KAPITEL VI
DIE HUNDE DER NACHT

Noch bevor die Sonne sank, erreichten sie eine im toten Winkel der Felswand verborgene Höhle, einen schmalen Durchschlupf, von Baumwerk verdeckt, der sich in eine kleine, künstlich erweiterte Kammer mit einzelnen Nebennischen öffnete, wo Vorräte gelagert waren. Dort gab es Bohnen und geräucherten Speck in einem jener Fässer, wie die Gefährten sie bereits im Rasthof am Steig gefunden hatten; auch getrocknetes Fleisch und noch einiges mehr war von Zwergen vor langer Zeit hier eingelagert worden. Es war mehr als ausreichend für einen einsamen Wanderer, ja, selbst für eine mehrköpfige Gruppe wie sie.

An einem Abzugskamin, der sich tief in das Gestein hineinzog, war eine Feuerstelle errichtet, und ein Vorrat von Brennholz lag bereit. »Zwerge überlassen ungern etwas dem Zufall«, hatte Gregorin dazu angemerkt, und Kim war klar, dass er nicht mehr sagen würde. Insgeheim wünschte sich Kim, dass die Zwerge im Allgemeinen und Burin und Gregorin im Besonderen nicht so zugeknöpft wären.

Jetzt, da sie rasteten, kamen Kim nochmals die Worte Burins in den Sinn: Wenn das wahr ist, was ich vermute, dann kommt er vom Ende der Zeit, und er trägt den Stolz und die Schande des Zwergengeschlechts. Was das wohl zu bedeuten hatte? Aber eine innere Stimme sagte ihm, dass in Zarakthrôr womöglich die Antwort warten würde. Wie auch immer sie sei.

Marina versorgte sie am Abend mit einem kräftigen, gehaltvollen Bohneneintopf mit reichlich Fleisch; dazu gab es frisches, klares Quellwasser, das sie aus einer in der Nähe sprudelnden Quelle geholt hatten.

Zum ersten Mal, seit sie den Rasthof verlassen hatten, hatten sie wieder Muße und Lust auf eine Pfeife, und Kim gab sich Mühe, Gregorin in die Feinheiten des Rauchens einzuführen; doch dieser war zu ungeduldig, und ihm ging die Glut immer wieder aus. Der Ffolksmann hatte gehofft, auf diese Weise vielleicht näheren Zugang zu dem Zwergenfürsten zu gewinnen, aber dann ließ er doch von dem Versuch ab, um den Alten nicht zu verärgern.

Gregorin gab ihm immer noch Rätsel auf. Gewiss, auch Burin war im Laufe der Reise verschlossener und schweigsamer geworden, und Kim war mehr und mehr zu der Erkenntnis gekommen, dass die leutselige Art seines Freundes eher ein Mittel war, von den Geheimnissen abzulenken, die ihn umgaben, und nur zum Teil wirklich Burins Natur entsprang. Doch als Studienkollege und Gefährte hatte sich der Zwerg stets treu und verlässlich erwiesen.

Gregorin war anders. Er war launisch und wechselhaft: mal mürrisch und hochfahrend, dann wieder hilfsbereit; mal scheuchte er sie, dann war er so freundlich, sie wieder zu Kräften kommen zu lassen. Es war klar, dass er seine eigenen Pläne verfolgte und nur so lange auf ihrer Seite stehen würde, wie ihre eigenen Absichten den seinen nicht zuwiderliefen.

Alle spürten die Müdigkeit in ihren Knochen, und so wickelten sie sich bald in ihre Mäntel und legten sich schlafen. Und obwohl nur der harte Fels ihre Lagerstatt war und kein Bett wie in dem Rasthaus am Steig, schliefen sie dennoch einen tiefen und traumlosen Schlaf, der aus der Erschöpfung und dem Gefühl der Sicherheit geboren war.

Als Kim am Morgen erwachte, konnte er sehen, wie Gregorin Marina zuvorkommend zur Hand ging. Er wurde einfach nicht klug aus ihrem neuen Gefährten, und so nahm sich der Ffolksmann vor, ein Wort mit Fabian darüber zu reden.

Die Gelegenheit ergab sich, als der Kronprinz sich erhob und nach draußen zur Quelle ging, um sich zu waschen, während die anderen noch unter der warmen Decke lagen.

Kim rappelte sich auf, so schwer es ihm fiel, und folgte Fabian ins Freie. »Was hältst du von diesem Gregorin?«, fragte er, eher beiläufig.

Fabian trocknete sich das Gesicht ab und hob den Kopf.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Manchmal erinnert er mich an meinen ersten Fechtlehrer, der lange in den Legionen meines Vaters gedient hat. Er war ein grimmiger Mann, und wir haben ihn zuerst gehasst, doch dann sprach er einmal davon, er wolle uns lieber heute wehtun als uns morgen tot vom Schlachtfeld tragen zu müssen. So etwas macht einsam, und das ist Gregorin auch.«

Kim breitete seine Gedanken vor Fabian aus, erzählte ihm, was Burin am Steig erzählt hatte, und gab seine Beobachtungen und Vermutungen preis.

Der Prinz hörte nachdenklich zu. Im schwachen Licht der ersten Sonnenstrahlen wirkte sein Gesicht älter und ernster, als Kim es sonst kannte.

»Es ist gut, dass du mir das alles gesagt hast, Kim, aber wir müssen Gregorin im Augenblick vertrauen. Er ist unsere letzte Hoffnung. Doch ich werde ein wachsames Auge auf ihn haben. Sag den anderen, auch Burin, einstweilen nichts davon; ich möchte nicht mehr Misstrauen unter den Gefährten haben als nötig. Es mag der Augenblick kommen, da wir wieder kämpfen müssen, und da ist es besser, man vertraut einander. Auch wir sollten besser erst einmal annehmen, Gregorin meint es gut mit uns.«

»Das denke ich auch«, pflichtete Kim ihm bei, konnte aber nicht mehr sagen, da die anderen sich jetzt zu ihnen gesellten. »So allmählich gewöhne ich mich ans kalte Wasser«, verkündete er laut und ging wieder in Richtung Lager davon. Er konnte noch sehen, wie Fabian ihm schmunzelnd zuzwinkerte.

Der Morgen mochte verheißungsvoll begonnen haben, aber im Laufe des Vormittags zogen düstere, tiefhängende Wolken auf, und es dauerte nicht lange, da marschierten die Gefährten durch einen beinahe undurchdringlichen Nebel.

»Man kann ja nicht mal mehr die Zehen sehen«, ließ sich Burin vernehmen, aber Gregorin führte sie unbeeindruckt unterhalb der Stufe entlang nach Norden. Es schien Kim, als kenne der Alte jeden Innch so genau wie Kim seine Privatbibliothek. Und obgleich man wirklich nur ein paar Dutzend Ffuß weit sah, war Kim eher dankbar für den Nebel, denn so blieben sie vor den Spähern der Feinde verborgen. Und er brauchte nicht ins Elderland hineinzuspähen, stets in der Furcht, neue Spuren von Krieg und Zerstörung zu entdecken.

Fabian wäre gern schneller gegangen, aber der Nebel mahnte zur Vorsicht. Hier, unterhalb des Hangs, war das Gelände uneben. Zudem könnten die Dunkelelben oder ihre Knechte, die Bolgs, irgendwo lauern, und es wäre sicher nicht ratsam, mit vollem Marschtempo in einen Hinterhalt zu laufen.

Dieser und der folgende Tag waren vom Tasten durch den Nebel, Nieselregen und dem Fluchen Fabians gekennzeichnet. Kims Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Am zweiten Tag glaubte er, dass Azanthul mit seinen Kreaturen praktisch jederzeit durch den grauen Vorhang auftauchen konnte. Dann war da noch die nasskalte Luft, gegen die auch die Wintersachen aus dem Rasthof nutzlos waren, und er fror erbärmlich. Die Stimmung der Gemeinschaft war gedrückt. Jeder hing seinen Sorgen nach, und das Wetter und die nebelverhangene Landschaft förderten eher noch das Aufkommen trüber Gedanken. Außerdem kamen sie viel langsamer voran als erhofft, sodass Kim befürchtete, aus den drei Tagesmärschen, die Gregorin veranschlagt hatte, würden eher vier werden.

Die Nächte im Schatten der Stufe waren ungemütlich und feuchtkalt; nicht mal ein richtiges Feuer ließ sich mit dem nassen Holz entzünden, sodass sie am Morgen selbst auf die gute, wärmende Tasse Tee verzichten mussten.

Gegen Mittag des dritten Tages riss der Nebel langsam auf, und bald darauf brach zunächst fahl, dann immer strahlender die Sonne durch den Nebel und löste ihn auf.

»Horcht!«, sagte Gwrgi.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Fabian. »Es klingt wie der Wind, wenn er über die Inseln fegt; nein, es klingt …«

»… wie Wasser«, ergänzte Gilfalas.

»Ich weiß, was es ist!«, rief Kim aus und setzte sich in Bewegung. »Kommt! Folgt mir!«

Im Laufen fragte ihn Burin: »Du warst schon mal an diesem Ort?«

»Nein«, keuchte Kim, »aber ich kenne ihn.«

Das Rauschen wurde stärker. Hohe Bäume, Eichen und Buchen, die allmählich Weiden und Pappeln wichen, versperrten die Sicht. Doch dann waren sie aus dem Schutz der Bäume heraus und kamen auf eine große Lichtung, und da sahen sie es selbst. Dort, wo die sich schon dem Westen zuneigende Sonne auf einen Schleier von Myriaden feiner Wassertröpfchen fiel, brach sich das Licht in einem funkelnden Regenbogen. Er war gewaltig.

Fern, hoch oben in den eisigen Klüften des Sichelgebirges, bricht eine Quelle zutage. Das Wasser sammelt sich, gespeist von anderen Rinnsalen, und wird zu einem reißenden Bergbach, der durch Gletschertäler und über Kieselbetten zu Tal fließt. Dort, wo der nackte Fels bewaldeten Hügeln weicht, wird er breiter, wenngleich kaum behäbiger; schäumend und sich an Felsen brechend, sucht er sich seine Bahn.

Weitere, teils unterirdische Wasserläufe, gespeist von den Gletschern und dem Morgentau der Wälder und vom Regen, der sich an den Berghängen niederschlägt, fügen ihm Fülle und Tiefe hinzu. Dann tritt er, nun zum Fluss geworden, auf das Hochplateau der Stufe hinaus, bahnt sich dort gewunden seinen Weg, glitzernd im Sonnenlicht, und fließt und strömt …

… und fällt!

Dreihundert Ffuß tief stürzt der Ander in einem einzigen, hohen Bogen die Stufe hinab ins Elderland, in das schäumende Andermaar, um sich von dort in die breite Ebene zu ergießen und zu dem ruhigen Fluss zu werden, als den das Ffolk ihn kennt – wenn nicht, wie vor sechzehn Jahren, das Hochwasser ihn auf ganzer Länge zum reißenden Strom macht und alle Wehre, die man im Laufe der Jahrhunderte gezogen hat, um der Naturgewalt Herr zu werden, nichts mehr gegen die Kraft des Wassers vermögen. So war es in Aldswick gewesen, am Zusammenfluss der beiden Flüsse Ander und Elder.

Kim versetzte es einen Stich, als er an seine Eltern dachte und an seine vagen Erinnerungen an Eldermünde, wo der mächtige Strom sich am Ende seines Weges, satt und träge geworden, mit dem Meer vereint.

Doch hier war die Macht des Flusses in schiere Schönheit gewendet, von der gleichen, gewaltigen Majestät, die Kim angesichts der hohen Berggipfel empfunden hatte, doch reiner, abstrakter, dass man nicht mehr entscheiden konnte, wo das Naturspiel begann und die Illusion endete. Silbern glänzte das Wasser des Andermaars, und golden waren die Blätter der Bäume in der späten Nachmittagssonne des Herbstes.

»Dieser Ort erinnert mich an jene Stelle, wo einst die Eloai erwachten«, sagte Gilfalas.

»Er erinnert dich … du meinst, noch so eine Erinnerung …?«

»Wir alle erinnern uns, jeder von dem Volk der Erweckten, wie wir zum ersten Mal der Herrin ansichtig wurden, begleitet von ihrem Geliebten, dem Herrn. Sie schritt durch ein Feld von Lilien, an jenem Ort, den wir Ithiaz Kelden nennen, die Wasser des Erwachens. Es gibt ein altes Lied unserer Volkes, in der Weise, die man als an-lâlaith bezeichnet, nach Art des Wellenschlags … Ich will versuchen, es in der Gemeinen Sprache wiederzugeben, so schwer es auch fällt, denn sie ist nicht so voll von Reimen und Lautungen wie die Sprache der Eloai.«

Er schwieg eine Weile, dann begann er leise in einer einfachen, wellenartig auf und absteigenden Tonfolge zu singen:

»An den Wassern des Erwachens
lag ich schlafend, lag ich träumend,
bei den Wellen, leise steigend

zu dem Klange hellen Lachens.
An den Wassern des Erwachens

durch ein Feld von Lilien schreitend
sah ich träumend, sah ich wachend
sie im Hellen, leise lachend

an den Wassern, sie geleitend.
Durch ein Feld von Lilien schreitend

sah ich ihn die Knie beugen,
war ich wachend, war ich schlafend
an den Schnellen, leise gleitend,

ihre Schönheit zu bezeugen.
Sah ich ihn die Knie beugen

an den Wassern des Erwachens,
fand ich steigend, fand ich neigend
gleich den Lilien, gleich den Wellen

leise schäumend, mich im Hellen
an den Wassern des Erwachens.«

Die Wasser des Andermaars sangen ihre eigene Melodie dazu, fallend und steigend.

»Darum träumen die Eloai immer von den Wellen. Sie träumen vom Meer, das ewig fließt, hin und zurück, doch niemals ankommt. Denn es ist wie sie. Wir sind die Kinder des Morgens, des Anbeginns, immer im Werden. Wir altern nicht, wir sterben nicht; wir kennen nur den Anfang, wie eine Blume, die stets im Erblühen begriffen ist …«

»Das ist schön«, sagte Kim. Die seltsamen Worte hatten ihn eingelullt, dass er selbst wie in einem Traum gefangen war, der erfüllt war von Licht. Fast glaubte er sie zu sehen, schimmernde Gestalten, ewig jung, ewig schön …

»… und zum Leben verdammt«, sagte Gilfalas, als ob er seine Gedanken gelesen hätte. In seiner Stimme lag ein Unterton, wie eine Dissonanz zu der klaren Melodie der Wellen. »Blüten, aus denen nie ein Same wird, nie eine Frucht. Eine Liebe, die niemals empfängt. Ein Licht, das niemals stirbt.«

»Und was ist daran falsch?« Es war Burin, mit seinem tiefen Bass. »Was ist gegen ein bisschen Spaß und Unbekümmertheit im Leben schon einzuwenden, ehe das Ende kommt?«

»Du verstehst das nicht, Zwerg«, sagte der Elbe. »Manchen ist das nicht genug. Es gab einige unter uns, die das wirkliche Leben suchten. Und so öffneten sie ein Tor in die Mittelreiche, die Welt der Menschen, die Welt, in der Leben und Sterben eins ist. Sie wollten selber neues Leben schaffen, wollten es werden und vergehen sehen. Einige von uns fanden ein neues Leben hier, bei den so seltsam kurzlebigen Menschen. Sie lernten eine neue Art von Liebe kennen, die umso süßer ist, weil sie nicht dauern kann, die von Trauer erfüllt ist und von Bitterkeit, und es bereicherte sie.

Andere gaben sich nicht damit ab. Sie forschten weiter, auf eigene Faust. Sie fanden den Tod – und er faszinierte sie. Und sie gingen zu weit. Aus dem Tod schufen sie neues, unheiliges Leben …«

Ein aufschwellender Schrei, der in einem Gurgeln abbrach, gefolgt von würgenden Geräuschen, wie sie kaum aus einer menschlichen Kehle kommen konnten: »… gollum …«

»Gwrgi!« Marina war aufgesprungen. Fabian war mit einem Satz an ihrer Seite. Der Sumpfling lag auf dem Boden und zuckte wild mit den Gliedern; Schaum stand vor seinem Mund. Seine Augen waren verdreht, dass man das Weiße sah.

»Schnell!« Fabian hatte ein Stück Holz gepackt und schob es Gwrgi zwischen die Zähne. »Ich kenne das. Es ist die Anfallskrankheit; sie kommt in meiner Familie auch vor, in manchen Generationen. Helft mir, ihn zu halten.«

Kim eilte herbei, doch erst als Burin sich zu ihnen gesellte, gelang es ihnen, den Tobenden zu bändigen. Gwrgi zuckte noch einmal, dann versteifte sich sein ganzer Körper, und aus seinem Mund kamen gepresste Worte, als versuche er sie mit Gewalt zurückzuhalten, doch ohne Erfolg:

»… ichhh … sehhe … dass Ennde der Zeiiit …«

Er bäumte sich auf. Dann sackte er mit einem Mal in sich zusammen und lag still. Einen Augenblick starrten ihn alle an. War er tot? Doch dann sahen sie, dass sein Brustkorb sich regelmäßig hob und senkte, als läge er in tiefem, friedlichem Schlaf.

»Das war kein gewöhnlicher Anfall«, sagte Marina, die ihm mit einem Tuch das Gesicht abwischte. »Ich kenne das von anderswoher. Wenn die Godin, die Priesterin der Mutter, in Verzückung verfällt, dann spricht die Göttin aus ihr …« Sie verstummte. »Ich sollte nicht davon reden. Das sind Dinge, die eigentlich nur Frauen angehen.«

Kim stellte fest, dass er immer wieder erstaunt war, was sich hinter Marinas unscheinbarem Äußeren verbarg – bei ihr wie bei allen seinen Gefährten. Fast hatte er den Eindruck, dass er der einzige in der Runde war, der keine Geheimnisse hatte und im Großen und Ganzen ein recht gewöhnlicher Sterblicher war.

»Ich nehme an, du hast von den Dunkelelben gesprochen«, meinte er, an Gilfalas gewandt, nur um etwas zu sagen, »und wie sie entstanden.«

»Es waren unsere Brüder«, nickte der Elbe zustimmend. »Diejenigen, die zu weit gegangen sind. Die die Geheimnisse des Todes zu ergründen suchten. Das Licht, das ihnen innewohnte, wurde zu Feuer und Dunkelheit. Verflucht sollen sie sein!«

»Du verstehst das nicht, Elbe«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund, rauh, wie von Stein, der gegen Stein reibt. Es war Gregorin, der sich die ganze Zeit nicht gerührt hatte. Reglos stand er dort im Dunkel der Bäume.

»Aber du, ja, du verstehst es?« Gilfalas’ Stimme klang schrill.

»Ich«, sagte Gregorin, »sehe das Ende der Zeit.« Und verfiel wieder in Schweigen.

Da war es wieder, durchfuhr es Kim. Erneut klang Burins Bemerkung in ihm auf: Gregorin, der Träger der Schande des Zwergengeschlechts. Er blickte in die Augen des Zwerges und konnte darin ein tiefes Leid und unerfüllbare Sehnsucht lesen.

Die Stimmung war zerstört. Zu düster waren die Gedanken geworden. Stillschweigend kam man überein, an diesem Nachmittag nicht weiterzuziehen, sondern hier im Schatten der Bäume das Lager aufzuschlagen. Früh legten die Gefährten sich nieder. Kim lag noch lange wach und lauschte dem gleichmäßigen Atmen der Freunde und Gefährten. Wenn nicht Gilfalas’ trübe Gedanken und Gregorins Worte auf sein Gemüt gedrückt hätten, wäre dieser Abend fast so gewesen, wie der junge Ffolksmann sich ein Abenteuer vorgestellt hatte.

Das war sein letzter Gedanke, bevor auch ihn der Schlaf in seine Arme nahm. Das Wasser des Anderfalls rauschte dazu, und die Wellen des Flusses sangen ihre Melodie …

Der Morgen begann wie gewohnt: Marina kochte Tee, während Gregorin alle mit ruppigen Bemerkungen weckte. Aber es klang nicht mehr so überheblich wie noch wenige Tage zuvor. Kim betrachtete ihren noch neuen Gefährten nachdenklich. Das Leid war aus seinem Blick verschwunden. Vielleicht hatte das Rauschen des Anderfalls auch ihm etwas Frieden gebracht. Kim ging zu dem tiefblauen Teich und wusch sich mit dem kalten Wasser. Er schien sich daran zu gewöhnen. Das harte Leben auf der Wanderschaft färbte auf ihn ab, aber trotzdem würde er es immer noch bevorzugen, den bescheidenen Komfort eines ruhigen, sesshaften Lebens zu genießen.

Gwrgi hatte sich erhoben. Nichts an ihm verriet, dass er – wie Magister Adrion es wohl nennen würde – einen prophetischen Raptus gehabt hatte. Er benahm sich wie immer, quäkte herum und schien guter Dinge. Die anderen blickten sich an, und es bildete sich ein stilles Einverständnis, Gwrgi nichts von seiner Vision am Abend zuvor zu erzählen.

Die Vögel Elderlands begrüßten zwitschernd den Morgen, als die Gefährten sich für den Aufbruch rüsteten. Kim schulterte gerade seinen Rucksack, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass es ringsum still geworden war. Er blickte auf. Das Licht erschien mit einem Mal grau und fahl, als hätte sich ein dünner Wolkenschleier vor die Sonne geschoben.

Erschrocken sahen sich die Gefährten um. Und nicht nur Kim langte nach seiner Waffe. Auch Burin befreite seine Axt von der Lederhülle.

»Lasst uns besser aufbrechen«, sagte Fabian. »Wir sollten keinen Augenblick länger verweilen.«

Gilfalas hob noch einmal die Augen zum Anderfall hinauf, riss sich dann aber von dem Anblick los. »Wir müssen wirklich von hier weg«, sagte er mit leisem Bedauern in der Stimme.

Gregorin setzte sich in Bewegung und machte eine vage Bewegung in Richtung Stufe. »Da geht’s lang.«

Kim warf einen kurzen Blick in die Runde. In den Gesichtern der anderen las er Unbehagen und die unausgesprochene Frage, ob sie bereits zu lange gezögert hatten. War der Feind ihnen wieder auf der Spur? Das Zwielicht und die Stille waren ihnen einfach nicht geheuer.

Die Gefährten schlugen einen Bogen um den Teich herum. Den Ander durchquerten sie über eine Reihe von Felsen, die aus dem Wasser ragten, so dass Kim zu seiner Erleichterung nicht einmal nasse Füße bekam. Sie marschierten am Fuß der Stufe entlang, die um den Anderfall herum steil vom Sichelgebirge her abfiel. Die einzigen Geräusche waren ihr Atmen und ihre Schritte auf dem von Gras überwucherten Kies. Selbst der Wind in den Bäumen war verstummt.

»Unheimlich, nicht?«, fragte Marina, und für Kim klang auch ihre Stimme seltsam gedämpft.

»Ja«, antwortete er einsilbig.

»Es ist, als halte die Welt den Atem an«, meinte Gilfalas. »Als warte sie auf ein bestimmtes Ereignis.«

»Wenn das Ereignis uns in Ruhe lässt, soll’s von mir aus kommen«, knurrte Burin. »Wie weit ist es noch?«, fragte er Gregorin, und die Besorgnis in seiner Stimme war, trotz seines trockenen Kommentars zuvor, nicht zu überhören.

»Gegen Abend, wenn wir uns beeilen, werden wir das Tor nach Zarakthrôr erreicht haben.«

»Gut«, sagte Fabian. »Dann sollten wir uns beeilen. Ich weiß nicht, was sich hier draußen zusammenbraut, aber ich würde mich wesentlich wohler fühlen, wenn ich nicht dabei wäre.«

»Dann spart alle euren Atem fürs Marschieren«, knurrte Gregorin. »So kommen wir zügiger voran.«

Gregorin schlug wieder ein scharfes Tempo an, das man ihm mit seinen kurzen, stämmigen Beinen überhaupt nicht zutrauen würde. Er marschierte, als wäre er ein Zenturion in der Armee des Kaisers und Kim und die anderen Gefährten Rekruten in der Ausbildung. Fast musste Kim bei dem Gedanken schmunzeln. Der verkniffene Gesichtsausdruck, den Gregorin zur Schau trug, passte zu dieser Vorstellung wie ein Babyhintern in die Windel, wie es in Elderland hieß. Der Gedanke half Kim, sich abzulenken; denn schon bald spürte er wieder die Erschöpfung in den Knochen.

Die unwirkliche Atmosphäre hielt an. Kein Vogel sang, und die Sonne schien immer noch durch ein Tuch zu scheinen, welches das Licht dämpfte. Die ganze Umgebung wirkte in dieser fahlen Helle seltsam deutlich und verzerrt zugleich.

Drei Stunden waren sie wohl schon unterwegs, aber keiner wollte sich eine Rast gönnen, denn alle sehnten sich nach einem schützenden Dach über den Kopf.

Da war ein Laut in der Stille.

Jeder hörte ihn. Vielleicht hätte man ihn überhören können, wenn die üblichen Geräusche des Waldes ihn überdeckt hätten. Es war ein Laut, den keiner, der ihn einmal hörte, je im Leben wieder vergaß.

Ein Heulen …

Jeder der Gefährten – bis auf Gregorin und Gwrgi – hatte dieses Heulen schon einmal in der Ferne vernommen, als Marina sie durch das nächtliche Elderland führte. Jeder von ihnen hatte darum gebetet, diesen schrecklichen Laut nie wieder vernehmen zu müssen. Aber nun war er da. Und er kam näher.

»Die Schattenhunde!«, entfuhr es Kim. »Azanthul und die Bolgs sind gescheitert. Nun sollen uns diese Kreaturen zu Tode hetzen!«

»Ich fürchte, dass sich Burins Hoffnung nicht erfüllen wird«, sagte Fabian. »Das Ereignis bezieht sich auf uns. Wir werden nicht unbehelligt bleiben.«

»Ich sage«, quäkte Gwrgi, »nicht reden. Laufen!«

»Und zwar hurtig«, stimmte Kim zu.

Sie marschierten nicht mehr, sie rannten. In der Ferne erklang wieder jener Laut, und diesmal blieb es nicht bei einem. Weitere Stimmen fielen in das Geheul ein, ein Gesang des Schreckens, der jedem der Gefährten die Haare zu Berge stehen ließ. Es klang, als habe ein halbes Dutzend Schattenhunde ihre Witterung genommen.

Dann verstummte das Heulen. Doch die Stille lastete umso schwerer auf ihnen. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm; und der Elbe bestätigte diese Vermutung:

»Lauft um euer Leben!« Gilfalas’ Stimme überschlug sich. »Jetzt jagen sie!«

Keuchend rannten sie weiter. Kim warf einen Blick über die Schulter. Nichts war zu sehen, und doch glaubte er schon den heißen Atem der Bestien zu spüren. Angst stieg in ihm auf.

Was waren das für Geschöpfe, die sich an ihre Fersen geheftet hatten? Allein ihr Heulen reichte aus, um Furcht und Schrecken zu säen. Er hatte nicht das Bedürfnis, sie von nahem zu sehen, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass ihm diese Begegnung wohl nicht erspart bleiben würde.

»Schweigen machen mehr Angst als Gejaule«, quäkte Gwrgi, in seine alte Redeweise zurückfallend.

Ein Gehölz aus Birken, Weiden und Pappeln tauchte vor ihnen auf. Für Kim ein sicheres Zeichen, dass dort ein Bach floss, der dem Ander zustrebte. Vielleicht konnten sie die Schattenhunde verwirren, indem sie durch den Bach liefen und so ihre Spur verwischten.

Der Rucksack schlug ihm beim Laufen immer wieder auf den Rücken, und Kim verfluchte ihn, wagte es aber nicht, sich von ihm zu trennen. Immerhin bekam er nun einen Eindruck davon, was die Legionäre des Imperiums während ihrer Ausbildung durchzumachen hatten – nur wurden sie dabei nicht zugleich von den Ausgeburten der Nacht gehetzt.

Sie erreichten das Gehölz und trafen, wie Kim vermutet hatte, auf einen Bach, der zunächst parallel zur Stufe floss und sich dann nach Nordwesten wandte, um sich irgendwann mit dem Ander zu vereinen. Wie schön wäre es, am Ufer dieses Baches zu sitzen, mit der Angel in der Hand, und dem Gezwitscher der Vögel zu lauschen, ging es Kim durch den Kopf. Doch hier sangen keine Vögel.

»In den Bach!«, befahl Gregorin.

»Hat keinen Sinn«, rief Gilfalas. »Die Schattenhunde finden ihre Spur nicht mit der Nase. Ihnen stehen andere Sinne zur Verfügung. Wir würden uns nur unnötig anstrengen und Zeit verlieren, wenn wir im Bach herumwaten.«

Gregorin fluchte. Dann fing er sich. »Aber rüber müssen wir«, sagte er nur.

Sie machten sich gar nicht erst die Mühe, eine Furt zu suchen; denn es war zu erkennen, dass selbst die Kleinsten von ihnen den Bach ohne Schwierigkeiten würden durchqueren können. Das eiskalte, klare Wasser des Baches spritzte Kim ins Gesicht. Der Schock hielt sich in Grenzen, ja, die Kühle war sogar angenehm, und für einen Augenblick glaubte Kim sich erholt. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange vor, denn die Erfrischung schwand schnell, als sie auf der anderen Seite des Baches, dem Abhang der Stufe folgend, weiterrannten.

Wieder erklang das Heulen, und Kim gefror das Blut in den Adern. Unheilvolle Visionen drängten sich in sein Bewusstsein. Es rührte an Kindheitserinnerungen, die er längst überwunden geglaubt hatte. Doch nun standen sie wieder vor seinen Augen, als hätte er es erst gestern erlebt, dass …

Er schüttelte die Furcht ab. Nein, das durfte nicht sein. Aber warum erinnerte es ihn an jenes schreckliche Ereignis vor mehr als zwanzig Jahren? Die Angst ergriff mehr und mehr Besitz von ihm. Und verschwand in dem Moment, als das Heulen verstummte.

Kim atmete auf, aber er hörte nicht auf zu laufen. Er hatte keinen Blick für seine Gefährten, denen es nicht viel anders ergangen war als ihm. Als das Heulen verstummte, fiel von ihnen allen eine große Last ab. Das Herz eines jeden war für einige Schläge im Griff der Angst gewesen.

Weiter ging es. Sie gönnten sich keine Pause, aber schon glaubte Kim hinter sich ein Schnüffeln zu hören, wie er es von Jagdhunden kannte. Er riskierte einen Blick über die Schulter und sah hinter einem niedrigen Dornbusch die Luft flimmern. Für einen Lidschlag glaubte er riesige Fangzähne blitzen zu sehen. Ein Knurren klang auf, dann war der Eindruck verschwunden.

Aus den Augenwinkeln nahm er rechts von sich eine Bewegung wahr. Die Luft flirrte, und das Knurren war nun ganz nah. Kim ließ sich fallen, schlug auf die weiche Erde und riss mit seinen Knien und seinem Gesicht eine Furche in den Boden.

Vom Aufprall halb benommen, spürte er kaum den harten Griff Burins und Gregorins, die ihn wieder auf die Beine rissen.

Im Bach platschte es wie von einem großen Tier, das durch das flache Wasser hetzte, aber Kims Blick war noch verschleiert, und wenn ihn die Zwerge nicht fast schon mitgeschleift hätten, wäre er wieder gestürzt. Alles geschah so schnell, dass Kim kaum etwas davon mitbekam.

»Sie spielen mit uns«, rief Gilfalas aus.

Kim erlangte langsam das Bewusstsein zurück, wie einer, der aus einem tiefen Brunnen an die Oberfläche kam. Die Zwerge hielten ihn mit eiserner Faust gepackt. Burin und Gregorin handelten, als wären sie Zwillinge. In all der Hektik hielten sie einen perfekten Gleichschritt.

»Es geht wieder!«, rief Kim aus. Und gleich darauf entließen ihn die Zwerge aus ihrem Griff. Kim wäre fast erneut ins Straucheln geraten, fing sich aber gerade noch. Er konnte sehen, dass die Gruppe noch beieinander war. Marina und Gwrgi rannten tapfer im Schatten von Gilfalas und Fabian, die ihre Schwerter gezogen hatten. Die blanken Klingen blinkten im Zwielicht, aber Kim zweifelte daran, dass einige Ffuß Stahl gegen diese gestaltlosen Kreaturen aus der Finsternis helfen würden.

»Dein Ring, Fabian!«, stieß Burin hervor. »Was ist mit deinem Ring!«

»Weiß ich, wie er wirkt? Er macht, was er will!«

Burin fluchte im Laufen, doch sein Knurren wurde übertönt vom Bellen der Schattenhunde, das aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien. Jeder der Gefährten wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie waren eingekreist. Keine zehn Schritt entfernt mussten ihre Gegner lauern. Das Gebell war anders, als Kim es jemals von einem Hund gehört hatte. Es schien aus einer tiefen Höhle zu kommen, so dumpf klang es.

Sie hielten an, und alle zogen ihre Waffen. Der Stahl von Burins Axt wirkte seltsam dunkel im fahlen Licht der Sonne. Gregorin löste eine Art Knüppel vom Gürtel, und als er den Lederschutz abnahm, konnte Kim sehen, dass es ein Kriegshammer war, mit stählernen Dornen, die für jeden Gegner aus Fleisch und Blut eine ernste Bedrohung darstellten.

Aber was nützte das gegen die Schattenhunde? Allein der Gedanke an die gewaltigen Fangzähne, von denen er nur einen kurzen Eindruck bekommen hatte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

Dann verstummte wie auf einen geheimen Befehl hin das Bellen der Hunde, und jeder wartete mit angehaltenem Atem auf das, was nun passieren würde. Instinktiv hatten die Gefährten wie beim Kampf im Sumpf einen Kreis um Marina gebildet. Jeder, ob Ffolksmann, Sumpfling, Zwerg, Elbe oder Mensch, hielt seine Waffe in der Hand und starrte angestrengt in die Umgebung.

»Da!«, brüllte Gilfalas. »Da kommt einer!«

Es waren insgesamt sieben, die aus allen Richtungen auf sie zukamen und den Kreis immer enger zogen. Das Flirren der Luft verriet sie nun überdeutlich. Die Form schwankte, als könnten sich die Hunde der Dunkelelben nicht entscheiden, welche Gestalt sie annehmen wollten. Einer knurrte, und die riesigen Raubtierzähne erschienen wie aus dem Nichts. Und Kim erkannte, dass ein Biss dieser Zähne ihm den Kopf kosten konnte. Selbst Stein würde solchen Fängen wohl nicht widerstehen.

Es mochten noch vier oder fünf Schritte sein, die sie von den Bestien trennten, als die Schattenhunde wie auf einen geheimen Befehl hin stehenblieben. Ein Hecheln hing in der flirrenden Luft.

»Sieben«, sagte Marina, »es sind sieben. Genauso viele wie wir. Für jeden von uns einer!«

Dann neigte sie das Gesicht zur Erde und sprach die Anrufung der Mutter. Es waren Gebete, wie sie gewöhnlich nie an das Ohr eines Mannes drangen, und Kim hörte sie zum ersten Mal. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte den Sinn der Worte nicht ergründen. Es war, als verschlösse sich ihm die Bedeutung der Worte, derer Marina sich bediente; aber ihm blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern.

Mit dem Geheul der Schattenhunde kamen die Bilder.

Bilder, die Kim nie wieder hatte sehen wollen. Szenen aus der Vergangenheit. Ein Teil seines Verstandes begriff, was geschah. Das Heulen der Schattenhunde weckte das, wovor man im Leben am meisten Angst gehabt hatte, und der Schattenhund in seinem Blickfeld begann sich zu verwandeln.

Der junge Ffolksmann fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt, und alles um ihn herum versank in Erinnerungen. Die Nagezähne wurden riesengroß, das fuchsbraune Fell wuchs heran, die stechenden schwarzen Knopfaugen, die ihn in den Bann zogen, die Pfoten des Nagers, die wie Hände nach ihm greifen wollten.

Alles war wie damals, als er im Kaninchenbau feststeckte, um Rollo, seinen Hund, zu befreien, dessen Aufgabe es war, die Karnickel aus dem Bau zu treiben; aber da war etwas anderes in diesem Bau gewesen. Kim war erstarrt, als er das schmerzerfüllte Winseln seines Hundes hörte, und noch bevor sein Vater eingreifen konnte, war er in den von Rollo erweiterten Gang gekrochen, um seinem Hund zu helfen. Kim konnte wieder die Erde zwischen seinen Zähnen schmecken. Und dann war er in den großen Bau gefallen, der wie eine Halle war. Er konnte Rollos zerfetzten Körper sehen und dahinter die von Kopf bis Schwanzende fast fünf Ffuß messende Fuchsratte. Sie fletschte die Zähne und kam auf ihn zu.

Kim wurde sich nicht bewusst, dass er Knipper fallen ließ und schrie, als der Schattenhund ihn angriff; zu sehr hielt ihn die Erinnerung an jene schrecklichen Minuten unter der Erde gefangen. Der gewaltige Nager war so real wie damals, und Kim fühlte sich genauso hilflos wie in jenen grässlichen Augenblicken.

»Elei Cúrion ai Coriënna«, klang es schwach wie ein Echo in Kims Ohren auf, und ein Winseln wie das von Rollo erklang. Schmerz und Wut sprachen zugleich daraus.

Nach und nach klärte sich Kims Blick. Er sah sich um, und als Erstes sah er Gilfalas, der hoch erhoben wie eine Statue dastand, eingehüllt in blaues Licht, völlig entrückt, eine Gestalt, als ob sie den Legenden entsprungen wäre. Das Licht, strahlend wie das der Sonne, schien direkt aus seiner Hand zu kommen.

Sogleich erkannte Kim seinen Irrtum: Gilfalas hielt etwas in der erhobenen Hand, etwas Glänzendes, von dem jener blaue Schimmer ausging.

Es war ein Ring.

Ein Ring, ein Zauberring, wie ihn auch Fabian besaß, nur dass das Licht aus des Elben Reif blau erstrahlte.

Die Schattenhunde flohen winselnd, und nach und nach verklangen die Laute voll Schmerz und Zorn. Mit ihnen schwand der diffuse Schleier, der sich über das Licht der Sonne gelegt hatte, und beinahe augenblicklich erklangen wieder Vogelstimmen. Kim atmete erleichtert auf. Die Gefahr war gebannt.

»Das war knapp«, sagte Fabian. Sein Gesicht war aschfahl, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als habe er in das pure Grauen geblickt.

Marina war auf dem Boden zusammengesunken. Gwrgi hockte neben ihr und wiegte sich leise schluchzend vor und zurück. Die beiden Zwerge standen Seite an Seite; ihre dunklen Augen blickten ausdruckslos, aber ihre Gesichter waren grau wie Stein.

»Was … was war das?«, fragte Kim.

Gilfalas schien wie aus einem Traum zu erwachen. Er wandte sich zu dem Ffolksmann um, mit einer langsamen, fließenden Bewegung, als sei er noch in einem anderen Raum, einer anderen Zeit befangen, und er sprach mit klarer, aber immer noch entrückt wirkender Stimme.

»Dank sei dem Herrn und der Herrin!«, waren seine ersten Worte. »›Und wenn die Hunde der Nacht mich bedrängen, so erstrahlt doch ein Licht im Dunkel, ein Licht, das niemals vergeht.‹ So heißt es«, fuhr er fort, »in den alten Legenden der Eloai.«

Er hob die Hand, und an seinem Finger war ein Ring; Kim erkannte ihn sofort: glatt und schmucklos, aus einem Metall, das silbern schimmerte, mit einem blauen Stein. Ansonsten war es das genaue Gegenstück zu dem Ring, den Fabian trug.

»Ein Erbstück meiner Sippe«, sagte Gilfalas, »weitergegeben seit Generationen. Mir war aufgegeben, diesen Ring nur in Todesgefahr zu gebrauchen, aber nun ist der Bann gebrochen, und ich bin frei, ihn zu zeigen.«

Kim sah den Elben an. Einmal mehr kam er sich fehl am Platze vor in dieser Gruppe. Anscheinend war er wirklich der einzige gewöhnliche Sterbliche in einer Schar von Auserwählten, von denen jeder seine eigenen Geheimnisse hatte.

»Dann warst auch du«, wandte sich Fabian an den Elben, »auf der Suche nach Wissen um deinen Ring?«

»Alle Hinweise führten nach Elderland«, sagte Gilfalas. »Nur dort konnte ich hoffen, Antworten auf meine Fragen zu erhalten. Und wie sich nun zeigt, bin ich zu spät gekommen. Es wäre gut, mehr über den Ring zu wissen, jetzt, da der alte Feind wieder an unseren Küsten steht.«

»Ein wahres Wort«, meinte Burin, in dessen Augen sich etwas abzeichnete, das Kim nicht zu deuten vermochte: ein Staunen, aber noch mehr als das. »Aber was ist mit den Hunden? Kommen die wieder, oder hast du sie besiegt?«

»Ich fürchte, ich habe sie nur zurückgeschlagen«, entgegnete Gilfalas. »Ich glaube nicht, dass sie von uns ablassen werden. Wir sollten uns eilen, nach Zarakthrôr und in die schützenden Höhlen zu gelangen.«

»Na, dann nichts wie weg«, sprach Fabian. »Ich möchte diesen Wesen nicht noch einmal begegnen.«

»Was … was haben sie uns angetan?« Es war Marina, die endlich wieder den Kopf gehoben hatte. Gwrgi saß noch immer zusammengekauert da, aber er schluchzte jetzt nicht mehr.

»Ich glaube, dass ich es begriffen habe«, sagte Kim. »Unsere Ängste geben diesen Wesen eine Gestalt. Durch ihr Heulen werden unsere größten Schrecken für uns lebendig. Gelähmt vor Angst ist man eine leichte Beute für ihre gewaltigen Fänge.«

»So ist es«, bestätigte Gilfalas. »Wir können froh sein, dass es heller Tag war, als wir ihnen begegneten. In der Nacht sind sie ungleich mächtiger. Unsere eigene Angst ist unser größter Feind, und es heißt in Liedern unseres Volkes, dass selbst die reinsten Herzen sich der Furcht beugen müssen.«

»Dann ist es ja gut, dass dein Ring kein Herz hat«, sagte Fabian, und fügte hinzu, um der Sache die Schärfe zu nehmen: »Wenn noch jemand einen Ring verbirgt, so möge er ihn nun enthüllen. Auf die Dauer sind solche Überraschungen nichts für mich. Das zehrt mehr an meinen Nerven als ein diplomatischer Empfang.«

Kim blickte zufällig auf die Zwerge, die den Scherz freilich nicht zu teilen schienen; denn sie lächelten nicht. Aber in Burins Augen blitzte es kurz auf – vielleicht nur ein Lichtreflex, nicht mehr –, während die Miene des Alten ausdruckslos blieb wie zuvor.

»Gehen wir«, sagte Gregorin.

Sie steckten ihre Waffen wieder ein, die sich in diesem Kampf als sinnlos erwiesen hatten. Aber wenn Bolgs wieder einmal ihren Weg kreuzen sollten, waren ein paar Ffuß guten Stahls gewiss nicht zu verachten. Und sicherlich hätte sich jeder lieber einem Dutzend Bolgs gestellt als den unheimlichen Hunden der Nacht.

Burin nahm sich Marinas an, die immer noch schwach in den Knien war, während Fabian Gwrgi bei der Hand nahm. Der Sumpfling, der bisher kein Wort gesagt hatte, ließ sich willenlos führen wie ein Kind. Er blickte starr geradeaus, nur ab und zu flackerte es unruhig in seinen grünen Augen.

Kim fragte sich, während sie unter Führung Gregorins weitermarschierten, was die anderen wohl in den Schattenhunden gesehen haben mochten. Die Ängste seiner Gefährten waren gewiss weit größer und gefährlicher, als die seinen es je sein könnten. Oder war das alles nur eine Frage des Blickwinkels?

Mit Schaudern dachte Kim daran, wie er damals die Fuchsratte nur mit Mühe hatte abwehren können, das scharfe, geifernde, spitze Gebiss nur wenige Fingerbreit von seinem Gesicht entfernt, bis sein Vater mit dem Spaten in den Bau eingedrungen war und dem Tier damit ein Ende bereitete. Sein Vater hatte nicht geschimpft, sondern ihn wortlos in die Arme genommen. Das hatte Kim mehr als alles andere gezeigt, in welcher Gefahr er geschwebt hatte.

Plötzlich stockte sein Schritt. Gregorin war stehengeblieben und die anderen ebenso. »Hier geht es hinauf«, erklärte er.

Kims Augen suchten die Felswand vor ihnen ab, die sich wie überall im Bereich des Anderfalls über einer Schleppe von Geröll fast dreihundert Ffuß mehr oder minder lotrecht in die Höhe schwang.

»Ein Aufzug?«, fragte er hoffnungsvoll, des hilfreichen alten Zwergenwerks in der Klamm an der Passhöhe gedenkend.

»Ich fürchte«, meinte der Zwerg, »diesmal werden wir zu Fuß gehen müssen.«

Das klang unheilvoll. Und Kims düstere Ahnung sollte sich alsbald bestätigen.

An einer Stelle, wo ein Band aus Fels eine begehbare Rampe zwischen den Geröllhalden bildete, kletterten sie zum Fuß der Wand empor. Hier, über den Gipfeln der Bäume, kamen sie sich schutzlos und preisgegeben vor; ängstlich suchten ihre Augen die Umgebung ab, aber das seltsame Zwielicht, das unmerklich wieder näher gerückt war, begrenzte den Blick auf ein paar hundert Schritt. Immerhin war auf diese Entfernung von den Schattenkreaturen nichts zu sehen, nicht einmal eine Bewegung oder ein Flirren in der Luft. Hier oben blies ein stetiger Wind, der an ihren Kleidern zerrte, den Dunstschleier aber nicht verjagen konnte.

»Wo geht es weiter?«, fragte Fabian.

Gregorin war an die Felswand herangetreten, zu einer Art Nische, die auf den ersten Blick natürlich wirkte, aber bei näherem Hinsehen zu regelmäßig war, um von Wind oder Wetter geformt worden zu sein. »Kommt her!«, befahl er.

Sie traten näher, und plötzlich sahen sie alle, was bislang keiner von ihnen wahrgenommen hatte. War es ein Trick der Natur, die den Fels hier so gefärbt hatte, dass er von unten wie aus einem Guss wirkte, war es magisches Blendwerk oder die alte Kunst der Zwerge, Meister des Steins, die gewachsene Vorsprünge und Felsen mit kundiger Hand so geformt hatten, dass kein Blick von unten verriet, was sich dem Auge hier bot?

Es war eine Treppe.

Sie führte die Stufe hinauf, mal mit breiteren, mal mit schmaleren Stufen, von Absätzen unterbrochen, doch immer stetig aufwärts, die ganze, dreihundert Ffuß hohe Felswand entlang. Eine festgefügte Stiege, an der jeder Architekt seine Freude gehabt hätte.

Nur an ein Geländer hatte offensichtlich keiner gedacht.

»Da sollen wir rauf?« Kim schluckte. Die Antwort konnte er sich selber geben. Dort hinaufzusteigen war die eine Möglichkeit. Die andere waren die Schattenhunde.

Er setzte seinen Fuß auf die erste Treppenstufe, zog mechanisch das andere Bein nach und begann, einen Schritt nach dem anderen, den langen Aufstieg.

Auf dem ersten Absatz angekommen, hörte er von unten Lärm.

Er wandte sich um. Die Welt schien um ihn zu kippen, doch er hielt den Blick fest nach unten auf die Treppe gerichtet. Gregorin war hinter ihm, gefolgt von Gilfalas, Marina und Burin. Fabian stand noch am Fuß der Treppe. Und auf den ersten Treppenstufen entspann sich ein seltsamer, ungleicher Kampf.

Es war Gwrgi, der schrie.

Er quäkte nicht mehr; sein Schrei hatte etwas Urtümliches, Elementares, der Angstschrei einer gequälten Kreatur, der man mehr abverlangte, als ihr von ihrem Schöpfer an Fähigkeiten ins Leben mitgegeben worden war. Ein Schrei der Ohnmacht im Angesicht des Unmöglichen.

»Gwrgi … ich … ich kann da nich’ rauf!«

Er schlug um sich, mit Armen und Beinen. Fabian versuchte ihn zu packen, doch der Sumpfling entwand sich seinem Griff.

»Wenn er nicht mitkommt, muss er da bleiben«, knurrte Gregorin.

»Nein«, sagte Burin. Es war das erste Mal, ging es Kim durch den Sinn, dass er dem Alten widersprach. »Er ist unser Gefährte. Ich hole ihn.«

Er ging die wenigen Stufen, die ihn von dem Sumpfling trennten, mit festem Schritt wieder hinunter.

»Komm, Gwrgi«, sagte er. »Du kannst es.«

Der Sumpfling blickte auf. Verzweiflung lag in seinem Blick. Dann sah er die ihm entgegengestreckte Hand Burins, und langsam, zögerlich, legte er seine eigene Hand in die des Zwergen.

»Weiter!«, drängte Gregorin.

Kim wandte sich um. Er hatte Tränen in den Augen und wusste nicht, warum. Langsam, stetig, mit einer Kraft, von der er selbst nicht geglaubt hatte, dass sie in ihm steckte, begann er den langen Anstieg die Treppe  hinauf.

Wind zerrte an ihm. Nach den ersten hundert Stufen oder so – er hatte längst aufgehört zu zählen – spürte er seine Beine nicht mehr, und die Muskeln in seinen Oberschenkeln begannen zu schmerzen, erst mit leisen Stichen bei jedem Schritt, dann mit einem dumpfen Brennen, das stärker und stärker wurde, bis er hätte schreien können. Auch seine Waden schmerzten, und seine Füße waren taub. Doch jedes Mal wenn er glaubte, die Beine müssten ihm den Dienst versagen, wenn er strauchelte oder schwankte, war da eine feste, helfende Hand in seinem Rücken oder an seiner Seite. Hier auf dem Fels war es gut, jemanden wie Meister Gregorin bei sich zu wissen, und Kim schöpfte wieder neuen Mut, den nächsten Schritt zu tun und den nächsten …

Er bewegte die Beine immer noch, als er bereits den Rand der Stufe erreicht hatte.

In den alten Reiseberichten, die er in den Archiven des Ffolksmuseums eingesehen hatte, war stets davon die Rede gewesen, wie wunderbar der Anblick von der Stufe hinab ins Elderland sei, zu den satten Weiden und grünen Auen, den tiefdunklen Wäldern und klaren Wasserläufen; die sich in der Bläue der Ferne verloren. Doch der Dunst war so dicht, dass man kaum etwas erkennen konnte. Und das war auch gut so, denn allein der Gedanke an das, was dort unten lauern konnte, ließ einen schaudern.

Nur nicht daran denken, sagte eine Stimme in seinem Unterbewusstsein. Das ruft sie herbei.

Jetzt hatte auch Gwrgi die Stufe erreicht und ließ sich erschöpft ins Gras fallen. Fabians Kopf tauchte als letzter über dem Rand des Abgrunds auf.

»Keine Rast«, drängte Gregorin. »Wir müssen weiter.«

Die Sonne hatte ihren Zenit schon überschritten, als sie wieder den Schutz der Wälder erreichten. Eichen und Buchen waren hier dunkleren Nadelhölzern gewichen, Fichten und Tannen und dort, wo der Fels zutage trat und der Boden ärmer wurde, auch kleinen, seltsam verdrehten Kiefern. Aber zumindest boten sie Schutz vor Spähern und verminderten das Gefühl des Preisgegebenseins, das sie alle auf der offenen, windigen Hochebene empfunden hatten.

Gegessen und getrunken wurde, während sie gingen, und jeder wusste, warum. Die Schattenhunde mochten zurückkehren, und ob Gilfalas’ Ring ihnen noch einmal die Rettung bringen konnte, vermochte nicht einmal der Elbe zu sagen. Noch immer war von der Zwergenfeste nichts in Sicht. Hatte Gregorin nicht gesagt, sie würden Zarakthrôr noch vor dem Abend erreichen, wenn sie sich beeilten? Die Sonne sank tiefer und tiefer, aber nichts tat sich. Dabei waren sie doch gerannt und marschiert, dass Kim fast der Atem wegblieb.

Wusste Gregorin am Ende gar nicht, wonach er suchte? Kim fiel auf, dass der Zwerg sich immer öfter umsah, als hielte er nach Wegmarken Ausschau. Waren sie am Ende einem Führer aufgesessen, der keine Ahnung hatte, wo sein Ziel sich befand, sondern selbst nur den alten Legenden folgte?

Der Vater und die Mutter mochten sie davor bewahren, den Schattenhunden nach Sonnenuntergang zu begegnen! Nur die Zwergenfeste konnte den Schutz bringen, den sie brauchten. Inzwischen wurde ihre Mission immer dringlicher, und es wurde Zeit, dass sie endlich vorankamen. Bis jetzt war jedem Schritt vorwärts, jedem kleinen Erfolg immer gleich ein Rückschlag gefolgt. Das musste nun endlich vorbei sein; sonst war die Schlacht verloren, bevor die Kunde über den nahenden Feind das Imperium erreicht hatte.

Das Tageslicht schwand zusehends. Die Sonne war ein roter, wabernder Vorhang über Elderland im Westen, der die Baumwipfel in Blut tauchte, doch hier, im Schutz der Bäume, war es fast schon dunkel. Waren da nicht schon Schatten im Unterholz? Nein, es war nur ein Fels – eine Felsgruppe, von seltsam polygonaler Gestalt, wie geschmolzener und in hohen, sechseckigen Pfeilern erstarrter Basalt. Aber hier gab es keinen Basalt, sagte sich Kim, nur Granit und Gneis. Diese Formation konnte keinen natürlichen Ursprungs sein …

»Da!«, rief er. Mehr konnte er nicht sagen. Er wies nur starr mit dem Finger und kam sich vor wie Ubbo, der Dorftrottel. »Da!«

Gregorin, der immer nur geradeaus geschaut hatte, wandte sich um, und sein Blick folgte Kims ausgestreckter Hand.

»Baruk amathân!«, rief Gregorin aus. »Da ist es. Ich habe es gefunden!«

In Kims Ohren klang diese Stimme wie Hohn. Der Zwerg hatte seine Selbstsicherheit nur vorgetäuscht. Aber was sollte Kim ihm zürnen? Sie hatten das Tor von Zarakthrôr erreicht, und allein daraufkam es schließlich an.

Sie mussten noch ein paar Dutzend Schritte laufen, aber je näher sie kamen, desto deutlicher konnte Kim das Gebilde erkennen, das Gregorin für das Tor der Zwergenfeste hielt.

Zwei mächtige polygonale Pfeiler, verwittert und mit Moosen und Hechten überwuchert, doch mit ihren flachen, konischen Spitzen immer noch als Zwergenwerk zu erkennen, umrahmten eine Art Portal, eine flache, kaum fingertiefe Nische, die von einem gedrungenen Tympanon überhöht wurde. Im Streiflicht der untergehenden Sonne, das schräg auf den Felsen fiel, waren die Reste von seltsamen Glyphen zu erkennen, Symbolen und Schriftzeichen, die kaum noch als solche auszumachen waren.

Ansonsten war der Felsen glatt und fugenlos, sodass man beim besten Willen nicht erkennen konnte, welche Macht der Welt ihnen in diesem harten Stein einen Durchgang öffnen sollte.

Aber mit jedem Schritt, den sie sich dem Felsen näherten, zeichnete sich etwas auf dem Giebelfeld ab, das zunächst wie ein grobes Spinnennetz wirkte, doch sich dann als eine geometrische Figur erwies, ein Kreis mit einem einbeschriebenen Sechseck, von dessen Spitzen Speichen zur Mitte liefen und sich im Zentrum schnitten.

»Das ist das Schloss, das die Tür nach Zarakthrôr vor ungebetenen Gästen schützt«, erklärte Gregorin. »Und in den Mittelpunkt muss man die Glyphe zeichnen, die das Tor öffnet.«

Zuversichtlich ging er darauf zu, und mit großer Geste zeichnete er in die Speichen des Rades das Zeichen, das in der Schrift der gemeinsamen Sprache das F darstellt. Gespannt stand er davor, aber nichts tat sich. Kein Tor öffnete sich.

»Ich …« Gregorin war rot geworden, dann schien alles Blut aus seinem Gesicht zu weichen. »Aber das ist unmöglich. Das ist Fregorins Tor.«

Hilfesuchend sah er sich um. Burin trat vor. »Lass mich es versuchen!«

Unwillen stand in Gregorins Gesicht geschrieben, aber dann trat er zur Seite. Burin stand wie versunken da, die rechte Hand um etwas auf seiner Brust gekrampft wie um einen Talisman, und Kim erinnerte sich, dass er ihn schon einmal so gesehen hatte, bei ihrer Begegnung im Haus des Kustos.

Im ersten Augenblick erschien es nur wie ein Widerschein der untergehenden Sonne, doch dann wurden die Linien der Gravur röter und heller. Ein Dreieck zeichnete sich in dem Kreis ab, mit der Spitze nach oben. Es brannte wie von einem inneren Feuer.

»Kirith Urim-khazâr!«, hauchte Burin.

Er zeichnete die Glyphe des Meisters, die in der Schrift keines Volkes eine Entsprechung hatte, in das Zentrum des Kreises.

Einen Augenblick geschah nichts, und es schien, als sollte auch dieser Versuch fruchtlos bleiben. Da zeigten sich an den Rändern der Nische, dort, wo der Stein in Form einer Tür vertieft war, haarfeine Spalten, und mit einem kaum wahrnehmbaren Knirschen glitt der Fels zurück. Alsdann teilte sich die Platte, schwenkte nach rechts und links zur Seite und gab den Blick in eine dunkle Tiefe frei.

In diesem Augenblick hörten sie das Heulen in der Ferne. Es war leise, kaum zu vernehmen, aber jeder von ihnen erkannte sofort, was es bedeutete.

Kim spürte, wie die Furcht von ihm Besitz zu ergreifen drohte.

»Rein!« Auch Fabians Stimme war nicht frei von Zittern.

Es hätte der Aufforderung gar nicht bedurft. Alle folgten dem Befehl und drängten sich durch den Eingang ins Innere.

»Wie schließt man das Tor?«, fragte Gilfalas, als sie alle drinnen waren.

»Ich weiß nicht«, antworteten Burin und Gregorin wie aus einem Munde.

»Toll!«, entfuhr es Fabian. »Ich möchte nicht von den Schattenhunden durch die Finsternis dieser Höhlen gejagt werden.«

Von draußen drang erneut ein Laut an ihr Ohr. Die Hunde waren näher gekommen. Man hörte nun wieder ihr hechelndes Bellen, das, wenn auch ebenso unheimlich, nicht die gleiche Wirkung hatte wie ihr verfluchtes Geheul.

Einen Augenblick standen die Gefährten unschlüssig im Gang, aber dann entschieden sie sich, weiterzugehen. Es hatte keinen Sinn, hier ergeben auf ein unvermeidliches Schicksal zu warten.

»Zarakthrôr ist etwas Besonderes«, meinte Gregorin. »Hier herrschen andere Gesetze. Vielleicht folgen sie uns nicht hinein.«

»Und wie finden wir uns hier zurecht?«, fragte Burin.

»Ich habe eine Karte«, knurrte Gregorin.

So machten sie sich denn auf den Weg den finsteren Gang entlang, der sich vor ihnen aufgetan hatte. Er war so breit, dass gerade zwei von ihnen nebeneinander gehen konnten, und führte schnurstracks in den Fels hinein. Das schwache, rötliche Licht, das durch den Eingang fiel, ließ nicht viel erkennen, aber genug, um zu sehen, dass dieser Gang nicht natürlichen Ursprungs war. Die Wand war bearbeitet. Kim zählte die Schritte; als er bei etwa zweihundertfünfzig angekommen war, machte der Gang die erste Biegung. Dahinter lag völlige Schwärze.

Er warf einen Blick zurück. Das Eingangstor war nur noch als kleiner roter Fleck in der Ferne zu erkennen. Hörte er wieder das Hecheln der Hunde?

Dann flackerte plötzlich ein Schatten in der Öffnung.

Noch bevor Kim die Frage stellen konnte, was geschehen war, zerriss das Echo des Gebells der Schattenhunde die Stille und hallte schaurig von den Wänden wider.

»Sie sind drinnen«, entfuhr es ihm. »Lauft um euer Leben!«

Sie rannten los, hinein in die Dunkelheit. Fabian fluchte, und Kim konnte gerade noch erkennen, wie Gilfalas an seinem Wams nestelte, unter dem er in einem Lederbeutel den Ring barg.

»So besonders geeignet, die Biester aufzuhalten, scheinen die Gesetze dieses Ortes doch nicht zu sein«, stellte Burin mit seinem trockenen Humor fest.

»Schneller!«, kommandierte Gregorin, Burins Bemerkung ignorierend.

»Aber es ist so dunkel«, sagte Marina.

»Das ändert sich«, gab Gregorin knapp zur Antwort.

So stolperten sie mehr durch den nachtdunklen Gang, als dass sie liefen. Kim orientierte sich an Gwrgi, der vor ihm ging und im Dunkeln einigermaßen gut zu sehen schien, wenn auch nicht so gut wie Gilfalas. Gilfalas lief neben Gregorin an der Spitze. Marina rannte neben Kim, und den Abschluss ihrer Gruppe bildeten Burin und Fabian, die ihre Waffen kampfbereit hielten.

Kim kam es so vor, als hellte es sich weiter vor ihnen auf, aber das konnte auch eine Täuschung sein. Schon nach wenigen Schritten ließ sich jedoch nicht mehr leugnen, dass es in der Tat heller wurde; das Licht schien unmittelbar aus den Wänden zu kommen. Es war ein kaltes, fahles Licht, aber schon bald reichte es aus, dass man Einzelheiten erkennen konnte.

Von den Schattenhunden war nichts zu hören. Vielleicht war Zarakthrôr doch etwas Besonderes, und die Geschöpfe der Nacht mussten sich erst an diesen Ort gewöhnen, den die Zwerge in den lebenden Fels gehauen hatten.

Die Gefährten stießen an eine Wegkreuzung, und Gregorin hielt an.

»Wenn ich nur wüsste, wohin jetzt. Ich weiß noch, dass zwei Wege in Sackgassen enden …«

Umständlich begann Gregorin an seinem Wams zu nesteln, um etwas hervorzuholen.

»Rasch!«, sagte Gilfalas. »Das ist eine ungünstige Stelle für einen Kampf mit den Schattenhunden.«

»Nicht ungünstiger als jede andere«, gab Gregorin zurück.

»Wir müssen nach rechts!«, sagte Marina bestimmt.

»Wieso …?«, fragte Fabian, aber Marina ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. »Frauen spüren so was«, behauptete sie, als ob das alles erklären würde, und Kim musste unwillkürlich wieder daran denken, wie oft die kleine Ffolksfrau ihn auf dieser Reise schon überrascht hatte. War es die Verbindung, die zwischen ihr und der göttlichen Mutter bestand, die sie intuitiv den richtigen Weg wählen ließ?

»Ich glaube, sie hat recht«, meinte Gregorin. »Der Weg zur Rechten war’s.«

»Du glaubst …«, wollte Burin einwenden, aber die Schattenhunde knurrten irgendwo im Gang hinter ihnen. »Rechts«, sagte Fabian.

Das entschied. Sie hielten sich rechts. Der Weg führte zunächst leicht abschüssig in die Tiefe, dann, nach einer Weile, wieder bergan.

»Wir sind richtig«, knurrte Gregorin.

Kim warf einen kurzen Seitenblick auf Marina und konnte feststellen, dass ihr Lächeln von einem Hauch des Triumphes gezeichnet war, der jedoch weniger der persönlichen Genugtuung als einer inneren Gewissheit entsprang.

Sie waren wohl schon eine Stunde gelaufen, aber die Verfolger kamen nicht näher. Nur gelegentlich glaubte man ein Knurren oder ein Bellen zu hören, das von irgendwoher aus den Gängen hinter ihnen drang und an den Wänden Echos weckte. Es schien, als begnügten sich die Hunde damit, ihnen auf der Spur zu bleiben; sei es, dass die Stollen der Zwergenfeste sie wirklich verwirrten oder weil sie auf eine besondere Gelegenheit zum Angriff warteten.

»Dort vorn ist der Durchlass«, sagte Gregorin, »der uns in die Empfangshalle von Zarakthrôr bringen wird. Alles bisher war nur der Flur hinterm Eingang, wenn man so will.«

Stolz schwang in seiner Stimme mit, als wäre er dabei gewesen, als diese Stadt unter dem Berg dem Fels abgerungen worden war.

In der Stille, die plötzlich eingetreten war, hörte Kim das Rauschen von Wasser, und er fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte. Floss dort vorn ein unterirdischer Wildbach?

Vor ihnen tauchte ein schlichter Rundbogen auf, und als sie hindurchgegangen waren, öffnete sich mit einem Male der Raum.

Kim hatte mit vielem gerechnet, aber das, was er sah, kam so überraschend, dass ihm der Atem stockte, und seine Ehrfurcht den Erbauern – nein, dieser Ausdruck traf es nicht; es sollte heißen: den Schöpfern – Zarakthrôrs gegenüber wuchs ins Unermessliche.

Sie standen auf einer Brücke, die über einen Abgrund führte, und hinter dieser Brücke tat sich ein Felsendom auf. Die Decke mochte wohl fünfzig oder sechzig Ffuß hoch sein.

Kein einziger Felsen in dieser Halle war nicht von den Werkzeugen der Zwerge berührt worden. Gewaltige Stützpfeiler ragten wie mächtige Bäume in die Höhe, immer feiner und filigraner aufgefächert, um in gewaltigen, reich gezierten Gewölben auszulaufen. Kim schätzte, dass ein Kreis von einem halben Dutzend Ffolksleuten, die sich an ausgestreckten Händen hielten, nötig wäre, um allein den Umfang einer Säule zu ermessen.

Nicht nur er war stehen geblieben. Alle standen sie da und starrten, die Gefahr hinter ihnen vergessend, auf diesen gewaltigen Dom, der in den Fels gemeißelt worden war.

An den Wänden waren Mosaiken aus Edelsteinen zu erkennen, die, von dem geheimnisvollen Licht beleuchtet, Szenen aus alten Legenden wiedergaben. Drachen und Einhörner waren dort zu sehen, geflügelte Wesen und Ungeheuer der Tiefe und gewaltige Armeen – es war mehr, als das Auge mit einem Blick erfassen konnte. Jedes dieser Mosaiken funkelte in allen Farben des Regenbogens, wenn auch immer eine Farbe überwog: Rot und Gold, Amethyst und Topas, Meergrün und Lapislazuli.

Die Krönung aber war der Wasserfall im Zentrum des wohl dreihundert Mal hundertfünfzig Schritt durchmessenden Felsendoms. Er stürzte aus einem schnabelförmigen Aquädukt in ein kreisrundes Loch und verschwand in der Tiefe. Und Kim kam die alte Ballade in den Sinn, die ihm Burin auf der Passhöhe vorgetragen hatte, welche von den Zaubern Zarakthrôrs erzählte:

Wo in den Tiefen dieser Welt
Ein Strudel in den Abgrund fällt …

Keiner sagte ein Wort, bis sich erstaunlicherweise Gwrgi als Erster wieder fing.

»Schön, aber hinter uns ist’s weniger schön. Weiter.«

»Er hat recht. Was bestätigt, dass Schönheit auch tödlich sein kann«, meinte Burin, der seine Augen nicht von der unermesslichen Pracht lösen konnte.

Trotzdem setzten sie ihren Weg fort. Sie behielten ihre bisherige Marschordnung bei, auch wenn sie nun zwischen den Säulen bequem nebeneinander hätten gehen können.

Die Gefährten hatten den Dom etwa zur Hälfte durchquert und waren nahezu auf Höhe des Wasserfalls, als das Hecheln der Verfolger wieder aufklang, doch nun in einer neuen Qualität. Nicht mehr von den langen Wänden des Stollens zurückgeworfen, sondern sich in den offenen Raum verbreitend und vielfach gebrochen von Säulen und Gewölben und steinernen Facetten.

Kim erkannte mit einem Blick über die Schulter, dass die Luft an mehreren Stellen flimmerte. Sie waren da – und zum Angriff bereit. Nichts hielt sie mehr auf. Schon bei dem Gedanken, dass sie gleich zu heulen beginnen würden, überkam den Ffolksmann die nackte Angst.

Die Gefährten standen wie erstarrt. Sie mussten sich den Hunden stellen, und die einzige Waffe, die einen gewissen Schutz versprach, war der Ring, den Gilfalas trug. Kim sah, wie der Elbe ihn hervorzog.

»Geht!«, sagte er fest entschlossen. »Ich werde sie aufhalten.«

»Aber …«, wollte Fabian einwenden, doch Gilfalas duldete keinen Widerspruch.

»Verschwindet! Das hier ist mein Kampf.«

»Er hat recht, weißt du«, wandte sich Burin an den Prinzen. »Wir müssen ins Imperium. Nur das ist wichtig. Opfer müssen gebracht werden. Das Ganze und nicht der Einzelne zählt.«

Fabian zögerte. Er hatte Gilfalas als Freund und Gefährten angenommen, und die Ehre gebot ihm, an der Seite des Freundes zu kämpfen, so aussichtslos es auch sein mochte.

Aber schließlich siegte in dem inneren Kampf, den er ausfocht, doch die Verantwortung, die er trug, seine Pflicht gegenüber seiner Heimat und gegenüber den Völkern der Welt, deren Schicksal in seine Hand gegeben war.

»Lauft!«, befahl Fabian, und Kim glaubte es in den Augen des Freundes feucht schimmern zu sehen.

Sie rannten. Aber dann setzte das Heulen der Hunde ein, und augenblicklich verlor Kim die Kontrolle über seine Schritte. Todesfurcht stieg in ihm auf, lähmte ihm die Sinne. Er taumelte vorwärts. Das Heulen der Schattenhunde wurde immer lauter.

Zwischen dem Heulen vernahm Kim eine verzweifelte Stimme, die Unverständliches deklamierte. Der Ffolksmann aber war gefangen im Netz der Angst, und hätte er seinen Blick auf die anderen richten können, wäre ihm offenbar geworden, dass es denen ebenso erging.

Kim hörte sein eigenes, unartikuliertes, von Angst gezeichnetes Gebrüll nicht. Er fühlte sich in den Kaninchenbau zurückversetzt; er konnte die Fuchsratte nicht sehen – noch nicht, aber irgendwo war sie, das wusste er.

Die kalten Finger des Wahnsinns griffen nach seinem Geist. Er warf seinen Kopf hin und her, als suche er etwas.

Dann war es vorbei …

Er war frei.

Er taumelte wie ein Gefangener, dessen Ketten sich plötzlich gelöst hatten. Das Geheul der Schattenwesen war noch da, aber nur schwach, wie ein fernes Echo.

Kims Blick war auf Gilfalas gerichtet. Er sah den Elben vor sich, dessen Gestalt seltsam bläulich und verschwommen wirkte, wie hinter einem Nebelschleier. Kim kniff die Augen zusammen, aber sein Blick klärte sich nicht. Zwischen ihm und seinen Gefährten auf der einen Seite und den Schattenhunden auf der anderen erhob sich eine Wand wie aus blauem Glas, das von einem inneren Schimmer erhellt war.

Und Gilfalas stand auf jener anderen Seite.

Hoch erhoben stand der Elbe da. Die Luft hinter dem Schirm aus Licht flimmerte, und dieses Flirren bewegte sich auf Gilfalas zu. Schatten kamen aus der Tiefe des Raumes, Kometen gleich, doch aus Dunkelheit, nicht aus Feuer gemacht, und die Schatten hatten Gesichter, Fänge, Klauen …

Die blaue Lichtwand erzitterte, als das erste der Schattenwesen sich dagegenwarf. Zwei, drei weitere kamen angeschossen. Blitze zuckten auf. Der Schirm flackerte, bekam Risse.

In diesem Augenblick lief Gilfalas los.

Immer noch umgab ihn das blaue Licht, das von seinem Ring ausging, und die Schatten folgten ihm wie Motten einer Flamme, wie Hunde einem waidwunden Wild. Gilfalas rannte auf den Wasserfall zu. Die Meute der Schattenhunde tanzte um ihn herum, drang auf ihn ein.

Am Rande des Abgrunds hielt der Elbe ein letztes Mal inne. Er wand sich, im Würgegriff der Schatten, die sich in ihn verbissen hatten. Kim sah sein Gesicht; es war verzerrt von einem Schrecken, der jenseits allen Begreifens lag. Gilfalas mochte die schlimmsten Augenblicke seines Lebens durchmachen. Kim sah, wie der Elbe den Mund öffnete, aber kein Wort, kein Schrei drang nach außen.

Dann warf Gilfalas sich über die flache, kunstvoll gearbeitete Balustrade und stürzte mit dem glänzenden Wasser in die Tiefe.

Mit ihm stürzten die Schattenhunde. Ihr Heulen wurde zu einem schrillen Ton der Wut und des Hasses; doch sie hatten sich so fest in ihr Opfer verbissen, dass sie sich nicht mehr von ihm lösen konnten. Mit einem langgezogenen Jaulen wie dem Schrei einer verlorenen Seele, die ihr Ziel der ewigen Verdammnis vor Augen sieht, wurden sie mit dem Strudel hinabgerissen in den Abgrund der Welt.

Das blaue Leuchten erlosch.

Es war still in der Halle bis auf das endlose Rauschen des Wassers.

Kim wagte kaum zu atmen. Auch die übrigen hatten das Geschehen mit Entsetzen verfolgt, und alle begriffen, dass sich Gilfalas für sie geopfert hatte. Er hatte ihnen den Weg freigemacht.

Wie Schlafwandler gingen sie nach und nach zum Rand des Wasserfalls und starrten in die Tiefe. Sie konnten den Abgrund mit ihren Blicken nicht erforschen, doch jeder von ihnen wusste, diesen Sturz dorthinab konnte keiner überleben, weder Mensch noch Zwerg, noch Elbe – und vielleicht nicht einmal die Geschöpfe der Nacht, die sie bis aufs Blut gehetzt hatten.

Seltsamerweise war es wiederum Gwrgi, der als Erster Worte fand.

»Gibt es ein höheres Gut«, flüsterte er, »als sein Leben einzusetzen für eine gerechte Sache?«

Die anderen sahen sich stumm an. Es waren dieselben Worte, die sie Magister Adrion zum Abschied zu Gilfalas gesagt hatte.

Gregorins Miene war ausdruckslos wie immer. Er zog seine Karte hervor, studierte sie kurz und gab die Richtung an. »Gehen wir«, sagte er.

In dem Augenblick, als die Gefährten den Felsendom verließen, drang, getragen von den Schwingungen in den Felswänden, ein dumpfer Laut an ihr Ohr, der sich in monotonem Rhythmus wiederholte.

»Was ist das?«, fragte Kim.

»Trommeln«, sagte Fabian, »Trommeln in der Tiefe.«