KAPITEL IX
DAS BUCH DER GNOME

Die Stille lastete auf Kim. Seit ihn das Verstummen der Trommeln in der Nacht geweckt hatte, war Ruhe in den Gängen und Hallen. Und dennoch konnte Kim sich des Gefühls nicht erwehren, als halle das dumpfe Pochen noch im Gestein des Berges wider, wie das Echo einer Schwingung, das stärker und stärker wurde, bis es lautlos in den Ohren gellte.

Doch die einzigen Geräusche, die zu hören waren, waren die Schritte der Gefährten auf dem Felsboden und ihr Atmen. Es war kälter geworden, sodass die Luft in weißen Wölkchen vor ihren Mündern stand. Die Wände blieben gleichförmig glatt, ohne Abwechslung für das Auge. Auch war das Licht eine Spur fahler als weiter oben, als würde es hier nicht benötigt.

Hier unten, auf dieser Ebene, war der Weg einfach zu finden, und sie kamen gut voran. Gregorin war in der Lage, sich ohne die Hilfe Marinas zu orientieren, doch Kim wusste, wie schnell sich das ändern konnte. Die patente Ffolksfrau war mittlerweile unentbehrlich geworden.

»Wasser da«, quäkte Gwrgi, der immer noch sicher war, dass sie beobachtet wurden; doch glaubte er zu spüren, dass die Beobachter nie nahe genug herankamen, um ihnen gefährlich zu werden. Das beruhigte Kim ungemein.

Kim verstand nicht gleich, was Gwrgi mit seiner Bemerkung meinte. Erst als er durch eine flache Pfütze platschte, ging ihm auf, was der Sumpfling entdeckt hatte.

Es drang Wasser in den Gang ein; nicht viel, doch genug, dass es auffiel. Im gleichen Augenblick traf Kim ein Tropfen auf die Nase, und er sah zu der gut sechs Ffuß hohen Decke empor. Dort reihten sich die Wassertropfen wie die Hühner auf der Stange, und wenn sie zu schwer wurden, fielen sie herab.

Weiter vor ihnen fiel ein Tropfen auf den Felsen, und Kim konnte es deutlich hören. Es übertönte sogar das Geräusch ihrer Schritte. Ein weiterer Tropfen fiel und traf auf eine Pfütze, und dieses Geräusch wurde durch ein Echo gebrochen und hallte wider, als sei ein Felsbrocken herabgestürzt.

Kim bemerkte, wie Gregorin zur Decke aufblickte und die Augen zusammenkniff. Obwohl Kim dem Zwerg noch immer mit Vorsicht begegnete und ihm in gewisser Weise sogar misstraute, war er sich sicher, dass der Alte nicht ohne Grund so kritisch dreinschaute. Und als Burin es ihm gleichtat, war sich Kim endgültig sicher, dass es Anlass zur Besorgnis gab.

Wohin konnte man sich hier wenden, wenn das Wasser hereinbrach? Kim fühlte sich plötzlich sehr beengt in dem unterirdischen Gang. Er musste an die Tausende und Abertausende Tonnen von Gestein denken, die über ihnen lasteten, lebendes Gestein mit unterschiedlichen Schichten, durchzogen von Adern und Flözen, in denen Wasser und Druckkräfte wirkten und arbeiteten. Selbst im Laboratorium, wo sie in der Falle gesessen hatten, hatte er keinen Grund gehabt, an der Festigkeit des Zwergenwerks zu zweifeln, und ihm war nicht einmal der Gedanke gekommen, dass ihnen von dieser Seite her Gefahr drohte. Aber jetzt …

Kim fand seinen Kragen zu eng, als er das Wasser an der Decke musterte, das sich dort in immer größeren Mengen sammelte. Die fallenden Tropfen häuften sich, und die Luft wurde langsam feucht. Das Atmen fiel zunehmend schwerer.

»Beobachter weg. Rieche nicht mehr«, sagte Gwrgi. »Rieche Wasser.«

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Gregorin düster. »Wenn es hier einen Wassereinbruch gibt, ersaufen wir wie die Ratten.«

»Und wohin?«, fragte Fabian.

»Ich kann die Karte nicht mehr hervorholen. Es ist zu nass«, entgegnete Gregorin.

»Vor uns ist eine Kreuzung«, meldete sich Marina zu Wort. »Dort führt ein Gang nach oben.«

»Na, dann nichts wie hin«, entschied Fabian.

Sie begannen zu laufen, rannten wie so oft in den letzten Tagen um ihr Leben. Das Wasser, das sich immer schneller am Boden sammelte, spritzte ihnen um die Füße. Es mochte schon fast einen Innch hoch stehen.

Die Geräusche der immer dichter und heftiger fallenden Tropfen hallten schaurig von den Wänden wider. In Kims Ohren klang es wie ein heftiger sommerlicher Gewitterschauer auf dem Marktplatz von Aldswick, und das Echo verstärkte den Schall noch, sodass er sich vorkam wie ein ganz junger Knabe, der zum ersten Mal alleine ein Gewitter erlebt. Furcht stieg in ihm auf, aber er hatte sich schon so sehr daran gewöhnt, Angst zu haben, dass er sie mühelos niederkämpfte und so schnell rannte, wie ihn die Beine trugen.

Das Wasser war außerdem eisig kalt. Mittlerweile war Kim durchnässt bis auf die Knochen. Keuchend und schlotternd lief er hinter Marina her.

»W-w-wie weit ist es noch?«, rief er ihr zu.

»Es kann nicht mehr weit …« Das letzte Wort des Satzes wurde Marina von den Lippen gerissen; denn gut fünfzig Schritt hinter ihnen barst die Decke des Ganges, und in das Krachen und Bersten des Felsens mischte sich das Tosen eines Sturzbaches, der in Form einer mannshohen Welle durch den Gang raste.

»Schneller!«, übertönte Burins tiefe Stimme das Donnern des Wassers.

Kim nahm die Beine in die Hand, obwohl er wusste, dass er keine Chance hatte, diesen Wassermassen zu entkommen. Aber etwas in dem Ffolksmann gab nicht auf. Etwas in ihm war nicht bereit, das Unabwendbare hinzunehmen, und so rannte er und rannte, immer nur geradeaus. Das Rauschen des Wassers dröhnte ihm in den Ohren, übertönte jedes andere Geräusch.

Ersaufen wie eine Ratte! Das war das einzige, woran Kim denken konnte. Die Angst war wieder da, die Angst vor dem Fuchsbau, jener engen Röhre, aus der es kein Entkommen gab; doch diesmal war die Röhre mit Wasser gefüllt, Wasser, das toste und brüllte: Wasser in seinen Kleidern, das ihn niederzog, Wasser in seinen Haaren, seinen Ohren, seinen Augen, Wasser in Nase und Mund. Er sah nur noch Wasser, schluckte Wasser, atmete Wasser; bald würden sich seine Lungen mit Wasser füllen, und das würde das Ende sein …

»Hier!« Marinas schriller Schrei ging in dem allgemeinen Getöse beinahe unter, doch für Kim war er wie ein rettendes Seil, an das er sich klammerte, um sich mit eigener Kraft aus dem Strudel der Panik zu ziehen, die ihn gepackt hatte. Er stemmte sich gegen die Flut. Zu spät. Die Strömung war zu stark. Das Wasser riss ihn mit sich. Wild mit Armen und Beinen rudernd, versuchte er Halt zu finden – und prallte gegen ein Hindernis.

Er griff um sich, bekam etwas zu packen, das sich wie nasse, krause Wolle anfühlte.

»Raus aus meinem Bart!«, fluchte Burin.

Der Zwerg stand wie ein Fels in der Brandung. Wasser schäumte und toste um ihn her. Kim schaute sich gehetzt nach allen Seiten um. Wo war die Kreuzung, die Marina ihnen angekündigt hatte? Links und rechts gab es nur glatte Felswände.

»Was –?«, setzte er zu einer Frage an, bekam aber den Mund voll Wasser und musste spucken.

»Und hopp!«, sagte Burin und schleuderte ihn nach oben.

Kim, überzeugt, mit dem Kopf gegen die Decke zu prallen, riss instinktiv die Arme hoch und bekam eine Felskante zu fassen. Wie ein Tier, das keinen anderen Gedanken mehr hat als zu überleben, krabbelte er weiter, zog sich auf dem harten, glitschigen Fels vorwärts, bis er die Beine über die Kante ziehen konnte, und blieb hustend und würgend liegen.

Neben sich sah er Marina, die ebenfalls auf dem felsigen Grund lag und von Krämpfen geschüttelt wurde. Dann blickte er sich um.

Gwrgi kam aus der Tiefe geschossen, wie von einem Katapult geschleudert.

Dann schoben sich Fabians Arme und sein Kopf aus der Öffnung im Boden. Aus eigener Kraft stemmte der Prinz sich hoch und schwang sich über die Kante.

Erst jetzt wurde Kim klar, dass sie sich in einem anderen Gang befanden, der sich vor und hinter ihm in die Tiefe erstreckte, bis er sich im Dämmerlicht verlor. Im Boden dieses Ganges klaffte ein sicherlich fünf mal fünf Ffuß großes quadratisches Loch.

Kim blickte unwillkürlich hinab. Drunten schäumte der Wildbach – quer zu der Laufrichtung des Ganges, in dem sie sich befanden.

Die Wegkreuzung! Marina hatte doch recht behalten. Nur dass sich der Gang, welcher den Stollen kreuzte, durch den sie gekommen waren, nicht auf derselben Ebene befand, sondern ein Stück höher. Und das war ihre Rettung gewesen.

»Los, helft mir, verdammt noch mal!«, kam Burins Stimme aus der Tiefe.

Fabian lag schon auf dem Boden, über die Öffnung gebeugt. Kim ließ sich neben ihn fallen und spähte über den Rand. Drunten sah er Burin in den schäumenden Wassern, die Arme emporgestreckt. Er schien in der Luft zu stehen, doch selbst das reichte nicht, um die rettende Felskante greifen zu können.

»Nimm meine Hände!«

Fabian fasste Burin an den Unterarmen, doch der Zwerg war schwer, schwerer als ein Mensch. Erst als Kim mit zupackte, gelang es ihnen mit einer gemeinsamen Anstrengung, den Zwerg so weit hochzuziehen, dass er sich mit einem Gewaltakt seiner mächtigen Muskeln selber in Sicherheit bringen konnte.

»Gregorin!«, keuchte Burin, als er bei ihnen war. »Er ist noch unten.«

Da begriff Kim: Burin hatte auf Gregorins Schultern gestanden, als er nach ihnen gerufen hatte. Er bückte sich hinab in die Öffnung. Nichts war zu sehen außer tosendem Wasser.

Doch da! Eine Hand, die aus den Wirbeln ragte.

»Gwrgi kann das«, quäkte es plötzlich hinter ihnen. »Gwrgi taucht!«

Tollkühn warf sich der Sumpfling, an den keiner mehr gedacht hatte, in die Tiefe. Fabian packte gedankenschnell zu und bekam eines von Gwrgis Beinen zu fassen, dann das andere.

War da ein Schrei in der Tiefe? »Ziiieht!«

Das Gewicht, das plötzlich an ihm zerrte, ließ Fabian über den Boden schlittern. Doch Burin hatte ihn bereits gepackt und hielt ihn fest. Kim und Marina griffen ebenfalls zu, und langsam, Innch für Innch, zogen sie Fabian von dem wässrigen Schlund, der in der Tiefe brodelte, fort und dann Gwrgi und schließlich Gregorin.

Alle lagen sie keuchend und würgend auf dem nassen Felsboden, und lange Zeit sprach keiner ein Wort, sondern dankte nur stumm den Mächten, welche es auch sein mochten, die sie vor dem Tod in der reißenden Flut bewahrt hatten.

»Wenn noch einmal jemand sagt«, meinte Kim schließlich, »Zwergenwerk sei für die Ewigkeit, dann … dann …« Ihm fehlten die Worte.

»Dass der Gang ausgerechnet jetzt einbrechen musste, wo wir drinsteckten!«, seufzte Fabian. »Bald glaube ich, es liegt ein Fluch auf unserer Mission.«

»Das war kein Zufall«, sagte Marina. Alle sahen sie an. »Ich weiß nicht, was es war, aber ich fühle es. Irgendetwas hat den Stein zum Bersten gebracht.«

Sie blickte scharf in Gregorins Richtung, doch der alte Zwerg zeigte keine Regung. Sein Gesicht war, soweit das in der fahlen, von den wirbelnden Fluten aufgewühlten Düsternis auszumachen war, grau wie Stein.

»Trommeln«, erklärte Gwrgi.

Einen Augenblick wusste Kim nicht, was der Sumpfling meinte; denn es waren keine Trommeln zu hören. Dann begriff er. Wenn Gregorins Sang die aufgestaute Spannung in der uralten Tür des Laboratoriums gelöst hatte, dann mochte ein Klang wie das Dröhnen der Trommeln auch den Stein in Schwingung versetzen, wenn man nur den richtigen Ton und Rhythmus traf. Er lauschte in die Tiefe, ob er das Singen des Felsens noch hören konnte, aber das Tosen des Wassers übertönte jedes andere Geräusch.

»Gebt mir mal die Karte«, sagte Marina zu Gregorin. »Ich will sehen, wie wir von hier aus weiterkommen.«

Gregorin widersprach nicht, sondern reichte die in gewachsten Stoff verpackte Karte an Marina weiter, die sie sofort ausfaltete, um sie zu studieren. »Hier«, sagte die Ffolksfrau nach einigen Augenblicken. »Hier müssten wir wieder nach Westen kommen.«

Gregorin beugte sich zu Marina herüber, um ebenfalls auf die Karte schauen zu können. Er folgte mit den Augen ihrem Finger und ihren Erklärungen. Kim war immer noch nicht klar, wie man sich in diesem Gewirr von Linien überhaupt zurechtfinden konnte.

Ein eisiger, nasser Spritzer, der ihn im Nacken traf, riss ihn aus seinen Gedanken.

Das Wasser hatte jetzt die Decke des unteren Ganges erreicht und brach sich an dem Schacht, der nach oben führte.

»Kommt«, sagte Fabian, »wir müssen weiter. Wenn das Wasser noch höher steigt, können wir auch hier noch ersaufen.«

Müde, durchnässt und durchfroren rappelten sie sich auf. Es war keine Zeit mehr, länger zu verschnaufen. Marina ging voran, und Kim folgte ihr blind, zusammen mit Fabian und Gwrgi. Die beiden Zwerge bildeten stumm die Nachhut.

Nach einer Weile kamen sie an eine Weggabelung, wo ihre Führerin kurz verharrte.

»Es bleibt sich gleich, welchen Weg wir nehmen«, meinte sie dann. »Aber der linke scheint nach oben zu führen.«

Nach oben, dachte Kim, als sie weitergingen. Sonne, Wind auf der Haut; selbst ein Herbststurm wäre ihm jetzt recht gewesen, alles, nur nicht diese ewig kühle, klamme Luft in den Stollen und Schächten unter dem Berg. Bäume, Blumen, Felder und Gras …

Und dann das Imperium.

Kim, der sich in ganz kühnen Momenten manchmal ausgemalt hatte, an der Spitze einer Legion zu reiten, vergrub diesen Gedanken tief in seiner Seele, um ihn nie wieder hervorzuholen. Sobald sie die Garnison erreichten, würde er versuchen, einen ruhigen Platz im Hinterland zu ergattern. Kampf und Abenteuer waren nichts für einen Ffolksmann wie ihn. Er würde vielleicht ein Buch über die Ereignisse schreiben, aber dazu reichte es aus, im Nachhinein die Feldherren zu befragen.

Und da war noch die Erinnerung an seinen Traum. Kim hatte die Entscheidungsschlacht zwischen Licht und Schatten erblickt. Kurz und flüchtig war der Eindruck gewesen, und Kim war dankbar darum, nicht einzelne Kämpfe, Verwundete, Verstümmelte und Tote gesehen zu haben. Er hatte kein Interesse mehr daran, ein Held zu sein. Nein, mein Herr, sagte er zu sich selbst, ein ruhiges Leben als Gelehrter ist alles, was ich will.

Gut, dass du mitgehst, Kim …, wehte in ihm das Echo einer Stimme. Und wer weiß, wozu es sonst noch dienen könnte. Es war die Stimme Magister Adrions, seines Freundes und Mentors, dessen Augen in seinem Traum dem Vatergott gehört hatten. Kim sah sich um, ob jemand etwas gesagt hatte, aber nein, jeder der Gefährten war mit den eigenen Gedanken beschäftigt; die Stimme war in ihm gewesen.

Was mochte ihn noch alles erwarten?

Der Gang führte stetig bergauf, und je höher sie kamen, desto mehr Verzierungen tauchten wieder an den Wänden auf. Die Spuren der Zwergenhämmer verloren ihre reine Sachlichkeit und wurden verspielter, künstlerischer; schmucklose Gesimse wichen geometrischen Ornamenten – hier ein Mäander, da ein Zangenfries, dort ein endlos geflochtenes Band …

Kim aber hatte dafür kein Auge. Jetzt, da seine Traumvision so klar vor ihm stand wie die Erinnerungen an seine Kindheit, ließ er ihn nicht mehr los und suchte nach Hinweisen, auch wenn sein Verstand ihm immer wieder zu sagen versuchte, dass alles bloß ein verrückter Traum gewesen war, den er unter dem Dröhnen der Trommeln geträumt hatte und der nichts, aber auch gar nichts bedeuten mochte. Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas an dieser Vision ungeheuer wichtig war. Er hatte so oft geträumt, aber er wusste, erst in diesem Traum war etwas, das ihn all die Nächte zuvor gequält hatte, zum Durchbruch gekommen.

»Seht!«, sagte Marina, die mit Gregorin an der Spitze ging. »Da vorn über diese Brücke müssen wir, und dann«, sie warf einen kurzen Blick auf die Karte, um sich zu vergewissern, »müssen wir wieder kurze Zeit später rechts abbiegen und sind dann wieder auf dem Pfad nach Osten.«

»Wunderbar, diese kleine Frau. Was würden wir nur ohne sie machen?«, meinte Burin.

Marina schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, und Kim fragte sich, ob da nicht mehr hinter dem Lächeln steckte als bloße Dankbarkeit für dieses Lob. Magister Adrion hatte ein solch strahlendes Lächeln einmal im Scherz ein ›Reizlächeln‹ genannt, das die Braut ihrem Zukünftigen schenke, um ihn von den Schrecken der Ehe abzulenken. Kim schmunzelte, als er daran denken musste, dass Adrion Lerch der eingefleischteste Junggeselle Elderlands gewesen war.

Die Gefährten näherten sich einer massiven Steinbrücke, von der Kim nicht sehen konnte, was sie querte. Es mochte sein, dass sie nur unter der Decke einer Halle hindurchführte, damit man den Blick nach unten genießen konnte, aber auch, dass sie tatsächlich einen Abgrund überbrückte.

Das Geländer war fein gearbeitet und geziert mit Tausenden kleiner Löcher, die von geschickten Zwergenhänden in den Stein gemeißelt worden waren. An den Wänden fing sich ein feuriges Leuchten, das sich gänzlich von dem Licht unterschied, welches sonst aus den Wänden drang und eher kalt wirkte. Es war warm wie der Widerschein von Feuer.

Da begriff Kim. Das war kein Effekt, sondern mit der Brücke wurde ein feuriger Abgrund überquert, in dem Lava brodelte.

Als sie die Brücke erreicht hatten, warf Kim einen Blick in die Tiefe – wie er meinte, aber sehr weit hinunter ging es nicht. Es mochten dreißig oder vierzig Ffuß sein – das war von oben schwer zu schätzen –, dann gloste die Glut des geschmolzenen Gesteins, und Kim spürte deutlich die Hitze, die von unten heraufstieg.

»Warm«, meinte Gwrgi. »Endlich mal Sachen trocknen.«

In der Tiefe pulsierte die Glut, wie zum Schlag einer gewaltigen Trommel. Und tatsächlich: War da nicht wieder das dumpfe Dröhnen zu hören, das sie so lange begleitet hatte und dann endlich verstummt war? Die Lava knisterte und knackte. Hitzewellen stiegen auf und schlugen Kim ins Gesicht. Er hatte den Eindruck, als sei die Lava ein wenig gestiegen, nicht viel, aber deutlich merkbar. Hastig zog er den Kopf zurück.

»Ich fürchte«, sagte er, »es könnte hier bald ein bisschen zu warm werden.«

Die Gefährten sahen sich an. Dann machten sie, dass sie weiterkamen. Die Brücke war länger, als es zuerst den Anschein gehabt hatte, und selbst hier oben begann sich die Hitze bemerkbar zu machen, was sie bei den ersten Schritten gar nicht gespürt hatten.

»Lauft!« Gregorins tiefe Stimme überschlug sich fast. »Rennt um euer Leben!«

Ohne nachzudenken, kamen die anderen diesem Ruf nach, und als Kim einen hastigen Blick über die Schulter warf, erkannte er den Grund für die Warnung.

Die Lava stieg. Sie kroch wie ein Lebewesen über die Brücke, quoll durch die abertausend Löcher im Geländer, und das auf beiden Seiten. Das Erschreckendste daran war jedoch, dass das feurige Gestein nur dort in Aufruhr geriet, wo sie sich befanden. Als hätte es ein Bewusstsein – oder als zwänge es eine größere Macht, ihr zu Willen zu sein.

Die Trommeln waren jetzt nicht mehr zu überhören.

Kim erschauerte, und er rannte, als ob tausend Schattenhunde hinter ihm her wären.

Die Brücke mündete in einen weiteren Gang, dem sie blind folgten. Hinter ihnen flackerte das rote Feuer und warf seinen Schein auf die Wände.

»An der nächsten Abzweigung rechts!«, rief Marina.

Fabian, der die Weggabelung als Erster erreichte, stoppte, als wäre er gegen eine Wand gelaufen, und um ein Haar wären die Nachfolgenden alle in ihn hineingerannt.

»Was ist?«, entfuhr es Burin.

»Sieh selbst«, antworte Fabian.

Vor ihnen zur Rechten war eine Wand aus kochend heißem Dampf, der mit bleichen Fingern nach ihnen zu greifen schien.

»Rennt!« Gregorin stieß es förmlich hervor.

»Wohin?«, fragte Kim.

»Immer der Nase nach«, sagte Marina. »Es wird sich schon ein Weg finden.«

Hinter ihnen kroch langsam, aber beständig ein Strom aus Lava heran, und vor ihnen schoss zischend der Dampf aus dem Gang. Kim wusste nun, wie sich Gemüse fühlen musste, das als Beilage für den Sonntagsbraten gedämpft wurde. Und wenn ich großes Glück habe, dachte er voller Sarkasmus, werde ich zugleich gebraten und gekocht, dabei bin ich doch gar nicht so zäh!

Sie wandten sich nach links. Kim stolperte mehr, als dass er lief, und auch seinen Gefährten war die Erschöpfung deutlich anzumerken. Doch sie hatten keine Wahl.

Hinter ihnen vereinigten sich der Strom aus Lava und die Wolke aus Dampf und jagten sie immer weiter nach Norden, weg von ihrem eigentlichen Ziel.

Marina versuchte ein paarmal, sie durch Nebengänge nach Osten zu führen, aber alle Wege waren von Dampf und Feuer versperrt. Es gab kein Durchkommen. Sie konnten froh sein, dass sie überhaupt noch freie Gänge fanden; diese wanden sich hierhin und dorthin, schienen aber alle letztlich in eine Richtung zu führen. Auch das Ausweichen nach oben oder unten erwies sich als Irrweg. Alles, was in eine andere Richtung als Norden führte, wurde ihnen verwehrt.

Der Dampf, dessen Odem die Gesichter der Gefährten bereits rot gefärbt hatte, und die Lava schienen überall zu sein. Kims Lungen brannten, und ihm war bei jedem Schritt, als würden ihm glühende Nadeln in den Körper gerammt, doch er hielt sich tapfer auf den Beinen. Fabian hatte immer noch genug Luft zum Fluchen, und Burin fiel herzhaft mit ein.

»Nicht reden, laufen«, quäkte Gwrgi.

Sie kamen an eine Kreuzung, und der Gang nach Osten war offen. Kein Dampf, keine Lava versperrte ihnen den Weg, und so bogen sie nach rechts ab. Aber sie waren kaum zwanzig Schritt gelaufen, als sie vor einem Berg aus Geröll standen, der den Gang blockierte.

»Zurück!«, befahl Fabian, und alle folgten ihm – gerade noch rechtzeitig, bevor die Wand aus fauchendem Dampf und höllischer Lava ihnen den Rückweg versperrte.

Es nützte alles nicht. Ihr Weg führte unbeirrbar nach Norden. Was mochte sie wohl am Ende dieses Weges erwarten?

Der Gang erweiterte sich zu einer Halle, und das Tor, vor dem eine geborstene Steinplatte lehnte, war nicht eckig, sondern rund: Zeichen der religiösen Bedeutung. Kim hoffte, dass es keine Kapelle war, denn er erinnerte sich, wie Burin ihnen beim Aufstieg zur Passhöhe erzählt hatte, dass es zu einer Kapelle der Zwerge immer nur einen Zugang gab …

Wie dem auch sein mochte, sie hatten keine Wahl. Sie rannten durch das Tor – und betraten die Halle der Ahnen.

Zur Rechten und zur Linken reihten sich in gehauenen Nischen steinerne Sarkophage. Es mussten Hunderte, wenn nicht Tausende sein. Wie stumme, steinerne Wächter standen sie dort, schmucklos bis auf die Namensglyphen derer, die darin ruhten.

Kein Moderhauch herrschte in dieser riesigen Katakombe, auch nicht jener süßliche Leichengeruch, der ein Beinhaus der Menschen kennzeichnet, sondern klare Luft, ein wenig abgestanden, aber rein.

»Das … sind die Sarkophage … der Zwerge von Zarakthrôr!«, rief ihnen Gregorin zu, und obwohl er völlig außer Atem war, schwang Ehrfurcht in seiner Stimme mit.

»Dann sind sie alle tot?«, keuchte Kim.

Er erhielt keine Antwort. Im Vorbeihasten konnte er jedoch erkennen, dass sämtliche Steinsärge geschlossen waren.

Aber wenn alle Zwerge tot waren, wer schlug dann die Trommeln in der Tiefe?

Immer noch drang das Dröhnen durch das Gestein, lauter jetzt und dringlicher als zuvor. Der Fels ringsum erbebte unter dem Trommelschlag. Und Kim hatte plötzlich eine Vision, dass durch die Schwingungen, die der Rhythmus der Trommeln hervorrief, die schweren Steinplatten, welche die Sarkophage verschlossen, in Bewegung geraten, die Särge sich auftun und die Heerscharen der Zwerge von Zarakthrôr sich aus ihren Ruhestätten erheben könnten, um Vergeltung von den Frevlern zu fordern, die ihren Schlaf störten …

Er drängte die Vorstellung zurück. Er hatte andere Sorgen, und die dringlichste war, zu überleben. Aber vielleicht, sagte er sich, würde er eines Tages zurückkehren nach Zarakthrôr, um über Zwerge zu forschen. Es gab hier einfach zu viele Geheimnisse …

Ein wenig Bedauern fühlte Kim, den Toten hier nicht die Ehre erweisen zu können, die ihnen gebührte. Andererseits hätte er dann auch sich selbst gleich die letzte Ehre erweisen können; denn brodelnd und zischend brach ihr Verfolger, das Wesen aus Dampf und Lava, in die Halle herein.

Kim stolperte. Vor sich sah er das Kreisrund des Tores, das aus der Totenhalle herausführte, aber er hatte nicht mehr die Kraft, den Ausgang zu erreichen. Hinter ihm wallte und brodelte es wie aus einem riesigen Kessel.

Burin half ihm auf und stützte ihn. Da fiel Kims Blick auf die letzte der Grabnischen.

Sie war leer.

»Da … da …!« Er konnte nur noch mit dem Finger deuten. Seine Kehle brannte.

Der Sarkophag in der Nische stand offen, unberührt. Dahinter lehnte der Deckel an der Wand der Grabkammer. Auf ihm prangte das Zeichen, das er bereits kannte: die Glyphe des Herrn von Zarakthrôr.

»Komm!«, sagte Burin. »Wir müssen hier raus!«

Mehr taumelnd als gehend, erreichte Kim den Ausgang, der in eine Art Vorhalle führte. Gregorin und Fabian waren bereits dabei, eine schwere, kreisrunde Platte vor die Öffnung zu wälzen.

»Er lebt!«, keuchte Kim. »Er ist nicht tot. Fregorin, der Herr von Zarakthrôr, lebt. Sein Grab ist leer.«

»Ich habe es gesehen.« Burins tiefe Stimme war ungewohnt sanft. »Aber …«

»… wenn er der Letzte von allen war, wer sollte ihn dann bestatten?«, grollte Gregorins Bass.

Tausend Fragen brannten Kim auf der Zunge. Was war hier geschehen? Welches Schicksal hatte die Zwerge von Zarakthrôr ereilt? Wie war diese einst blühende Stätte ausgestorben, wieso und wann und warum? Doch es war keine Zeit für Fragen.

Sie hatten sich vielleicht eine kleine Atempause verschafft, aber die Gefahr war noch nicht gebannt. Sie mussten weiter.

Als sie den Vorraum verließen, führte sie ein schmaler Gang in eine weitere Halle, an deren gegenüberliegenden Seite, im Halbdunkel nur undeutlich auszumachen, eine mächtige, in Stein gefasste Tür nach Norden führte, während sich zur Rechten und zur Linken zwei Gänge auftaten, die beide in absolute Finsternis gehüllt waren.

»Versuchen wir es noch mal«, keuchte Burin. »Auf nach Osten!«

Sie wandten sich dem Gang nach rechts zu. Doch kaum hatten sie die Öffnung erreicht, erkannten sie, dass ihnen wiederum der Weg verwehrt war.

Ein fahles Leuchten flackerte in der Tiefe des Ganges. Wesen wurden darin sichtbar, schemenhafte Gestalten im ungewissen Dämmerlicht. Ihre Formen waren nur unvollständig zu erkennen, doch selbst das Wenige, das Kim sehen konnte, ließ ihn erschauern. Eine wogende Masse von Leibern, wie Ausgeburten der Hölle, die schmatzende Laute ausstießen, welche einem eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Dahinter zeichneten sich weitere Kreaturen ab, von denen nur schattenhafte Umrisse zu erkennen waren. Doch eine dunkle Aura des Schreckens umgab sie, die sich über Kims Seele legte, seine tiefsitzenden Urängste weckte und ihn zittern ließ.

»Zurück!«, befahl Fabian. Doch wohin? Die Halle der Toten war ihnen versperrt, und dahinter brodelten der Lavastrom und der zischende Dampf. Und in dem Gang nach Westen wimmelte es ebenso von gespenstischen Gestalten wie in dem, aus dem sie gerade gekommen waren.

Und die Trommeln waren jetzt ganz nah.

In die Reihen der Kreaturen in den Gängen kam Bewegung. Bei jeder Bewegung schmatzte es, als bestünden sie aus Gallert, der über den Fels gezogen wurde. Die Geräusche, welche die Wesen dahinter verursachten, waren fast noch entsetzlicher als ihr schemenhafter Anblick.

»Die Tür!«, keuchte Burin.

Sie hetzten auf die nördliche Tür zu, die ihnen als letzte Rettung geblieben war. Es war ein gewaltiges Portal, umgeben von einem steingehauenen Rahmen, in dem als Relief Zeichen der Macht abgebildet waren: Krone und Amboss, Schwert und Kelch und viele andere mehr. Auf dem linken Flügel, erkannte Kim, war das Zeichen eingraviert, das er bereits kannte: die Glyphe Meister Fregorins. Das Zeichen auf der rechten Seite sagte ihm nichts, aber Gregorin schien es zu kennen, denn er bedeckte es mit der Hand, wie um es zu verbergen.

Die Tür hatte keinen Knauf.

Gregorin und Burin hatten das Portal zur gleichen Zeit erreicht. Nun stemmten sie sich mit aller Kraft gegen die Flügel. »Schiebt!« Ihre gewaltigen Muskeln traten wie dicke Knoten und Stränge hervor. Das Tor rührte sich nicht.

Hinter ihnen krachte und splitterte es. Alle wirbelten herum und zogen, ohne dass einer etwas gesagt hätte, die Waffen.

Die steinerne Platte vor dem Eingang der Katakomben erzitterte. Dann bildete sich ein feiner Riss von oben bis unten, der sich quälend langsam verbreiterte, bis die beiden Hälften mit einem dumpfen Grollen zur Seite kippten. Dampf quoll heraus, erhellt vom flackernden Schein der Glut, die dahinter lauerte, während von rechts und links das fahle, geisterhafte Licht in die Halle fiel und die unheimlichen, bizarren Geräusche aus den Gängen immer lauter wurden.

»Viele kommen«, stellte Gwrgi fest. »Wesen, die ich gerochen habe.«

Keiner hatte darauf geachtet, was in diesen Augenblicken in ihrem Rücken vor sich ging, bis sie das Knirschen hörten.

Burin stand gebeugt vor der Tür. Er hatte sein Wams aufgerissen und hervorgeholt, was er darunter verborgen hatte.

In seiner Hand hielt er einen Ring, der einen roten Schein verströmte, rot wie Feuer, und in diesem feurigen Licht hatten sich die mächtigen Türflügel aufgetan und gaben den Blick auf den dahinter liegenden Raum frei.

Es blieb keine Zeit, sich umzusehen. Alle drängten durch das Portal.

»Schließt die Tür!«, rief Fabian.

Langsam, Innch um Innch, gelang es ihnen, die schweren Türflügel wieder zuzudrücken. Kein Zauber wohnte ihnen mehr inne, es waren bloß noch Gebilde aus massivem, uraltem Eisenholz, hart wie Stein. Doch so sehr sie auch schoben, ein fingerbreiter Spalt blieb offen.

Burin fluchte unterdrückt. »Sie schließt nicht mehr!«

Der Bann, der das Portal verschlossen gehalten hatte, war gebrochen, und nun konnte man die Tür nicht mehr versperren. Der Feind würde eindringen.

Fabian sah sich gehetzt um. »Nehmt alles, was ihr findet, und stellt es vor die Tür!«, befahl er.

Die Gefährten wurden sofort tätig. Der Raum war reichlich mit Steinbänken, schweren Holztischen und Stühlen möbliert.

Es war eine schwere Arbeit, aber sie schafften es, zwei massive Bänke und einen Tisch vor die Tür zu schieben, bevor diese unter einem gewaltigen Schlag erbebte. Die Barrikade schwankte, aber sie hielt.

Kim wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich um.

Sie befanden sich in einem kreisrunden, vielleicht dreißig Schritt durchmessenden Saal, der mit einer Kuppel überwölbt war. Ringsum umgab sie eine geschlossene Wand, ohne Nischen, ohne Türen; keine Öffnung tat sich auf, die in die Freiheit geführt hätte. Die Kuppel lastete auf einem steingehauenen Gesims, das seltsame Markierungen trug, die sich in die hohe Wölbung fortsetzten: Kreise innerhalb von Kreisen, Zonen und Meridiane, Breiten, Höhen und Azimuthe. Es war, als habe jemand alles in endlosen Zeiten erworbenes Wissen über den großen Mechanismus der Welt in diese Kuppel eingeschrieben, welche sich, obgleich unverrückbar wie der Berg, dessen Zentrum sie bildete, ewig mit unmerklicher Bewegung im Kreise zu drehen schien.

In der Mitte des Raumes, unter dem Scheitel der Kuppel, lag ein gleichfalls rundes, in Stein gefasstes Becken; tintig schwarzes Wasser blinkte darin wie ein totes Auge. Und an der gegenüberliegenden Seite des Saales erhob sich auf drei Stufen ein erhöhtes, steingehauenes Podest.

Licht flammte auf, erstrahlte ringsum aus verborgenen Quellen im Boden, klar wie Kristall, füllte die Kuppel zu ihren Häupten und riss das Podest an der Stirnseite aus der Dunkelheit.

Auf dem Podest standen zwei steinerne Throne.

Der linke von ihnen war leer.

Auf dem rechten saß eine Gestalt, reglos wie Stein. Nein, sie war aus Stein, eine Skulptur, feiner als der feinste Meißel eines Zwergen sie hätte schaffen können. Doch kein Haar an ihr regte sich, kein Lid zuckte, kein Finger rührte sich, und sie war grau wie der Fels des Thrones, auf dem sie saß. Auf ihren Knien lag ein uraltes, in Leder gebundenes Buch.

»Heil, Hamafregorin!«

Gregorin war vor das Podest getreten. Er hatte seine Kapuze über den Kopf gezogen.

»Gruß dir, Bruder!«, fuhr der Zwerg fort. Sein Gesicht lag im Schatten, dass keiner sehen konnte, was darin vorging. »Und Preis sei dem Meister!«

Auch Burin verhüllte sein Haupt. Im gleichen Augenblick verstummten die Schläge gegen die Tür, und der Trommelschlag verebbte. Stille trat ein.

In das Schweigen hinein erklang Burins tiefe, volltönende Stimme:

»Preis sei dem Meister der Zwerge,
der uns erschuf und erhält,
dem Könige unter dem Berge,
Herrscher der Unterwelt.

Preis sei ihm, der regieret
im Reich am Ende der Zeit,
der aus dem Dunkel uns führet
empor in die Herrlichkeit.«

Das Echo im Thronsaal erzeugte einen Hall, der Kim einen Schauer über den Rücken jagte. Er dachte schon, das Gebet – denn um ein solches handelte es sich offensichtlich – sei zu Ende, doch in diesem Augenblick hub eine andere Stimme an zu reden.

Es war Gregorin, der sprach:

»Preis sei der Herrin, der Alten
voll Weisheit und Zaubermacht,
Meisterin aller Gewalten,
thronend im Herzen der Nacht.«

Dann fiel Burin in den Sprechgesang ein, und beide Zwerge vollendeten im Chor:

»Preis sei dem göttlichen Paare,
das uns beschützt und bewährt,
bis dass am Ende der Jahre
der Körper zu Stein erstarrt.«

Kim sah sich die Statue des thronenden Zwergen an. Das Licht mochte täuschen, aber der Zwerg auf dem Thron war Gregorin wie aus dem Gesicht geschnitten, als wären sie Zwillinge. Es gab keinen Unterschied zwischen ihnen.

Und da begriff Kim: Es war keine Statue. Vor ihm saß der am Ende seiner Lebzeit zu Stein gewordene Herr von Zarakthrôr.

»Du wolltest wissen, was aus Fregorin geworden ist«, sagte Burin leise. »Das, was aus allen Zwergen wird, die der Hand des Meisters der Untererde entsprangen. Hier siehst du ihn, den Fluch des Zwergengeschlechtes; dies ist es, was die Schattenhunde mir zeigten: dass wir alle am Ende wieder zu dem Stein werden, von dem wir genommen sind.«

Und Kim begriff. Vor seinem geistigen Auge sah er, was es bedeutete, einer von ihnen zu sein: allzeit mit dem Ende vor Augen, allzeit des unabwendbaren Schicksals gewärtig, dass die Tage gezählt sind, die Welt an ihre Grenze stößt und danach – nichts mehr. Weder Gut noch Böse. Weder Licht noch Dunkel. Nur noch Schweigen. Stille.

»Er war einst groß«, sagte Marina. Ihre Stimme war ungewöhnlich ernst. »Erweisen wir ihm die Ehre.«

Kim neigte den Kopf.

In diesem Augenblick griff Gregorin nach dem Buch, das der versteinerte Zwerg auf den Knien liegen hatte, und Kim erkannte sogleich den katastrophalen Fehler, den der Zwerg beging. Doch bevor der Ffolksmann einschreiten konnte, war das erste Unheil schon geschehen. Wie Herbstlaub fiel eine ganze Reihe Seiten heraus und zerbröselte.

»Nein, Gregorin!«, rief Kim. Der Zwerg erstarrte in der Bewegung. »Lass mich das Buch nehmen. Ich weiß, wie man damit umgeht.«

Gregorin wandte sich um. Seine Stimme war rau wie Asche. »Er kennt nun den Fluch«, sagte er, zu Burin gewandt. »Soll er auch noch unsere Schande kennen lernen?«

»Bitte, hört auf ihn«, sagte Burin. »Er leitet ein Museum und ist Herr über Hunderte von Folianten und Dokumenten. Wenn Ihr je erfahren wollt, was geschehen ist, dann ist er vielleicht der Einzige, der dieses Buch lesen kann, ohne es zu zerstören.«

»Bitte«, sagte auch Kim. »Legt es wieder zurück und lasst mich diese Arbeit tun.«

Gregorin zögerte. »Gut«, sagte er dann. »Aber sei vorsichtig.«

»Unvorsichtiger als Ihr wird er wohl kaum sein«, knurrte Burin und erntete einen wütenden Blick des alten Zwerges.

»Was ist das für ein Buch?«, fragte Kim, als er näher trat.

»Es ist die Chronik von Zarakthrôr.« Gregorins Stimme war ehrfürchtig, aber zugleich von Abscheu, Trauer und Leid erfüllt. »Das ist die Geschichte unseres Volkes, als es die Untererde verließ, um die große Schmach zu tilgen. Daraus wurde dann die große Schande der Zwerge.«

»Welche Schande?«, fragte Fabian.

»Lassen wir die Chronik sprechen«, meinte Gregorin nur.

Kim behandelte das Buch mit äußerster Vorsicht, als er es von den Knien Fregorins nahm und es zu einem kleinen Tisch trug, der nicht in der Barrikade gegen die Feinde Verwendung gefunden hatte. Er war jetzt ganz in seinem Element.

Die Drohung, die vor der Tür lauerte, war in weite Ferne gerückt; wie überhaupt die seltsame Stille, welche die Halle umfing, ihm ein Gefühl vermittelte, als habe er alle Zeit der Welt. Es war, als gelte hier unter dem Himmelsgewölbe ein anderes Gesetz, das einem jeden, der ihm unterworfen war, genau die Zeit zumaß, die er brauchte, um seine Bestimmung zu erfüllen. Und dies, so schien es Kim in diesem Augenblick, war die Aufgabe, für die er die langen Jahre mühevoller Studien auf sich genommen hatte. Jetzt endlich würde er Antworten erhalten auf viele der Fragen, welche die Reise ins Herz des Gebirges aufgeworfen hatte.

Behutsam schlug Kim den Buchdeckel um. Die Titelseite war ausgebleicht oder verwaschen, und nichts war darauf zu erkennen. Mit unendlicher Vorsicht wendete er das Blatt.

»Da ist etwas«, sagte er. »Es ist dieselbe Handschrift wie auf den Fragmenten im Laboratorium. Ich glaube, ich kann etwas entziffern:

… der Brüder iij: Bregi + Fregi + Gregi, aus der Hand deß Meysters & von dero Meysterin Gnaden dem Steyne entrungen

… undt sitzend zu Ihrer Rechten & Ihrer Lincken & in Ihrer Mitten, liesz Er unsre Namen längen vnd nannte uns

ORI; dass ist Erste, gleych den Fürsten der Erden –

HAMA; dass ist Meyster, gleych Ihm, welcher der wahre Meyster genennet wird –

ARD; dass ist der Namen, der dem Letzten von uns zukommen wird, ehr das Verhängniß naht.«

Er wendete die nächste Seite. Wieder war das meiste unleserlich, bis auf einen Absatz.

»… da aber wir Meyßter genant wurden, kam es uns übel an, dasz wir nichts Lebendigs schöpfen könten gleych dem Meyster, der uns schuf. Denn in jenen Tagen thaten sich auff die zween Thore zu den Mittelreychen, wo das Leben gezeucht wird, ehr daz es vergeht, & wir sahen die Erweckten auff Erden wandlen, die den Todt nicht schauen, & verwunderten unsz sehr.«

Die folgenden Seiten enthielten nur Listen mit Namen; dann folgte wieder ein Textstück, dessen Text jedoch wie von Ruß geschwärzt war, und Kim traute sich nicht, ihn zu reinigen. »Ich glaube, es geht hier um die Schattenkriege«, sagte er. »Da kann ich wieder etwas erkennen:

… und also … auf dasz wir Entsatz brächten den Völckern, welche da widerstritten den Mächten der Finsternus & und verbrachten viele Heldenthaten in jenem Krieg vnd verhergten, entsteckten und schleifften die Feste der Schatten biss auf den letzten Thurm & selbichte wardt in den Abgrundt geworfen, der da klaffet in finsterer Nacht.

Vndt als der Meyster unsz zurück rief, umb zwein von uns die Schlüßel zu geben, welche die Thore der Untererde verschleuszen, da besprachen wir Brüder uns unter einander und beschlossen: dasz eyner von uns zum Meyster zurück kehren solle, als Zeychen unserer Treue/der andre in den Tiefen der Welt verbleibe, umb zu ihren Wurtzeln vorzustoßen/der dritte aber hinausgehen unter die Menschen, umb nach dem Geheymniß deß Lebens zu suchen …«

Alle Blicke richteten sich auf Gregorin. »Ich, Hamagregorin, war es, der zurückkehrte«, sagte er schließlich, als das Schweigen unerträglich wurde. »Mein Bruder Hamafregorin schuf mit den Zwergen seines Hauses die Hallen von Zarakthrôr, doch es scheint, dass er zu tief gegraben hat auf seiner Suche nach den Wurzeln der Welt. Was aus Hamabregorin, dem dritten von uns, wurde, hatte ich nie erfahren …«

»Er wurde mein Vorvater, Ahnherr meines Geschlechtes«, sagte Burin, »der erste der Könige von Yngladân.«

»Aber wie kommt es dann, Burin, dass die Zwerge der Mittelreiche Kinder zeugen können? Du selbst bist doch der Sohn eines anderen«, sprach Fabian das Offensichtliche aus.

»Es gab keine Frauen unter den Zwergen. In der Untererde wurden wir aus Stein geschaffen durch den Willen des Meisters, und wenn unsere Spanne abgelaufen ist, werden wir wieder zu Stein. Aber die Mittelreiche veränderten die Zwerge, die bleiben wollten. Sie lagen Menschenfrauen bei, und diese Verbindungen wurden fruchtbar, und die Zwergengeschlechte der Mittelreiche wurden geboren.«

»Aber warum geschah das nicht auch in Zarakthrôr?«, fragte Kim.

»Weil Zarakthrôr nie völlig zur Mittelwelt gehörte und weil es hier keine Menschenfrauen gab. Aber wichtiger noch: Zarakthrôr war erfüllt vom Geist der Untererde, ohne dorthinzugehören. Diese Stadt unter dem Berg hat ihre eigenen Gesetze.«

Kim hatte zwar zugehört, aber doch in der Chronik der Zwerge weitergeblättert. Leider waren die meisten Seiten zerstört, sei es durch die Zeit oder durch Hamagregorins Unachtsamkeit.

»Hier ist wieder etwas zu entziffern. Hört zu«, sagte er aufgeregt.

… auß den Tiefen der Welt, vom Grunde deß Strudels, schöpften wir die materia prima vnd schufen darauß eyn Weßen, uns ungleych, sonder Selbst, sonder Namen, vndt es diente uns mit seynen Leybern und höhlte für uns Silber & Gold auß den verborgenen Schächten, biss dass eyn Schatten darauff fiel … vnd wandte sich wider uns vnd erschlug viele der Vnsrigen, ehr ich Fregorin ihm endgegen trat & es mit der Macht deß Ringes bannte auff den Grund deß Bronnens wo es liegen mag biss zum Ende der Zeytten.

Darauffhin erschien es mihr weiser, Substaunz zu nemen von unsrer Substaunz/vndt ich vertieffte mich in die Weißheit der Gelahrten & der Grundtstoffe der Welt & der geheymen Zahlen …

Davon habe ich gelesen!«, unterbrach sich Kim aufgeregt. »In dem Laboratorium, in den Fragmenten, die ich in der Eile entziffern konnte. Er sah das Geheimnis des Meisters in greifbare Nähe gerückt …«

»Und was geschah dann?«, wollte Marina wissen. »Warum ist Zarakthrôr so entvölkert?«

Gregorins Gesicht trug einen gequälten Ausdruck. Er wusste es, und Burin ahnte es zumindest; aber beide sagten kein Wort. Kim erkannte es genau: Die Schande der Zwerge, ihr großes Geheimnis, würde nun offen zutage treten. Und keiner der beiden fand den Mut, darüber zu sprechen; nicht einmal zu Freunden und Gefährten, die mit ihnen einen Weg voller Gefahren gegangen waren und auf Leben oder Tod an ihrer Seite gekämpft hatten.

Kim blätterte weiter. Zielstrebig überflog er die wenigen Worte und Satzfetzen, die noch erhalten waren. Auf einer Seite war nur noch ein einziges Wort zu erkennen:

»… Ffolk …«

Die folgenden Seiten waren vollkommen unleserlich, und Kim war enttäuscht; denn zu gern hätte er eine Antwort darauf erhalten, warum das Ffolk in der Chronik der Zwerge erwähnt wurde. Aber er behielt seine Entdeckung für sich und blätterte weiter. Was Burin und Gregorin verschwiegen, mochte in Passagen zu finden sein, die noch nicht vollkommen verblichen waren. Immerhin suchten die beiden nicht zu verhindern, dass das Geheimnis gelüftet wurde – und das war gut so; denn Streit unter den Gefährten konnten sie nicht gebrauchen.

»Seht Ihr«, sagte Kim zu Gregorin. »So müsst Ihr die Seiten umwenden, dann zerfällt auch nichts zu Staub.«

Endlich fand er wieder etwas Lesbares. Er überflog kurz die Zeilen, und ihm stockte der Atem.

»Hört zu«, sagte er, und deutlich war ihm die Aufregung über die Entdeckung anzumerken. »Das müsst ihr hören.«

Burin und Gregorin wandten sich ab. Das Unbehagen war den beiden Zwergen nur zu deutlich anzumerken, als Kim zu lesen begann:

»… vnd so schuff ich Weßen unsrer Art, in meynem Ofen schuf ich sie, in meyner geheymen Bruthstätte, & nante sie Gnomen, weil sie aus der Weißheit meynes Haupptes endsprangen, undt obwohl sie missgestalt & unvollkomen waren, sorgte ich für sie wie ein Vater für seyne Kinder sorgt vnd sperrte sie in unterirdsche Verließe vnd lies es ihnen an Nichts fehlen.

Doch der Schatten der Finsternus drangk in jene Verließe, und Ohnzufridenheyt überkam meyne Kinder, vnd widerum erhoben sich Geschöpffe meyner Handt wider mich, vndt sie vertrieben mich und die Vnsrigen aus unsern Hallen vnd besezten die Stetten ihrer Gebuhrt. Waß sie dorten schufen, ich weisz es nicht, doch mächtige Weßen waren darunter, die mit Feurio und mit dem Gheyste tödten, vnd lang war der Kampff, mit dem wihr sie vertrieben, vndt ich versigelte die Städten meynes Triumpfes und meyner Schmach, wo ich sie geschaffen, vnd verschlosz die Gänge, welche nach undten führen, in die Tiefen der Welt, auf dasz sie dorten schmachtten & darbben, biss die Zeyt sich endet.«

»Und da lauern also die Gnome und ihre verdammten Geschöpfe auf uns«, schäumte Fabian. Zorn zeichnete sich auf dem Gesicht des Prinzen ab. »Ihr habt es beide gewusst und nichts gesagt!«

»Ich …«, begann Burin, »ich ahnte etwas davon, aber ich war bereit, das Risiko einzugehen, und es war unser letzter Ausweg. Und ich wollte keine Furcht säen, denn unsere Mission ist zu wichtig.«

»Ich wusste davon, aber ihr wart meine letzte Hoffnung, hierherzukommen. Ich brauchte Begleitung. Allein hätte ich es niemals so weit gebracht.« Gregorins Stimme war keinerlei Regung anzumerken.

»Und nun sitzen wir hier fest«, knurrte Fabian. »Wir kommen weder vor noch zurück. Unsere Mission ist gescheitert.«

Kim, der dem Disput nur halb gefolgt war, hatte das Buch weiter durchgeblättert, halb in der Hoffnung, noch mehr über das Ffolk zu finden, halb in der Hoffnung auf einen Hinweis anderer Art, der ihnen weiterhelfen könnte.

Weder das eine noch das andere waren zu entdecken, doch Geduld zahlt sich immer aus. Auf der letzten Seite, in einer Handschrift, die von Eile zeugte, stieß Kim noch auf eine Botschaft für denjenigen, der das Buch auf den Knien des großen Zwergenfürsten fand.

»Die Gnomen haben die mitleren Hallen genomen vnd bewegen sich nun frey in denen Stollen & Schächten. Ihre Trommeln drönen ohn Unterlass. Gestern habe Jch Fregi, nicht länger Meyster, nicht länger Herr, den letzten meynes Hauses in Steyn gelegt.

Wisse, der Du diese Zeylen ließt, dasz ich nunmero, sintemal ich das Ende meyner Tage komen spüre, Dihr dies letzte Geheymnis entdecken will, von dem bisslang keiner weis. Denn in meynen Forschungen fandt ich die geheymen Zahlen der Welt, und so fügte ich, umb ein Zeychen zu sezen, dasz ich meynen Brüdern stets treu gewest, der ü die j hinzu. Vndt so wartte ich nun am dritten Thor der Unter-Erde, von dem keiner weiß außer mir, dass eyner komme, mich zu erlößen vnd die Schmach zu tilgen, welche ich über meyn Volck gebracht.«

»Ein drittes Tor zur Untererde?«, fragte Burin. Er war blass geworden. »Das ist Frevel, Blasphemie.«

Auch Gregorin war bleich, aber er wich dem Blick des anderen Zwergen nicht aus. »Es war die einzige Lösung«, sagte er. »Wie sollte er mir sonst eine Botschaft zukommen lassen? Die anderen Tore waren verschlossen.«

»Aber er besaß den Schlüssel«, sagte Burin. »Was ist mit seinem Ring? Wo ist er?«

»In der Obhut des Meisters. Des Meisters, der mich gesandt hat.«

»Kann mir jemand mal sagen, worum es geht?«, mischte sich Kim ein.

»Es gab zwei Tore zwischen der Untererde und den Mittelreichen«, erklärte ihm Burin wie ein Schulmeister einem Kind. »Beide wurden sie verschlossen im Einklang mit dem Willen des Herrn, den wir als den Meister kennen, und seiner Gemahlin. Zwei Ringe schuf der Fürst der Überwelt für die Zwerge, dass sie die Tore der Untererde bewachten. Den einen trug Meister Fregorin, soweit ich weiß, und er verlieh ihm Macht, die Schatten zu bannen. Den anderen …«

»… trage ich«, sprach Gregorin. An seiner Hand blinkte ein Ring, den keiner von ihnen bislang wahrgenommen hatte, golden, mit einem Stein wie aus Topaz.

»Dann seid Ihr durch eines der Tore gekommen«, erkannte Kim.

»Durch das Tor des Südens kam ich hierher, und wie schwer dies war, habe ich selbst erfahren. Es liegt verborgen unter Schnee und Eis. Auch das nördliche ist verborgen, tief im Felsengestein. Aber wenn es ein drittes Tor gibt, hier in Zarakthrôr, dann muss es bewacht werden.«

»Damit es die Gnome nicht finden und in die Untererde eindringen?«

»Damit das Gefüge der Welt nicht erschüttert wird.«

Kim schloss das Buch. Es gab nichts mehr zu sagen – das heißt, bis auf eines:

»Was ist mit der Botschaft, von der Euer Bruder schrieb? Sie muss Euch erreicht haben, sonst wäret Ihr nicht hier.«

Gregorin fuhr auf: »Ihr habt kein Recht …«

»Doch«, sagte Kim fest und wusste selbst nicht, woher er die Kraft und die Selbstsicherheit dazu nahm, »ich glaube, das haben wir.«

»Zeigt sie uns«, sagte auch Burin. »Denn nur das Ende erweist den Wert einer Tat.«

Gregorin griff in den Beutel um seinen Hals, den er zeit seines Erwachens getragen und in dem er die Karte von Zarakthrôr aufbewahrt hatte. Er nahm ein mehrfach gefaltetes Stück Pergament hervor und warf es vor ihnen auf den Tisch.

»Nehmt und lest!«

Kim glättete es vorsichtig und begann zu lesen:

»HAMAfregorin an seynen Bruder ArdHAMAgregorin, Ertzmeyster, letzter der Drei.

Bruder –

Diß schreybe ich Dihr am Ende meyner Tage, sintemal ich spühre, wie meyn Gheyst erstarrt.

Die Weßen, die ich schuff, haben Zarakthrôr genomen. Jch habe mich hihr in meyner Thronhalle eingeschlossen und erwarte das Ende. Hihr wil ich nun als Zeychen meynes Gehohrsams mit dem Ring der Macht, der mihr verliehen wardt, das Thor zu den Welten, welchselbiges ich in meynem Frevelmuth schuf, verschleußen. Zusammen mit meynem Ring, den ich in die Obhut des Meysters gebe, und eyner Karte, die Dich durch die Hallen von Zarakthrôr geleithen sol, werde ich dißen Brief in das Thor versencken, mit diser meyner Botschaft:

Komm, Gregi, wenn du nicht zu Steyn geworden bisst wie ich. Nimm auf dem Throne Platz, den ich Dir errichtet habe, und bewache diß Thor, dasz keiner es je durchschreite, zusamen mit Deynem ohnglücksäligen Bruder

Fregi

Gegeben zu Zarakthrôr im zweihundertundfünfzigsten Jahre der Zeytrechnung des Ffolkes, in dem unsere Gegenwarth, Vergangenheyt und Zukunft liegt.

Aber … das ist mehr als fünfhundert Jahre her«, stammelte Kim.

»Eine Lawine ging über das Tor nieder, als ich hinaustrat, und das Einzige, was mir blieb, um mich zu retten, war shazâm.«

»Der lange Schlaf«, sagte Kim.

»Keiner hat je so lange geschlafen wie er«, fügte Burin hinzu. »Darum konnte ich auch zunächst nicht glauben, dass Ihr es wirklich wart, Erzmeister«, sagte er, an Gregorin gewandt.

»Habe ich das richtig verstanden?«, fragte Fabian. »Es gibt ein Weltentor, hier in Zarakthrôr, hier in diesem Raum? Aber wo?«

»Hier«, sagte Gwrgi, der an dem nachtdunklen Pfuhl in der Mitte des Raumes kniete.

Keiner hatte gemerkt, dass der Sumpfling sich heimlich davongeschlichen hatte, schon früher, als von der Schaffung der Gnome die Rede war, und jetzt sahen sie plötzlich, dass er weinte.

Aller Augen richteten sich auf das schwarze Wasser im Zentrum des Doppelthronsaales, als ein gewaltiger Schlag die Tür erschütterte. Eine kreisförmige Welle breitete sich vom Zentrum des Teiches zu den Rändern aus, wo sie zurückgeworfen wurde und in der Mitte wieder zusammenlief.

»Sie sind wieder da – und sie haben einen Türöffner mitgebracht«, brummte Burin.

»Wir müssen hier raus«, sagte Fabian. »Wenn sie die Tür zerstört haben, können wir nur noch hoffen, unser Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.«

»Steinholz brennt«, quäkte Gwrgi. Und gleich darauf erschütterte der nächste Schlag die Tür, die schon merklich nachgab. Ein Knacken und Knistern wurde laut.

»Die haben auch noch den Lavastrom auf die Tür losgelassen!«, entfuhr es Kim.

»Erzmeister«, begann Burin und sah sich verwirrt um, da Gregorin nicht mehr neben ihnen stand. Alle hatten wie gebannt auf die Tür gestarrt.

Der Zwerg war die Stufen zur Empore hinaufgestiegen und sah die Gefährten ernst an.

»Hamagregorin«, sagte Burin hastig, »wir können nur noch in die Untererde fliehen. Bitte, öffnet das Tor, denn auch Ihr tragt einen Ring, und nur er kann uns den Weg auftun.«

»Nein!«, sprach Gregorin. »Das werde ich nicht.«

»Warum, um alles in der Welt?«, fauchte Fabian.

»Mein Bruder hat mich gerufen. Ich bin dazu bestimmt, mit ihm das Tor zu bewachen. So lautet mein Auftrag. Der Meister der Untererde erteilte ihn mir vor langer Zeit, und ich werde ihn erfüllen.«

»Aber begreift Ihr denn nicht? Die Zeiten haben sich geändert. Der Banngürtel ist gebrochen. Die Dunkelelben sind über uns! Bitte helft uns, Burin und mir, die wir selber Ringträger sind, und Gilfalas, der sich für uns opferte, sonst wird dies das Ende der Freien Völker der Mittelreiche bedeuten«, flehte Fabian.

Hamagregorin hob die Hand, die den Ring trug, in dessen Zentrum das Juwel erglänzte.

»Es ist zu spät. Mein Schicksal ist es nun, zu Stein zu werden, um ewig mit meinem Bruder zu wachen«, und mit diesen Worten schloss er die Augen.

Fabian wollte auf ihn zugehen, ihn schütteln und anschreien, aber Burin hielt den Prinzen zurück.

»Es hat keinen Sinn«, sagte er. »Hamagregorin hat beschlossen zu sterben, und keine Macht der Welt außer dem Meister und ihm selbst kann verhindern, dass er wieder zu dem wird, aus dem er entstand: Stein.«

»Aber …«, wollte Fabian noch einwenden, sah jedoch selbst ein, dass es sinnlos war.

Von der Tür her breitete sich Brandgeruch aus. Das Knacken und Knistern wurde lauter.

»Was ist mit deinem Ring?«, wandte sich Kim an Burin. »Kann er uns nicht helfen?«

»Erinnerst du dich an das Gedicht über die Ringe?«, fragte der Zwerg. »Die Drei der Menschenkinder, ›dass sie die Mittelreiche nach ihrem Belieben durchstreiftem?«

»Ja«, antwortete Kim, »ich kenne das Gedicht.«

»Dann sollte dir eines klar sein: Erinnere dich an unsere Wanderung. Wir wussten von Fabians Ring; er ist der erste der Drei. Dann hatte Gilfalas einen; es ist der zweite. Und ich selbst habe den dritten. Es sind die Ringe der Mittelreiche. Ihre Macht ist nur hier wirksam. Mit ihnen können wir nicht zwischen den Welten wandeln. Und selbst wenn wir es könnten, weiß doch keiner von uns genau, wie man ihre Macht weckt. Als ich das Tor zum Thronsaal aufstieß, folgte ich einer Eingebung, wie meine beiden Gefährten zuvor.«

Fabian zog es vor zu fluchen. Marina sah hilflos Burin und dann die anderen an. Gwrgi wirkte völlig unbeteiligt, was Kim stutzig machte; aber wie so oft in den letzten Tagen hatte er keine Zeit, länger darüber nachzudenken.

Ach, kam es ihm in den Sinn, wenn doch Magister Adrion hier wäre! Er wüsste vielleicht einen Weg aus unserer Not.

Kim blickte auf den kleinen, unscheinbaren Ring an seiner Hand und hörte wie aus weiter Ferne Magister Adrions Stimme.

»Vielleicht wird er dir Glück bringen. Er wird dich an mich erinnern, wenn die Not am größten ist, und einem jeden einen Weg zu dem Ort öffnen, wo er am meisten gebraucht wird.«

»Mein Ring«, sagte er.

»Was ist?«, fragte Fabian.

»Magister Adrion hat es mir gesagt. Ich hatte es ganz vergessen. Mein Ring könnte uns einen Weg dahin öffnen, wo wir gebraucht werden«, sagte er nur.

»Bist du sicher?«, fragte Fabian.

»Nein«, sagte Kim. »Aber es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Versuch zu wagen.«

»Fasst euch bei den Händen; wir bilden einen Kreis um den Teich«, sagte Fabian. »Ich will nicht, dass einer von uns versehentlich zurückbleibt.«

Er fasste Kim bei der Hand, während Burin seine andere Hand nahm, der wiederum Marina die Hand reichte und die wiederum Gwrgi, der den Kreis schloss.

Kim wusste selber nicht, wie ihm geschah. Er wusste, es war Narretei, was er tat, doch im gleichen Atemzug hatte er das Gefühl, noch nie etwas so Richtiges getan zu haben.

»Springt!«

Es gab nichts mehr zu überlegen. Das Letzte, was Kim sah, ehe sie alle in die nachtdunklen Fluten hinabtauchten, war, wie das silberne Licht erlosch und die Tür zum Thronsaal von Zarakthrôr in tausend Stücke zerschellte.

Die Kreaturen Zarakthrôrs drangen in den Thronsaal ein, erleuchtet vom rötlichen Feuer der Lava, die hinter ihnen zurückwich. Der Feuerschein überzog ihre bleichen Gestalten mit einem Anschein von Wärme, doch selbst er konnte nicht verbergen, wie bleich sie waren und wie missgestalt. Übergroße Köpfe, triefende Augen, sabbernde Münder, fehlende Gliedmaßen. Hier hoppelte einer auf einem Bein; dort zog sich ein anderer mit zwei verkrümmten Armen über den Boden; drüben tastete sich ein Blinder voran, dessen Augäpfel großen weißen Kugeln glichen, da ein Zyklop, dessen einziges Auge in der roten Dämmerung funkelte. Doch am schrecklichsten waren die, die hinter ihnen kamen, Gestalten wie aus dem dunkelsten Albtraum der Nacht, hochgewachsen und stark, doch mit Köpfen, die weder Augen, Mund, Nase noch Ohren besaßen, nur eine konturlose, gewölbte Fläche an Stelle eines Gesichts. Und dennoch bewegten sie sich mit einer geheimen Intelligenz, als wüssten sie genau, mit jedem Schritt, was um sie vorging.

Die Masse der Leiber flutete um das Wasserbecken herum, dessen tintiger Spiegel still lag wie eh und je; sie brandete an die Stufen des Doppelthrons und hielt dort inne.

Gregorin saß, einer Statue gleich, neben seinem versteinerten Bruder, reglos wie er. Aber in seinen Augen brannte ein Feuer, das mehr war als nur der Widerschein der äußeren Glut, und an seiner Hand war der Ring, der ihm die Macht gab, zu öffnen und zu schließen, zu binden und zu lösen.

Die Flut der Leiber vor dem Thron schwappte vor; dann ging eine Bewegung hindurch wie eine Welle, ausgehend von den gesichtslosen Geschöpfen im Hintergrund, und die Gestalten neigten sich, beugten die Knie, so sie es vermochten, und sanken zu Boden, und durch die Menge ging ein Raunen, ein Stöhnen der Verzweiflung und der Hoffnung zugleich:

»Meister …«