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Ssattatta fand er am Fuß eines gigantischen Korkenzieher-Baumes. Die Flosserin war gegen die monströse Pflanze geworfen und dort zerquetscht worden. Ihre Rüstung war ein Wirrwarr zerbrochener Teile.

Toshio stolperte durch das zerstörte Unterholz und pfiff einen Ruf auf trinar, wenn er sich dazu in der Lage fühlte. Im wesentlichen versuchte er sehr mühsam, sich auf den Füßen zu halten. Seitdem er die Erde verlassen hatte, war er nicht viel gewandert. Quetschungen und Übelkeit halfen ihm auch nicht viel weiter.

K’Hith fand er auf dem sanften Bett eines grasartigen Bewuchses liegend. Seine Rüstung war in Ordnung. Aber der delphinische Planetologe hatte sich schon durch drei tiefe Wunden im Bauch ausgeblutet. Toshio merkte sich in Gedanken den Ort und ging weiter.

Satima fand er näher am Ufer. Das kleine Weibchen blutete und war hysterisch, aber sie lebte. Toshio verband ihre Wunden mit künstlichem Fleischschaum und Ausbesserungsband. Dann nahm er die Manipulatorarme ihrer Rüstung und rollte einen großen Stein darauf, um sie in den Lehm zu pressen. Das war das Beste, was er tun konnte, um sie am Boden zu befestigen, bevor die fünfte Welle zuschlug.

Es war mehr eine Überschwemmung als eine Wellenfront. Toshio hielt sich an einem Baum fest, während sie vorüberschwappte, beharrlich an ihm zerrte und fast bis an seinen Hals reichte.

Sobald die Welle zurückzuweichen begann, ließ er den Baum fahren und mühte sich mit Satima ab. Er tastete, bis er den Öffnungsmechanismus ihrer Rüstung gefunden hatte, dann schälte er sie heraus, um sie von dem wachsenden Rückstau mittragen zu lassen.

Er kämpfte damit, sie gegen den wachsenden Druck der zurückweichenden Flut um eine Ansammlung von Büschen zu steuern, als eine schnelle Bewegung in dem Baum über ihm seine Aufmerksamkeit erregte. Die Bewegung paßte nicht in das beherrschende Schema schwankender Trägheit. Er blickte auf und begegnete dem Schimmer zweier kleiner, schwarzer Augen.

Er hatte kaum mehr Zeit, als sich darüber zu wundern, bevor die Flut ihn und Satima geradewegs durch das Hindernis und in einen kleinen, vor kurzem entstandenen Sumpf drückte.

Er mußte Satima die letzten paar Meter über schlüpfrige Wasserpflanzen ziehen und dabei darauf achten, daß ihre Wunden nicht wieder aufrissen. Seit den letzten Minuten schien sie etwas klarer beieinander zu sein. Ihr Delphingequieke begann Form und Klang von trinarischen Worten anzunehmen.

Ein Pfiff ließ Toshio aufschauen.

Keepiru war nur vierzig Meter vom Ufer entfernt und trieb den Schlitten auf ihn zu. Der Flosser hatte einen Atmer aufgesetzt, aber er konnte noch mit den Sonarhöhlen unter seinem Schädel Signale geben.

„Satima!“ schrie er den verwundeten Delphin an. „Schwimm zum Schlitten! Schwimm zu Keepiru!“

„Befestige sie an einer Luftkuppel!“ rief er Keepiru zu. „Und behalte den Sonarschirm im Auge! Verschwinde von hier, wenn du siehst, daß eine Welle bevorsteht!“

Keepiru schwenkte seinen Kopf. Sobald Satima etwa fünfzig Meter weit im Meer war, benutzte er den Schlitten, um sie in tieferes Wasser zu geleiten.

„Halte Ausschau nach herumtreibenden betäubten Flossern!“ rief Toshio, in der Hoffnung, daß Keepiru ihn gehört hatte.

Bisher hatte er fünf gezählt. Blieben noch Hist-t und Hikahi. Toshio kletterte über das mit Wasserpflanzen bedeckte Ufer zurück und stolperte weiter durch das Unterholz.

Während er suchte, verfiel Toshio in Gedanken. Sein Verstand schien genauso auseinandergezerrt und verwüstet zu sein wie die Insel, die er betreten hatte. Er hatte zu viele Leichen an einem Tag gesehen – zu viele tote Freunde.

Er erkannte, daß er durchweg ungerecht gegenüber den Flossern gewesen war.

Es war ungerecht gewesen, sie dafür zu tadeln, daß sie ihn hänselten. Sie konnten nicht aus der Weise, wie sie beschaffen waren, ausbrechen. Allen Einmischungen der menschlichen Chirurgie zum Trotz hatten die Delphine mit der Menschheit auf einem Niveau gutmütiger Spötterei verkehrt, seit der erste Mensch in einem Holzkanu auf das Meer gepaddelt war. Dieses rührende Bild hatte ausgereicht, um ein Schema zu prägen, das durch die Schulung nur verändert, aber nicht eliminiert werden konnte.

Warum auch eliminieren? Aus dieser neuen Perspektive erkannte Toshio nun, daß diejenigen Menschen auf Calafia, die gut mit den Delphinen zusammenarbeiten konnten, ein besonderes Persönlichkeitsprofil hatten – allgemein charakterisiert durch eine dicke Haut, Standhaftigkeit und ein willentliches Gefühl für Humor. Niemand, der sich nicht ihren Respekt verdient hatte, arbeitete lange mit Flossern.

Er eilte zu einer grauen Gestalt, die im Gestrüpp lag. Aber nichts. Es war wieder Ssattatta. Sie war von der letzten Welle verlagert worden. Toshio stolperte weiter.

Die Delphine waren sich sehr wohl dessen bewußt, was die Menschheit für sie getan hatte. Das Aufrichten war ein schmerzhafter Prozeß, besonders wenn er noch nicht abgeschlossen war. Aber keiner von ihnen wollte, wenn er es vermeiden konnte, in den alten Wal-Traum zurückfallen.

Die Flosser wußten, daß der lockere Kodex, der das Verhalten zwischen den galaktischen Rassen regelte – ein Kodex, der seit Äonen in der Bibliothek festgelegt war –, es der Menschheit ermöglichte, von ihren Schützlingen einhunderttausend Jahre der Knechtschaft zu fordern. Die gesamte Menschheit war bei diesem Gedanken erschauert. Der Homo sapiens war jünger als diese Zeitspanne. Wenn die Menschheit dort draußen einen Schutzpatron gehabt hatte – einen, der stark genug war, um diesen Titel in Beschlag zu nehmen –, würde diese Spezies den Tursiops amicus nicht als zusätzlichen Bonus zählen können.

Es gab keinen lebenden Flosser, der sich der Haltung der Erde nicht bewußt war. Im Terranischen Rat waren Delphine, genauso wie Schimpansen.

 

Nein, Toshio wußte endlich, wie sehr er Keepiru mit seinen Worten während der Balgerei im Meer verletzt hatte. Vor allem bedauerte er die Bemerkung über Calafia. Keepiru würde aus freiem Willen tausend Tode sterben, um die Menschen auf Calafia zu retten.

Toshio würde niemals wieder derartige Dinge sagen, wenn er diese Situation noch einmal erleben könnte, auch wenn das bedeutete, daß Keepiru sich selbst im Wahn des Rettungsfiebers an den Felsen zerschmettern und er selbst im Meer sterben würde. Eher sollte ihm die Zunge abfallen, bevor er solche Dinge jemals wieder aussprechen würde.

Er taumelte auf eine Lichtung. Dort lag in einer flachen Pfütze ein drei Meter langer Tursiops-Delphin.

Hikahi! Die Flosserin war zerschrammt und angeschlagen. Auf ihren Flanken befanden sich schwache Blutspuren. Aber sie schien bei Bewußtsein zu sein. Als Toshio auf sie zuschritt, schrie sie gellend.

„Bleib dort, Scharfe Augen! Bewege dich nicht-t. Wir haben hier G-Gesellschaft!“

Toshio blieb in seinen Fußstapfen stehen. Hikahis Befehl klang bestimmt. Aber das Bedürfnis, zu ihr zu gehen, war dringlich. Die Kratzer des Delphins sahen nicht angenehm aus. Wenn Splitter von Metallkorallen unter die Haut gelangt waren, mußten sie bald entfernt werden, bevor es zu einer Blutvergiftung kam. Und es würde nicht einfach sein, Hikahi aufs Meer hinauszubekommen.

„Hikahi, bald kommt eine neue Welle. Sie könnte diese Anhöhe erreichen. Wir sollten darauf vorbereitet sein!“

Bleib stehen, Toshio. Die Welle wird nicht bis hierher kommen. Im übrigen solltest du dich mal umschauen. Versteh, wieviel wichtiger das hier ist-t-t!“

Zum erstenmal beachtete Toshio die Lichtung. Der Tümpel lag auf der einen Seite, um ihn herum zeigten Grabespuren, daß er erst vor kurzem ausgescharrt worden war. Dann sah er, daß die Manipulatorarme von Hikahis Rüstung fehlten – vermutlich waren sie beim ersten Aufprall auf das Ufer abgerissen.

Wer hatte dann …? Toshios Aufnahmebereitschaft wuchs. Er sah die verkrümmten Trümmer am entfernten Rand der Lichtung, die über das Unterholz verstreut waren, und erkannte die Überreste eines zerstörten, zerschmetterten Dorfes.

Im permanenten Schimmer des Waldes sah er zerrissene und verstreute grobmaschige Netze, verstreute Teile von abgedeckten Strohdächern und scharfe Metallsplitter, die roh in hölzerne Dauben eingeschlagen waren.

Zwischen den Zweigen der Bäume sah er huschende Bewegungen. Dann erschienen, eine nach der anderen, kleine ausgespreizte Hände mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern – gefolgt von vorsichtig spähenden, leuchtenden Augen, die ihn unter tiefen, grünlichen Brauen anguckten.

„Eingeborene!“ flüsterte er. „Ich sah vorhin schon einen, vergaß es aber vollständig! Sie sehen gänzlich unterentwickelt aus!“

„J-J-Ja“, signalisierte Hikahi. „Und das verlangt um so dringlicher nach Verschwiegenheit, um sie zu schützen. Schnell, Scharfe Augen! Erzähle mir, was-s passiert ist!“

Toshio erzählte dem delphinischen Offizier, was er getan hatte, seit der Tsunami zugeschlagen hatte, ließ aber die Einzelheiten seines Kampfes mit Keepiru weg. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, während die Augen in den Bäumen ihn anfangs anschauten und dann, wenn er ihren Blick kreuzte, eilig bedeckt wurden.

Er hatte gerade geendet, als die letzte Welle heranschwappte.

Er stand auf, um über das Unterholz zu spähen. Er konnte erkennen, wie die Brecher, laut grollend und weißlich aufschäumend, den abschüssigen Boden hinaufrollten. Aber Hikahi hatte vollkommen recht. Das Wasser würde nicht bis in diese Höhe steigen.

„Toshio!“ pfiff Hikahi. „Du hast dich genau richtig verhalten. Du hast diesen Stamm vermutlich, genauso wie uns, gerettet. Krookida wird Erfolg haben und H-H-Hilfe bringen. Meine Rettung ist also nicht-t so wichtig. Du mußt das ausführen, was ich dir sage! Laß Keepiru sofort tauchen! Er muß außer Sicht und so still wie möglich bleiben, während er nach Leichen und Trümmern sucht. Du mußt Ssattatta und K’Hith vergraben und die Reste ihrer R-R-Rüstungen zusammensuchen. Wenn Hilfe kommt, müssen wir schnell aufbrechen können!“

„Bist du sicher, daß mit dir alles in Ordnung ist? Deine Wunden …“

„Mir geht’s g-gut! Meine Freunde halten mich feucht-t. Und die Bäume verdecken mich. Beobachte den Himmel, Scharfe Augen! Laß dich nicht sehen! Ich hoffe, daß ich unsere Freunde davon überzeugt haben werde, dir zu vertrauen, wenn du fertig bist.“

Der Flosser klang erschöpft. Toshio fühlte sich hin und her gerissen. Schließlich seufzte er und wandte sich zum Wald um. Er zwang sich dazu, durch das abgebrochene Laubwerk zu laufen, und folgte dem zurückweichenden Wasser zum Ufer.

Keepiru tauchte gerade auf, als er dort ankam. Der Flosser hatte seinen Atmer zurückgelegt und trug statt dessen eine Luftkuppel. Er informierte ihn davon, daß er den Leichnam von Phip-pit gefunden hatte, der schon frühzeitig dem Mördertang zum Opfer gefallen war. Der von Saugnäpfen gequetschte Körper mußte sich während des Tsunami losgerissen haben.

„Irgendeine Spur von Hist-t?“ rief Toshio. Keepiru antwortete ihm negativ. Toshio gab Hikahis Befehl weiter und schaute zu, als der Schlitten wieder versank.

Er blieb einen Augenblick stehen und blickte nach Westen.

Die rötliche Sonne von Kithrup ging unter. Die dunklen Filamente der Chromosphäre hoben sich wie die Spirallinien eines Fingerabdrucks gegen das hellere Karmesin der Photosphäre ab. Etwas anders arrangiert, hätten sie den Augenbrauen und dem Schnurrbart in einem ergrauten alten Gesicht geähnelt.

Einige Sterne strahlten durch die zusammengeballten Wolken über ihm. Die Wolken begannen unheilvoll zu erscheinen. Es würde in der Nacht Regen geben. Toshio entschied sich dagegen, seinen Tauchanzug auszuziehen, wenn er sich auch zu einem Kompromiß entschloß und das gummiüberzogene Kopfstück abstreifte. Die Brise ließ ihn frösteln, war aber sehr hilfreich.

Er blickte flüchtig nach Süden. Wenn das Raumgefecht immer noch andauerte, so sah Toshio jedenfalls kein Anzeichen davon. Die Rotation von Kithrup hatte sie aus dem Sichtbereich des leuchtenden Globus aus Plasma und Wrackteilen, der jetzt dort draußen treiben mußte, gedreht.

Toshio konnte nicht die Kraft aufbringen, seine Faust zu schütteln, aber er schnitt eine Grimasse gegen den Südhimmel, in der Hoffnung, daß die Galaktischen sich gegenseitig ausradiert hatten.

Wenngleich dies nicht sehr wahrscheinlich war. Es würde Sieger geben. Und diese würden nach den Delphinen und den Menschen forschen.

Er warf trotz seiner Erschöpfung die Schultern zurück und ging, in Gedanken versunken, auf den Wald und die schützenden, überhängenden Bäume zu.