie suchten Schutz an einem kleinen Felsüberhang und fanden dort einen alten, längst aufgelassenen Steinbruch, halb von Farngestrüpp überwuchert. Unter den Bäumen sammelten sie totes Holz, das trocken genug war, um nicht zu sehr zu rauchen, und dessen Glut lange genug vorhalten würde, bis sie unter die Decken schlüpften.

Burin hatte eine günstige Stelle von Gestrüpp freigeräumt und baute dort einen Kreis aus Steinen. Darin stapelte er so geschickt das Holz auf, dass es nur in der Mitte mit einer kleinen Flamme brannte.

Als das Feuer aufzüngelte, fiel allen auf, dass Gwrgi sich abseits hielt.

»Was ist los mit dir?«, fragte ihn Marina.

»Feuer ist Frauensache. Kein Sumpfmann darf sich Feuer nähern.«

»Wieso nicht, Gwrgi?«, fragte Kim erstaunt, und dann erinnerte er sich, dass es immer nur die Frauen gewesen waren, die sich im Dorf der Sumpflinge dem Herd zugewandt hatten.

»Sagt der Schamane«, erklärte Gwrgi und weigerte sich, mehr dazu zu sagen.

Marina kochte aus getrockneten Bohnen, Kräutern und Speck einen herzhaften Eintopf, der sie alle ihren Hunger spüren ließ. Der Geruch stieg ihnen verführerisch in die Nase, doch jeder Versuch zu kosten, wurde von der Köchin unterbunden.

Dann und wann glitten Gwrgis Augen immer noch misstrauisch zu den Flammen, aber er sagte nichts.

Als sie gegessen hatten und am Lagerfeuer eine letzte Pfeife rauchten, hätte dies fast ein gemütlicher Abend sein können. Doch Kim ließen die Gedanken an Krieg und Verwüstung, die sie umgaben, nicht ruhen.

»Sagt, Gilfalas«, fragte der Ffolksmann, an den Elben gewandt, »was wisst Ihr über die Schattenkriege? Die Aufzeichnungen des Ffolks gehen nicht so weit zurück, und selbst die der Großen Menschen sind unvollständig und bruchstückhaft. Was erzählen sich die Elben von ihren dunklen Brüdern?«

Der Elbe starrte in die Flammen, deren roter Schein sich in seinen wasserhellen Augen spiegelte, dass diese selbst von flammender Glut erfüllt zu sein schienen.

»Sie sind nicht unsere Brüder!«, sagte er dann mit ungewohnter Heftigkeit. »Sie sind alles, was wir hassen und fürchten: unsre Schatten, die dunklen Seiten unsres Ichs. Wir haben sie bekämpft, gemeinsam mit Menschen und Zwergen. Alfandel Silberhelm war unser Anführer, mein Vorvater, und Bregorin mit der Axt führte das Volk der Zwerge –«

»Hamabregorin«, warf Burin ein, »einer der Erzmeister der Zwerge, mein Ahnherr«, und nicht nur Kim warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Aber die Herrschaft über das Bündnis der Völker hatte ein Mensch, König Talmond von Thurion, den sie den Mächtigen nannten.« Es war Fabian, der gesprochen hatte, und er fuhr fort:

»Erinnert Euch, Völker, an Talmond den Herrn,
Eh’ die Schatten ihn schlugen in Banden,
Die Fürsten der Welt, sie folgten ihm gern
Zum Krieg in den westlichen Landen.
Mit wehendem Banner ritt er voran
In das Herz der Gefahr und der Not,
Die silbernen Ritter führte er an
Zum Sieg und zum glorreichen Tod …

Es ist eine ziemlich wüste Ballade«, fügte er hinzu, »von Heldentum und Opfermut, ungeheuer patriotisch. Dabei war er selbst nur ein kleiner Stammesfürst. Doch er muss eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein, und ein Krieger, wie es ihn selten gab. Als die Dunkelelben schon weite Teile der westlichen Lande unterjocht hatten, zog er ein Aufgebot von wenigen Getreuen in einem tollkühnen Unternehmen nach Norden, gegen Agrachuridion, die Hohen Mauern der Finsternis, die Feste des Feindes. Die Zwerge zeigten ihm den Weg über alte Straßen, die sie selber angelegt hatten, und die Elben führten ihn in der Nacht. Eine militärisch völlig unsinnige Aktion, mit einer schlecht ausgerüsteten Truppe – keine silbernen Ritter, sondern wohl eher eine Bande von Geächteten, mit Waffen aus Bronze und rostigem Eisen. Nur Talmond selber besaß ein Schwert aus Zwergenstahl, Izrathôr, der Schattentöter genannt, eine verwunschene Klinge. Ich weiß es, denn ich habe es geerbt.«

Er zog die Klinge aus der Scheide, die im matten Schein des Feuers schimmerte und plötzlich aufgleißte wie flammendes Gold.

»Thai na védui!«, rief Gilfalas. »Ich erinnere mich: Der Krieger und der Schattenfürst. Ich sehe sie im Zweikampf: Das Schwert, das nie geschmiedet wurde, sticht hernieder und dringt dem Dunklen ins Herz. Die schwarze Klinge fährt hernieder und spaltet seine Seite …«

»Ihr erinnert Euch?«, staunte Kim. »Dann wart Ihr dabei?« Wie alt, fragte er sich, mochte dieser so jugendlich wirkende Elbenprinz sein? Wie viele hundert Jahre war das her?

»Nein, nein«, wehrte Gilfalas ab. »Es ist die Erinnerung meines Volkes. Sie ist in allen Eloai gegenwärtig. Unsre Erinnerung reicht zurück bis zu den Anfängen, den Wassern des Erwachens …« Er verstummte.

»So wird es überliefert«, ergriff Fabian nach einer Pause wieder das Wort. »Talmond stellte den Schwarzen Fürsten, Azrathoth den Schrecklichen, auf der Schwelle seiner Feste zum Zweikampf und erschlug ihn, während er selbst seine Todeswunde davontrug.«

»Und damit war der Krieg zu Ende?«, fragte Kim.

»Es war vielleicht die entscheidende Wende, aber selbst darüber streiten sich die Historiker. In der Wirklichkeit ist es selten so wie in den alten Legenden. Es war Helmond, sein Sohn, damals noch ein Knabe, der die Völker des Imperiums einte und die Dunkelelben zurückdrängte. Er war kein Krieger, doch von großer Weisheit, und die Macht Allvaters und der Großen Mutter war mit ihm. Durch sie öffnete er den Schoß der Untererde, und sie tat sich auf und verschlang die Feste der Dunkelelben bis auf den letzten Turm, und ein Wind aus dem Abgrund trug das Volk der Finsternis hinaus über das Meer. So zumindest wird es berichtet. Darauf wurde er zum ersten Kaiser des Imperiums erhoben. Seinen Vater nannte man bereits zu Lebzeiten den Mächtigen. Ihn nannte man nach seinem Tod den Großen.«

»Und keiner weiß, wo sich das alles abgespielt hat?«, fragte Kim. »Wo diese sagenhafte Feste der Dunkelelben lag?«

»Die Erde erinnert sich«, sagte da Marina, die bislang geschwiegen hatte. »Spürt Ihr es nicht?«

Alle schauten sie überrascht an. Doch ihr Gesicht lag im Schatten, und keiner konnte darin lesen.

Das Feuer war heruntergebrannt und zu Asche geworden. Sie hüllten sich alle in ihre Decken und Mäntel und versuchten zu schlafen. Aber Kim lag noch lange wach, und selbst als er von einem unruhigen Halbschlaf in einen tieferen Schlummer hinabglitt, waren seine Träume erfüllt von Kampfgetümmel und Kriegsgeschrei, von mächtigen, schwarz aufragenden Festungswällen, schattenhaften Gestalten und blitzenden Schwertern.

Die Sonne ging gerade auf, als Kim der Duft von Tee in die Nase stieg. Er lugte unter seiner Decke hervor und sah Marina, wie sie geschäftig das Frühstück vorbereitete.

Mit Kim wachten alle anderen auf, und die Ffolksfrau lächelte.

»Ich könnte mich an Tee gewöhnen«, meinte Burin verschlafen. »Besser, jeden Morgen von seinem Aroma als von einer schnarrenden Stimme geweckt zu werden.«

»Prima, dann kommt und frühstückt«, sagte Marina aufgeräumt. An ihr schienen die dunklen Schatten von Fabians und Gilfalas’ Erzählungen vorbeigegangen zu sein. Kim dagegen wusste, er hatte wirr geträumt, aber an die Einzelheiten konnte sich nicht mehr erinnern.

Als er die Decke zurückschlug, merkte er, wie kalt es war, und er beeilte sich, ans Lagerfeuer zu kommen. Reif lag auf den Grashalmen, obwohl es doch erst Ende September war, und Kim wurde plötzlich klar, dass der Aufstieg zum Steig wahrlich kein Zuckerschlecken werden würde. Je höher sie kamen, desto kälter würde es werden. Und keiner von ihnen hatte richtige Winterausrüstung dabei, da sie mit einem Aufstieg in diese Regionen nicht gerechnet hatten.

Sie frühstückten und tranken Tee. Marina hatte an einer kleinen Quelle, die nicht allzu weit vom Lager entsprang und als Rinnsal die Stufe hinabfloss, ihre Wasserflaschen frisch gefüllt.

Auch war es Marina, die über ihre Vorräte wachte, welche die Sumpflinge nochmals ergänzt hatten, bevor sie …

Kim führte den Gedanken nicht zu Ende. Er sah wieder die Gesichter Tr’angs und der anderen vor sich. Und er schwor sich, dass sie alle gerächt werden würden.

Über den fernen Berggipfeln im Osten schälte sich die Sonne aus der Nacht und hüllte alles in ein klares, kaltes Licht. Die Luft trug die Geräusche weit mit sich. Kim lauschte unwillkürlich auf Waffengeklirr, aber es war nichts zu hören. Was nichts zu bedeuten hatte, sagte er sich; vielleicht war der Widerstand ja bereits gebrochen.

»Ob sie uns noch suchen? Oder ob sie auf uns warten, weil sie glauben, wir seien wieder umgekehrt?«

Kim wusste schon, bevor er die Frage zu Ende gestellt hatte, dass es keinen Unterschied machte. Ihnen blieb keine andere Wahl, als weiterzugehen. Und wenn er sich auch noch so sehr wünschte, umzukehren, was sollte es bringen?

Er konnte nichts tun, überhaupt nichts. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt.

»Wir können nicht zurück. Oder sollen wir es allein mit den Dunkelelben und Bolgs aufnehmen?«, meinte Fabian und fuhr fort, die Stimme voller Mitgefühl für den Kummer des Freundes: »Ich verstehe deine Sorge, Kim, aber wir können nichts tun, außer den Versuch zu machen, das Imperium zu erreichen, um dort die Legionen in Marsch zu setzen.«

Sie brachen auf.

Kim blickte immer wieder über die Schulter zurück, nach Elderland hinein, und seine Phantasie gaukelte ihm vor, was seine Augen im Dunst des Morgens nicht sehen konnten: Hütte für Hütte, Gehöft für Gehöft, Dorf für Dorf zerstört, verbrannt, geschleift. Warum das alles? Warum fielen die Dunkelelben über ein Land her, von dem ihnen nicht einmal Gefahr drohte? Ihre Feinde waren die Menschen, nicht das kleine Ffolk.

Der Weg stieg mit jedem Schritt steiler an, sodass Kim mehr und mehr gezwungen war, auf den felsigen Grund vor seinen Füßen zu achten, um nicht zu stolpern oder gar zu stürzen. Allmählich wurde der Wald rechts und links des Pfades, der unmerklich von Laubbäumen zu Nadelgehölz übergegangen war, immer dünner. Statt Farnen wuchs hier nur noch bräunliches Heidekraut, holzig und längst verblüht. Tannen und Fichten wichen verkrüppelten Kiefern, durch die der Wind pfiff.

Plötzlich, es war die dritte Stunde nach Sonnenaufgang, hielt Fabian an. Kim, der unmittelbar hinter ihm ging, wäre fast auf ihn aufgelaufen.

»Was ist?«, fragte er. Doch dann sah er es selbst.

»Der Weg ist hier zu Ende.«

Vor ihnen ging es lotrecht hinab in die Tiefe. Der Pfad, dem sie bisher gefolgt waren, brach abrupt ab, als sei das Gestein von der Hand eines Riesen hinweggefegt worden. Kim folgte der Felswand mit den Blicken, bis ihn schwindelte.

»Und was jetzt?«, fragte er.

Fabian nestelte an seiner Brigantine, um die Karte herauszuklauben. Dann sah er nach Süden, die Berge hinauf.

»Hier irgendwo muss der Aufgang zum Steig sein«, stellte er fest.

»Das da drüben sieht aus, als wäre es eine Straße«, sagte Gilfalas. »Schaut, da ist ein alter Wegstein.« Die anderen folgten seinem Blick, konnten aber nichts erkennen.

»Wo?«, fragte Fabian.

»Dort«, sagte Gilfalas und ging auf einen Stein zu, der scheinbar zufällig am Wegesrand lag. »Seht ihn Euch an. Es ist nur noch schwach zu erkennen, aber da ist eine Inschrift.«

»Unser blasser Gefährte sieht besser als ein Adler«, brummte Burin und trat gemeinsam mit Fabian näher an den Stein heran.

Bei näherer Betrachtung stellte auch Kim fest, dass der Stein, obgleich verwittert, nicht natürlich geformt, sondern mit Hammer und Meißel zu einem Quader gehauen worden war, mit einer stumpf zulaufenden konischen Spitze. Auf der Vorderfläche waren seltsame Linien zu erkennen.

»Glyphen«, sagte Gilfalas. »Eindeutig Zwergenschrift.«

Burin beugte sich vor, um die Ritzzeichen zu studieren.

»Zwölf Meilen heißt es, mein schwachsichtiger Freund«, stellte Fabian fest und grinste.

»Das ist mir klar. Ich habe versucht herauszufinden, was darüber stand; aber das ist nicht mehr festzustellen.«

Kim kniete nieder und rieb mit der Hand über die von Flechten bedeckte Tafel. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl schräg auf die geneigte Fläche, dass in dem Streiflicht scharfe Konturen hervortraten.

»Dorak Angrimur«, buchstabierte er. »Das Tor … der Welten?«

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Gilfalas.

»Solche Steine standen nur an Handelsstraßen«, sagte Burin, ein wenig zu schnell.

Während Fabian und die anderen den Wegstein untersuchten, trat Kim beiseite. Weit ging der Blick von hier über das Elderland; Kim konnte sich nicht davon losreißen, bis er eine Berührung an der Schulter spürte.

»Es nützt nichts, Herr Kimberon, da hinunterzustarren. Ihr werdet bloß schwermütig wie unser Gwrgi«, sagte Marina und deutete auf den abseits stehenden Sumpfling, der seinen Blick ebenfalls ins Tal gerichtet hielt und in seinen eigenen Erinnerungen gefangen zu sein schien.

»Ich kann nicht anders«, erwiederte Kim. »Ich muss immer daran denken, was gerade geschehen mag, in Aldswick und im Zwickel …«

»Lasst es sein, und seht lieber da hinauf, Herr Kimberon«, sagte Marina, und bei diesen Worten fühlte Kim den sanften Druck ihrer Rechten an der Schulter. »Schaut es euch an. Seit wir aus dem Waldgürtel heraus sind, kann ich meinen Blick davon nicht mehr losreißen. Seht und staunt …«

»Aber …«, wollte Kim noch einwenden, dann stockte ihm der Atem. Er hatte das Sichelgebirge oft genug aus der Entfernung gesehen, aber so nah war er den Bergen noch nie gewesen.

Die kalte, klare Luft tat noch ihren Teil dazu. Die Konturen waren so scharf, als hätte man sie mit dem Messer ausgeschnitten. Die wilden, zerklüfteten Felswände schienen sich titanengleich in den tiefblauen Herbsthimmel zu recken. Scharfe Grate, zerklüftete Abhänge, alles strebte nach oben, zur Höhe, wo die Gipfel, gekrönt vom ewigen Schnee, in ewiger Majestät thronten, fern von allen irdischen Kümmernissen und Nöten.

»Schön, nicht wahr?«, sagte Marina leise und wandte sich von ihm ab und Gwrgi zu.

Doch Kim antwortete nicht. Wie gebannt starrte er auf die himmelstürmenden Gipfel. Er fragte sich, warum er diese wilde Schönheit nicht bemerkt hatte. Er fühlte sich ganz klein und unscheinbar, wie auch seine Sorgen angesichts dieser gewaltigen Pracht klein und unbedeutend wurden. Seit Anbeginn der Zeiten schauten diese Berge auf die Welt herab, hatten allen Kummer, alles Leid, aber auch alle Freude und alles Glück unter der Sonne gesehen. Die Zeit hatte an ihnen genagt, doch der Lauf der Welt hatte sie nicht stürzen können. Sie waren ein Monument der Ewigkeit, an dem alles abzuprallen schien, was den winzigen Kreaturen zu ihren Füßen wichtig erschien.

Büsche und Bäume umgaben die Berge wie ein Mantel, doch Kim bemerkte, dass der grüne Gürtel auf dieser Höhe überall abrupt endete, als wäre den Bäumen und Büschen die Puste ausgegangen. Ab der Baumgrenze entfaltete der Fels seine urtümliche Schönheit. Ja, die Berge schienen sich stolz über die Pflanzen zu erheben, über sie zu triumphieren. Nein, es war anders. Es war wie bei Königen. Der Baumgürtel war der Krönungsmantel und der Schnee die Krone. Kimberon Veit stand in Gegenwart der Herrscher der Welt, die sich aus dunklen Tiefen aufschwingen zum schweigenden Haupt des Mons Archernaos, ewig thronend zwischen Himmel und Erde, des höchsten Berges südlich von Elderland und nördlich der Länder der Menschen.

Ein Adler stieg im Aufwind der Schneefelder zu schwindelerregenden Höhen auf, ließ sich von der Luft treiben, und sein Schrei klang so fern, dass Kim fast glaubte, er käme nicht von dieser Welt. Und doch schien ihm dieser majestätische Vogel nicht mehr als der Hofnarr zu sein, der seinem Herrn einige Kunststücke vorführte. Kim schloss die Augen und ließ sich mit dem Adler emportragen, zu immer höheren Gefilden …

»Komm, Kim!«, riss ihn eine tiefe Stimme aus seinen Träumen. »Wir müssen weiter.«

Kim kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Hast du das gesehen, Bubu?«, fragte er.

»Du meinst diesen großen Haufen Felsen?«, brummte Burin. »Nicht zum ersten Mal. Es mag dir entgangen sein, aber mein Volk lebt in den Bergen.«

»Ach, du weißt, was ich meine«, seufzte Kim voller Bewunderung. »Diese Majestät, diese Erhabenheit, diese …« Er stockte. Er konnte die richtigen Worte nicht finden und deutete einfach nur auf das Felsenmassiv, das sich vor ihnen erhob.

»Ihr Ffolksleute scheint ja richtig schwärmerische Seelen in eurer Brust zu verbergen. Ich dachte immer, ihr seid so praktisch und voller Ordnungssinn, dass jeder wildwachsende Baum in eurem großen Garten euch entsetzlich unruhig macht. Und nun stelle ich fest, dass euer Blut so heiß ist wie das der Edelleute aus dem Süden, deren Verstand flieht, wenn Schönheit oder Liebe – oder beides – auf sie wirkt. Na ja, wenn man’s recht betrachtet, kann bei den Edelleuten des Südens nicht viel fliehen … Aber, Kimberon, ich hatte nicht gedacht, solche Seiten bei dir zu finden.«

»Ach, du machst die ganze Stimmung kaputt«, seufzte Kim, musste dann aber doch grinsen.

»Die Stimmung wird dir schon vom Aufstieg verhagelt werden. Und nun komm. Wir wollen sehen, dass wir vor Sonnenuntergang noch ein gutes Stück schaffen.«

Gwrgi hatte von Marina offensichtlich die gleiche Medizin verabreicht bekommen wie Kim. Auch die für gewöhnlich verschlossene Miene des Sumpflings hatte sich aufgehellt.

»Sie sehen beide aus, als hätten sie eine Wasserpfeife geraucht, wie sie tief im Osten des Imperiums genossen wird. Die haben da auch alle so ein weltentrücktes Grinsen auf dem Gesicht«, kommentierte Burin.

»Ach, Bubu, du bist ein altes Lästermaul«, klagte Fabian. »Vielleicht sollten wir dir mal den Mund mit Seife auswaschen, wie es die Mütter mit ihren Kindern machen, wenn sie unanständige Wörter sagen.«

»Und du meinst, ich würde dann nur noch reine Gedanken haben und nicht mehr über euch herziehen?«, fragte Burin.

»Nein, aber wir könnten dir einiges heimzahlen. Immerhin weißt du doch, woraus Seife gekocht wird …«

»Na und, ich esse doch auch sonst tote Tiere! Ich bevorzuge allerdings weniger exotische Zubereitungen; aber bitte, mir war bekannt, dass die Küche des Hofes zu Aureolis immer schon für das Verwöhnen selbst des zynischsten Gaumens berühmt war. Ich glaube allerdings, in diesem Fall bleibe ich bei der Hausmannskost, wie sie uns Frau Marina vorsetzt.«

»Sabbelkopp«, lachte Fabian.

So ging es weiter bis zum Abend. Kim hörte nur mit halbem Ohr zu. Immer wieder ließ er seinen Blick über die Berge schweifen. Und bei jedem Blick glaubte er etwas Neues zu entdecken. Es gab unglaubliche Variationen von Felsformationen. Hier ein Massiv, in dem man einen Kopf zu erkennen glaubte, gekrönt, wie von einem König der Altvorderenzeit. Dort Riesenfinger, die sich mahnend oder anklagend emporstreckten. Und diese Größe! In der Ferne konnte er eine Felswand erkennen, die gewiss mehr als tausend Ffuß in den Himmel ragte.

Nach dem ersten, von Geröll überlagerten Teilstück war die alte Handelsstraße hier noch recht gut erhalten und führte zunächst in sanften Bögen, dann in immer schärferen Kehren, unterbrochen von dem einen oder anderen Plateau, den Berg hinauf. Nur gelegentlich machten Krüppelkiefern, Buschwerk oder ein Steinabbruch sie schwer passierbar; dann halfen sich die Gefährten gegenseitig, die Schmalstellen zu überwinden. Immer wieder kamen sie an verwitterten Wegsteinen vorbei, die eindeutig Zwergenwerk waren, aber selbst Gilfalas’ scharfes Auge konnte darauf keine sinnvolle Glyphe mehr erkennen. Der Zahn der Zeit hatte die Inschriften hier oben samt und sonders getilgt.

Bei Sonnenuntergang schlugen die Gefährten ihr Lager am Rande des Weges in einer Höhle auf, die so tief in den Fels hineinführte, dass sie alle darin Platz fanden. Als das Feuer aufflammte, wurde Burins Blick plötzlich starr.

»Was ist?«, fragte Fabian. »Warum guckst du die Wand an?«

Da Burin nicht antwortete, ergriff Kim ein brennendes Scheit aus dem Feuer und trat an die Felswand heran.

»Da ist eine Tür«, stellte er fest. »Seht her.«

Alle standen auf und konnten nun sehen, was Burin entdeckt hatte. Ein haarfeiner Riss zog sich kreisförmig über diese Wand. Der Durchmesser des Kreises mochte fünf Ffuß betragen.

»Du hast recht«, sagte Fabian. »Ob wir sie öffnen können?«

Statt einer Antwort nahm Burin seine Axt vom Boden auf und schlug mit dem unteren Ende des Schaftes gegen die Wand. Dann lauschte er.

»Nein«, entschied er. »Der Raum dahinter ist verschüttet. Hört selbst!«

Er schlug noch einmal gegen die Wand, und der Klang war dumpf.

»Was mag dahinter gewesen sein?«, fragte Marina.

»Eine Kapelle«, entfuhr es Kim. »Die Zwerge haben sonst rechteckige Türen. Ein Rund aber ist das Zeichen für die Vollkommenheit des Meisters.«

»Du hast in den Vorlesungen ja doch aufgepasst«, knurrte Burin.

»Gibt es dahinter nur die Kapelle, oder schließen sich noch Stollen an?«, fragte Gilfalas.

»Wenn du diesmal mich antworten lassen würdest, mein Freund«, sagte Burin mit Blick auf Kim. »Schließlich geht es um mein Volk.«

»Gerne, wenn du darüber reden willst. Solltest du dich irren, kann ich dich ja korrigieren.«

»Danke sehr, werter Ffolksmann«, sagte Burin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Nein«, fuhr er dann fort, dem Elben zugewandt, »die Kapellen haben immer nur einen Zugang. Das liegt in unserer Geschichte begründet. Wir waren nicht immer ein so friedfertiges Volk wie heutzutage. Es hat Zeiten gegeben, da sich unsere Häuser aus ziemlich nichtigen Gründen die Schädel eingeschlagen haben –«

»Mit ›Häuser‹ meint er ›Sippen‹«, erklärte Kim überflüssigerweise, aber Burin redete weiter, ohne auf ihn zu achten:

»Und daher haben unsere Kapellen nur einen Eingang, damit man auch nur eine Richtung bewachen musste. Das ging so weit, dass ein Gottesdienst zweimal abgehalten wurde. Während die eine Hälfte der Gemeinde die Schöpfung des Meisters pries, hielt die andere Hälfte draußen Wache.«

»Das muss eine ziemlich wilde Zeit gewesen sein«, meinte Marina.

»Ja, das war es. Das war es wirklich«, sagte Burin, und es klang, als ob er dabei gewesen wäre. »Nun lasst uns aber schlafen. Die Luft ist hier dünner als im Tal, und es wird morgen fürchterlich anstrengend.«

Somit krochen alle unter ihre Decken. Kim schlief wieder schlecht. Der Traum, der ihn plagte, war wirr und scheinbar ohne Sinn, doch eine innere Stimme riet ihm, auf alles zu achten, da es noch einmal von Bedeutung sein könne. Schließlich schreckte Kim auf, aber beinahe im selben Moment wusste er nicht mehr, wovon er geträumt hatte.

Das Summen Marinas am Feuer und das Aroma des Tees weckte sie schließlich alle. Für Kim war es inzwischen beinahe ein Ritual geworden. Er blickte verschlafen auf die junge Ffolksfrau. Sie erwies sich mehr und mehr als eine unentbehrliche Gefährtin, und es war klar, dass er sie nicht länger wie seine Haushälterin behandeln durfte. Er überlegte sich, was er diesbezüglich unternehmen sollte. Auch Gwrgi durfte er nicht ausschließen. Sie waren eine Gemeinschaft.

Selbst Gilfalas schien ihnen während ihrer Reise ein wenig näherzukommen und etwas von der Abgehobenheit zu verlieren, die ihn wie alle seines Volkes kennzeichnete. Kim hatte Elben in seinem Leben immer aus der Ferne erblickt. In Elderland hatte er sie noch nie gesehen, nur vereinzelt während seiner Zeit im Imperium. Stets hatten sie irgendwie weltfern auf ihn gewirkt, als wären sie nie ganz in den Mittelreichen gegenwärtig.

Doch die Schwänke aus der seligen Studienzeit, die beim Tee die Runde machten, während die Gefährten auf den Sonnenaufgang warteten, ließen selbst den Elbenprinzen auftauen. Burin und Fabian wussten mitreißend zu erzählen, und auch Kim steuerte die eine oder andere Episode bei. Alle, auch Marina und Gwrgi, lachten herzlich über die Untaten der drei.

»Was sein Uni … Unität?«, fragte Gwrgi, und es sah so aus, als schäme er sich, diese Frage zu stellen.

»Das, werter Sumpfling«, begann Burin, »frage ich mich auch manchmal. Und immerhin habe ich eine besucht. In der Theorie ist die Universität eine Stätte, wo kluge Leute ihr Wissen an andere Leute weitergeben, damit diese ebenso klug werden.«

»Das machen bei uns Schamane. Er weisen Sumpflinge in Geheimnisse ein. Sumpf voller Geheimnisse.«

»Und du musst dir vorstellen«, sagte Burin grinsend, »an der Universität gibt es viele Schamanen, aber manche sind so weltentrückt, dass sie vergessen haben, dass das Leben aus mehr besteht als nur den Taten Jands des Kurzen. Diese Schamanen wissen oft nur über eine Sache sehr gut Bescheid. Ansonsten haben sie das Leben vergessen. Oder sie können sich stundenlang darüber streiten, ob es den Laut eines fallenden Baumes gibt, wenn keiner da ist, ihn zu hören.«

»Gwrgi nur interessieren, wenn Baum auf ihn fallen«, quäkte Gwrgi.

»Sehr klug«, ließ sich Burin vernehmen. »Du bist weiser, als ein Schamane je sein sollte.«

»Danke sehr«, sagte Gwrgi artig und deutete eine Verbeugung an.

»Herr Kimberon«, ergriff Marina das Wort, »ich nehme an, wir werden zu Mittag keinen Halt machen. Ob ich vielleicht einige Brote vorbereiten sollte, die wir dann während der Wanderung essen können?«

»Eine sehr gute Idee«, lobte Kim. »Aber bitte, Marina, nenn mich doch einfach Kim. Wir wandern gemeinsam auf gefährlichen Pfaden, da sollten wir Freunde sein.«

»Oh, wenn Ihr meint, Herr Kim«, sagte sie überrascht.

»Kim«, korrigierte er sie lächelnd.

»Gut, Kim«, sagte sie und reichte ihm die Hand.

Burin und Fabian schlossen sich ebenso wie Gilfalas und Gwrgi an, aber bei dem Elben und dem Kronprinzen zierte sich Marina ein wenig. Noch bevor sie aufbrachen, redeten sich jedoch alle mit dem vertrauten ›Du‹ an. Kim war mit sich sehr zufrieden; war dies doch ein Zeichen, dass sich ihre Gemeinschaft festigte.

»Lasst uns jetzt endlich gehen, sonst heirate ich noch vor dem Mittag unseren Thronfolger hier«, knurrte Burin.

So zogen sie wieder los. Die Sonne tauchte die schneebedeckten Höhen in einen Schimmer, der die Berge wie mit weißem Gold übergossen erscheinen ließ.

Kim genoss den Anblick eine Weile, doch nicht lange. Der Zustand der Straße wurde schlechter und der Anstieg steiler. Immer öfter mussten sie über Felsbrocken hinwegklettern oder über verwitterte Stufen emporsteigen. Schon bald machte ihnen das Atmen Mühe, und die Rucksäcke wurden so schwer wie volle Weinfässer. Kim musste an Burins Worte denken: Das Panorama verlor in der Tat einen Teil seines Reizes, wenn man darin leben musste.

»Ich glaube«, keuchte Fabian gegen Mittag, »wir sollten eine kurze Rast machen und etwas essen.«

Und so setzten sie sich in den Schatten eines der letzten spärlichen Büsche, tranken im goldenen Schein der Mittagssonne Quellwasser aus ihren Reiseflaschen und aßen das letzte Fladenbrot und den letzten Käse von ihrem Proviant. Erst jetzt spürte Kim, wie groß sein Hunger war. Die Bergluft und die Wanderung nährten seinen Appetit noch mehr als gewöhnlich.

Es hätte ein so friedliches Picknick sein können, wenn der schreckliche Druck nicht gewesen wäre, unter dem sie standen …

»Horcht!«, sagte Kim plötzlich. »War da nicht was?« Seine spitzen Ohren zuckten.

Er war sich selbst nicht sicher, ob er etwas gehört hatte. Ein Klirren von Metall, von einem Windstoß den Berg hinaufgeweht.

Sie alle lauschten.

»Ich kann nichts hören«, meinte Gilfalas schließlich, der neben dem Ffolksmann von allen das feinste Gehör besaß. Und auch Kim hatte nur noch den Wind in den Ohren, der um die Berggipfel sang.

Es war mit einem Mal kälter geworden, obwohl die Sonne schien. Aber war es nicht natürlich, dass der Wind einen frösteln ließ, wenn man da saß und sich nicht bewegte? Fabian seufzte und stand auf. »Auf geht’s! Wir wollen bis zum Sonnenuntergang noch ein Stück Weg schaffen«, mahnte er.

Also rappelten sie sich auf und marschierten los.

Die Straße war kaum noch als solche auszumachen. Auch Wegsteine, am Vortag noch gut zu erkennen, gab es hier keine mehr. Ob sie von Lawinen mitgerissen worden waren oder ob Wind, Regen und Schnee sie im Laufe der Jahrhunderte wieder in ihren natürlichen Zustand versetzt hatten, vermochte Kim nicht zu sagen.

»So«, meinte Burin schließlich, als sie einen weiteren Sattel erklommen hatten. »Nun sind es nur noch ein paar hundert Klafter bis zur Passhöhe.«

»So nahe schon?«, fragte Gwrgi hoffnungsvoll. Der Sumpfling sah sich um, wo denn der Pass wäre.

»Gwrgi«, begann Kim zu erklären, »wir müssen noch ein gutes Stück marschieren. Was Burin meinte, war, noch ein paar hundert Schritt in der Höhe. Wir werden wohl noch gut« – der Ffolksmann blickte hinauf gen Süden, wo sich laut Karte der Einschnitt des Passes befand –, »noch gut einen Tagesmarsch vom Pass entfernt sein.«

»Warum sagen er das nicht? Können Zwerg sich nicht klar ausdrücken?«, quengelte Gwrgi.

»Er könnte schon, aber es macht ihm viel zu viel Spaß, alles ein bisschen zu verdrehen. Vielleicht ist ihm in der Jugend mal ein Hinkelstein auf den Kopf gefallen und hat da was durcheinandergebracht«, meinte Kim, und alle lachten.

»Ich liebe euch alle«, kommentierte Burin das Gelächter.

»Schamane sagen, dass es Leute geben, die, wenn ihnen was auf Kopf gefallen ist, alles vergessen. Vielleicht bei Burin dasselbe, nur anders. Gwrgi können ihm wieder was auf dem Kopf fallen lassen, dann besser«, sagte Gwrgi mit einem breiten Grinsen.

»Vielleicht keine schlechte Idee«, murmelte Fabian.

»Ich werde euch auch in Zukunft gern haben«, knurrte Burin. »Hackt nur alle auf mir herum. Ich hab ’nen breiten Rücken und kann das ab.«

Weiter ging es, höher hinauf. Die Sonne wurde zu einer blassen, kupfernen Scheibe, die sich allmählich niedersenkte. Noch bevor sie wieder hinter den Bergen verschwand, erreichten die Gefährten eine Hochebene, die von steil aufragenden Felswänden umgeben war. Ein gähnender Abgrund teilte das Plateau in zwei Hälften. Aus der Tiefe der Schlucht drang das Rauschen von Wasser herauf, das sich an den Felswänden brach.

Am Rande des Abgrunds erhoben sich wie Riesen der Vorvergangenheit zwei mächtige, vom Alter verwitterte Steinpfeiler: breit an der quadratischen Basis, mit gedrungenen, polygonalen Schäften, die, sich nach oben hin verjüngend, von flachen, pyramidalen Spitzen gekrönt wurden. Zwergenwerk, das war offensichtlich. Jenseits der Schlucht, halb verhüllt vom Schleier der aufgewirbelten Wassertröpfchen, ragten ihre Zwillingsbrüder aus dem Nebeldunst.

Von den Pfeilern führte hüben wie drüben eine Flucht in den Stein gehauener Stufen zu einem kleinen Plateau am Rande der Schlucht hinab.

Dazwischen spannten sich die Reste einer hölzernen Brücke über die klaffende Tiefe.

Fabian machte sich beim Anblick des morschen Holzes mit Flüchen Luft, wie sie selbst die Schauerleute in den Häfen von Ostara oder die Fuhrleute auf den großen imperialen Straßen nicht besser hätten brüllen können.

»Ich«, wandte sich Burin an Gilfalas, »hatte schon immer Zweifel an dem Umgang, den der Kronprinz pflegt. Bei Hofe wird er sich dieses Vokabular nicht zugelegt haben.«

»Aber was tun? Sieh dir doch das Holz an, Burin«, meinte der Elbe. »Das Ganze ist so morsch, dass nicht einmal Marina hinüber könnte.«

»Gibt es denn keinen anderen Weg?«, fragte Kim, der bereits alle Hoffnung sinken sah.

»Wir kommen nicht über die Felsen. Dafür sind wir nicht gerüstet«, erklärte Gilfalas. »Uns fehlt alles, was man braucht, um einen Berg zu besteigen.«

»Was brauchen?«, fragte Gwrgi.

»Nicht nur der Sumpf hat Geheimnisse«, erklärte der Elbe. »Wir brauchten Seile, Hammer und Haken, um uns die steilen Wände hinaufzuziehen.«

Fabian hatte unterdessen aufgehört zu fluchen und starrte voll ohnmächtigen Zorns auf die Brücke.

»Es ist gut, dass Ihr eine Pause macht, Prinz; so können wir uns dann wieder vernünftig unterhalten.« Burin sah Fabian missbilligend an.

»Was ist denn?«, fragte er. Der Zorn ließ seine Stimme gepresst klingen.

»Nun, ich hoffe, ihr habt euch alle abgeregt. Zwerge bauen für die Ewigkeit«, stellte Burin fest.

»Und was ist mit diesem Wrack da?«, höhnte Fabian.

»Hatten wir uns nicht geeinigt, uns vernünftig zu unterhalten?« Burins Bass klang milde und nachsichtig.

»Du ja, aber ich nicht. Ich möchte fluchen.«

»Also, wenn dir danach ist, fluch weiter! Nur geh bitte ein Stückchen weg, damit ich den anderen erzählen kann, wie wir hinüberkommen.«

Fabian sah aus, als wollte er noch was sagen, aber er schwieg.

»Also, seht euch die Brücke mal an. Ihr seht den mächtigen Stützbalken, der die eigentliche Brückenkonstruktion trägt?«

»Ja, und der sieht so morsch aus wie alles andere«, maulte Fabian.

»Mag sein, aber er ist es nicht. Tretet näher, meine Freunde, und staunt über Zwergenwerk!«

Sie folgten Burin zum Rand der Klamm. Kim wurde fast übel, als er zum Trägerbalken hinabsah. Der Balken durchmaß gut drei Ffuß. Er verschwand im Fels.

»Seht her. Man nennt es ingam-kevlar, Eisenholz«, dozierte Burin und kletterte hinab. Mit seiner mächtigen Axt schlug er auf den Stamm. Doch die Klinge drang nicht in den Balken ein, sondern prallte mit einem hellen Ton ab. Unter einer dünnen Schicht morschen Holzes war der Balken noch völlig intakt.

»Wie kann es so was geben?«, fragte Kim.

»Es ist eine alte Kunst der Zwerge. Man bringt in dem Holz die Zeit zum Stillstand; man braucht dazu nur den richtigen Klang zu treffen. Na ja, so wird es berichtet«, endete er lahm. »Es ist eben ein Geheimnis.« Seine Stimme klang ein wenig unsicher, was bei den Freunden den Verdacht nährte, dass er selber wenig darüber wusste; vielleicht war die Technik selbst bei den Zwergen in Vergessenheit geraten. »Jedenfalls, ihr seht, wir kommen rüber. Kein Problem.«

»Aber nicht mehr heute«, ließ sich Fabian vernehmen. »Die Sonne steht tief, und ich möchte nicht, dass die Überquerung dieser Schlucht zu einem Wettrennen mit der Dunkelheit ausartet.«

»Dann wir warten müssen«, quäkte Gwrgi, aber es war ihm anzumerken, wie erleichtert er war, diesen Weg nehmen zu können.

Kim besah sich nachdenklich den Balken. Er war aus einem einzigen Stamm gearbeitet. Er konnte den riesigen Baum fast vor sich sehen, wie er sich im Wind wiegte, so alt wie die Welt, schier unverrückbar, ehe er dann von kräftigen Zwergenarmen und blitzenden Äxten gefällt wurde.

Wenn er genau lauschte, glaubte er das Singen des Windes darin noch hören zu können. Oder war es ein anderer Ton: der Klang der verlorenen Zeit?

»Wie habt ihr den Balken denn über diesen Abgrund bekommen?«, fragte er. »Das müssen fünfzig Ffuß sein, wenn nicht mehr.«

»Noch ein Geheimnis«, knurrte Burin nur und setzte hinzu: »Ein bisschen Zauber hat schon geholfen.« Seine ganze Haltung drückte aus, dass er kein Wort mehr darüber verlieren wollte.

»Dann lasst uns einen Lagerplatz suchen, solange es noch hell ist«, meinte Marina.

»Die kleine Frau ist ausgesprochen praktisch veranlagt«, brummte Burin. »Also, suchen wir!«

Nachdem sie sich umgesehen hatten, stellten sie fest, dass es auf dem Hochplateau eine ungemütliche Nacht werden würde. Es bot sich nirgendwo Schutz, und mit der untergehenden Sonne war der Wind, der nun aus allen Richtungen zugleich zu wehen schien, stärker geworden. Und kälter.

»Wind riechen nach Schnee«, ließ Gwrgi sich wieder vernehmen. »Noch zu früh dafür.«

»Keineswegs, guter Freund. Unten im Sumpf mag es dafür zu früh sein, aber hier in den Bergen liegen die Dinge anders. Der Winter beginnt früher, endet dafür aber auch später«, erklärte Burin.

»Noch ein Geheimnis von Bergen«, sagte Gwrgi. »Sein viele Geheimnisse.«

»Eben«, bestätigte der Zwerg. »Und manche davon sind genauso gefährlich wie ein Sumpf.«

»Gut zu wissen«, sagte der Sumpfling. »Werden von dir lernen wie Sumpflinge von Schamanen. Bitte«, wandte er sich an Kim, »mir erklären, was Zwerg sagen. Gwrgi sein sich nie ganz sicher, was er meinen.«

»Ja, gern«, lächelte Kim. »Wenn ich kann.«

»Geht das schon wieder los«, sagte der Zwerg offensichtlich verzweifelt und rollte mit den Augen. »Ich werde mich noch den Abgrund hinabstürzen.«

»Nein, Gwrgi«, sagte Kim. »Das tut er ganz sicher nicht.«

»Ich werde mich unterhalb des Plateaus umsehen«, schlug Gilfalas vor. »Vielleicht gibt es da einen weniger zugigen Platz, wo wir die Nacht verbringen können.«

»Tu das«, murmelte Fabian.

Alle blickten dem Elben nach, wie er vom Hochplateau verschwand, und jeder von ihnen wünschte ihm Erfolg bei seiner Suche. Weder Kim noch die anderen waren begierig darauf, vom beißend kalten und pfeifenden Nachtwind in den Schlaf gesungen zu werden.

Minuten vergingen, zogen sich quälend in die Länge, wie zu Eis erstarrter Sand in dem großen Stundenglas der Zeit. Kim, der sich in den Windschatten eines der Pfeiler geduckt hatte – sofern man überhaupt von Windschatten reden konnte, wenn es von allen Seiten zugleich zerrte und pfiff –, wusste schon nicht mehr, wie lange er bereits da hockte. Fast hatte er Angst, sich zu bewegen, erfüllt von einer irrationalen Furcht, es könnte ihm nicht mehr gelingen.

Er blickte zu seinen Gefährten. Auch sie standen da wie erstarrt: Gwrgi zu einem Häuflein Elend zusammengekauert; Marina im Schutze der massiven Gestalt Burins, in dessen Mantel und Haar Wassertröpfchen wie Kristalle glitzerten; Fabian mit rotgeränderten Augen in den Wind starrend.

War da nicht ein Geräusch wie von Marschtritt und Waffengeklirr? Kim lauschte, aber das Heulen des Windes in seinen Ohren übertönte jeden anderen Laut.

Dann ein Schrei, vom Wind verweht.

»Lauft!«, drang Gilfalas’ Stimme zu ihnen herauf, und schon erschien der Elbe in geschmeidig schnellem Lauf auf dem Plateau. »Lauft! Der Feind kommt!«

Keiner rührte sich; Schrecken hatte sich wie ein Panzer aus Eis um ihre Körper gelegt, lähmte Hände und Füße, Herz und Sinn. Irgendetwas musste geschehen, aber keiner machte den Anfang.

»Was nun?«, fragte Kim schließlich, und seine Stimme zitterte.

»Rüber!«, krächzte Fabian. »Wir müssen …«

Doch ehe noch einer von ihnen darauf reagieren konnte, sahen sie mit eigenen Augen, was Gilfalas erspäht hatte.

Wohl zwanzig, dreißig Schritt hinter dem Elben kamen sie gelaufen: ein Dunkelelbe und eine Horde von vielleicht einem Dutzend Bolgs mit gezückten Schwertern und Kriegskeulen. Vom Wind getragen, hallte der Klang ihrer genagelten Stiefel auf dem blanken Felsen.

»Das schaffen wir nie!«, entfuhr es Fabian, und es folgte eine Serie von Flüchen, als er sein Schwert zog. »Bring Marina rüber, Kim. Unsere einzige Hoffnung liegt im Kampf. Lauf!«

»Aber …«, wollte Kim protestieren, während er an seinem Dolch nestelte.

»Lass das!«, polterte Fabian. »Sieh zu, dass ihr beide in Sicherheit kommt, und falls wir nicht folgen, bringt die Botschaft ins Imperium! Irgendjemand von uns muss es schaffen!«

Kim schob Knipper zurück in die Scheide und wollte sich umwenden, aber der Anblick der heranstürmenden Feinde ließ ihn erstarren.

Die ungeschlachten Bolgs trampelten über den Boden. Ihre Klauenhände umfassten ihre Waffen, ihre braune, lederartige Haut glänzte kupfern im Licht der untergehenden Sonne. An der Spitze der Bolgs jedoch lief er.

Der Dunkelelbe.

Er war so anders als seine Schergen. Er lief mit der gleichen Eleganz und Geschmeidigkeit wie Gilfalas. Seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Wie ein schwarzes Feuer brannten die Augen in dem bleichen Gesicht, und für einen Moment schienen sie Kim festzunageln, sodass er glaubte, keinen Schritt mehr gehen zu können.

»Komm!«, rief Marina und zerrte Kim am Arm. Das riss den Ffolksmann aus seiner Erstarrung. Er wandte sich um und folgte Marina zur Brücke.

So schnell es ging, kletterten sie die paar Ffuß hinunter zu dem Stützbalken; das Gestein bot zum Glück genug Halt für Hände und Füße. Dann machten sie sich Schritt für Schritt daran, den gähnenden Abgrund zu überqueren.

Kim setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, Marina folgte ihm dicht auf den Fersen. Er wagte nicht hinunterzusehen, ebenso wenig, sich umzuschauen, weil ihm beides nur Angst machen würde. Und Furcht konnte er sich nicht leisten, nicht jetzt. Kim dankte dem heiligen Vater, dass er nicht unter Höhenangst litt, wie sie unter den Familien des Plattlands weit verbreitet war. Doch er wollte nicht das Unheil herausfordern und hielt den Blick starr vor sich auf den Balken geheftet.

So einfach, wie Burin sich das gedacht hatte, war es nicht, über den Abgrund zu kommen. Der Balken hatte die Grundlage der Brückenkonstruktion gebildet, und die verrotteten Stützbalken, an denen hier und da noch morsche Bretter hingen, bildeten Barrieren, die mühsam umgangen oder zur Seite geräumt werden mussten. Der Wind riss und zerrte an den Kleidern, und jedes Mal wenn Kim ein neues Hindernis überwand, fürchtete er, mit dem brüchigen Holz in die unauslotbaren Tiefen der Schlucht gerissen zu werden.

Hinter sich hörte er das Klirren von Stahl gegen Stahl. Wilde Rufe und Kommandos hallten zu ihnen hinüber. Dann die ersten Schreie. Der Kampf war entbrannt, und Kim sandte ein inbrünstiges Gebet zum Vater, dass er seine schützende Hand über seine Gefährten und Freunde halten möge. Gleichzeitig entschuldigte sich Kim dafür, lange den Gottesdienst nicht besucht zu haben. Er schwor, es wieder regelmäßig zu tun.

Sie mochten die Mitte erreicht haben, als Kim sich kurz umwandte, um nach Marina zu sehen. Ihm gefror das Blut in den Adern.

Ein Bolg!

Eine der Kreaturen kam zwischen den Brückenpfeilern herabgestiegen.

»Marina!«, befahl Kim. »Geh an mir vorbei! Versuch die andere Seite zu erreichen! Schnell!«

»Was ist denn?«, fragte sie.

»Ein Bolg ist hinter uns«, sagte Kim.

Ein leiser Aufschrei entfuhr Marina; dann kam sie energisch näher und stieg über Kim hinweg, der sich zur Seite duckte. Als er sich wieder aufrichtete, sah er, wie der Bolg erst einen, dann den anderen Fuß auf den Balken setzte. Ein tückisches, sägezahnbewehrtes Breitschwert blinkte in seiner Faust. Kim atmete tief durch.

So soll es also enden, dachte er bei sich. Aber ich werde es ihm so schwer wie nur möglich machen. Ich werde es für alle tun, die unter dem Schrecken dieser Bestien zu leiden hatten …

»Ich glaube, wir werden es schwer haben«, brummte Burin, der die blanke Axt gezückt hielt. »Das wird ernster als das Scharmützel mit den Sumpflingen.«

»Ich denke es auch, Freund«, antwortete Fabian. »Ich glaube, es könnte unser letzter Kampf sein.«

»Es ist auch unser erster, wenn man die Wirtshausbalgereien nicht mitzählt. Nun werden wir herausfinden, wie gut wir wirklich sind!«

Gwrgi war neben die beiden Freunde getreten. Er hielt ein gebogenes Messer in der Hand, das kaum länger als eine Männerhand war.

»Was willst du denn damit?«, spottete Burin. »Damit kann man doch höchstens Fische häuten.«

»Abwarten«, meinte Gwrgi gelassen. »Sein gutes Messer für Rache. Messer von Schamane …«

Mehr sagte er nicht, aber Fabian glaubte mit einem kurzen Seitenblick zu erkennen, dass auf der Klinge etwas Grünliches im roten Licht der Sonne schimmerte. Aber er hatte keine Zeit, sich näher damit zu befassen; denn in diesem Augenblick war Gilfalas heran.

»Sie kamen von unten heraufgelaufen. Ich bin sicher, auf der Stufe stehen ihre Pferde. Sie haben von uns gewusst«, berichtete er rasch.

»Ihre Zauberer werden uns gefunden haben«, entgegnete Fabian gleichmütig. Sein Blick war hart geworden. »Wir müssen die Brücke halten, Kim und Marina sind auf dem Weg nach drüben. Alles, was uns bleibt, ist, dafür zu sorgen, dass die beiden genügend Vorsprung haben.«

»Immerhin ist der Boden nicht sumpfig«, brummte Burin. »Ein guter Ort für ein Ende.«

Gilfalas sagte nichts.

Aber seine Miene war düster. Er hatte den Feind gesehen, der mit den Bolgs gekommen war, und die alten Erinnerungen seines Volkes drängten mit Macht an die Oberfläche.

Fabian hob sein Schwert. »Wenn die Legionen uns nicht zu Hilfe eilen, müssen wir uns selber helfen«, sagte er, und mit dem Ruf: »Imperius Rex!«, warf er sich in den Kampf.

Burin und Gilfalas stimmten in den alten Schlachtruf aus den Schattenkriegen ein, die einst die Völker der Mittelreiche unter dem Banner des Imperiums geeint hatten.

Fabian sah sich drei, vier Gegnern gegenüber, die ihn bedrängten.

Es waren alles Bolgs. Wo war ihr Anführer? Der Dunkelelbe hatte sich, wie Fabian aus den Augenwinkeln sah, nicht ins Kampfgetümmel gestürzt, sondern überließ die Auseinandersetzung seinen Schergen. Er hatte sein schlankes Schwert mit der brünierten Klinge gezogen, aber griff selbst nicht ein.

Warum sollte er auch, angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit seiner Truppe?

Fabian musste all sein Können aufbringen, um sich die Angreifer vom Leibe zu halten und zugleich Burin die Flanke zu decken. Der Zwerg war aufgrund seiner kleinen Statur bei einer solchen Auseinandersetzung im Nachteil. Die Bolgs waren ihm an Reichweite überlegen, und nur mit Mühe konnte er die Hiebe und Stiche abwehren.

Gilfalas focht mit spielerischer Leichtigkeit. Auch wenn der Elbenkrieger nicht Burins oder Fabians Kraft besaß, so machte er dies durch Geschick und Geschmeidigkeit mehr als wett. Seine schlanke Klinge, die der des Dunkelelben sehr ähnlich sah, wob ein Netz aus Stahl, schneller, als das menschliche Auge ihr folgen konnte.

Gwrgi wurde offensichtlich von den Bolgs als Gegner überhaupt nicht wahrgenommen. Der kleine Sumpfling sah seine Chance gekommen, als ein Bolg an ihm vorbei zur Brücke rennen wollte. Das Fischmesser beschrieb einen glänzenden Bogen, durchtrennte das dünne Leder des Hemdsärmels und drang in die derbe, dunkle Haut des Geschöpfes ein.

Der Bolg stieß ein unwilliges Knurren aus, wandte sich Gwrgi zu und erhob das Schwert, als er plötzlich einen markerschütternden Schrei ausstieß.

Dieser Schrei war erfüllt von Furcht und Entsetzen; und im nächsten Augenblick hatte der Bolg seine Klinge gesenkt und sich selbst in den Leib gerammt.

Gwrgi wartete gar nicht auf das Ergebnis seines Angriffs, sondern bewegte sich gedankenschnell auf den nächsten Gegner zu, der den Biss des Messers zunächst gar nicht bemerkte. Aber nur Augenblicke, nachdem Gwrgis Klinge ihn am Bein verletzt hatte, schrie auch er voll Schrecken auf, ließ seine Waffe fallen, rannte auf den Abgrund zu und warf sich in die Tiefe. Sein Schrei wurde von den Felswänden zurückgeworfen, bis er in der Tiefe verhallte.

»Mach weiter so!«, feuerte Burin den Sumpfling an, während seine Axt einem dritten der Angreifer, der sich von dem Geschehen einen Moment lang hatte ablenken lassen, erst das Knie durchtrennte und im Rückschwung derselben Bewegung den Schädel spaltete.

»Was ist los?«, fragte Fabian, der nicht sehen konnte, was in seinem Rücken vorging.

»Das Messer unseres Freundes scheint den Bolgs einen Spiegel vorzuhalten. Sie sind darüber so erschrocken, dass sie nicht mehr den Wunsch verspüren, noch länger zu leben.« Der Zwerg konnte sich seinen Humor trotz der Bedrängnis nicht verkneifen.

»Dort!«, rief Gilfalas aus. »Ein Bolg ist auf der Brücke!«

Fabian fluchte, aber keiner, nicht einmal Gwrgi, konnte dem Bolg nachsetzen; denn nun nahmen die Bolgs auch Gwrgi ernst. Zwei von ihnen stürzten sich auf den Sumpfling.

Zwei Schwertklingen sausten auf ihn herab.

Erstaunlich behende warf sich der Sumpfling zur Seite, rollte über den Boden ab, und in dem Augenblick, als die Klingen der Bolgs funkensprühend auf den Felsen schlugen, stand er schon wieder auf den Füßen. Leider ergab sich für ihn keine Möglichkeit, wieder zuzustoßen, denn die Bolgs waren nun vorsichtiger geworden und hielten sich auf Distanz.

In diesem Augenblick durchbohrte Fabians Schwert einen der Gegner, aber die Klinge verkantete sich in den Rippen, sodass der Prinz, der das Schwert nicht loslassen wollte, mit zu Boden ging.

Ein weiterer Bolg sah die Gelegenheit und hob seine schwere Kriegskeule, um sie auf den Gestürzten niedersausen zu lassen.

Gilfalas warf sich nach vorn und brachte den Bolg zu Fall. Im nächsten Augenblick war Fabian wieder auf den Beinen, das blutbefleckte Schwert in der Hand, Kampfeslust in den Augen.

Gilfalas aber war von der Wucht seines Angriffs weitergetragen worden. Schwer stürzte er auf die Schulter, und seine eigene Waffe entglitt seiner Hand und schlitterte über den Felsboden.

Er machte einen Satz, um danach zu greifen, spürte schon das Heft des Schwertes in seiner Hand und wollte es hochreißen, als ein schwarzer Stiefel sich auf die Klinge stellte.

›Mich dünkt‹, die Stimme des Dunkelelben war schneidend wie der eisige Wind, der über das Felsgestein fegte, ›dein Weg ist hier zu Ende, Elbe.‹

Der Bolg grunzte etwas in einer Sprache, die Kim nicht verstand. Sofern es überhaupt eine Sprache war, und nicht nur ein animalisches Knurren. Soweit er wusste, waren diese Kreaturen von den Dunkelelben nicht zum Reden, sondern zum Kämpfen gezüchtet worden.

Kim stand so breitbeinig wie möglich auf dem Balken. Er hielt den Dolch vor sich, der um einiges kürzer war als das Schwert des Bolg.

Noch drei oder vier Schritte, dann würden sich ihre Klingen kreuzen, und jeder Hieb würde Kim den Tod ein Stück näherbringen. Der Bolg war größer und weitaus kräftiger; er war dem Ffolksmann an Reichweite überlegen und zudem ein geübter Krieger.

Kim wich Schritt um Schritt zurück. Vielleicht konnte er den Gegner auf diese Weise noch etwas hinhalten. Doch er musste vorsichtig sein. Er durfte es nicht auf einen Zweikampf ankommen lassen.

Der Bolg kam unbeirrt näher; Bretter und andere Reste der Brückenkonstruktion, die ihn beim Vorankommen störten, räumte er einfach beiseite. Seinen Schritt beschleunigte er jedoch nicht. Er wusste, dass ihm sein Opfer nicht entrinnen konnte.

Wenn es Kim gelang, den Abstand zu wahren, dann konnte er vielleicht am Aufstieg auf der anderen Seite … irgendetwas tun. Es fiel ihm nichts ein. Das einzig Wichtige war, sagte er sich, dass Marina ungefährdet den Rand der Schlucht erreichte.

Der Ffolksmann warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, konnte aber nichts sehen. »Marina!«, rief er gegen den gedämpften Kampflärm von jenseits der Felskante und das Rauschen des Wassors in der Tiefe. »Hast du’s geschafft?«

»Gleich!«, erreichte ihn ihre Antwort.

»Sag Bescheid, wenn du oben bist!«

»In Ordnung!«

Immer noch wich Kim Schritt um Schritt zurück. Der Bolg grinste, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Der Tod lag in diesem Grinsen. Der Bolg fühlte sich unendlich überlegen, wie eine Katze, die mit einer Maus spielt. Machte Kim einmal einen kleineren Schritt rückwärts, verringerte der Bolg den Abstand keineswegs, sondern behielt ihn bei, indem auch er nur einen kleinen Schritt vorwärts machte.

Plötzlich trat er zwei Schritte vor. Kim wich heftig zurück, kämpfte mit dem Gleichgewicht und wäre um ein Haar gefallen. Als er wieder sicher stand, hatte der Bolg die Gunst des Augenblicks nicht etwa genutzt, um seinen Widersacher zu durchbohren oder ihn vom Balken zu werfen. Er stand bloß blöde grinsend da und weidete sich an den Bemühungen seines Opfers.

»Ich bin drüben!« Das war Marina.

»Gut!«, sagte Kim.

Dann setzte er alles auf eine Karte, drehte sich auf der Stelle herum und rannte los, so schnell ihn seine Beine trugen.

Hinter ihm erscholl ein höhnisches Lachen und dann der inzwischen vertraute Laut genagelter Stiefel auf dem eisenharten Holz des Balkens. Die Schritte waren ohne Hast, schien der Bolg doch zu wissen, dass Kim keine Chance hatte zu entkommen.

Kim erreichte das kleine Plateau am Ende der Brücke. Endlich hatte er wieder festen Grund unter den Füßen, und die Stufen, abgetreten zwar und alt, erleichterten ihm den Aufstieg.

Dann war er oben.

Marina erwartete ihn. In ihren Händen hielt sie ein Stück Stoff und einen Stein.

Der Bolg war immer noch auf dem Balken. Aber er kam näher.

»Wir müssen ihn aufhalten«, keuchte Kim.

»Erst mal werden wir ihn ein wenig beschäftigen«, sagte sie. Und dann wirbelte sie ihre Steinschleuder.

Als sie genügend Schwung hatte, sauste ein faustgroßes Felsstück auf den Bolg zu und traf ihn an der Brust.

Die Kreatur stieß einen überraschten Ausruf aus. Die Wucht des Steins brachte sie fast aus dem Gleichgewicht. Um die Balance halten zu können, warf der Bolg sein Schwert von sich, das, sich überschlagend, in den Tiefen verschwand.

Marina legte sofort nach, und sirrend verließ der nächste Brocken ihre provisorische Schleuder. Er verfehlte den Bolg nur knapp.

Kim hatte kein Stück Stoff, und so bückte er sich, hob einen handlichen Stein auf und warf ihn auf den Angreifer.

Er traf, wenn auch nicht mit der gleichen Wucht wie Marina. Der Bolg stieß ein zorniges Brüllen aus und machte sich daran, das letzte Stück bis zum Aufstieg hinter sich zu bringen.

Wieder verließ ein Stein Marinas improvisierte Schleuder und raste mit Schwung auf den Bolg zu. Dieser hob gerade den Blick, als ihn der Stein mitten auf die Stirn traf.

Der Bolg stieß einen Schmerzensschrei aus, und seine beiden Prankenhände fuhren hoch zum Gesicht.

Es sah fast komisch aus, wie er am Rand des Balkens entlangtänzelte und verzweifelt versuchte, den Halt zurückzugewinnen. Kim hielt einen Stein in der Hand, zögerte aber, ihn zu werfen. Er hatte noch nie getötet, und er wusste, wenn er traf, würde er diesem Wesen, und sei es noch so böse, den Tod bringen.

»Tu’s!«, sagte Marina. »Das ist einer von denen, die Elderland brandschatzen.«

Das gab den Ausschlag. Kim holte aus und warf mit voller Wucht. In seiner Kindheit war er ein guter Werfer bei Schneeballschlachten gewesen.

Und er hatte nichts verlernt. Mit tödlicher Sicherheit fand der Stein sein Ziel.

Als würde für einen Augenblick alles langsamer ablaufen, sah Kim, wie der Bolg endgültig den Halt verlor.

Im Fallen schrie der Bolg. Es war ein Schrei, der fast etwas Menschliches hatte, der kreatürliche Schrei eines Wesens, das den Tod vor Augen sah. Dann war da nur noch das Rauschen des Wassers in der Tiefe …

»Wir müssen weiter«, sagte Marina.

»Ja«, sagte Kim nur und wandte sich abrupt um. Er folgte Marina den Weg zur Passhöhe hinauf. Doch nachdem sie ein Dutzend Schritte gegangen waren, konnte er nicht umhin, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. Jenseits der Brücke kämpften die Gefährten immer noch verzweifelt gegen die Übermacht.

Aber …

»Sieh!«, sagte er zu Marina.

Beide starrten über die Schlucht hinweg und konnten nicht fassen, was sie sahen …

»Gilfalas!«, brüllte Fabian, als er sah, in welche Bedrängnis der Gefährte geraten war. Ein hastiger Seitenblick zeigte dem Prinzen, dass weder Gwrgi noch Burin nahe genug waren, um das Unheil zu verhindern.

In diesem Augenblick setzten die Bolgs wieder nach, sodass Fabian keine Zeit mehr blieb, auf den Elben zu achten. Und fast war er den Bolgs dankbar für ihre Attacke, brauchte er das Ende seines Gefährten so wenigstens nicht mit anzusehen.

›Stirb!‹ Die Stimme des Dunkelelben hallte über das Plateau, tausend Echos weckend. Es war eine Stimme ohne Gefühl; kein Triumph sprach aus ihr, nur die Gewissheit, dass jeder Widerstand zwecklos war, dass es keine Sicherheit mehr gab außer im Tod …

Mit einer letzten Willensanstrengung warf Gilfalas sich zur Seite. Er spürte noch den Lufthauch des Schwertes, und das Klirren der Klinge auf den Fels hallte in seinen Ohren wie ein Gong.

Blitzschnell war er wieder auf den Füßen und sah sich waffenlos dem Dunkelelben gegenüber. Ein Lächeln lag auf dem bleichen Gesicht, doch es reichte nicht bis zu den schwarzen, mitleidlosen Augen.

›Wer bist du?‹ Die Stimme war so kalt wie das Lächeln, ein Hauch im Pfeifen des eisigen Windes. ›Ich jage dich nun schon eine ganze Weile. Sag mir deinen Namen, ehe ich dich töte!‹

»Gilfalas bin ich, Inglorions Sohn von Talariël, aus dem Hause und Geschlechte der Elohim, Licht von jenem Licht, das deine Väter einst bannte. Geh zurück in die Finsternis, in die du gehörst!« Zeit und Raum schienen aufgehoben in diesem Augenblick, als sie sich gegenüberstanden, der unerschrockene Elbe und die Kreatur der Nacht.

Der Dunkelelbe zischte. Es war wie das Zischen einer Schlange, doch mächtiger, gefährlicher, ein Atem des Todes.

›Aaaah …‹

Gilfalas hörte nichts mehr, sah nichts mehr von dem, was um ihn vorging. Er sah nur noch die blitzende Klinge, die einen hohen Bogen über dem Haupt seines dunklen Widersachers beschrieb.

›Azanthul ist es, Azrathoths Sohn, der dich getötet hat.‹

Es ist vorbei …

»NEIN!«

Die Stimme klang wie Donner. Im selben Augenblick ließ der Druck in Gilfalas’ Kopf nach, und der Elbe warf sich zur Seite, als die Klinge niedersauste.

›Du?‹

Mühsam, die Schmerzen ignorierend, die Benommenheit abschüttelnd, richtete Gilfalas sich auf.

Überlebensgroß, alle um Haupteslänge überragend, stand Magister Adrion Lerch zwischen ihm und dem Dunkelelben. Seine Gestalt war seltsam durchscheinend, schien im Wind zu wabern und sich zu kräuseln.

Mit einem beinahe nachlässigen Winken seiner Hand warf Magister Adrion die Bolgs zurück, die Fabian, Burin und Gwrgi bedrängten. Dann wandte er sich dem Dunkelelben zu, der totenbleich auf die Erscheinung starrte, welche seine Bemühungen kurz vor dem Ziel zunichte machte.

»Ja, ich bin es, der Hüter der Vergangenheit«, grollte die Stimme des Magisters. »Und nun geh, bevor ich die mir verliehene Macht nütze und dich in den Abgrund stoße. GEH!« Die Stimme war beim letzten Befehl zu einem Orkan angeschwollen, und ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu.

Der Dunkelelbe wich zurück. Azanthul, erkannte Gilfalas, war klug genug einzusehen, dass seine Kraft hier und jetzt nicht ausreichte, um sich gegen die Macht zu stellen, die sich da offenbarte. Ein scharfer Befehl, und die verbliebenen Bolgs, die sich wieder aufgerafft hatten, zogen sich murrend, aber gehorsam hinter ihn zurück.

›Du wirst dem Schatten nicht entkommen‹, kam die Stimme des Dunklen, immer noch drohend, aber seine Maske kühler Empfindungslosigkeit war gefallen, weil er im Augenblick des Triumphes geschlagen worden war. ›Denke an mich, wenn das Licht verlöscht …‹

Er schob das Schwert in die Scheide und warf sich seinen Mantel um die Schulter.

»Komm her!«, schrie Fabian von der Brücke, mit einer Stimme, die kurz davor stand, zu kippen und zu einem hysterischen Gelächter zu werden. »Komm, du Feigling, und kämpfe!«

›Ein andermal‹, flüsterte der Dunkelelbe. Dann wandte er sich um, ohne Fabian und seine Freunde auch nur eines Blickes zu würdigen, und bereits nach wenigen Schritten waren er und die Meute der Bolgs mit der hereinbrechenden Dämmerung verschmolzen.

Als die Tritte der genagelten Stiefel verhallt waren, wandte sich Gilfalas seinem Retter zu. Der Magister sah aus, wie er ihn in Erinnerung hatte, ein kleiner, alter Ffolksmann von der Größe eines halbwüchsigen Knaben. Wäre nicht dann und wann ein Zittern durch den Umriss seiner Gestalt gegangen, so hätte man glauben können, er stehe leibhaftig dort.

»Geht hinüber auf die andere Seite«, sagte Magister Adrion, »denn Azanthul lauert nicht weit von hier, und meine Macht ist begrenzt.«

»Was …«, begann Fabian, der herbeigetreten war, aber der Magister winkte ab.

»Es ist nicht die Zeit für Erklärungen. Entbietet Kim meinen Gruß, und sagt ihm, er erfüllt die in ihn gesetzten Erwartungen.«

»Das werden wir tun«, sagte Fabian, und Gilfalas fügte hinzu: »Ich danke Euch, Magister. Wieder habt Ihr mein Leben gerettet.«

»Gibt es ein höheres Gut«, sprach der Magister, »als sein Leben einzusetzen für eine gerechte Sache? Und nun geht!«

So schnell es ging, überquerten Fabian und seine Gefährten die Brücke, und obwohl die Dämmerung fortschritt und der Stützbalken im Schatten der Berge lag, wurde es nicht düster. Eine gleichbleibende Helligkeit wies ihnen den Weg.

Kaum hatten sie den Aufstieg auf der anderen Seite erreicht, als Fabian sich noch einmal umwandte und einen Blick zurückwarf. Die kleine Gestalt Magister Adrions stand zwischen den beiden Pfeilern, die das andere Ende der Brücke bezeichneten. Ein Lichtschimmer spannte sich zwischen ihnen und floss über auf seine Hände, als der Magister gebieterisch die Arme hob. Einen Augenblick lang geschah gar nichts; selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Dann zerbarst mit einem Knall, der von allen Seiten zugleich widerhallte, der Stamm, welchen die Zwerge vor undenklichen Zeiten in den Abgrund gekeilt hatten, in Tausende und Abertausende winziger Splitter.

Als Fabian die Hände wieder senkte, die er schützend vors Gesicht gehoben hatte, war auf der anderen Seite der Brücke niemand mehr zu sehen.

»Welch ein Schauspiel!« Burin nickte anerkennend. »Ich wusste, im Ffolk steckt mehr als ihre praktische, aber langweilige Lebensphilosophie!«

»War das Magister Adrion?«, fragte Kim, der zusammen mit Marina herbeigetreten war.

»Ja«, sagte Fabian nur. »Wir sollen dich grüßen und dir sagen, dass du deine Sache gut machst.«

»Welche Sache?«, fragte Kim mehr mechanisch als aus wirklicher Neugier. Er starrte mit leerem Blick nach Norden, als könne er Elderland sehen.

»Das hat er nicht gesagt«, meinte Burin, und Kim war dankbar, dass er sich einen Nachsatz wie ›Geister sind nie sonderlich auskunftsfreudig‹ schenkte.

Auf der anderen Seite erschien ein Schatten an der Brücke, gefolgt von weiteren, die breiter und untersetzter wirkten. Azanthul und die Bolgs starrten stumm zu ihnen herüber.

»Kommt, wir gehen«, sagte Fabian. »Ich habe fürs Erste genug von denen.«

Wortlos wandten die Gefährten sich um und stiegen den Pfad hinauf. Nur wenige hundert Schritt weiter stießen sie auf eine natürliche Höhle im Fels.

»Hier können wir lagern«, meinte Burin. »Seht her, sogar Wasser ist hier in einer kleinen Senke.«

»Ist das klug?«, fragte Kim. »Sollten wir nicht zusehen, dass wir weiterkommen. Immerhin ist der Dunkelelbe dicht hinter uns.«

»Magister Adrion hat dafür gesorgt, dass er uns nicht so schnell folgen kann. Die Methode war vielleicht etwas drastisch, aber sie hat gewirkt. Schlagt schon mal das Lager auf. Ich will sehen, ob ich draußen nicht etwas Strauchwerk finde, damit wir wenigstens genügend Feuer für eine Tasse Tee haben.«

Schweigend errichteten sie das Lager, als Burin mit seiner mageren Ausbeute zurückkehrte. Es würde in der Tat nur reichen, um am Abend und in der Frühe Wasser zu erhitzen. Doch die Höhle lag windgeschützt, sodass nicht zu befürchten stand, sie würden in der Nacht erfrieren.

Es wurde nicht viel gesprochen. Sie alle standen noch viel zu sehr unter dem Eindruck des Erlebten. Kim schwirrte immer noch der Kopf bei dem Gedanken an seinen Mentor und Freund, der auf so unerklärliche Weise als Retter in der Not erschienen war. Er kannte ihn als Gelehrten und als einen klugen und weisen Mann, der ihn oft mit seiner Voraussicht überrascht hatte, doch als ein mächtiger Magier war Magister Adrion ihm nie erschienen.

Einen Augenblick überkam ihn der bestürzende Gedanke, dass der Magister tot sein könnte; denn im Ffolksglauben erschienen nur die Toten den Lebenden als Geister, um sie zu beschützen. Doch es wollte ihn keine Trauer übermannen wie nach dem Tod seiner Eltern, an deren Stelle Adrion Lerch getreten war. Und auch die Worte der Ermunterung, mit denen der Alte ihn hatte grüßen lassen, klangen nicht so, als ob für Magister Adrion die Geschichte schon zu Ende sei.

Er befingerte den Ring an seiner Hand, das Vermächtnis des Kustos. Glomm er nicht auch in einem eigenen Feuer? Oder war es nur der Widerschein der Flammen?

Gwrgi nützte das schwache Licht des Feuers, um sein Messer mit einer grünlichen Paste einzuschmieren, nicht ohne dann und wann davon zu kosten.

»Was ist das für ein Zeug?«, fragte Burin.

»Jelat«, antwortete der Sumpfling, als würde das alles erklären.

»Aha«, sagte der Zwerg, ließ dann aber doch nicht locker. »Ich nehme an, es ist ein Sumpfgeheimnis.«

»Richtig, und da du Gwrgi Geheimnisse der Berge lehren, Gwrgi erklären dir Jelat.«

»Dann tu’s.«

»Also«, quäkte Gwrgi. »Jelat sein Rauschmittel aus Saft von Jorubabeere, von Schamanen mit Zauber versehen. Wenn Jelat in Blut, dann sehen Opfer unerfreuliche Dinge und suchen den Tod. Jelat ohne Blut bringen gute Träume.«

»Über dieses Geheimnis sollten wir Stillschweigen bewahren. Wenn die Kunde von Jelat-ohne-Blut die Runde im Imperium macht, dann wird die Hälfte der Höflinge angenehme Träume suchen«, sagte Fabian.

»Ein Glück«, sagte Marina plötzlich, »dass ihr Jelat nicht gegen uns benützt habt, als ihr uns im Sumpf gestellt hattet.«

Der Einwand war berechtigt. Fabian zog die Brauen hoch. »Warum?«

»Schamane hat verboten«, entgegnete Gwrgi knapp. Es schien so, als wisse er nichts über die Beweggründe des Schamanen, so fragte der Prinz auch nicht weiter.

Nur Burin, der wie so oft das letzte Wort haben musste, knurrte: »Wenn ich diesem Schamanen mal begegne, werde ich ein paar Geheimnisse aus ihm rausquetschen, das könnt ihr mir glauben.«

Bald danach krochen sie unter die Decken und rückten eng zusammen, denn draußen wurde es bitterkalt.

Auch ohne Jelat schliefen sie alle tief und fest, ob von den Erschöpfungen des Tages oder weil immer noch ein Zauber auf ihnen lag. Und wenn Kim einmal im Schlaf vermeinte, Magister Adrion an seinem Lager sitzen zu sehen, der ihn mit freundlichem, doch irgendwie traurigem Blick bedachte, und wenn Fabian das blitzende Schwert des Dunkelelben in der Dunkelheit sah und Gilfalas die flammenden Augen seines dunklen Bruders und Burin im Traum immer noch mit der Axt nach den Bolgs hieb, die ihn umringten, so vergaßen sie doch alle ihre Träume, als im ungewissen Licht der falschen Morgendämmerung der neue Tag heranbrach.

Und was Gwrgi träumte, verriet er keinem.