David R. Palmer
Nachfolger
Nichts zu tun? Nirgendwo hingehen können? Die Zeit schleicht dahin? Gelangweilt? Deprimiert? Und auch sehr verängstigt? Kausale Faktoren außer Kontrolle?
Unglücklicherweise. Bedauernswert. Teufelskreis – die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Verstand brütet über Problemen, Probleme wachsen, nehmen an Wichtigkeit zu, so daß Verstand noch weiter darüber brütet. Usw. Schlimm genug, wenn die Probleme klein sind.
Meine sind es nicht.
Psychologietext bietet verschiedene Lösungen: empfiehlt ständige Beschäftigung, wenn nötig, harte Arbeit, Ablenkung. Besser, wenn harte Arbeit Herausforderung bietet, gewisse Frustration. Noch besser, daß ich Verantwortung trage. Alles hilft.
Vielleicht.
Jedenfalls ist es schwierig, beschäftigt zu bleiben. Zugegeben, mehr Bücher im Schutzraum als in öffentlicher Bücherei, mehr Werkzeuge, Ausrüstung, Vorräte usw. als auf dem Schiffswrack der Schweizer Familie Robinson – alles neueste Entwicklungen: das Leichteste, Einfachste, Raffinierteste, Zuverlässigste, Nicht-Rostende, Sanforisierte. Alles nutzlos, wenn – Korrektur, bis ich hinausgehe (vor allem, kenne den Zweck von vielleicht einem halben Dutzend: Schraubenzieher, um klemmende Schubladen zu öffnen, Hammer, um Steaks weichzuklopfen und Eiswürfel zu zerkleinern, Metallsäge, um Gefrierfleisch zu schneiden …).
Nun ja, gibt sicherlich Bücher, die Auswahl und Zweck erklären.
Wahrhaftig, sicherlich gibt’s Bücher – Tausende. Plus Mikrofilmothek – und sogar noch mehr. Viel Tiefschürfendes: Klassiker, Zeitgenössische, umfassendes Museum der besten menschlichen Werke: in Worten, auf Leinwand, 3-D- und Vielfach-Reproduktionen von Skulpturen. Auch Wissenschaftliches vorhanden: Medizin, Zahn- und Tiermedizin, Insektenkunde, Genetik, Meeresbiologie, Maschinenbau, Elektronik, Physik (sowohl Atom- als auch Biophysik), Meteorologie, Astronomie, Tischlerei, Landwirtschaft, Schweißen (plus Gerätschaften), Holzbearbeitung, Überleben etc. etc. etc., Poesie, Fiktion, Biographien von Großen und Fast-Großen, Philosophie – selbst eine vollständige Auswahl der Phantasie der Welt, neu und alt. Komplette Bücher von Oz etc. Schöne Überraschung.
Daddy war entschlossen, die größten Errungenschaften der Menschheit nicht in Feuerwerk aufgehen zu lassen, ebensowenig seine nächste Umgebung. Geständnis: Fragte mich manchmal, ob er wohl alles auf eine Karte setzte, gab Unsummen für Schutzraum und Inhalt aus. Stellt sich heraus, daß ich recht hatte – wahrscheinlich lacht er sich jetzt irgendwo ins Fäustchen. Wünschte, er wäre hier, um mich damit aufzuziehen – aber würde er nicht, auch wenn er könnte, war zu lieb. Vermisse ihn. Sehr.
Werde rührselig. Oben Erwähntes konstituiert „Brüten“ mit Bestimmtheit in dem pathologischen Sinn, wie es der psychologische Text definiert. Zeit, die Hacken zusammenzuschlagen, in die Hände zu klatschen, zu lächeln und guter Dinge zu sein.
Jedenfalls sind bergeweise Bücher, Mikrofilme von begrenztem Nutzen da, zu tiefschürfend. Z. B. Klassiker: Kann sie nur gewisse Zeit aushalten, dann setzen Nebenwirkungen ein. Als ob man zur Maniküre mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzt – es geht, lange Fingernägel wären aber angenehmer. Dasselbe bei Klassikern als einziges Heilmittel gegen „Brüten“: Nicht klar, was schlimmer ist. Vielleicht schadet zuviel Kultur in größeren Dosen der Gesundheit, vielleicht müssen allmählich Abwehrkräfte aufgebaut werden.
Technik ist noch schlimmer. Dachte, gute Grundkenntnisse in Mathe und Basiswissenschaften zu haben. Falsch – Grundkenntnisse sind gut in Anbetracht des Alters, habe aber nichts gefunden, das einfach genug ist, um erste Schritte zu erlernen. Bin natürlich noch nicht eingerichtet, habe noch keinen Katalog zusammengestellt oder einen Plan, wie ich mich interessanten Dingen zuwenden soll. Ich sollte zwar, aber im Augenblick langweilt mich das Betrachten scheußlicher Bilder von endokrinen Fehlfunktionen genauso wie das Durchackern von Klassikern.
Romane natürlich rationiert. Tausende von Titeln, darf aber nicht den Kopf verlieren. Bin Schnelleser, wissen Sie, stehe im Laufe der Zeit auf dem trockenen, wenn ich disziplinlos bin.
Fand dann ein Buch über Pitman-Stenographie. Hörte einmal aus untadeliger Quelle (Mrs. Hartman, Daddys Sekretärin und Empfangsdame), daß sie die beste wäre, unter Umständen die schnellste und vielseitigste unter verschiedenen Systemen. Auch am schwierigsten zu lernen. (Fußnote: Zugeständnis an historische Exaktheit: War auch ihr System, Quelle also vermutlich nicht ganz vorurteilsfrei.) Schien jedoch vielversprechend, bot Herausforderung und Frustration. Außerdem, Schlingenmuster sind ganz hübsch, fast Kunstform. Hoffte, es würde unterhaltend sein.
War es auch – für etwa zwei Tage. Dann beendete Gedächtnis Aufnahme von Kurzschrifttheorien, Richtlinien für Kürzel und Ausdruck, übermittelte sie ans Großhirn – Ende der Herausforderung. Ist manchmal ermüdend, ein Genie zu sein.
Jedenfalls, wenn sie auch nicht länger zur Unterhaltung als Selbstzweck diente, war sie doch nützlich und viel praktischer als Langschrift; ideal zum Tagebuchführen, zum Schreiben einer Biographie für Archäologen. Würde das wahrscheinlich nicht machen, wenn auf Langschrift beschränkt, zu langsam und lästig. Dazugehörige Anstrengungen würden Begeisterung dämpfen (die augenblicklich sowieso nur gering ist), Papiervorräte würden nicht lange halten. In Pitman paßt ganze Lebensgeschichte auf anderthalb Zeilen. (Natürlich hilfreich, daß ich nur kurzes Leben hatte – Berichtigung: hilfreich für Kürze, aber nicht für die Laune.)
Problem mit der Laune ist ernstes Problem. Körper tief unterirdisch gefangen, Gefühlsbarometer noch wesentlich niedriger. Keine guten Aussichten, Körper lebend herauszubringen, Angelegenheit wird durch Gefühlszustand jedoch nicht vereinfacht. Depression macht vernünftiges Abwägen der Möglichkeiten unwahrscheinlich. In gegenwärtigem Zustand würde ich vermutlich zehn gute Chancen übersehen und die unmöglichste Idee durchführen. Situation ist möglicherweise nicht so hoffnungslos, wie sie aussieht, aber mit fehlenden Daten, ohne nützliche Ausbildung und spezielle Kenntnissen (und Mut) kann ich keine entwicklungsfähigen Schlüsse ziehen, die ein Happy-End zuließen. Und da das fehlt, nehme ich das Schlimmste an.
Tagebuch dient also nicht nur Archäologen, sondern auch zur Therapie. Katharsis: Kotze dich aus, und fühle dich besser. Muß wahr sein – steht so im psychologischen Text. (Obwohl es trotz Warnungen besser wäre, einem Dr. phil.-Voyeur einen Wochenlohn pro Stunde fürs Zuhören zu zahlen. Zum Inventar des Schutzraums gehört jedoch ein solcher nicht, muß also auch so gehen.)
Erster Schritt: Tagebuch auf heutigen Stand bringen. Habe nie eins geführt, bin nicht geübt in formalen Anforderungen, das Richtige zu tun. Eins ist sicher: Satzstruktur wird sämtliche Englischlehrer im Grab rotieren lassen (bzw. die, die so glücklich sind, eins zu haben).
Englisch besteht zu sechzig Prozent aus Überflüssigem, aus sinnlosen Symbolen, Schrott. Vermute, massive Ineffizienz stammt von unbewußt wahrgenommener Notwendigkeit auszuweichen, um inferioren Intellekten Gelegenheit zu geben, Gedanken wenigstens äußerlich in logischen Zusammenhang zu bringen (meistens ohne Erfolg), und anzugeben (mein 12-$-Wort schlägt dein 10-$-Wort). Werde mich nicht weiter mit Vorangegangenem aufhalten, ist ziemlich sinnlos, Stenographie zu schreiben und dann den Vorteil daraus aufzugeben durch weitschweifiges Dozieren.
Werde immer wieder abgelenkt zu Gesellschaftskritik. Wahrscheinlich Symptom für Zustand. Blödsinn, alle Beweise deuten daraufhin, daß keine Gesellschaft mehr existiert.
Wollte sagen :
Erster Schritt: Tagebuch auf heutigen Stand bringen. Selbst von Neurosen und von verschiedenen Störungen befreien. Dann täglicher Bericht über regelmäßigen Fortschritt beim Studium der Lage, anschließend systematische (brillante) Selbstbefreiung aus höchster Not. Zweifacher Vorteil:
Erstens wird meine Psyche gewaschen, getrocknet, zusammengelegt und verstaut, das Gemüt zu üblichem Genie wiederhergestellt, die Aussicht auf erfolgreiches Entkommen und anschließendes Überleben gesteigert. Zweitens werde ich den Archäologen Details über die Gründe für mein vorzeitiges Ableben inmitten einer verwirrenden Masse von Gerätschaften im Schutzraum hinterlassen, sollte erster oben genannter Vorteil sich als nicht ganz so rosig erweisen. (Sorge um Knochengräber zugegeben etwas gezwungen, da in Frage kommende Knochen meine sind!)
Genug geschwafelt. Zeit, alles zu bewältigen, die Seele zum eigenen Besten zu schinden. Neurotisch zu sein ist fast so ermüdend, wie genial zu sein. (Achtung, Archäologen: Schicken Sie leicht zu beeindruckende Jugendliche und/oder gemischte Gesellschaft hinaus – es folgen brandheiße Details.)
Wurde vor elf Jahren in einer Kleinstadt in Wisconsin geboren, als einziges Kind normaler Eltern. Name: Candidia Maria Smith, abgekürzt zu Candy, noch ehe die Tinte auf der Geburtsurkunde trocken war. Früh schon Anzeichen von Atypischsein: Augen schon bei Geburt geradeaus gerichtet, Ursache-Wirkung-Assoziation offenkundig mit sechs Wochen, erste Worte mit vier Monaten, Sätze mit sechs Monaten.
Mit zehn Monaten verwaist. Eltern bei Verkehrsunfall umgekommen.
Keine Verwandten – schaffte Dilemma für Babysitter. Gelöst, als Sozialarbeiter Sorge übernahm. War schrecklich niedliches Baby: in Rekordzeit adoptiert.
Doktor Foster und seine Frau waren gute Eltern: liebevoll, aufmerksam, einander sehr zugetan und zeigten es auch. Sorgten für gute Umgebung während der prägenden Jahre. Dann starb Mama. Nur Daddy und ich übrig. Brachte uns einander sehr nahe. Wurde wahrscheinlich schamlos verwöhnt, aber auch fast erstickt.
War damals kaum fünf, wollte aber lernen, nur, daß Daddy fest umrissene Vorstellungen betreffs angemessener Lerngeschwindigkeit und Regeln für „normale“ Erziehung hatte. War von Frühreife nicht sehr angetan, hielt sie für ungesund, würde zu künftiger Fehlanpassung und Unglück führen. War auch väterlich besorgter Sexist: schlimmer Fall tief sitzender Stereotypie. Zensierte Aktivitäten, Lesen, gebot Einhalt beim leisesten Verdacht auf frühreifes Benehmen oder atypisches Interesse.
Mama war anderer Meinung: half, ließ mich gewähren. Mit ihrer Hilfe lernte ich im Alter von zwei Jahren lesen, verstand grundlegende numerische Verhältnisse mit drei, konnte addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren. War mir wertvolle Hilfe, bis sie uns verlassen mußte.
Eignete mir das meiste Wissen also heimlich an. Mußte das – war in Kleinstadtklassenzimmer natürlich nicht zugänglich. Stellte keine Schwierigkeiten dar: Entwickelte Schnellesegewohnheit, konnte Oberschultexte in zehn, zwanzig Minuten lesen, typische Bestseller in einer halben oder dreiviertel Stunde verschlingen. Suchte Schul- und lokale Büchereien bei jeder Gelegenheit heim (nur als Besucher, konnte nichts mit nach Hause nehmen). Aber Stadt war klein, zugängliche Quellen vor drei Jahren erschöpft. Habe seitdem von der mageren Ausbeute von geheimen Operationen bei Freunden und in Buchläden, von gelegentlichen Überfällen auf Büchereien in Nachbarorten und Schulen gelebt. Natürlich waren nicht alle diese Raubzüge erfolgreich: Kleinstadtbibliotheken tendieren in dieselbe Richtung, kreisen langsam um sich selbst. Angebot meist seicht, sich wiederholend, an Originalität mangelnd.
Frustrierend. Um so mehr durch das Wissen, daß Daddys Privatbibliothek ohne weiteres mit sämtlichen öffentlichen Büchereien der Stadt konkurrieren konnte (nicht eingerechnet die Schutzraum-Kollektion, von der ich damals noch nichts wußte) – und ich konnte von fünfundneunzig Prozent dessen kaum die erste Seite lesen.
Daddy war Pathologe: Bücher undurchdringlich wissenschaftlich. Gingen so weit über mein Niveau, daß ich nicht mal sagen konnte, woran es bei mir fehlte. (Fragen Sie mal einen Kannibalen, der gerade frisch vom Amazonas eingeflogen wurde, nach der Analyse von Ausbildungsmängeln, die das Nichtverständnis für Strukturen im Bankwesen verursachen.) Texte hochkomprimiert, gedacht für Leser mit bereits hochklassigen Fähigkeiten. Trauriger Mangel derselben in eigenem Fall: Ergebnis einer Verschwörung. Schmachtete also dahin, tropfenweise genährt, unermüdlich nach neuen, zugänglichen Quellen forschend.
Einzige strahlende Ausnahme: Soo Kim McDivott, Sohn eines amerikanischen Missionars zur Zeit des Boxeraufstandes, Produkt früher Ost-West-Allianz. Ging mit dreiundsiebzig in Rente, zog vor zwei Jahren ins Nachbarhaus. War anscheinend sein ganzes Leben lang Lehrer gewesen, ohne je Besitz zu erwerben, lief Gefahr, wegen seiner Ansichten entlassen zu werden. Schien ihn nicht zu stören.
Seltsamer alter Mann. Freundlich, mit leiser Stimme, sehr höflich, fast zerbrechlich. Orientalische Düfte verliehen seinen runzligen Zügen etwas Koboldartiges, Effekt wurde auch nicht durch ein unheilvolles Glitzern in den Augen verringert.
Wurde binnen zwei Wochen für die meisten in der Stadt zum Mittelpunkt jugendlicher Aktivitäten. Kann zwar nicht für das Gros der Kinder sprechen, aber Motivation in meinem Fall offensichtlich. Besaß sehr viel menschliche Wärme und wußte alles – und wenn er ausnahmsweise einmal etwas nicht wußte, ließ er fröhlich alles stehen und liegen und half, es herauszufinden –, und er hatte Bücher. Sein Haus war zweifellos eine einzige Verletzung der Feuerbestimmungen, habe mich oft gefragt, wie die Balken die Last tragen konnten.
Faszinierender alter Mann: Konnte und wollte über alles diskutieren. Wunderte mich manchmal, wie er sich als Lehrer behauptet hatte, beantwortete Fragen immer mit Gegenfragen. Kam mir so vor, als ob es jedesmal, wenn ich eine Frage hatte, damit endete, daß ich selbst nachschlug und ihm antwortete. Brauchte eine Weile, um es zu bemerken, und noch länger, um es richtig schätzen zu können: hatte kein Interesse daran, Wissen und Fakten zu vermitteln, lehrte zu lernen. Unterschied ist wichtig, wird selten verstanden, noch seltener richtig gewürdigt. Zweifelte nicht daran, daß dies Ursache für seine niedrige Rente war.
Oh, hätte fast vergessen: Konnte mit einem Handkantenschlag Ziegelsteine zerbrechen, ungeahnte Zerstörung anrichten, nur durch Muskelanspannung. Eines jeden Muskels. Hatte Zehnten Karategürtel. Wußte nicht, daß es einen solchen überhaupt gab, dachte immer, es hörte bei acht auf – und Gerüchten zufolge konnte man schon damit über das Wasser gehen. (Glaube aber nicht, daß Meister Mac sich darum Gedanken machte. Sollte Bedarf bestehen, würde er das Wasser höflich bitten, sich zu teilen, aber wahrscheinlich würde diese Bitte bereits vorweggenommen und wäre damit überflüssig.)
Am zweiten Tag nach seinem Einzug schlenderte der Meister die Hauptstraße entlang und traf auf vier junge Männer, Anfang Zwanzig, betrunken, schlampig – Feriengäste (Verzeihung – mein einziges unausrottbares Vorurteil) –, die sich in Millers Drugstore in Selbstdarstellung übten. Aktivitäten bestanden daraus, Möbel und Regale umzustürzen, Behälter mit Soda-Zutaten (Milch, Sirup etc.) auf den Boden zu werfen, Waren durchs Schaufenster zu schleudern. Überlegten, ob sie auch Mr. Miller werfen sollten, als Meister Mac auf der Bildfläche erschien. Schätzte die Situation ein, bat sie höflich, aufzuhören und das Eintreffen der Ordnungskräfte abzuwarten. Ungläubige Zuschauer wandten die Augen ab oder schlossen sie, wollten das zu erwartende Blutbad nicht mit ansehen. Die Fiesen Vier ließen Mr. Miller fallen und näherten sich dem zerbrechlich wirkenden alten Chinesen. Dann fielen sie alle hin, mit anschließenden Schwierigkeiten, wieder aufzustehen. Situation blieb unverändert, bis die Polizei eintraf.
Die vier wurden in Gewahrsam genommen, dann ins Krankenhaus gebracht. Versuch einer Untersuchung des Streits war undankbar. Zu viele Augenzeugenberichte – alle widersprüchlich, unglaubwürdig, unwahrscheinlich. Sich wiederholende Äußerungen in den Aussagen ließen jedoch auf ein gleichzeitiges Stolpern schließen, als die Fiesen nach dem Meister griffen, dann fielen sie alle und trugen einige ernste Verletzungen davon: vier Kiefer, zwei Arme, zwei Beine, zwei Handgelenke gebrochen, zwei Hüften ausgerenkt, zwei Muskelrisse. Plus Prellungen an erstaunlichen Körperteilen.
Einzige übereinstimmende Aussage – von jedem: Meister Mac hatte sich um keinen Zentimeter bewegt.
Polizei machte in sichtlich gespanntem Schweigen Notizen. Nahmen auch Aussage von Meister Mac auf. War allerdings von zweifelhaftem Wert: bestand hauptsächlich aus Fragen.
Eine Woche später kündigte der YMCA{*} an, daß Meister Mac Karatekurse geben würde. Endete fast mit Aufstand (für Kleinstadtverhältnisse). Stehplätze nur nach Anmeldung, beinahe Faustkämpfe um Position auf der Warteliste.
War sechzehnter auf der Liste für Anfängerklasse, kann aber kaum Lob dafür beanspruchen: war Daddys Verdienst. Wollte unbedingt – angesichts soziologischer Trends schien Kunst der Selbstverteidigung mehr denn je erforderliche soziale Fähigkeit für zukünftiges Überleben –, zögerte aber, das Thema anzuschneiden, da es möglicherweise Konflikte mit der Maxime der „normalen Erziehung“ beinhaltete.
Fragte schließlich doch. Überraschung! Sagte ja – gab die Erlaubnis! War noch ganz erschüttert, als Daddy nach Zeit und Ort der Einschreibung fragte. Zeigte ihm den Zeitungsartikel. Morgen mittag. Dachte vielleicht fünf Sekunden nach, rannte dann mit mir nach draußen, die Straße hinunter zum YMCA. Vor uns waren schon fünfzehn andere da, ausgestattet für eine lange Wartezeit.
Daddy war vertraut wie ein alter Pantoffel: warm, gemütlich, gesellig. Hatte aber auch einiges von einem Eisberg: neun Zehntel seines Verstandes im Alltagsleben nicht erkennbar. Wußte natürlich, daß er sehr klug war. Ergab sich aus seinem Job. Pathologe kennt alles, was andere Spezialisten wissen, und dazu noch seine eigene Arbeit. Sicherlich keine Laufbahn für einen Kretin – und er war ein guter Pathologe. Berühmt.
Aber kein Angeber, konnte man also leicht vergessen. Hinweise darauf gab es nur selten, in größeren Abständen. Geistesgegenwart, Voraussicht, rasche Reaktionen, Organisationstalent wurden nur demonstriert, wenn nötig.
So wie jetzt. Während ich staunend in der Schlange stand (und hinter mir wie Dominosteine noch weitere zwanzig Hoffnungsvolle), verständigte er Freunde, die Stühle, Luftmatratzen, Essen, Getränke, warme Kleidung, Wolldecken, Regenzeug usw. bringen sollten. Kostete ihn drei Minuten am Telefon. War beeindruckt. Dann überrascht – verbrachte die ganze Nacht mit mir auf dem Bürgersteig, teilte Wachen ein, begleitete jemanden aufs Örtchen, wenn erforderlich.
Erstickte fast, als er mir seine Absicht erklärte. Fiel ihm atemlos um den Hals, sagte ihm, das Schicksal hätte mich mit einem besseren Vater versorgt als bei den meisten Ergebnissen genetischer Verbindungen üblich. Gab keine Antwort, umarmte mich aber ebenfalls fester als sonst, konnte in seinen Augenwinkeln ein besonderes Funkeln im Licht der Straßenlaternen erkennen. Besondere Nacht, voller Wärme und Gefühlen des Zusammengehörens und Beieinanderseins.
Nach Daddys wundervoller Leistung, seinem Bemühen, mich in dem Kurs unterzubringen, hatte ich leichte Schuldgefühle wegen meiner anschließenden Irreführung, des Verheimlichens meiner wahren Motive. Sicher, ich besuchte den Kurs, arbeitete hart und wurde tatsächlich zum Meisterschüler. Aber das mußte sein – Meisterschüler qualifizierten sich für Privatunterricht bei – juchhe! – dem Meister zu Hause, umgeben von anscheinend fünfundneunzig Prozent aller Bücher der Welt.
Verdiente mir meinen Weg allerdings auch. Wandte große Mühe darauf, bevorzugten Status zu bewahren, erreichte innerhalb von zehn Monaten den Schwarzen Gürtel, Landesmeisterschaft (in entsprechender Alters-/Gewichtsgruppe) sechs Monate später. Wurde für möglichen späteren Bundes-, vielleicht sogar Weltchampion gehalten. Machte mir Spaß, viel Vergnügen. Körperliches Training, offensichtlicher praktischer Wert (fragen Sie die Fiesen Vier), war gut für mein Ego wegen der Schmeicheleien über immer länger werdende Reihe von Erfolgen, Erringen des Bundes-Freundschafts-Pokals (ironisch-falsche Bezeichnung: „Tötete“ sieben Gegner, „verstümmelte“ zweiundzwanzig weitere für den Rest ihres Lebens).
Aber rein zufällig nicht vom eigentlichen Ziel abgelenkt: Mit Hilfe des Meisters (genannt Lehrer oder dojo) hatte ich das Äquivalent einer fortgeschrittenen Highschool-Ausbildung verschlungen, einiges an College-Wissen bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Welt unterging. Mathematik bis zur Differentialrechnung, Chemie, Grundkenntnisse in Physik, gute Grundlage in College-Biologie und Bio-Wissenschaften – und machte meine Sache gut.
Hin und wieder stellte ich fest, daß Lehrer mich betrachtete wie eine Henne, die sich über ein Schwanenei im Nest wundert, während er Eintragungen in die „Akte Tarzan“ machte (ungelöstes Rätsel: riesige Akte, nie Erklärungen darüber, betraf mich teilweise, da Fortschritte regelmäßig Eintragungen nach sich zogen, war aber schon etwa neunzig Zentimeter dick, als ich auf der Bildfläche erschien), wurde aber bestimmt anerkannt – und seine Anerkennung war für mein Ego wertvoller als ein Landespokal.
Hatte diesbezüglich zu dieser Zeit den Fünften Grad erreicht, konnte einen Ziegelstein mit Handkante, Knie oder Fuß zerbrechen. Tat es aber nie, nachdem ich wußte, daß ich es konnte. Diese Aussicht bedrückte Daddy. Der Arme konnte sich mit professioneller Exaktheit bildlich vorstellen, wie die Krankheitsfolgen nach dem Versuch eines Untrainierten aussahen, wußte genau, wie jeder Knochensplitter aussehen würde, wo sie gebrochen sein würden, welche Sehnen wo zerrissen sein, welche Nerven für immer zerstört sein würden etc. Hing wehmütig seinen Ambitionen nach, ich möchte doch auch in die Medizin gehen, sah Aussichten für Bewerber mit deformierten, gefühllosen Hämmern, die am Handgelenk baumeln, sehr düster.
Unnötige Sorge, Gefühllosigkeit vermeidbar. Unter richtiger Kontrolle erteilt der Körper einen Schlag mit normalen Händen ohne Schmerzen oder Verletzungen. Natürlich besteht die Möglichkeit, die Natur bis zu dem Punkt zu mißbrauchen, an dem Finger, Knöchel, Handkante etc. hart wie Stein sind; habe ich aber außer auf Ausstellungen noch nie gesehen. Dient keinem Zweck bei Ausübung der Kunst, wird von ernsthaften Schülern wie vom Meister mit Verachtung betrachtet.
So viel zu glücklichen Erinnerungen.
Vor nicht allzulanger Zeit wendete sich die Situation der Welt zum Schlechten. Den Charakter der üblichen Schlagzeilen in Betracht ziehend, als die Veränderung begann, wurden die Aussichten absolut grauenhaft. Daddy versuchte, seine Besorgnis zu verbergen, verbrachte aber Stunden damit, Berichte aus Washington zu lesen (erkannte zum erstenmal, wie berühmt er war, als ich sah, von wem), Fernsehnachrichten zu sehen, und sich mit verschiedenen in- und ausländischen Beamten zu beraten. Machte immer noch fröhlichen Eindruck, aber wenn er dachte, ich würde nicht hinsehen, fiel die Maske ab.
Schließlich rief er mich in sein Arbeitszimmer. Mußte mich setzen, hielt mir einen langen, ernsten Vortrag darüber, wie schlimm die Dinge standen. Mußte ihn durchs Haus führen, ihm den Eingang zur Notrutsche zeigen, die zum Schutzraum hinunterführt. (Schreckliche Sache – 200 Fuß senkrecht in schwarzes Loch zu fallen, am Boden nur aufgefangen durch eine allmähliche Kurve, während glänzende Flügeltüren zur Seite schwingen und den Eingang zum Schutzraum freigeben.) Dann bestand er darauf, daß wir uns zur Übung hineinstürzen sollten. Obwohl mir diese „Übung“ allenfalls für eine psychische Blockierung geeignet schien, die eine spätere Benutzung – selbst im Notfall – unmöglich machen würde, erfüllte ich seine Bitte. War nicht so schlimm wie erwartet, Schreckensgrenze sank gegenüber vorher um vielleicht fünf Prozent. Trotzdem kein Vergnügen.
War jedenfalls zum erstenmal, seit ich drei war, im Schutzraum. Dortige Attraktionen lenkten sofort von vorübergehendem Herzstillstand ab, der während der Abfahrt entstanden war. Hinter dem bescheidenen Äußeren eines Kleinstadthauses eines zurückhaltenden Doktors verbarg sich das achte Weltwunder. Schutzraum ist dreistöckiges, aus dem Erdreich gegrabenes Gebäude, 35 mal 15 Meter Bodenfläche, zu fünf Achteln Regale und Lagerräume. Habe sofort Mikrofilmsichtgerät entdeckt, baugleich mit dem des großen Krankenhauses im angrenzenden Bezirk. Sah gleichfalls sofort die Filmlager und Aktenschränke, die zwei lange Wände einnahmen, außerdem gab es noch vier frei stehende Regale, die fast so lang waren wie der Raum. Den übrigen Platz nahmen Bücherregale ein, ebenso wie den größten Teil des zweiten Stockwerkes. Im Erdgeschoß schienen hauptsächlich Werkzeuge, Maschinen und Instrumente zu sein.
Hörte bei Vorlesung über ‚Lebenserhaltende Funktionen’ kaum zu: Luftgenerator, Abfallbeseitigung, Energieversorgung etc. Konnte nur aufmerksam aussehen – Bücher zogen mich an wie Magnete. Brachte es jedoch fertig, stillzuhalten und soweit aufzupassen, daß ich intelligent klingende Fragen stellen konnte. Lernte dabei sogar Grundkenntnisse über die Funktion der Lebenserhaltungssysteme des Schutzraums.
… Weil mir in den Sinn kam: Konnte ungestört hier unten lesen, wenn ich wußte, wie man es sich bequem machen konnte. (Schäme mich aber auch darüber. Daddy schuftet sich zu Tode, um mein Überleben im Falle eines Falles zu sichern, und Gegenstand seiner Sorge plant ständig egoistische Jagd auf Gedrucktes.)
Ende der Vorlesung und Besichtigung. Endlose Wendeltreppe aufwärts in eine Röhre von fünf Fuß Durchmesser führte zurück in die gemütliche Welt der Kleinstadtwirklichkeit. Leben wurde wieder aufgenommen, wo es unterbrochen worden war.
Mit einer Ausnahme: Wartete jetzt auf passende Gelegenheit, Schutzraum zu erforschen.
War nicht ohne weiteres durchführbar. Hatte Fünften Grad und war qualifizierter Hilfslehrer für reguläre Kurse. Erforderte einen beträchtlichen Zeitaufwand. Großteil der restlichen Zeit war eigenen Studien gewidmet – sowohl der Kunst (wollte Sechsten Grad erreichen, wäre der jüngste Inhaber der Welt gewesen) als auch der Wissenschaft, beides unter den beifälligen Blicken des Meisters. Dazu die sinnlose Zeit, die ich damit verbrachte, auf einem Platz in der Klasse der Oberschule zu sitzen und dabei zu versuchen, nicht allzu gelang weilt auszusehen, während ich trotzdem ständig die besten Noten bekam (einziges Vergnügen bestand darin, Lehrer und Lehrbücher zu korrigieren, führte gewöhnlich zu Beweisführung und Gegenüberstellung beim Direktor). Dazu noch verschiedene Aktivitäten, um das Image einer „normal interessierten“ Elfjährigen aufrechtzuerhalten.
Geduld wird jedoch immer belohnt. Wenn von ausreichender Dauer. Daddy wurde nach Washington gerufen, sah ein, daß ich alt genug war, um während seiner dreitägigen Abwesenheit auf mich, das Haus und Terry aufzupassen.
Brachte es fertig, bei der Aussicht nicht völlig aus dem Häuschen zu geraten.
Terry? Richtig, hatte ihn noch nicht mit Namen erwähnt, nur daß ich die Verantwortung trage. Erinnern Sie sich? Erste Seite, vierter Absatz. Passen Sie auf – vielleicht wird noch ein Quiz daraus.
Terry ist mein zurückgebliebener, angenommener Zwillingsbruder. Erblickte Licht der Welt in demselben Moment wie ich – bzw. hätte es, wenn seine Augen offen gewesen wären. War schon früh vielversprechender als ich. Konnte mit neun Wochen laufen, mit drei Monaten die ersten Wörter sprechen und mit vierzehn Wochen fliegen. Beherrschte mit sechs Monaten recht komplexe Ausdrücke, lernte jedoch nie vollständige Sätze. Erreichte seine Spitzenleistung zwar früh, aber nur niedriges Niveau.
Beschreibung nicht fair. Terry ist wirklich brillant – für einen Sittich. Auch schön. Hyazinthinen-Sittich, Normalbürgern bekannt als Hyazinth, Pseudo-Intellektuellen als Anodorhynchus hyacinthinus – schrecklich, einen süßen, kleinen Vogel so zu nennen. Voller Name Terry D. Foster (D für Daktylus). Länge vielleicht neunzig Zentimeter (die Hälfte davon Schwanzfedern), Grundfarbe ein leuchtendes Hyazinthblau (im Sonnenlicht Stahlblau), mit hellgelben Augenflecken wie ein Clown, Füße und Schnabel schwarz. Gesichtsausdruck: ein ständiges fröhliches Alfred-E.-Neumann-Dorftrottelgrinsen. Zur Kost gehört alles, was erreichbar ist, am liebsten jedoch eine sorgfältige Samenmischung, verschiedene Früchte, Nüsse, ein wenig Fleisch etc.
Hobbies: Kopf und Nacken kraulen lassen (ernsthafte Angelegenheit), gewisse Art von Unterhaltung, Zerstörung der Umwelt. Talent für letztere Beschäftigung wahrlich furchteinflößend: Großer Hakenschnabel kann mit einer Wucht von 1500 Pfund zuschlagen. Glaube fest daran, daß man Terry mit einem Würfel von zehn Zentimeter Kantenlänge aus massivem Wolframkarbid allein lassen und nach zwei Stunden zurückkehren kann, um nur noch eine entsprechende Menge Metallstaub sowie ungebrochene Begeisterung seinerseits vorzufinden.
War wirklich davon überzeugt, daß wir Geschwister wären, als ich noch sehr jung war. Erstes tiefes Kindheitstrauma (nicht hervorgerufen durch den Verlust der leiblichen Eltern, war damals zu jung, um mich herum gingen zu viele interessante Dinge vor) entstand durch die Erkenntnis, daß ich falsch gebaut war, würde niemals fliegen lernen. Hatte verbissen gelernt, auf Sitzstange meines Spielkameraden zu hocken, kurz nachdem ich anfing zu laufen (obwohl ich nie so weit kam, die lässige, einbeinige Sitzposition zu bevorzugen, die mein Zwilling liebte – Zehen waren zu deformiert, verkümmert, zu kurz für festen Zugriff), aber der nächste Schritt lag einfach außerhalb meiner Möglichkeiten.
Vermute, diese Phase meiner Jugend war mitverantwortlich für das Auftreten der Symptome, die zum frühen Hinscheiden von Mama Foster führten. Erinnere mich deutlich an das erstemal, als sie hereinkam und uns zusammen auf der Sitzstange hocken sah, heftig die „Flügel“ ausprobierend. Rückblickend ist es eigentlich verwunderlich, daß sie nicht auf der Stelle starb.
(Klingt kalt, gefühllos, ist es aber nicht. Mama merkte schon lange vorher die Anzeichen, wußte fast auf den Tag, wann sie uns wohl verlassen mußte. Bereitete mich mit Klugheit, Verständnis und Liebe darauf vor. Betrachtete ihren Weggang als unvermeidliche, aber wunderbare Gelegenheit, als Abenteuer, sagte, sie sei bereit, vernünftiges Bedauern über verdorbene Pläne und ungetane Dinge zu akzeptieren, sogar zu entschuldigen, aber keinen Kummer. Verglich Kummer über den Tod eines Freundes mit Neid auf das Glück des Freundes, betrachtete ihn als egoistische Reaktion, sagte, man trauere um sich selbst, nicht um den Freund. Verglich eigenen Fortgang mit wunderbarer Reise; „verdorbene Pläne“ mit der Beendigung von Streitigkeiten über Kino, Picknick oder Schwimmen im See. Außerdem übertrug sie mir große Verantwortung: Gab mir den Auftrag, „auf Daddy aufzupassen“. Erklärte mir, daß er viele ausgearbeitete Pläne für uns drei hatte, viel mehr, als sie oder ich hatten. Würde wesentlich enttäuschter sein, mehr Bedauern darüber verspüren als ich, daß er sie nicht mehr ausführen konnte. Würde Liebe brauchen, Verständnis für die Zeit, die er brauchte, um die Pläne für uns zwei Hinterbliebene umzuändern. Sie bearbeitete mich so gut, daß ich wirklich nicht unter dem Verlust litt und trauerte, vermißte sie nur, als sie fort war, und hoffte, daß es ihr gutging.)
Am Morgen von Daddys Reise wachte ich mit erstaunlichen Gedanken auf – wollte nicht, daß er ging. Mochte den Gedanken, drei Tage allein zu bleiben, nicht, mochte aber auch den Gedanken nicht, daß er drei Tage allein sein sollte. Lag im Bett und versuchte, dieses beunruhigende Gefühl loszuwerden. Oder wenigstens zu identifizieren. Konnte weder das eine noch das andere, hatte noch nie solche Ahnungen gehabt. Unbestimmtes Gefühl, unterhalb des Bewußtseinspegels, aber eindringlich. Noch vervielfältigt durch einen realen Faktor, konnte man es fälschlicherweise für Angst halten, nein, genaugenommen nicht Angst, eher für ein gesichtsloses, schreiendes Entsetzen.
War jedoch reine Dummheit, gab nichts, wovor man sich fürchten mußte. Mrs. Hartmann konnte tagsüber in dem Büro im Vorderhaus arbeiten, Haus wurde nachts verschlossen, mit der zusätzlichen Sicherheit, die einige gewiß nicht kleinstädtische Geräte boten, die Daddy kürzlich hatte einbauen lassen. Dazu gute Nachbarn auf allen Seiten, die über das Telefon am Bett oder einen einzigen lauten Schrei erreichbar waren.
Außerdem, war ich nicht Candy Smith-Foster, Landesmeister, der Fluch des Kurses für die bis zu Zwölfjährigen, die zweitgefährlichste Sterbliche innerhalb eines Kreises mit dem Radius von etwa 350 km? (Kannte jetzt auch Einzelheiten über das „Stolpern“ der Fiesen Vier und zweifelte daran, ob sie so glimpflich davongekommen wären, wenn ich dazwischengegangen wäre.)
Doch, ich war. Befahl meinem Gefühl also zu verschwinden. Wusch mich, zog mich an, ging hinunter, um mit Daddy zu frühstücken.
Verhalten beim Abschied bewundernswert, Vorstellung reif für die Endrunde eines Wettbewerbs mit dem Titel: „Das unbewegteste Gesicht des Jahres“. Lediglich eine Umarmung, ein Kuß, meine Bitte an ihn, in der Hauptstadt nicht in Schwierigkeiten zu geraten, und wenn doch, mich schnellstens anzurufen, würde dann kommen, um ihn zu retten: Würde Schädel zertrümmern, Knochen brechen, mögliche Gegner fürchterlich niedermachen. Gefühlsduselei wurde erwidert mit inniger Umarmung, einer gleichlautenden Warnung für mich während seiner Abwesenheit (allerdings etwas würdevoller geäußert).
Dann schloß sich die Tür der regierungseigenen, chauffeurgesteuerten, polizeieskortierten Limousine hinter ihm, der Wagen trat den langen, dunklen Weg die Straße hinunter an und verschwand um die Ecke.
Verbrachte den Vormittag in der Schule, unterrichtete am Nachmittag im YMCA, hatte anschließend selbst Unterricht beim Meister. Kam schließlich nach Hause, das jetzt bis auf Terry (der seine Mißbilligung darüber, den ganzen Tag allein gelassen worden zu sein, lauthals äußerte) verlassen war: Mrs. Hartmann hatte ihre Arbeit für heute beendet, war nach Hause gegangen. Beruhigte Zwilling, indem ich ihm den Kopf kraulte, setzte ihn auf meine Schulter (liebte es, bei Hausarbeiten zu helfen, aber Einwilligung dazu bedeutet dreimal mehr Arbeit, als alles alleine zu erledigen – erfordert Arbeiten auf Armeslänge Entfernung, außerhalb seiner Reichweite).
Machte Abendessen, aß, gab Terry einen ganzen Teelöffel voll Erdnußbutter als Entschädigung für langweiligen Tag. (Drückte seine Zustimmung aus, indem er zwei Dellen in den Löffel biß.) Wusch das Geschirr ab, putzte ziellos im Haus herum und fing wieder von vorne an.
Stellte schließlich fest, daß ich so herumzappelte und mich ständig beschäftigte aus Angst davor, mir einzugestehen, daß ich wirklich allein zu Hause war und eine echte Gelegenheit hatte, ungehindert den Schutzraum zu erforschen. Stand vor Konflikt: entschied, daß er in Schuldgefühlen wurzelte, weil ich aus Daddys Abwesenheit Vorteil ziehen und seine mir bekannten Wünsche übertreten wollte. Sagte mir auch, daß Analyse der Schuldgefühle dasselbe wäre wie ihre Ausmerzung. Glaubte mir sogar fast.
Stand ungeduldig auf, bewegte mich auf Tür zum Erdgeschoß zu. Terry verstand die Anzeichen, fing an, bei der Aussicht auf abendliches Alleinsein zu protestieren. Seufzte, ging zurück, hob ihn auf meine Schulter. Bruder rieb dankbar seinen Kopf an meiner Wange, biß mich leicht in die Nase und sagte mehrmals in erleichtertem Tonfall: „Bist du aber böse.“ Verschlug mir die Sprache, Erdnußbutteratem von einem Vogel ist eine selten zu erfahrene Behandlung.
Stieg die lange Wendeltreppe durch die Röhre hinab zum Schutzraum. Schaltete Energieversorgung ein, aktivierte die Systeme. Anschließend begann die Erforschung.
Ging langsam voran. Terry war zum erstenmal hier unten, fand es unterhaltsam. Sagte alle zehn Sekunden: „Was sagste dazu!“ Reckte den Hals, nickte mit dem Kopf und drückte seinen dringenden Wunsch aus, jedes Buch, das ich aus dem Regal zog, zu probieren. Warnte ihn eindringlich vor einer nur kurzen Zukunft als Geflügelgericht, wenn er auch nur eine Seite anrührte. Hielt diese Aussicht wohl für verlockend und verdoppelte seine Anstrengungen. War jedoch an das antisoziale Benehmen meines schwachsinnigen Zwillings gewöhnt, verdarb ihm den Spaß fast automatisch, während ich mit meiner Untersuchung fortfuhr.
Stellte bald fest, daß zielloses Herumsuchen zwecklos war, befand mich in der gleichen Lage wie ein hungriges Kind, das sich in einer Schokoladenfabrik wiederfindet: Hatte die Qual der Wahl. Beispiel: ganzer Aktenschrank neben Mikrofilmlesegerät war Katalog!
War 1 Meter breit, etwa 2,5 Meter hoch, jede Schublade knapp 1 Meter tief und 15 Zentimeter breit (in Sechserreihen nebeneinander), auf jeder Karteikarte zehn Titel (und es waren dünne Karten!) – ergaben zusammen fast 2 m3 nur Katalog.
Anblick verschlug mir den Atem. Deprimierte mich aber auch, Wahrscheinlichkeit für die Erstellung eines sinnvollen Planes für weitere Ausbildung war gering. Wußte nicht, wo ich anfangen sollte, welche Bücher oder Filme meinen gegenwärtigen Fähigkeiten entsprachen, wie ich vorgehen sollte. Das einzige, was noch verdrießlicher ist, als ein unterdrücktes Genie zu sein, ist, ein unwissendes Genie zu sein und dies zu erkennen.
Beschloß, Lehrer zu fragen, zu versuchen, ihn dazu zu überreden, eine Liste von Büchern zu erstellen, die er für besonders geeignet hielt für möglichst rasche Weiterbildung von meinem jetzigen Stand her, ohne Rücksicht auf die Kosten. (Zog Daddys Ambitionen, mich Mediziner werden zu sehen, in Betracht, aber ungeachtet dessen war keine Ausbildung verschwendet, Wissen ist um seiner selbst willen lohnenswert.) Fand, daß ich meine Entdeckung nicht verraten sollte – wäre Vertrauensbruch –, sondern indirekte Annäherung vorzuziehen sei. Wollte nicht lügen, sondern einfach nicht erwähnen, daß jedes vorgeschlagene Buch zweifelsohne im Nu erreichbar wäre. Sollte ihn wenigstens kurzfristig täuschen.
Ging zum Schaltbrett, um Energieversorgung des Schutzraums abzustellen. Berührte gerade den ersten Schalter, als eine Reihe roter Lichter anfing zu flackern und drei große Glocken an der Wand neben der Schalttafel ein ohrenbetäubendes Geläut anfingen. Zuckte zurück, als hätte ich eine heiße Herdplatte berührt, dachte, ich hätte die Alarmanlage aktiviert (wenn von Gedanken in diesem Augenblick überhaupt die Rede sein konnte). Fieberhafte Untersuchung ergab keinerlei Hinweis darauf, fand jedoch einen Schalter mit der Aufschrift: „Alarmglocken – US Luftwaffe in Bereitschaft.“ Legte rasch den Schalter um, stellte erleichtert fest, daß das Getöse abbrach, aber die Lämpchen flackerten weiter. Dann, während ich zusah, begann die zweite Reihe mit der Aufschrift „Angriff gemeldet“ zu flackern.
Problem dabei, ein Genie zu sein, ist die Neigung, immer gründlich nachzudenken, über verborgene Bedeutungen nachzugrübeln und das Offensichtliche zu übersehen. Fing Terry wieder ein (der wie üblich beim ersten lauten Ton hilfesuchend geflohen war), kraulte seinen Kopf, um meine Nerven zu beruhigen. Zwilling wiederholte mehrmals: „Oh, wie schlimm!“, grub mir seine Klauen in die Schulter, schlug mit den Flügeln, um zu zeigen, daß er sich wirklich gefürchtet hatte. Bat ihn, ruhig zu sein und den Schnabel zu halten, wollte über die Bedeutung der Schalttafel nachdenken.
Beeindruckend. Daddy mußte wirklich eine sehr bedeutende Persönlichkeit sein, um in seinem Schutzraum mit solch vertraulichen Daten versorgt zu werden. Bei dieser Überlegung leuchtete eine weitere Reihe auf, die beschriftet war: „Vergeltungsmaßnahmen eingeleitet“. Sich vorzustellen – Informationen und Daten eines nuklearen Schlagabtausches ins eigene Haus geliefert zu bekommen! Wunderbar, so wichtig zu sein. Erstaunlicher Mann. Und so bescheiden – hatte sich in all diesen Jahren nichts anmerken lassen. Fragte mich nach seiner wirklichen Funktion in der Regierung. Mit einem solchen Hirn war er wahrscheinlich der Chef einer supergeheimen Spionageabwehr mit Dutzenden von James-Bond-Typen unter sich.
Weiß nicht, wie lange diese sinnlose Grübelei andauerte, aber schließlich klickte etwas in meinem Kopf: Angriff? Vergeltung? Heh …! Stürzte zur Treppe. Terry schlug seine Klauen in mich und erhob Protest über die plötzliche Bewegung.
Blieb stehen wie vom Blitz getroffen. Daddys Stimme, blechern, anscheinend vom Tonband: „Alarmstufe Rot. Radioaktive Strahlung festgestellt. Wert über der Gefahrengrenze. Schutzraum schließt sich in dreißig Sekunden – 29, 28, 27 …“ Stand wie erstarrt, hörte zu, als ob die so vertraute Stimme ein Requiem sprach für alles, was ich kannte und liebte, vermutlich mich selbst eingeschlossen. Zählung wurde einmal bei 15 Sekunden unterbrochen, um Strahlungswarnung zu wiederholen, erneut bei 5 Sekunden.
Dann ertönte ein tiefes Summen, starke Motoren schoben Blöcke von Beton, Stahl, Asbest auf das obere Ende der Treppe, ebenso auf den Notrutscheneingang. Der Verschließungsprozeß endete mit dröhnendem metallischem Geklirr und Getöse. Motoren jaulten in momentaner Überlastung auf, als die Anlage sicherstellte, daß alles dicht war.
Dann war ich wirklich allein. Stand da und starrte minutenlang vor mich hin. Wußte nicht, wann ich anfing, leise zu weinen, bemerkte nur, daß mein Gesicht naß war, als Terry an mir herumprobierte und es zu salzig fand. Schüttelte den Kopf, sagte leise: „Aarme Kleiine …“
Fand mich auf einmal in einem Sessel sitzend wieder. Das Radio war an, konnte mich aber nicht erinnern, es eingeschaltet und die CoNELRAD-Frequenz eingestellt zu haben. Saß einfach da und hörte den Berichten zu. Rührte mich nur, um Terry zu füttern und zu tränken und aufs Klo zu gehen. Radiostation sendete noch immer, war aber nur in den ersten drei Tagen besetzt.
Reichten aus, um die Geschichte zu erzählen: Menschheit ausgelöscht. Radioaktivität, von Menschenhand geschaffene Krankheit. Internationaler Schlagabtausch endete unentschieden.
Der letzte Sprecher im Radio beklagte schwächer werdend die Situation, was aber keinen Sinn ergab: Sprach vom Verteidigungshauptquartier in der Nähe von Denver aus, das tief unterirdisch angelegt war, absolut bombensicher, luftdicht, Luft und Wasser regenerierten sich selbsttätig – warum starb er also? Warum war er der letzte Überlebende der gesamten Anlage? Ergab keinen Sinn …
Dachte jedenfalls, Einwand sei zu eng begrenzt. Wunderte mich auch, warum wir noch lebten. Ergab ebenfalls keinen Sinn.
Wenn sich die Unzerstörbarkeit des US-Luftwaffen-Hauptquartiers – das sich nicht weit von hier im Innern der Erde unter dem Cheyenne-Gebirge befand – als Legende erwies, wie konnte dann ein seltsames Kellerloch unter einem Kleinstadthaus seine Insassen noch immer am Leben erhalten? Und für wie lange? Vermutete, daß es nur eine Frage der Zeit war.
Sorge über das Schicksal meines zurückgebliebenen Bruders nagte deshalb an mir. War vor Strahlung geschützt (schien wenigstens so), aber die Seuche war eine andere Sache. Glaubte nicht, daß sie die Biochemie von Vögeln beeinflussen würde – würde mich jedoch töten und den armen Kleinen zurücklassen, der verhungern und verdursten müßte. Brütete tagelang über diesem Dilemma. Stieg schließlich die Treppe hinab in der Hoffnung, etwas zu entdecken, was sich als Terrys letzter Freund erweisen konnte.
Fand auch etwas. Und zwar Waffen. Der Gedanke daran, was ich möglicherweise tun mußte, ließ mich fast erstarren, wußte jedoch, daß es von mir abhing, ob Zwilling Leiden erspart blieb. Ging also mechanisch daran, mir ein Gewehr auszusuchen. Fand Munition, lud die Waffe. Nahm sie mit nach oben und legte sie auf den Tisch. Wartete dann auf mein Stichwort.
Kannte die Symptome, verschiedene CoNELRAD-Ansager hatten ihre eigenen und die von Freunden beschrieben. Zum Syndrom gehörten sechs. Reihenfolge, in der sie auftraten, schien variabel zu sein, nicht jedoch ihre Anzahl beim Eintritt in die letzte Bewußtlosigkeit. Vier Symptome waren immer da, dann das fünfte: Zeitraum extremer Benommenheit – Anhaltspunkt für Beginn des letzten Verfalls. War wichtig, kritischen Zeitpunkt in bezug auf Terry genau abzupassen. Fürchtete verzweifelt, ich könnte zu lange warten und den armen, unfähigen Vogel zu einem Todeskampf in seinen letzten Tagen verdammen. Hatte fast noch mehr Angst davor, die Euthanasie zu früh durchzuführen und den zerschmetterten, blutbespritzten, kopflosen Körper des liebsten, fröhlichsten, treusten, bedingungslos liebenden Freundes vor Augen zu haben, den ich jemals hatte.
Das war die Aussicht, wenn ich zu früh handelte – hatte vor, in einer Entfernung von etwa sechs Metern zu stehen, ihm den Kopf wegzublasen, während er ganz versunken in Erdnußbutter war. Durchschlagskraft der Kugel bei dieser Entfernung war ausreichend, um praktisch sofortige Auflösung des ganzen Kopfes sowie einen unmittelbaren Tod zu garantieren, noch ehe die Möglichkeit des Begreifens oder des Schmerzes gegeben wäre. Würde mich lieber selbst in Stücke hauen oder in Öl kochen lassen, als meinen armen Kleinen leiden zu sehen und zu wissen, daß ich dafür verantwortlich bin.
Deshalb ist es wichtig, eigenen Zustand genau zu beurteilen, wenn die Krankheit eintritt.
Ist bis jetzt allerdings noch nicht geschehen. Warte schon drei Wochen darauf, bin fast verrückt vor Kummer, Angst, Besorgnis, Unentschlossenheit. Aber solche Gefühle stumpfen ab, wenn sie zu lange anhalten, verlieren schließlich ihre Wirkung auf ihr Opfer. Glaube, daß ich meine Seelenwäsche – vor allem jetzt, da das Tagebuch auf dem heutigen Stand ist – beenden könnte. Buch behauptet, Therapie erfordere einen guten nächtlichen Schlaf, nachdem man sich alles von der Seele geschrieben hat, am nächsten Morgen fühle man sich dann besser.
Okay. Morgen werde ich mich richtig einrichten …!
Guten Morgen, Nachwelt! Bin erfreut, sagen zu können, daß ich eine gute Nacht verbracht habe. Schlief wie eine schon Tote – zum erstenmal, seitdem der Ärger losging. Traumlos, falls ich mich hin und her gewälzt haben sollte, dann ohne es zu bemerken. Autor des psychologischen Buches scheint seine Sache verstanden zu haben. (Kann man von ihm auch erwarten: Die Titel hinter seinem Namen sind länger als der Name selbst.) Seelenwäsche war wirkungsvoll, jedenfalls hatte es den Anschein, fühlte mich beim Aufwachen wohl. Wunden sind zwar offensichtlich noch nicht geheilt, aber geschlossen. Ein Anfang – Schorf auf der Seele ist besser als blutende Wunden.
Situation unverändert, bin offensichtlich nicht glücklich über diese Tatsache (wenn ich es wäre, wüßte ich, daß ich aufgegeben hätte), konnte jedoch an diesem Vormittag Terry anschauen, ohne in Tränen auszubrechen, kann der Möglichkeit ins Auge sehen, meinen vogelhirnigen Zwilling ins Jenseits zu schicken, bevor mein eigener Zustand dies unmöglich macht. Gedanke ruft zwar durchaus verständliche Abneigung und die ernstgemeinte Hoffnung, sich als unnötig zu erweisen, hervor – aber nicht mehr.
Verzweiflung war weg, Verstand nicht länger eingeschlossen, in hoffnungslosen umgekehrt logarithmischen Spiralen sich windend, in alles überschattender Furcht vor dieser häßlichen Möglichkeit.
Habe anscheinend die praktische Einstellung wiedergefunden, die älter ist als Harmagedon, d. h. Sorgen als Vergeudung zu betrachten, als anti-produktiv, wenn sie nach Erkenntnis und Analyse des anstehenden Problems weiterbestehen und dabei die Grundlagen verdecken, die ausgedehnte Hilfsmittel bieten. Endloses Hirnzermartern ist keine konstruktive Übung, verringert höchstens die Wahrscheinlichkeit für günstigen Ausgang durch Einschränkung der Denkfähigkeit, beschneidet die Chancen, daß einem der Zufall zu Hilfe kommt.
Nimmt außerdem den Spaß am Leben – was dann besonders wichtig wird, wenn es davon sowieso nur noch so wenig gibt.
War die Zeit, in der ich zur Welt der Lebenden zurückkehrte (vielleicht nicht ganz das passende Wort, hoffe nur, nicht feststellen zu müssen, daß es ausschließlich für mich gilt). Erster Schritt: betrifft physisches Wohlbefinden. Habe meinen Gesundheitszustand in den letzten drei Wochen sträflich vernachlässigt, saß meistens nur einfach im Sessel oder lag im Bett und lauschte auf das Ätherrauschen.
Da ich gerade von körperlichem Wohlbefinden spreche – ich bin hungrig wie ein Wolf. Habe hin und wieder etwas geknabbert, ohne darauf zu achten, wie oft und was, meistens, wenn ich Terry gefüttert und getränkt habe. (Habe zwar keine Rücksicht auf meinen eigenen Zustand genommen, meinen fröhlichen Schwachkopf während meiner Depression jedoch nie vernachlässigt. Bastelte ihm sogar eine Behelfssitzstange aus einem Stuhl und einem Werkzeuggriff aus Hartholz, fand so robustes Material, das mit einiger Sicherheit eventuellen Anfällen von Zerstörungswut standhielt. Ernährung war zugegebenermaßen nicht ideal – Gemüse, Obst, Fleisch usw. in Dosen –, Beschwerden meines Kunden kamen mir jedoch nicht zu Ohren, und dazu würde es zweifellos kommen, wenn welche angezeigt wären: Unzufriedenheit mit dem Dargebotenen wird zuerst dadurch deutlich gemacht, daß es auf den Boden geworfen wird; tritt keine sofortige Verbesserung ein, ist es aus mit der Gemütlichkeit.)
Habe auch festgestellt, daß ich schmierig bin! Trage dieselben Kleider wie vor drei Wochen, als ich hier herunterkam. Weder Kleidung noch darunter befindliche übelriechende Schmutzschicht ist seitdem mit Wasser, Seife oder Deodorant in Berührung gekommen. (War das noch die verwöhnte Candy Smith-Foster, die nach der kleinsten körperlichen Anstrengung oder Kontakt mit möglicherweise schmutziger Umgebung auf einer Dusche und einem vollständigen Kleiderwechsel bestand? Bedauernswerterweise wohl.) Und jetzt, wo ich dazu in der Lage bin, das zu bemerken, habe ich es auch getan! Selbstachtung könnte sich glatt verabschieden.
Also entschuldigen Sie mich bitte. Muß mich sofort in Ordnung bringen. Erst ein Bad (muß wahrscheinlich drei- bis viermal das Wasser wechseln, um sauber zu werden), dann eine anständige Mahlzeit, saubere Kleider. Dann geht’s an die Arbeit. Es ist Zeit, etwas mehr über den Inhalt des Schutzraums herauszufinden – über die Verfügbarkeit von Hilfsmitteln, die bei meinen Problemen dienlich sind.
Bis später …
Bitte um Entschuldigung für die Verspätung und die Vernachlässigung. Hatte soviel zu tun!
Bad und Rückkehr zu vernünftiger Ernährung vervollständigten meine Genesung, Lebensgeister erwachten wieder, ebenso meine Entschlußkraft, mein Einfallsreichtum, meine Neugier (intellektuelle Variante, bin kein Schnüffler, dem Vernehmen nach eher das Gegenteil). Begann auch wieder mit Übungen und Training (mußte auch sofort dafür büßen, meine Kunst drei Wochen lang vernachlässigt zu haben – erster Versuch eines ganz normalen kata hat beinah einige wichtige Körperstellen zerstört und etliche geschundene Muskeln hinterlassen).
Habe den Schutzraum systematisch durchgeforstet. Nahm Stift und Block mit hinunter zu den Lagerräumen und machte Inventur. Dann arbeitete ich mich langsam und sorgfältig durch die Bücherregale, schrieb Titel und den Standort der Bände auf, die auf meine Probleme Bezug nahmen. Dieses Projekt beanspruchte fast drei Tage. War die Mühe aber wert, Auswahl und Umfang des Bestandes war geradezu ehrfurchtgebietend. Bietet zusammen mit der Bücherei wahrscheinlich alles Notwendige, um im Alleingang neue, strahlende Zivilisation aufzubauen – wenn nötig, wieder angefangen bei Punkt Null. (Bin über den Alleingang allerdings nicht ganz glücklich – klingt so einsam. Habe außerdem keinerlei Ahnung von angewandter Parthenogenese, war bei Pfadfindern kein besonders geschätztes Thema. Einzige Erinnerung an eine Diskussion betraf Bericht über ein verwandtes Thema: Gruppenleiter war ganz Ablehnung, behauptete, Kurzsichtigkeit, Akne, unspezifische Psychosen würden dadurch verursacht. Aber, was soll’s, in Anbetracht meines Alters und der Chancen, die Pubertät zu erreichen, scheint dies sowieso kein vordringliches Problem zu sein.)
Apropos dringende Angelegenheiten – habe Lebensmittel gefunden. Zivilisationsgründer kann in der Zwischenzeit wenigstens gut essen. In Tiefkühlraum, der sich an die untere Etage anschließt (Riesending – 15 qm), muß ein Vorrat für etwa fünf Jahre an gefrorenem Fleisch, Obst, frischem Gemüse sein. Stolperte zufällig darüber, Tür trug keine Aufschrift. Öffnete sie bei Routineuntersuchung, erwartete nur ein weiteres Lager. Licht fiel auf die aufschlußreiche Szene – fror mir beinahe die Nasenspitze ab vor Bewunderung über den Inhalt, bevor ich daran dachte, daß ich in einer Kälte von – 40° stand. Ergab auch gute Neuigkeiten für Terry: Daddy ahnte wohl seine Anwesenheit, Vorrat an richtiger Körnermischung im Eckschrank reicht fürs Leben. Wird sich auch ewig halten, zu kalt, um Schädlingseier auszubrüten. Hatte allerdings auch nichts gegen Dosenkost einzuwenden gehabt, hatte große Auswahl. Trotzdem war es schön, ein kräftig gepfeffertes Steak auf den fast weißglühenden Grill zu legen, den Duft beim Garen einzuatmen und es auf die Gabel zu spießen, wenn es innen noch schön blutig und außen schon fast angebrannt war. Mußte Terry natürlich dazu zwingen mitzuhalten, mag wahrscheinlich andere Sachen lieber, habe aber nicht sofort daran gedacht.
Schade, daß dies alles Teil meiner Letzten Worte sein kann, bedeutet, daß ich beim Niederschreiben ehrlich sein muß. Viele Theologen, die ich gelesen habe, meinen, mit einer Lüge auf den Lippen zu sterben, würde einen anschließend in eine unerwünschte Richtung schicken. Da an Terrys letztem Bestimmungsort kein Zweifel besteht, muß ich aufpassen. Zwilling wäre einsam, wenn er ohne mich dort wäre – außerdem, wenn ich nicht bei ihm wäre und aufpaßte, würde er seine Anwesenheit damit ankündigen, an den Himmelstüren zu knabbern.
Trotz des Drangs, einiges zu beschönigen, muß ich also getreu die beschämenden Details der letzten Phase meiner monumentalen Bestandsaufnahme berichten: mein Attentat auf die Kartei. Hatte sorgfältige Untersuchung – Karteikarte für Karteikarte – des Mikrofilmkatalogs geplant (der noch wesentlich umfangreicher ist als die gebundene Sammlung) und die Titel heraussuchen wollen, die für Probleme von Bedeutung sein konnten. Furchtbare Aussicht: gut zwei Kubikmeter, angefüllt mit einer kaum vorstellbaren Anzahl von Karteikarten – jede mit zehn Titeln. Selbst meine großartige Lesegeschwindigkeit in Betracht ziehend, den Gebrauch von Steno für Notizen, schien es wahrscheinlich, daß das Projekt eine erhebliche Zeitspanne meines restlichen Lebens in Anspruch nehmen würde – sogar, wenn ich mit einer normalen Lebensdauer rechnen konnte.
Sah jedoch keine andere Möglichkeit, brauchte die Informationen. Nahm also eine Schublade herunter (von ganz oben, aber Daddy hatte in seiner Umsicht auch für eine fahrbare Leiter, wie es sie in öffentlichen Bibliotheken gibt, gesorgt), stellte sie auf den Tisch neben den Notizblock. Seufzte, nahm die erste Karte heraus, stutzte, hielt inne, sah wieder hin. Zog die nächsten zwanzig oder dreißig Karten heraus, sah sie rasch durch. Machte keineswegs damenhafte Bemerkungen über meinen Verstand (bin Genie, erinnern Sie sich?). Überlegte (nachdem mir keine Titulierungen für mich mehr einfielen), daß ich Daddy wieder einmal unterschätzt hatte.
Der bescheidene Arzt und liebevolle Vater war die Verkörperung der Geduld – hatte aber keine mit unnötiger Unzulänglichkeit. War selbstverständlich, daß er ein System ersonnen hatte, um etwas Spezielles aus einer solch riesigen Sammlung herauszusuchen. Andernfalls wäre sie sinnlos, ein Benutzer könnte den größten Teil seines Lebens damit verbringen, nach Informationen zu suchen, statt sie zu benutzen.
Die ersten zweihundert Karteikarten enthielten ein Inhaltsverzeichnis des Inhaltsverzeichnisses. Alphabetisch geordnet, in Kategorien eingeteilt, mit Querverweisen auf numerierte Standorte. Man sucht die Kategorie, sieht den Standort in der Hauptkartei nach, überprüft die Hauptkarte auf spezielle Titel oder Autoren hin und findet die Filme dann über die genaue Standortnummer auf den Einzelkarten. Ganz wie in der Stadtbücherei.
Nachdem ich also meine mir selbst zugefügten Wunden geleckt hatte (mit zehn wohlverdienten Hieben mit scharfer Zunge), machte ich mich an die Arbeit. Suchte Kategorien heraus, die mit meiner Lage zu tun hatten, wurde auf den Hauptindex verwiesen, entschied mich dann für einzelne Bücher oder Filme. Warnte Terry noch einmal, daß er als Hühnerklein enden würde, wenn er etwas durcheinanderbrächte. Beschloß, Experte für nukleare Kriegsführung und bakteriellen Völkermord sowie die Konstruktions- und Arbeitsweise von Schutzraumsystemen zu werden.
Bin es geworden. Weiß jetzt genau, was passiert ist. Kenne jedes scheußliche Detail. Weiß jetzt, welche Kernspaltungen mit welcher Halbwertzeit verwandt wurden, welche Viren und Bakterien eingesetzt wurden, wie lange diese Bedrohungen ohne geeignete lebende Wirte lebensfähig bleiben können. Weiß, was man gegen uns eingesetzt hat – und umgekehrt. Fand Daddys Papiere über sein geheimes Leben.
Stellte sich heraus, daß er ein hochkarätiger Regierungsberater war. Spezialität war, biologische Kriegsführung abzuwehren. Zugang zu höchsten Geheimnissen, wußte alles über die schlimmsten Dinge auf beiden Seiten. Wußte, wie sie benutzt wurden, kannte die wirksamsten Gegenmaßnahmen, war persönlich verantwortlich für das Entwicklungsprogramm etiotropischer Gegenagenten mit weitem Spektrum. Kannte auch intime Einzelheiten nuklearer Waffen, die auf beiden Seiten das Gleichgewicht wahren sollten. Mußte er wohl: Strahlungsniveau war oft Schlüsselfaktor: In vielen Fällen wurden gutartige Viren und Bakterien sofort bösartig, wenn sie kritischen Wellenlängen ausgesetzt waren. Der einzige Unterschied zwischen einem harmlosen Touristen und Krankheitserregern: Von friedliebenden Genen der DNS-Kette wird ein beschwichtigender Rat durch strahlungsempfindliche RNS an das zellplasmologische Arsenal weitergegeben. Wenn Energiezufluß einsetzt, ist der Ausgang versperrt. Clever, diese verrückten Wissenschaftler.
Gibt keinen Zweifel, wie der Angriff vonstatten ging – erklärt auch den Fall der hermetisch abgeriegelten Festung der nordamerikanischen Luftverteidigung. Das ganze Land wurde eine bestimmte Zeit lang mit harmlosen niedrigen Organismen übersät, bis sie weit genug verbreitet waren. Dann detonierten spezielle Sprengköpfe – sorgfältig plaziert, damit auch jeder Quadratzentimeter bestrahlt wurde – gleichzeitig in großer Höhe über dem ganzen Land. Bomben, die senkrecht von oben fallen, bleiben so lange unentdeckt, bis sie sich durch ein Aufleuchten verraten, dann ist es zu spät, die Strahlungsfront breitet sich außerhalb des sichtbaren Lichts aus. Noch kein Fenster zerbrochen und der Krieg doch schon vorbei: jeder Schutzsuchende schon infiziert, angesteckt mit mindestens einer Form einer neuaktivierten, äußerst tödlichen Seuche im zweiten Stadium. Zwei, drei Tage später – alle tot.
Wahrscheinlich ist noch eine weitere Akte hier unten, mit genauer Beschreibung der entsetzlichen Konsequenzen für die Angreifer, habe sie jedoch noch nicht gefunden. Einzige Erwähnung in der vorliegenden läßt auf noch perfektere, noch vollständigere Vernichtung schließen – inklusive zerbrochener Fenster.
Tonfall des entsprechenden Kommentars bedauernd. Bin nicht sicher, ob ich das auch so sehe. Natürlich, die meisten Toten auf beiden Seiten sind Zivilisten – aber wirklich auch unschuldig? Wer hat denn fortgesetzt Regierung von Größenwahnsinnigen zugelassen? Zugegeben, es hätte das Volk schon einiges gekostet, die herrschenden Schurken abzusetzen und eigene Leute einzusetzen, aber aus jetziger Sicht, verglichen mit dem Preis des Unterlassens …
Muß noch darüber nachdenken, bevor ich ein Urteil fälle.
Genug der Philosophie.
Habe festgestellt, daß eigene taktische Situation nicht schlecht ist. An der Oberfläche und in der näheren Umgebung keine Strahlung meßbar (Instrumente sind im Schutzraum, Sensoren auf dem Hausdach, als Teil der Fernsehantenne). Nicht überraschend: Theoretisch wurde nukleares Material fast ausschließlich benutzt als Katalysator für bakterielle oder Virus-Invasoren. Explodiert vollständig, ergibt keinerlei radioaktiven Niederschlag, und zwar hoch genug, um physische Zerstörungen zu vermeiden. Ausnahme: vorhergegangene, direkte Abwürfe auf bekannte Standorte von Mittelstreckenraketen, auf militärische Stützpunkte, Polaris-U-Boote, Flugzeugträger, überseeische Anlagen – und Washington.
Wo Daddy hingegangen war. Hoffte, daß es wenigstens eine schnelle, saubere Sache gewesen war.
Seuche ist ein ganz anderes Problem. Daddy meint, daß Infektion des Ziellandes selbstheilend ist. Keine bekannte Art (Viren etc.) aus den Arsenalen beider Seiten ist imstande, länger als einen Monat außerhalb eines angemessenen Kulturmediums zu überleben, d. h. ohne lebendes, menschliches Fleisch (es schüttelt mich, wenn ich darüber nachdenke, wo und wie dieses Medium gehalten wurde, um experimentell zu dieser Schlußfolgerung zu gelangen). Wahrscheinlichkeit sehr gering, daß dies länger als zwei, drei Tage nach dem ersten Angriff der Fall ist, deshalb sollte es nur noch eine Woche dauern, bis man sich einigermaßen sicher nach draußen wagen könnte, um nachzusehen, was von der Welt noch übrig ist. Jedoch erschüttert das Wort „sollte“ das Vertrauen in diese Vorhersage, impliziert unvollständiges Datenmaterial, Rätselraten – Risiko. Im Hinblick auf den Einsatz, nämlich mein eigenes hochgeschätztes Leben, ist es nicht unbedingt das Gescheiteste, grenzenloses Vertrauen in die genannte maximale Ansteckungsdauer zu setzen.
Also werde ich es nicht tun. Jetzt, wo ich hinaus kann, wann immer ich will, spüre ich nicht länger den dringenden Wunsch dazu, klaustrophobische Neigungen sind verschwunden. Schutzraum ist ganz gemütlich (den Umständen entsprechend): trocken, warm, mit sanitären Anlagen, Möbeln, reichlicher Verpflegung (hervorragend zubereitet), sauberem Wasser, guter Gesellschaft, anregender Unterhaltung („Hallo, Baby! Was machste denn da? Du bist ganz bös? Ickie Puuh!“) plus einem unerschöpflichen Vorrat an Wissen. Verzögerung inmitten eines solchen Luxus scheint geringer Preis zu sein für verbesserte Chancen. Werde also noch zwei weitere Monate zur Sicherheit investieren.
Zeitspanne willkürlich, basierend auf der Theorie, daß ein dreifacher Sicherheitsfaktor gut genug für die NASA, also auch gut genug für mich sein sollte (Theorie schließt natürlich wieder ein „sollte“ ein, aber irgendwo muß man eine Grenze ziehen).
Kann hinaus, wenn ich dazu bereit bin. Ganz einfach. Muß nur die richtigen Schalter betätigen. Alles haargenau erklärt im ausführlichen Leitfaden über Schutzraumsysteme und -funktionen. Kein Problem. Muß nur das Buch zur Hand nehmen und lesen. Nachdem ich erst einmal festgestellt habe, daß es existiert (Daddy hätte das Trauma der ersten drei Wochen hier unten verringern können, wenn er daran gedacht hätte, es zu erwähnen und zu erklären, wo es zu finden war – andererseits, wenn ich gelernt hätte, hier herauszukommen, bevor ich Einzelheiten über den Angriff kannte, wäre ich wahrscheinlich schon tot).
Ist faszinierend zu lesen. Schutzraum legt beredtes Zeugnis ab über die Klugheit seines Erfinders. In jeder Einzelheit ist Voraussicht und brillantes technisches Können verkörpert. Dazu eine geradezu erschreckende Summe Geldes, die darin steckt, sowie unverschämte politische Schachzüge. Je weiter ich in dem Handbuch lese, desto beeindruckter bin ich. Ist Luftwaffenhauptquartier en miniature und verbessert; hermetisch verschlossen, Wiederverwertung von Luft, Wasser, Abfall, mit ausgefeilter Kommunikationsausrüstung, ausgetüfteltem sensorischem Komplex für radioaktive Strahlung, Elektronik, Ortung, Seismologie, Medizin. Energieversorgung durch Atommeiler in der Größe eines Volkswagens – natürlich unter Verschluß (wie war das mit Schachzügen?). Weiß nicht, wie er funktioniert, springt vermutlich automatisch an, wenn städtische Stromversorgung ausfällt. Bekomme jedoch, den Instrumenten zufolge, den Strom noch immer von draußen.
Und dann – nein, scheint alles für heute zu sein. Werde Tagebuch weiterführen, wenn atemberaubende Entwicklungen eingetreten sind.
Hallo. Heute ist der erste Monat um. Atemberaubende Entwicklungen, die zu berichten sind:
1. Fand Vorrat an Milchpulver: schrecklich. In Suppen, Schokolade und fürs Kochen geeignet, aber allein schmeckt es nicht.
2. Entdeckte ausgestöpseltes Telefon in bis dato unbemerktem Schrank. Fand ebenfalls einen Anschluß. Stöpselte ein, stellte fest, daß es noch funktionierte. Amüsierte mich damit, überall im Land Telefone klingeln zu lassen, nahm irgendeine Vorwahl und dann die Anschlußnummer. Bekam natürlich keine Antwort und merkte plötzlich, wie mir Tränen übers Gesicht liefen. Entschied, daß es für mein Gefühlsleben nicht gerade zuträglich war. Hörte also damit wieder auf.
3. Benutzte Tischlerwerkzeuge und Teile der existierenden Notunterkunft, um vernünftiges Gestell für Terry zu bauen. Demonstrierte seine Dankbarkeit damit, daß er die Sitzstange durchnagte (die ihn einen ganzen Monat lang nicht interessiert hatte!). Ersetzte sie durch dicken Stock, Griff eines Hartholzschlittens, grinste ihn an und warnte ihn davor, es noch einmal zu versuchen. Habe damit einen zeitweiligen Sieg errungen: Gegner fing sofort wieder mit dem Spiel an, machte aber nur geringe Fortschritte. Hätte gern ein Gestell oben aus dem Haus. Dort gibt es drei – alle schon elf Jahre alt und noch nicht demoliert (Sitzstangen bestehen allerdings auch aus hartem, überpolstertem Beton – diese Kleinigkeit trägt vermutlich entscheidend bei zu ihrer Langlebigkeit).
Glaube, das ist alles für heute. Achten Sie darauf, weitere aufregende Einzelheiten nicht zu verpassen.
Zwei Monate – kaum zu glauben, daß es noch nicht tausend Jahre sind. Einstein hatte recht: Zeit ist relativ. Hoffe, es geht nicht so weiter, sonst bleibt sie wahrscheinlich noch ganz stehen. Habe mich schon oft gefragt, ob das nicht schon geschehen ist.
Nicht daß der Eindruck entsteht, ich langweilte mich. Wie soll man sich langweilen unter dem unablässigen Druck einer geradezu schwindelerregenden Anzahl gesellschaftlicher Aktivitäten? Beispiel: Habe gerade eine Galaparty zur Feier des Endes des zweiten Monats gegeben. War großartig, wie der Höhepunkt eines Begräbnisses, gesellschaftliche Grabesstimmung. War große Sache. Lud sogar Terry ein (war ungeheuer erleichtert, daß mein Gast imstande war, die Angelegenheit in einen regelrechten Wirbel von Verpflichtungen zu verwandeln).
Erstklassiges Ereignis: Es gab Kuchen, gebackene Hähnchenschenkel, ein kleines Steak, sogar Eiscreme. Bevorzugte selbst Steak und Kuchen, hochgeschätzter Gast wählte Eiscreme (bis an die Augen), Hühnerknochen (er pickt sie auf und frißt das Knochenmark – ist anscheinend ein Leibgericht). Zum Inventar gehören keine Knallfrösche (nach grobem Überblick), aber Gästeschar bemühte sich mit vereinten Kräften, diesen Mangel auszugleichen. Auf dem Höhepunkt des Gelages nagte sich Vogelhirn restlos durch die Sitzstange. Hockte natürlich zu diesem Zeitpunkt ausgerechnet auf deren einem Ende, nahm seinen Sturz aber mit Stolz und einem Gefühl rechtmäßigen Triumphes hin. Watschelte dann zielstrebig auf das nächste Stuhlbein zu. Mußte rasch handeln, um ihn davon abzuhalten.
Reparierte die Sitzstange.
Habe auch 104 Bücher auf Mikrofilm gelesen, ungekürzte Ausgaben. Bin wahrscheinlich die größte lebende Autorität der Welt für jedes Gebiet.
Als ob das etwas ausmachen würde.
Später.
Haben Sie sich schon einmal etwas so sehr gewünscht, daß Sie es fast schmecken konnten, etwas so lange ersehnt, bis es Hauptziel Ihres Lebens geworden war? Es dann schließlich bekommen – und gewünscht, Sie hätten es nicht erreicht?
Richtig geraten: Drei Monate sind um – endlich!
Ging nach oben, nach draußen. Blieb dort vielleicht zwei Stunden. Wanderte altbekannte Wege ab: Durch die vertraute Nachbarschaft, Hauptstraße, Einkaufszentrum, Quarry Lake Park, Schule, YMCA etc.
Hätte nicht so lange bleiben sollen. Wäre ich auch nicht, wenn ich mir vorher darüber im klaren gewesen wäre, was mich dort erwartete. Als ich endlich zurückging, war es schon zu spät; zitterte am ganzen Körper, Tränen liefen mir übers Gesicht. Alte Wunden waren wieder aufgeplatzt, alter Kummer nagte wieder an meiner Seele. In der Sprechweise von heute bzw. gestern: War Horror-Trip.
Zustände dort draußen sind jedoch Lebenstatsachen, Dinge, denen ich ins Gesicht sehen muß. Muß meine Reaktionen überwinden, wenn ich nicht Jahre damit verbringen will, einen belesenen Maulwurf zu spielen. Natur arbeitet langsam, Methoden sind unästhetisch, Aufräumarbeiten dauern Jahre. Da unentrinnbar, muß ich es akzeptieren, wie es ist, muß mir ein dickes Fell und gewisse Immunität zulegen. In der Zwischenzeit muß ich, so gut ich kann, mit dem Trauma fertig werden, das im Anschluß daran jedesmal auftaucht, so lange, bis es nicht mehr zum Vorschein kommt.
Nun, damit fertig zu werden sollte kein Problem sein. Katharsis hat schon einmal gewirkt, warum also nicht auch jetzt. Wünschte allerdings, es gäbe noch einen anderen Weg. Macht wirklich keinen Spaß, schmerzt beim zweitenmal noch fast genauso. Aber hilft – außerdem habe ich schon früher gemerkt, daß ich nicht richtig funktioniere, wenn sich meine Seele in Krämpfen windet. Wird also auch Zeit, sich nicht länger zu verstecken. „Je eher begonnen, desto eher getan; je eher draußen, desto mehr Spaß daran.“ Bald (begreiflicherweise).
Kann es nur jetzt noch nicht. Bin nicht in der Stimmung dazu, laboriere noch immer an meinem ersten Trauma. Werde wohl noch etwas lesen gehen. Oder etwas zusammennageln.
Oder kurz und klein schlagen.
Bis später.
Okay. Fühle mich zwar noch nicht sonderlich besser, aber nicht mehr ganz so schlecht. Ist also Zeit, die Therapie fortzusetzen.
Fürchte, augenblickliche Probleme werden noch verkompliziert durch dejà vu. Habe noch immer lebhaftes Bild vor Augen von Mama Fosters Körper, wenige Minuten nach ihrem Tod. Zeigte noch physische Ähnlichkeit mit der warmherzigen, klugen, lebhaften Frau, deren grenzenloses Interesse, unstillbare Neugier, bereitwilliges Staunen und aufrichtige Daseinsfreude meine Kindheit so bereichert haben.
Aber der Körper ist nicht die Person – die Person war fort. Äußere Ähnlichkeit betonte nur noch deren Abwesenheit.
So war es auch mit der Stadt: Bei flüchtigem Hinsehen konnte man keinen Unterschied feststellen. Hatte Ähnlichkeit mit der zufrieden geschäftigen, bescheidenen, ländlichen Kleinstadt glücklicher Kinderjahre. Dieselben hohen, schattenspendenden Bäume, dieselben schmalen Straßen, gepflegten, bequemen, zeitlosen alten Häuser. Altmodische Straßenlaternen, die die Geschäftsfronten der Hauptstraße bis hinunter in das Geschäftsviertel der Innenstadt erhellen, seit fünfzig Jahren unverändert, blicken auf den alten Dorfplatz. Mitten auf dem Rathausplatz, hundert Jahre alt, umgeben von Heldenstatuen, Mahnmalen des Ersten Weltkrieges und Klettergestellen, hell gestrichen und ausgestattet mit einer erhöhten Plattform für öffentliche Redner. Wenn ich in die andere Richtung die Straße entlangschaue, sehe ich meine Schule, einen efeuumrankten, roten Backsteinbau, ganz am Ende, gegenüber dem YMCA. Das Haus des Lehrers daneben sieht so hell, freundlich und einladend aus wie immer im Sonnenschein eines Sommernachmittags.
Aber beim Öffnen der Tür, beim Betreten der Veranda, verschwindet die Illusion. Ein weitverbreiteter Irrtum gehört zur Mystik von Kleinstädten: Jedermann weiß, daß sie „ruhig“ sind. Dem ist jedoch nicht so, es gibt viel Lärm, aber den richtigen – angenehm, kaum wahrgenommen.
Bis es ihn nicht mehr gibt.
Die Stille ist ein Schock. Stimmt nicht genau, aber es dauert Minuten, um zu analysieren, warum es nicht stimmt, um das ungewohnte Gefühl zu identifizieren, das Fehlen jeglicher Geräusche.
Spitze die Ohren, um die leiseste Andeutung eines vertrauten Geräusches zu hören. Man sollte ein vages Stimmengemurmel, Verkehrslärm von der Hauptstraße, Gesprächsfetzen, Geräusche und Gelächter vom Schulhof her hören. Abgesehen davon, es ist eine wirklich kleine Stadt, umgeben von Farmland, man sollte hören können, wie Traktoren über Felder tuckern, das Vieh auf der Weide brüllt. Man sollte hin und wieder dumpfes Brummen wie entferntes Schnaufen von der Autobahn hören, die an der Stadt vorbeiführt, gelegentliches, kaum wahrnehmbares Rumpeln von einem Flugzeug, sichtbar nur als wolkig-weiße Spur am blauen Himmel. Man sollte alle möglichen vertrauten Geräusche hören.
Aber man könnte ebensogut in den Wäldern des Nordens sein, Geräusche, die das Ohr treffen, beschränken sich auf das Summen von Insekten, Vogelrufe, Wind, der durch die Blätter streicht.
Auch die visuelle Illusion verliert sich schnell. Knietiefes Gras breitet sich aus, wo makellos gepflegte Gärten waren, wucherndes Wachstum hat die ehemals exakt mathematischen Umrisse der Hecken verwischt. Häuser auf beiden Seiten der Straße zeigen erste Anzeichen der Vernachlässigung: vereinzelte zerbrochene Fenster, offenstehende Türen, fehlende Dachpfannen. Ein halb entwurzelter Baum lehnt sich auf Potters Haus, im Putz sind Risse, die Dachrinne ist zerbeult, das Dach eingedrückt.
Straße selbst ist blockiert von einem Auto, das in einem ganz verrückten Winkel stehengelassen worden ist, mit einem Plattfuß, zerbrochener Heckscheibe, offenstehender Fahrertür. Nähere Untersuchung ergibt, daß Swensens schicke gelbe Rakete nichts weiter als eine ausgebrannte Hülle ist, das Dach größtenteils abgerissen, nur wenige Fenster noch heil, Schmutzflecken auf den halbverschmorten Türen und Fenstern, umstehende Bäume angesengt.
Und der Gestank! Hätte ich nicht drei Monate lang eingeschlossen in eigener Luft gelebt, ich bezweifle, daß ich es in unserer Nachbarschaft hätte aushalten können. Noch immer war es schlimm genug, um mein Frühstück beim ersten Atemzug wieder postwendend hinauszubefördern. Was dann auch geschah. Glücklicherweise ist der Mensch so beschaffen, daß er lernen kann, alles zu ertragen, wenn es sein muß. Bei meiner Rückkehr in den Schutzraum hatte sich der Gestank aus meinem Bewußtsein fast verzogen – hatte andere, dringendere Probleme.
Hatte festgestellt, was das kniehohe Gras verbarg. Drei Monate eines Wisconsinschen Sommers fördern die konservierenden Methoden der Natur nicht gerade: Sonne, Regen, Insekten, Vögel, möglicherweise auch Hunde, hatten ihr Urteil gefällt über alles Weiche. Was übrigblieb, waren Skelette (meist verstreut, unvollständig, teilweise bedeckt mit halb gedörrtem Fleisch und Kleidungsstücken). Wären in einem trockenen Klima in diesem Zeitraum zweifellos vollkommen mumifiziert worden, aber die Sommer in Wisconsin sind nicht trocken. Resultat ist im günstigsten Fall unappetitlich, im schlimmsten Fall (stolperte zuerst über einen solchen in unserem Vorgarten) ein grauenhafter Schock.
Ja, ich weiß, hätte ich vorhersehen können. Habe ich wahrscheinlich auch, auf eine distanzierte, nicht persönlich betroffene Art und Weise – rechnete aber nicht damit, gleich drei Leichen drei Meter vor der Haustür zu finden! Rechnete auch nicht damit, innerhalb von drei Minuten, nachdem ich meinen Bau verlassen hatte, meinen toten Nachbarn gegenüberzustehen. Hatte nicht mit so vielen gerechnet! Dachte, die meisten wären respektvoll im Innern der Häuser verstaut, vielleicht im Bett. Da wäre ich wahrscheinlich gewesen. Glaube ich wenigstens.
Habe jedenfalls ersten Schock überwunden und meinen Erkundungsgang fortgesetzt. War keine systematische Erforschung, schlenderte nur durch Straßen, wohin mich meine Füße zufällig trugen. Schien auch keine Rolle zu spielen, da überall die gleichen Zustände herrschten. Warf Blicke in Häuser, Geschäfte, Autos, klopfte an Türen, brüllte herum.
Erst als mein Zwilling seine Klauen in mich krallte, mit den Flügeln schlug und lautstark protestierte, merkte ich, daß ich blindlings dahinrannte und nach jemandem rief – nach irgend jemandem!
Blieb dann stehen, tränenüberströmt, zitternd, keuchend (mußte wohl ein ganzes Stück gelaufen sein) und machte einen verzweifelten Versuch, wenigstens dem Anschein nach die Kontrolle über mich zurückzugewinnen. Ließ mich fallen, wo ich gerade stand, und landete im Klee. Konzentrierte meine Gedanken darauf, meinen Körper zu entspannen und physische Gelassenheit zu erreichen, hoffte, meine Psyche würde dem guten Beispiel folgen.
Tat sie auch – wenigstens in etwa. Funktionierte jedenfalls gut genug, um einen vorsichtigen Rückzug in den Schutzraum, das vorsichtige Schließen der Tür, das vorsichtige Hinabsteigen der Treppe und das ebenfalls vorsichtige Plazieren Terrys auf seinen Stand zu ermöglichen – bevor ich einen Schreikrampf bekam.
Verlor dabei viel von meiner aufgestauten Anspannung und amüsierte Terry großartig. Am Ende der Vorstellung wetteiferte mein Vogelbruder mit meinem Geschrei. Hysterie endete mit Gelächter. Ist zwar etwas verdreht, aber wirkungsvoll.
Erholte mich weit genug, um obigen Tagebucheintrag zu machen. Zugegeben, gegenwärtige (therapeutische) Einträge gehen über meine Leistungsfähigkeit zu diesem Zeitpunkt, aber nachdem ich den Rest des Tages damit verbracht hatte, meine Wunden zu lecken, und nach einer Nachtruhe war ich soweit wiederhergestellt, um das Tagebuch auf aktuellen Stand zu bringen und meinen restlichen Schmerz aufs Papier zu übertragen.
Erstaunliche Sache, die Therapie; freue mich zwar keineswegs darauf, wieder hinauszugehen, scheine jedoch das Trauma des Schocks über Leichen und die verunstaltete Stadt überwunden zu haben, kann mich der Aussicht, dem wieder ins Gesicht zu sehen, stellen. Da vorgewarnt, sollte ich in der Lage sein, mich um meine Angelegenheiten zu kümmern und wirksam zu funktionieren – unabhängig von der Umgebung.
Wirft allerdings eine wichtige Frage auf: Was genau sind meine Angelegenheiten, Funktionen …? Wenn ich dann also draußen bin, was soll ich tun? Wohin soll ich gehen? Was soll ich tun, wenn ich da bin? Warum soll ich überhaupt gehen?
Okay. Faire Fragen. Oberstes Ziel ist offensichtlich, jemand anders zu finden. Vorzugsweise jemanden, der schrecklich viel über Zivilisationen weiß, über deren Gründung und Erhaltung – ganz zu schweigen davon, wo man die nächste Mahlzeit hernimmt, wenn die Vorräte zur Neige gehen.
Es gibt sicherlich andere Überlebende. Irgendwo. Muß also vernünftigen Plan aufstellen, was zu tun ist, auf der Basis logischer Auswertung des verfügbaren Datenmaterials. Klingt gut – nur, was ist das verfügbare Datenmaterial?
Verfügbare Daten: Jeder, der dem Angriff, der Luft zur Zeit des Angriffs ausgesetzt war, jeder, der mit jemandem Kontakt hatte, der dem Angriff oder der Luft zur Zeit des Angriffs oder mit jemandem Kontakt hatte, der usw., entweder zur Zeit des Angriffs oder während des darauffolgenden Monats, ist tot. Absatz.
Unsinn. War beunruhigt, dachte einen Moment lang, ich hätte Probleme. Es sollte viele Überlebende geben, moderne Zivilisation ist voll von luftdichten Zufluchtsstätten: Atom-U-Boote, Hochdruckkammern, Spacelabs, Flugzeuge, vieles andere (nicht zu vergessen alte VW-Käfer, solange die Fenster geschlossen sind). Es sollte wirklich viele Überlebende des Angriffs und der Anfangsphase der Ansteckung geben.
Aber – wichtige Frage – wie viele wußten genug und blieben den ganzen erforderlichen ersten Monat drin? Oder hatten Glück und konnten trotz größter Bemühungen nicht heraus? Oder kamen mit besten Absichten heraus, obwohl sie Luft und Vorräte für lange Zeit hatten? Oder überlebten die emotionalen Erschütterungen, widerstanden dem Impuls, das Fenster zu öffnen und einen tiefen, bewußten Atemzug zu tun?
Könnte auch mit einem Magneten eine Nadel im Heuhaufen suchen, erscheint im Vergleich dazu geradezu einfach. Das wirkliche Problem ist: Gibt es dort drinnen überhaupt eine Nadel?
Aber egal, damit kann sich mein Unterbewußtsein beschäftigen. Hat bis jetzt recht gut gearbeitet, vielleicht findet es eine Lösung, wenn es nur genug Zeit hat.
Stehe vor anderen, akuteren Problemen: Erstens, muß über mein Zuhause nachdenken. Kann nicht jahrelang unterirdisch leben. Ist ungesund, führt zu ständiger Blässe. Außerdem glaube ich, daß es nicht gut für die Psyche ist; zu viele Gespenster.
Wo – kein Problem auf kurze Sicht. Kann überall da leben, wo es warm und trocken ist. Ausreichende Nahrungsmittelvorräte verfügbar im Schutzraum, in Läden, Küchen etc., gleiches gilt für Kleidung und andere Notwendigkeiten. Kann mich auch jahrelang säubern, wenn ich will.
Angenommen jedoch, mein einsames Residieren dauert an (und ich muß eine pessimistische Haltung einnehmen, wenn ich Pläne schmiede), muß ich irgendwann Nahrung und andere Bedarfsartikel selbst produzieren, Selbstversorger werden. Frage ist nur: Soll ich jetzt anfangen oder warten, in der Hoffnung, es wird nicht mehr nötig sein?
Keine wirklich schwierige Entscheidung: Je länger sie aufgeschoben wird, desto schwieriger wird der Übergang. Allein das noch lebende Vieh verlangt prompte Aufmerksamkeit. Gab bestimmt großes Sterben den Sommer über. Ist zu dumm, aus Farmen, Weiden auszubrechen und nach Futter und Wasser zu suchen, die meisten Tiere sind vermutlich eingegangen. „Domestiziert“ heißt soviel wie „abhängig“. Aber auch von den Überlebenden wird kaum eins unter tausend den Winter ohne Hilfe überstehen. Bedeutet, wenn ich Landwirtschaft plane, muß ich mit Inventur anfangen, bevor das Wetter umschlägt. Bedeutet auch, daß ich Futter, Wasser und Unterbringungsmöglichkeiten für das Vieh bereithalten muß.
Bedeutet, daß ich eine Farm brauche.
Die Logik gebietet allerdings, eine Farm zu übernehmen, die relativ nahe gelegen ist. Im Schutzraum sind zu viele Wertgegenstände, muß vernünftige Entfernung einhalten. Verfügbarkeit von Werkzeugen, Büchern usw. günstig für zukünftiges Projekt: für Flickarbeiten, zum Zäunereparieren, für das Überholen von Brunnenpumpen usw.
Zusätzlich zu der Arbeit, die nötig ist, um das Haus winterfest zu machen. Jahreszeiten in Wisconsin gehen rauh mit den Gebäuden um; charakteristische, zurückgeschwungene Dachlinien sind gewöhnlich nicht im Bauplan oder in den Bauvorschriften enthalten gewesen. Durch die Vernachlässigung im Sommer dürften die Gebäude der Farm, die ich für geeignet halten würde, viel Arbeit erfordern – für die ich keineswegs qualifiziert bin. Das Ende des Sommers und der Herbstanfang werden mich wohl sehr beschäftigt sehen.
Sollte also vielleicht aufhören, Pläne zu schmieden, und anfangen. Am besten zuerst die nahe gelegenen Farmen auskundschaften. Wäre schön, eine zu finden mit soliden Gebäuden, pumpenden Brunnen, intakten Zäunen etc. – wäre genauso schön, freundlichen, in Rot gekleideten, weißbärtigen Herrn zu treffen, der die Straße auf einem von Rentieren gezogenen Schlitten entlangkommt.
Hallo mal wieder. Überrascht, mich zu sehen? Ich auch. Habe schon daran gedacht, mich künftig Pauline zu nennen und aus dem Tagebuch einen Fortsetzungsroman zu machen. Oder vielleicht einfach zu Hause zu bleiben und zu handarbeiten. Während meiner Begräbniszeit scheint sich der Charakter meiner Nachbarschaft verändert zu haben, sie ist verfallen, hart geworden – im wahrsten Sinne des Wortes vor die Hunde gegangen. Kam aus dem Supermarkt und trat direkt in – nein, so nicht. Halte mich lieber an chronologische Reihenfolge, vergesse sonst sicherlich etwas. Könnte eines Tages sogar wichtig sein. Also:
Erwachte vollständig erholt – wieder einmal (werde langsam dieser Jo-Jo-Psychologie müde). Wollte den ganzen Tag draußen bleiben, stellte mir also eine kleine Ausrüstung und Proviant zusammen: Kochgeschirr, Dörrfleisch, getrocknete Aprikosen, eine Tüte mit Vogelfutter, Hammer, Brechstange (für den Fall, daß eine gewaltsame Untersuchung für irgend etwas angezeigt war). Stieg die Treppe hinauf und ging ins Freie.
Behielt mit Willenskraft mein Frühstück drinnen, bis ich mich an den Geruch gewöhnt hatte.
Nahm das Fahrrad aus der Garage, fuhr die Straße hinunter (erste Fahrt seit drei Monaten, wurde fast taub von dem Begeisterungsgeschrei meines Zwillings). Nach dreimonatiger Vernachlässigung hatten die Reifen etwas zu wenig Luft (Zehn-Gang-Rad braucht ziemlich viel), hielt bei Ollys Tankstelle an und pumpte die Reifen auf. Und staunte: Geräte waren noch in Betrieb, Kompressor, Pumpen etc. arbeiteten noch – selbst die Glocke bimmelte noch, als ich am Haus vorbeifuhr.
Wollte meinen Weg fortsetzen, hielt jedoch wieder an – hatte eine Idee. Kehrte um, leerte die Lufttanks, wie ich es Big Olly hatte tun sehen. Hatte mir erklärt: Kompression, Expansion von Luft in Tanks „erzeuge Wasser“ durch Kondensation, Wasseransammlung schlecht für die Geräte. Fand, daß ich schon anfing, in Begriffen zu denken, alles möglicherweise für zukünftigen Bedarf Nützliche zu erhalten. (Hoffe, entwickelt sich nicht zu ausgewachsener Neurose; die ganze Welt zu erhalten dürfte meine Pläne erheblich behindern.)
Machte mich daran, die Hilfsmittel hier oben zu prüfen: Sah mir Gemüseläden, Eisenwaren- und Sämerei-Geschäfte an, fuhr zum Bahndepot, zu den Getreidespeichern. Fand überall Vorräte – höchst befriedigende Resultate. Anscheinend waren die Geschäfte nach dem Angriff wie gewöhnlich weitergeführt worden, bis die ersten Symptome auftraten. Keine Anzeichen von Plünderung zu entdecken, vermutlich waren alle Leute zu krank gewesen, um daran zu denken.
Und da es noch immer Strom gibt, halten die Gefrierräume in den Schlachthöfen die Temperatur: Zur Verfügung stehende Menge Fleisch wahrscheinlich dreimal so groß wie im Schutzraum. Wenn die Zustände in den Nachbarstädten ähnlich sind, ist mein Bedarf an allem zweifellos mein Leben lang gedeckt – oder wenigstens so lange, bis der Strom ausfällt. (Bin persönlich irgendwie überrascht, daß es noch Strom gibt – sommerliche Gewitterstürme zerstören Leitungen oder Transformatoren normalerweise zwei-, dreimal im Jahr – und erst im Winter …! Ein guter Schneesturm bedeutet tagelang Kerzenbeleuchtung – der wichtigste Grund, warum auch neue Häuser, ausgestattet mit den modernsten Heizungsanlagen, alle noch einen altmodischen Ofen nach Franklinart in den wichtigsten Zimmern und gewöhnlich noch mehrere Kamine haben. Glaube nicht, daß ich im Frühjahr noch Strom habe.)
OH, VERDAMMT! Verzeihung, der Ausdruck ist nicht gerade damenhaft – aber mir fiel gerade ein: Jeder einzelne Farmbrunnen im Staate arbeitete garantiert elektrisch. Ich hatte Probleme …!
Na ja, eigentlich nur ein weiteres Problem, mit dem sich mein Unterbewußtsein herumschlagen kann. Kann im Moment nichts daran ändern, muß aber mal ernsthaft darüber nachdenken.
Zurück zur Chronologie: Kam gegen 10 Uhr aus dem Supermarkt, klappte den Ständer ein und wollte gerade mein Bein über das Rad schwingen. Plötzlich kreischte Terry, krallte sich so in meiner Schulter fest, daß ich regelrecht spürte, wie sich seine Krallen in der Mitte wieder trafen. Ließ das Rad fallen, drehte mich um.
Sechs Hunde: groß, abgemagert, hungrig, deutlich erkennbar Ausnahmen von der Kategorie „Bester Freund des Menschen“.
Hatte keine Zeit, mir eine Strategie zu überlegen. Im gleichen Augenblick, als sie entdeckt wurde, kam die Meute aus ihrem Hinterhalt und griff an. Hatte kaum Zeit, meinen Zwilling in die Luft zu werfen in Richtung auf das Dach des Geschäfts und ihm gute Reise zu wünschen. Danach war ich sehr beschäftigt.
Hatte zwar drei Monate nicht gekämpft, aber weiter kata trainiert, war in guter Form. Glücklicherweise.
Die ersten beiden (ein Schäferhund und ein Malamute) sprangen gleichzeitig, ein Dobermann dicht hinterher. Traf den Malamute (den größeren von beiden) in der Luft mit einem Rundumschlag im Uhrzeigersinn am Unterkiefer. Fühlte Knochen brechen, sah ohne hinzublicken, wie der große Hund vorbeiflog und den sich streckenden Schäferhund umriß. Suchte festen Halt und landete einen Vorderfaustschlag unter der Kehle des Dobermanns, traf ihn hoch auf der Brust auf der linken Seite. Meine Faust steckte bis zum Handgelenk in ihm, ich fühlte Schulterblatt, Schlüsselbein und vielleicht noch ein Vorderbein zersplittern, Angreifer kollerte zwei Meter zurück, landete als Knäuel. Wirbelte herum, traf den Schäferhund seitwärts hinterm Ohr, während er sich noch hochrappelte, fühlte, wie seine Wirbelsäule nachgab. Ein rascher Schritt, und ich brach dem Malamute mit einem Handkantenschlag das Genick. Drehte mich wieder um, brach dem Dobermann das Genick, bevor er sich erheben konnte.
Blickte hoch, mein Körper lechzte nach weiteren Schlagkombinationen – entspannte mich, die anderen drei Hunde hatten ihren Plan aufgegeben und waren schon halb über den Parkplatz.
Sah mich besorgt nach Terry um, sah Zwilling, der gerade abbremste für eine Zwischenlandung auf dem Handgriff eines Einkaufswagens in etwa sechs Metern Entfernung. Überlegte, was er wohl in der Zwischenzeit gemacht hatte, schien mir, als ob er hätte nach Hause fliegen, Abendbrot essen und zurückkehren können, um den Ausgang des Kampfes zu beobachten.
Holte ihn, schimpfte über seinen Ungehorsam und seine Dummheit – hatte er sich für meine Flanke gehalten? Hätte zum Imbiß werden können, bevor ich hingekommen wäre.
Vogelhirn akzeptierte die Vorwürfe, knabberte zustimmend an meinem Ohr und murmelte: „Du bist soo icky-puh!“
Gab es auf und setzte mein Unternehmen fort.
Wunderte mich über meine eigene Ruhe. Waren die ersten Schläge, die ich jemals ernsthaft ausgeteilt hatte, erwartete so halb und halb emotionale Nebenwirkung. Gab aber keine, nur leichtes Bedauern, daß ich die Angreifer nicht unter günstigeren Umständen getroffen hatte. Vor allem der Dobermann war ein schönes Exemplar, von seiner Magerkeit mal abgesehen.
Entschied, daß in Anbetracht der Ereignisse es wohl das beste wäre, weitere Expeditionen in weniger verwundbarer Art und Weise durchzuführen. Beschloß, daß es an der Zeit war, Auto zu fahren. Hatte natürlich schon Wagen gefahren, Landkinder lernen alle Grundlagen des Fahrens, sobald sie über das Armaturenbrett schauen können (mit Hilfe von Kissen) und ihre Füße die Pedale erreichen.
Frage, welches Auto ich in Besitz nehmen sollte, verschaffte mir eine Pause. Habe keine spezielle Vorliebe: Bin gewöhnt (für einen Nicht-Fahrer) an Automatik, Drei- und Vier-Gang-Getriebe usw. Aber ich würde über verkommene Landstraßen rumpeln, Feldwege entlangzockeln, die eher an Traktoren oder Pferde gewöhnt (und dafür auch erheblich besser geeignet) waren, mich in enge Einfahrten hinein- und wieder herauszwängen müssen und dabei zweifellos mein Bestes tun, um mich völlig festzufahren. Sicherlich, in letzter Zeit war es ziemlich trocken gewesen, der Boden würde an den meisten Stellen trocken und fest sein, aber in Anbetracht der möglichen Arbeitsumstände und körperlichen Anforderungen …
Würde Daddys alten VW nehmen. Gute Wahl: Entsprach physischen Kriterien (gut manövrierbar, kräftig im Anzug, zuverlässig etc.), außerdem war ich ihn schon gefahren – und konnte natürlich sowohl an die Pedale heranreichen als auch hinaussehen. Dachte auch an Emersons Jeep, habe aber nie Gelegenheit gehabt, ihn unter Anleitung auszuprobieren. Überdies hatte er ein Übermaß an Schalthebeln (drei!). Wäre wahrscheinlich tauglicheres Fahrzeug, gründliche Überlegung ergab jedoch, daß ungewohnte Vorteile sich als Falle entpuppen konnten, schien einfacher, vertrauteres Gefährt zu nehmen, das bessere Chancen bot, heil wieder zurückzukommen.
Radelte rasch nach Hause, ein waches Auge auf Raubtiere habend (bin durchaus in der Lage, einen Hinweis zu verstehen). Kam ohne Zwischenfall an. Fand den Schlüssel, verstaute meinen fröhlichen Bruder auf dem Rücksitz, stellte meinen Sitz auf meine Körpergröße ein und drehte den Zündschlüssel.
Ergebnis hätte das Herz eines jeden Werbefachmannes entzückt: Nachdem er drei Monate nur gestanden hatte, tuckerte der Käfer zwei Sekunden lang fleißig und sprang dann an.
Tankanzeige deutete auf einen mehr als dreiviertelvollen Tank hin, wollte aber sichergehen. Eine einsame Landstraße, heimgesucht von hungrigen Hundemeuten, wäre der falsche Ort, um festzustellen, daß die Tankuhr kaputt ist. Also fuhr ich behutsam die Auffahrt rückwärts hinunter (würgte den Wagen nur zweimal ab) und steuerte vorsichtig Ollys Tankstelle an. Steckte den Tankstutzen in den Tank und füllte noch acht Liter ein, ehe der Tank überlief. Käfer schien mir sagen zu wollen: „Na bitte“, als ich den Tankdeckel schloß und den Schlauch wieder aufhängte.
Fuhr herum und suchte fachmännisch (für einen Anfänger) nach einer geeigneten Farm. Fand im Büro des Sheriffs eine Bezirkskarte und plante meine Fahrt methodisch, während ich fuhr. Vermied es, im Kreis zu fahren oder an einer Farm zweimal vorbeizukommen. Fuhr gut zweihundert Kilometer, untersuchte dreißig bis fünfunddreißig Farmen, die ich auf der Karte nach einer Bewertungsskala von eins bis zehn markierte, wenn ich weiterfuhr. Gab viele schöne Fleckchen, einige konnten zur Not angehen. Aber keine Farm kam über sieben, fand kein Spitzenmodell bis kurz vor der Dunkelheit.
Befand mich auf einem Feldweg. Hatte mich durch aufgelockerte Wälder gewunden, über Hügel, fühlte, daß er irgendwo hinführen mußte. Hielt also durch und fand schließlich einen Briefkasten und eine Zufahrt. Bog ein, traf kurz darauf auf geschlossenes Gatter, öffnete es, fuhr hindurch, machte es hinter mir wieder zu. Folgte dem Weg durch ein Gehölz, über einen kleinen Hügel bis auf eine Lichtung, einen Hof. Hielt abrupt an.
Wußte sofort, daß ich zu Hause war.
Zur Rechten stand ein hübsches, fast neues rotes Backsteinhaus, zur Linken eine brandneue, moderne Blechscheune, ein Hühnerhaus, zwei Silos (eins davon neu), drei Getreideschuppen (alle voll).
Stieg aus, wanderte langsam um das Haus herum, mit offenem Mund und klopfendem Herzen. Keine zerbrochenen Fenster, die Türen geschlossen, die Dachpfannen noch an Ort und Stelle – der Rasen gemäht! Für einen herrlichen Moment blieb mir das Herz stehen, glaubte, ich sei auf ein paar Überlebende gestoßen. Dann bog ich um eine Ecke und lief direkt in die Hausmeister hinein – Schafe.
Besitzer alle tot. Fand Überreste eines Mannes im Stuhl auf der Veranda. Hat seine letzten bewußten Augenblicke anscheinend damit verbracht, glücklichen Erinnerungen nachzuhängen. Das Fotoalbum auf seinem Schoß ließ vermuten, daß die vier improvisierten Gräber unweit vom Haus wohl seine Frau und drei Kinder bargen, was Grabmale auch bestätigten. Nett aussehende Leute; ihre Gesichter zeigten Zuversicht, Zufriedenheit, Liebe. Zustand der Farm gab dem recht, bewies Pflege und Stolz der Besitzer.
Bekam feuchte Augen, als ich durch das Album blätterte. Beschloß, die Farm so zu führen, daß ihre Erbauer damit zufrieden wären. Hatten mir praktisch die Aufsicht über ihr Heim erteilt, meine Pläne weit vorangetrieben, meinen Möglichkeiten zur Selbsterhaltung und zum Überleben sehr nachgeholfen. Das war das mindeste, was ich dafür tun konnte.
Farm schmiegt sich in ein Tal inmitten einer hügeligen, bewaldeten Landschaft. Ein sauberer, kalter Bach schlängelt sich mitten hindurch und fließt nur etwa hundert Meter entfernt am Haus vorbei und aufgrund raffinierter Zaunführung im Zickzack oder in Schleifen durch alle Weiden. Äußerer Zaun ist intakt, starkes, engmaschiges Material aus dickem Draht. Wahrscheinlich nicht gänzlich hundesicher, aber sehr widerstandsfähig, mit etwas zusätzlicher Arbeit würde er ganz in Ordnung sein.
Inhalt von Silos, Krippen und Speichern war das Produkt der ersten Pflanzung der Saison, zweite Ernte war noch auf den Feldern – wichtigster Grund, weswegen das Vieh noch gesund und lebendig war. Innere Gatter waren durchweg offen und erlaubten Zugang zum Wasser, abwechselndes Weiden (inklusive kleinere Knabbereien aus Lecks an den Krippen und Silos). Viehzeug hatte den Sommer damit verbracht, im wahrsten Sinne des Wortes in Saus und Braus zu leben, jedenfalls sah es so aus.
Außer fünf Schafen gibt es noch neun Kühe (zwei Kälber, einen Bullen darunter), zwei Stuten, einen Wallach, verschiedenes Geflügel (ein Hahn, zwei Dutzend Hühner, ein halbes Dutzend Enten und Gänse). Keine Schweine, aber das stimmte mich nicht traurig, ich mag keine Schweine und bin auch nicht sonderlich wild auf Schweinefleisch.
Verluste waren den Sommer über offenbar gering gewesen: Fand nur drei Kadaver, zwei Kühe, ein Pferd. Knochen nicht verstreut, waren also wohl nicht von Hunden getötet worden, wahrscheinlicher waren Krankheit, Verletzungen, Dummheit – ein hervorstechendes Merkmal domestizierter Wiederkäuer. Gibt man ihnen Gelegenheit dazu, bleiben sie stur, auch wenn sie es später teuer zu stehen kommt.
Schlenderte über den Besitz, steckte meine Nase überall hinein, bis es dunkel wurde. Wo ich auch hinsah, entdeckte ich Erfreuliches. Nichts, was ich nicht so verwenden kann, wie es ist, oder was nicht mit wenig Arbeit wieder in Ordnung zu bringen ist.
Maß auf der Rückfahrt die Entfernung: etwa 25 km Straße. Nicht allzu übel, kann zur Not sogar zu Fuß gehen – sollte der Wagen zusammenbrechen, wenn ich gerade unterwegs bin –, aber wahrscheinlich ist es vernünftiger, ein Fahrrad an die Stoßstange zu binden. Maschinen werden allerdings trotzdem nicht ewig laufen, ist nur eine Frage der Zeit, wann ich wieder auf einen Pferderücken umsteigen muß. Werde jedoch immer noch genug Gelegenheit haben, Schutzraum aufzusuchen. Karte zeigt, daß Entfernung in Luftlinie nur zwölf Kilometer beträgt; sollte also vielleicht lernen, mit einem Bulldozer umzugehen und meinen sonstigen Fähigkeiten Straßenbau hinzuzufügen. (Gute Güte, Zukunft bringt so viele verschiedene Möglichkeiten, muß aufpassen, daß ich mich nicht zu Tode verzettele.)
War schon spät, als ich endlich in den Schutzraum zurückkehrte, müde, aber glühend vor Aufregung bei den Zukunftsaussichten. Kann es kaum erwarten, daß morgen wird, zu packen und umzuziehen und ein neues Leben zu beginnen.
Wahnsinniger Zwilling teilt meine Ansicht, hielt nicht einmal den Schnabel, als wir auf der Farm waren. Oder weil. Hielt selbst dem Vieh Vorträge, kommandierte das Geflügel herum, redete die ganze Inspektionsreise über. Nahm mir selbst kaum Zeit, zu essen und zu trinken. Muß im Grunde meines Herzens ein Landkind sein. War immer so städtisch – hätte ich mir nie träumen lassen.
He – bin ja wirklich müde!
Gute Nacht.
Oh! Mir tun Körperteile weh, von denen ich nicht einmal wußte, daß ich sie besaß. Vermute, daß sie erst zu passender Gelegenheit aufgetaucht sind.
Habe sechs Touren zur Farm gemacht. Habe mitgezählt.
Tageslicht ließ nach, kurz bevor ich nachließ. War kein Problem, die Sachen aus dem Haus zu packen: Acht, zehn Gänge zum Wagen, dann war alles geschafft. Zeug im Schutzraum kann warten. Jawohl.
Sechzig Meter steil nach oben, mit schwer beladenen Armen. Mehrmals.
Muß noch einen besseren Weg geben.
Gute Nacht.
Ist schon peinlich, ich sollte langsam aufhören, mich als Genie darzustellen. Beweis fehlt. Was nützt ein IQ von über 200, wenn meine Handlungen auch von einem Gemüse auf Beinen ausgeführt werden könnten?
Dachte diesen Morgen darüber nach (als ich den dritten Treppenaufstieg hinter mir hatte), wie das ausgebaggerte Material während der Bauzeit wohl weggebracht worden war. In Eimern? Von Hand geschleppt? Wenn man den Treppenschacht und das ausgehobene Material zusammenrechnet, kommt man auf über 60.000 m3. Bei 1/8 m3 pro Eimer, einem angenommenen Riesenkerl, der das Doppelte schleppen kann, und fünfzehn Minuten pro Gang sind das etwa 10 m3 in acht Stunden. Eine 10-Mann-Mannschaft würde also 625 Tage brauchen – Zeitverluste durch Herzanfälle, Brüche, verrenkte Wirbelsäulen noch nicht mitgezählt.
Und was ist mit den schweren Sachen? Glaube kaum, daß Atomgenerator mit Menschenkraft hinuntergetragen wurde – muß einige Tonnen wiegen.
Okay. Ist offensichtlich auf anderem Weg geschehen. Aber wie? Oh, das Schutzraum-Handbuch, hatte ich ganz vergessen. Blätterte rasch durch, fand die Antwort – Aufzug! Natürlich. Hatte bei erster Untersuchung Bedeutung des kleinen, seltsam geformten Lagerraums falsch eingeschätzt. Hatte andere Dinge im Kopf, achtete nicht auf die Kontrolleuchten.
Rest des Tages verlief wesentlich einfacher: Bin heute abend zwar trotzdem noch müde, aber ohne daß mir alle Knochen weh tun.
Morgen ist auch noch ein Tag …!
STOPPT DIE PRESSEN! Streicht die Titelseiten! Der Knüller! Ich bin nicht ich – ich bin etwas anderes. Nein, wir sind nicht wir – nein – oh, egal, ergibt überhaupt keinen Sinn. Aber ich kann nichts dafür, ist so schwer, den Gedanken zu fassen – bin so VERDAMMT aufgeregt …! Werde es versuchen, muß es versuchen. Sonst werde ich am Ende die besten und wichtigsten Stellen auslassen. Denn wenn mir die Haare nicht mehr zu Berge stehen und mein Blutdruck wieder gesunken ist, werde ich alles vergessen haben. Oh, ich muß mit diesem Schwachsinn aufhören. Muß zurück zur zeitlichen Reihenfolge. Also …
Tief einatmen … langsam ausatmen … Herz rast nicht mehr. Körperliche Ruhe … Gelassenheit … ah … hm …
Verblüffend, hat wieder gewirkt.
Okay, erwähnte die Plackerei heute morgen. Brachte zwei Ladungen hinüber, kam zurück, um die dritte zu holen. Fertig, alles in den Wagen geladen, auf der Farm alles, was ich meiner Meinung nach dort brauchen würde. War aber noch immer unruhig, wußte jedoch nicht warum. Konnte nicht sein, weil ich Angst hatte, etwas zu vergessen, Farm ist nur kurze Fahrt entfernt, Versäumnis kein Grund zur Aufregung. Entdeckte schließlich, woher diese nicht zu beseitigende Unruhe stammte: War Zeit, daß ich meine Pflicht tat. Hatte sie zuerst vermieden, konnte den Gedanken nicht ertragen.
War danach so beschäftigt, daß es mir entfallen war. Aber jetzt erinnerte ich mich. Soo Kim McDivott. Lehrer. Freund.
Ist Pflicht eines Freundes, sich um die letzte Ruhestätte zu kümmern.
War jetzt im großen und ganzen daran gewöhnt, dem Tod per se ins Gesicht zu sehen, war in den letzten Tagen ungerührt geblieben von den Tausenden von Leichen, über die ich während meiner Fahrten gestolpert war. War z. B. auch kein Problem, Mr. Haralsen von seiner Veranda zu einem angemesseneren Platz neben seiner Frau und den Kindern zu bringen; beendete diese Arbeit sogar mit einem warmen Gefühl im Inneren. (Vermute, erstes Trauma wurde hervorgerufen durch plötzlichen Schock über die Ereignisse, die Enormität und Vollständigkeit der Isolation.) Zustand jetzt verbessert, fühlte, daß ich meinem alten Freund den letzten Dienst erweisen konnte, mehr noch, verspürte ein Bedürfnis danach.
Ging zum Nachbarhaus, suchte nach seiner Leiche. Durchsuchte das ganze Haus, oben, unten, im Keller – warf sogar einen Blick auf den Speicher.
Kehrte schließlich in die Bibliothek zurück. Lehrer hatte sie als Arbeitszimmer benutzt, hier stand sein Schreibtisch, hier hatte er seine liebsten, eselsohrigen Nachschlagewerke gleich zur Hand. Hoffte, dort einen Fingerzeig für seinen Aufenthaltsort in dem Gewirr zu finden.
Zuerst fiel mein Blick auf die „Akte Tarzan“, die auf dem Schreibtisch lag. Großer Umschlag war darauf, auf der Vorderseite beschrieben. Ich warf einen Blick auf die Worte. Das Blut gefror mir in den Adern.
War an mich gerichtet!
Machte ihn los, öffnete ihn mit plötzlich zitternden Fingern. In der peinlich sauberen, schönen Schrift des Lehrers, wie die Jeffersons auf der Unabhängigkeitserklärung, stand dort:
Liebste Candidia,
es ist die wohlüberlegte Meinung einiger gelehrter Männer, die mit deiner Situation vertraut sind, darunter Dr. Foster und ich selbst, daß Du die Seuche überleben und dies finden und lesen wirst. Der Viruskomplex, den der Feind benutzt, kann Dir nichts anhaben, wie wir wissen, denn er wurde geschaffen als Mittel gegen den Homo sapiens.
Ließ den Brief fast fallen. Man brauchte sicherlich kein Genie zu sein, um die Implikation zu bemerken. Nahm einen tiefen Atemzug und las weiter:
Ich weiß, mein Kind, daß diese Feststellung Dir vorkommen muß wie das aufgeregte Geschwätz eines alten Mannes …
Geschwätz? Lehrer? Ha! War zwar alt, hatte ja auch schon viel erlebt (und nicht nur Erfreuliches). War wahrscheinlich auch aufgeregt, schließlich passierte sehr viel, als er das schrieb. Aber schwätzen? Lehrer? An dem Tag, an dem er schwätzt, erklärt St. Nikolaus seinen Rücktritt und nimmt einen Job als Skilehrer auf den herrlichen Pulverschneehängen verschiedener Orte an. Ich schwätze, aber jedes Wort vom Lehrer ist präzise und korrekt.
Präziser, korrekter Brief lautete weiter:
… aber bitte, bevor Du Dir eine Meinung bildest, tu mir den Gefallen und lies erst den Brief zu Ende und sieh Dir die zusätzlichen Beweise an, die fünfundzwanzigjährige, genaueste Untersuchungen von mir und anderen dokumentieren.
Beachte, daß in den 1284 Fällen, in denen wilde Tiere der verschiedensten Arten Menschenkinder „adoptierten“, sich keins (mit Ausnahme der allerjüngsten, die noch aus der Wildnis zurückgeholt wurden, ehe sie drei Jahre alt waren) wesentlich weiter entwickelte als seine Adoptiveltern. Man konnte ihnen nicht beibringen, sich auszudrücken, sie erlangten kein abstraktes Denkvermögen, sie konnten nicht erzogen werden. IQ-Tests, wo anwendbar, erbrachten Ergebnisse, die nicht zu unterscheiden waren von ähnlichen Tests, die man mit verschiedenen Mitgliedern der „Eltern“-Spezies durchgeführt hatte. Außerdem, mit Ausnahme der 29 Fälle, in denen die Adoptiveltern rudimentäre Hände hatten (Menschenaffen, Affen, die beiden Waschbärfälle, in geringerem Ausmaß bei dem Dachs), waren sich die Kinder der Möglichkeit des Greifens nicht bewußt, noch konnte man ihnen irgendwelche manuellen Fertigkeiten vermitteln.
Schließlich sind sich die meisten Gelehrten (siehe auch die Zitate in der Akte) darüber einig, daß der Mensch ohne Instinkte geboren wird, abgesehen vom Saugen (ein Punkt, der noch diskutiert wird), und daß deshalb, im Gegensatz zu anderen Tieren, die menschliche Entwicklung vollkommen abhängig ist vom Lernen und damit auch von der Umwelt.
Dieses Prinzip beeindruckte mich während der Jahre, die ich damit verbrachte, eine Reihe dieser Kinder zu studieren, und ich begann mich zu fragen, welche Wirkung dieser Mechanismus auf die menschliche Gesellschaft haben könnte – ob z.B. nicht durchschnittliche Eltern, die ein Kind mit deutlich überlegenen genetischen Möglichkeiten bekommen, ein solches Kind so aufziehen würden (durch Unwissenheit, unbewußte Vorbehalte oder Neid, absichtliche Bosheit oder aus unbekannten Gründen), daß sie seine Entwicklung über ihre eigenen Grenzen hinaus verhindern, und wenn solche Anstrengungen unternommen wurden, inwieweit sie das Kind tatsächlich einschränken.
Dann folgte die Schilderung der frühen Stadien der Untersuchung, zuerst von ihm allein durchgeführt, aber bald so verblüffende vorläufige Ergebnisse feststellend, daß er kurze Zeit später die Forschungsarbeit einer hervorragenden Gruppe von Gleichgesinnten leitete (inklusive Daddy!), das ganze Projekt finanziert von unbeschränkten Regierungszuschüssen. Gegenstand der Suche: zuverlässige Hinweise oder Anzeichen, auf denen ein Testprogramm basieren konnte, das die Identifizierung hochbegabter Kinder schon kurz nach der Geburt (potentielle Genies) ermöglichte, ehe die Rückbildung (falls es eine solche gab) zu wirken begann.
Mühen wurden belohnt: Verschiedene Faktoren machten deutlich, als Gruppe zusammengefaßt, was wesentlich war für genetisch überlegene Kinder. Woraufhin die Arbeit in die zweite Phase ging. Sobald die „Positiven“ gefunden und identifiziert waren, wurden sie einer Studiengruppe zugewiesen. Von denen gab es vier:
AA (positiv/bevorzugt), möglicherweise begabte Kinder, deren Eltern am Experiment teilnahmen, die angeleitet und unterstützt wurden sowie jede erdenkliche Hilfe erhielten, um eine optimale Umgebung für das Lernen und die Entwicklung zu sichern. AB (positiv/nicht bevorzugt), mögliche Genies, deren Eltern nicht eingeweiht waren; ob die Kinder verdorrten oder erblühten, hing also davon ab, wie gut sie unterstützt wurden. BA (negativ/bevorzugt), normale Babys, zufällig ausgewählt, deren Eltern mutig genug (sprich eingebildet genug) waren, ihre Sprößlinge für Genies zu halten und ebenfalls in den Genuß der AA-Elternbetreuung kamen (wobei die Betreuer nicht wußten, ob sie es mit AA oder BA-Eltern zu tun hatten), erhielten auch finanzielle Unterstützung. Und BB (negativ/nicht bevorzugt), Kontrollgruppe; normale Babys, die normal aufgezogen wurden. Was immer das auch heißt.
Wie erwartet, waren die AAs gut in der Schule, der durchschnittliche Fortschritt dreimal so schnell wie bei normalen Kindern. Weiterhin war auch die persönliche Entwicklung bemerkenswert: AA-Kinder waren fast unangenehm gut angepaßt, glückliche, integrierte Persönlichkeiten. Die BAs kamen ebenfalls gut voran, überragten den nationalen Durchschnitt jedoch nur um 15 %. Waren auch im allgemeinen glücklich, aber einzelne Individuen zeigten Symptome von Unsicherheit, vielleicht wurden sie zu sehr gefordert, möglicherweise über ihre Fähigkeiten hinaus.
ABs erbrachten ebenfalls unterschiedliche Ergebnisse: Die Guten waren sehr gut, vergleichbar mit den AA-Statistiken in bestimmten Fällen, die Schlechten waren jedoch sehr schlecht, die ABs hatten den größten Anteil an akademischen Versagern, an Verhaltensstörungen, spürbar geistig instabilen Persönlichkeiten.
Die BBs zeigten natürlich keinerlei Abweichungen vom nationalen Durchschnitt, sie waren einfach nur Kinder.
Arbeit ging gut voran, alle Fakten, die die eigene Klugheit untermauerten, wurden aus statistischen Analysen gewonnen und mehrten sich ständig (Lehrer vor allem sonnte sich im Schein der Rechtfertigung seiner Theorie), als plötzlich ein Joker in dem Spiel auftauchte:
Es stellte sich heraus, daß AA- und AB-Kinder deutlich weniger Fehlzeiten in der Schule durch Krankheiten hatten. Weitere Analysen erbrachten jedoch, daß annähernd ein Drittel der Positiven niemals Fehlzeiten hatte, während der Rest Anwesenheitszeiten hatte, die von der Norm nicht abwichen. Ausführliche persönliche Befragungen ergaben, daß diese bestimmten Kinder niemals aus irgendeinem Grund krank gewesen waren, während die anderen die normale Anzahl an Kinderkrankheiten gehabt hatten. Es stand ebenfalls fest, daß diese unbedingt gesunden Positiven die Elite der AA-Gruppe sowie die Besten, Schlechtesten und am wenigsten Angepaßten der AB-Gruppe bildeten.
Zu diesem Zeitpunkt wurde der Studie eine passende Tragödie beschert: Eins der gesunden Kinder starb bei einem Verkehrsunfall. Leiche wurde für Autopsie sichergestellt.
Jedes Organ wurde sehr genau untersucht, jede Gewebeprobe mikroskopisch und chemisch überprüft. Chromosomenuntersuchungen fanden statt. Jeder Test, der in der Pathologie bekannt war, wurde durchgeführt, die meisten drei-, vier- und fünfmal, weil niemand die Ergebnisse glauben wollte.
Und anschließend, rasch und unter verschiedenen Vorwänden, wurden die vollständigen körperlichen Daten, inklusive Röntgenaufnahmen und biologische Proben von Blut, Knochen, Haut, Haaren und einigen Organen von der gesamten Testgruppe genommen und verglichen.
Die Unterschiede zwischen den „gesunden“ Positiven und dem Rest erwiesen sich als dieselben bei jeder Probe und konnten von Anthropologen nicht mißverstanden werden …
Schock auf Schock: Fröhlicher, bescheidener, einfacher Lehrer war Dr. med., und das gleich dreimal! War Mediziner (zweigleisig – Kinderarzt und Psychiater) und Anthropologe. Vermutlich berühmt auf allen drei Gebieten – mit Fähigkeiten, die bis zum Zehnten Rang reichten, was sich nicht auf die Kunst der Selbstverteidigung beschränkte.
… aber keiner war einzeln so beschaffen, um die Aufmerksamkeit eines Arztes zu erregen, der nicht gerade besonders und methodisch nach einem unbekannten „gemeinsamen Nenner“ suchte, unter Benutzung von Techniken der Datenerfassung und einem sehr offenen Geist, noch würden sie Aufmerksamkeit erregen durch ihre Einwirkung auf das Ergebnis eines jeglichen medizinischen Tests oder Verfahrens. Der dramatischste Einzelunterschied besteht in der unwiderlegbaren Tatsache, die noch nicht erklärt ist, daß die „gesunden“ Positiven vollkommen immun gegen das ganze Spektrum menschlicher Krankheiten sind.
Unterschiede bestanden unabhängig von Rasse und Geschlecht: Von den AA und BB „gesunden“ Kindern waren 52 % weiblich, die Hälfte Kaukasier, ein Drittel negroid, der Rest verteilte sich auf Orientalen, Hispanier, indische und andere unbestimmbare Gruppen. Untersuchung stellte die genaue Bevölkerungsgruppe fest, aus der sie kamen.
Die Schlußfolgerung ist unbestreitbar: Obwohl klar von der Art Homo, sind die AA und AB „gesunden“ Kinder keine menschlichen Wesen, sie sind eine Spezies für sich allein.
Ganz abgesehen von dem offensichtlichen Aspekt der Immunität und den weniger offensichtlichen anatomischen Merkmalen, die sie charakterisieren, besitzen diese Kinder eine deutliche körperliche Überlegenheit gegenüber Homo-sapiens-Kindern gleicher Größe und gleichen Gewichts. Sie sind stärker, schneller, widerstandsfähiger gegen Verletzungen und zeigen wesentlich raschere Reflexe. Geruchs-, Gehör- und Gesichtssinn haben eine größere Reichweite und ein höheres Empfindlichkeitsniveau als die von Menschen. Wir haben keine Daten, als Basis auch nur für eine Schätzung in bezug auf das Ausmaß, aber alle Fakten deuten auf eine wesentlich längere Lebensspanne hin.
Sofort wurde eine Studie begonnen, eine Suche nach Hinweisen, die dazu beitragen konnten, dieses Phänomen der gleichförmig mutierten Kinder zu erklären, die ansonsten normalen, gesunden, menschlichen Paaren geboren worden waren. Und diese Paare waren normal: Innerhalb der Grenzen unserer klinischen Möglichkeiten zur Feststellung unterschieden sie sich in nichts von jedem anderen Homo sapiens.
Jedoch wurde erst vor kurzem, nach Jahren erschöpfender Hintergrunduntersuchungen und Analysen ein mögliches Verbindungsglied bemerkt. Es war eine offensichtliche Verbindung, aber zeitlich so entfernt, daß wir ihre Bedeutung fast übersahen, ganz entsprechend der verbreiteten wissenschaftlichen Tendenz, nach dem Unwahrscheinlichen zu suchen und das Wahrscheinliche zu ignorieren.
Die Großmütter dieser Kinder waren alle im gleichen Alter, geboren innerhalb einer Spanne von zwei Jahren. Alle wurden empfangen, während die große Grippeepidemie von 1918/19 wütete …
Dieses „Zusammentreffen“ macht seine Implikationen mehr als deutlich: eine umfassende genetische Veränderung, zurückzuführen auf spezifische Virusinvasionen, die jede Keimzelle vor und/oder während der Zygoten-Formation, aus der die Großmütter entstanden, beeinflußten und je eine Hälfte der Matrix schufen, die zwei Generationen später zusammengefügt wurden, um dann zu den „gesunden“ AA und AB-Kindern zu werden.
Ich persönlich zweifle nicht daran, daß dies die Erklärung ist; aber diese Information ist erst vor so kurzer Zeit ans Licht gekommen, daß wir noch keine Zeit hatten, diese Frage genau zu studieren, und anzunehmen, daß etwas wahr ist – selbst eine feste, innere Überzeugung –, ist nicht dasselbe, wie es zu beweisen. Ich hoffe, Du wirst eines Tages Gelegenheit haben, diese Frage in Deinen eigenen Studien zu bearbeiten. Sie verlangt nach einer Beantwortung.
Nach vielem Nachdenken nannten wir diese neue Spezies Homo post hominem, d. h., ‚der Mensch, der nach dem Menschen kommt’, weil es scheint, daß diese Mutation evolutionär ist, und weil, nach einer gewissen Zeit und vorausgesetzt, es ist wahr (es gibt keinen Grund, etwas anderes anzunehmen – die Chromosomenuntersuchung deutet nämlich darauf hin, daß die Mutation dominant ist, d. h. daß ein Sapiens/Hominem-Paar unfehlbar ein Hominem-Kind zeugt), sie den Homo sapiens ganz ersetzen wird.
Wundervolle Sache, das menschliche Nervensystem, gewöhnt sich sehr rasch an tödliche Schocks. Habe nicht einmal geblinzelt, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel – hatte es vielleicht dem ganzen Aufbau nach schon geahnt, fragte mich nur, wie es wohl formuliert war.
Sehr nett, ohne Trara, eine einfache Feststellung von Tatsachen:
Du, mein Kind, bist ein Homo post hominem. Du bist wesentlich jünger als Deine Kameraden in der Studiengruppe und warst niemals selbst an der Studie beteiligt. Deine Identifizierung und Einbeziehung in unsere Analysen erfolgte spät und unter verwickelten und amüsanten Umständen.
Die Fosters hatten sich, wie Du weißt, schon lange ein Kind gewünscht und ebenso lange gewußt, daß sie nie eins bekommen würden. Als Deine leiblichen Eltern starben, war es vollkommen vorhersehbar, daß sie keine Zeit verloren, um Deine Adoption sicherzustellen (was völlig verständlich ist, denn Du warst ein besonders liebenswertes Baby).
Weder Daddy noch ein anderer aus der Arbeitsgruppe dachte daran, mich zu testen, war zehn Monaten „unbewachter Elternschaft“ ausgesetzt gewesen, war „beeinträchtigtes Objekt“. Außerdem war Daddy nicht daran interessiert, mich zu studieren, wollte nur seinen Spaß daran, sein „kleines Mädchen“ aufzuziehen. Professionelle Zuständigkeit zerbröckelte vor dem Ausbruch atavistischer väterlicher Fürsorge. Sehr tadelnswert.
Mama war dagegen, fühlte, daß Bestimmung des Potentials nützliche Informationen für die Kindererziehung bringen könnte. Hielt sich an das langerprobte Rezept für eine friedliche Ehe, behielt ihre Zweifel für sich, unternahm jedoch Schritte:
Setzte dem Stab gegenüber durch, mich zu testen – ohne Wissen von Daddy.
Tests erwiesen sich als positiv, aber nachfolgende Bestimmung des „Gesund“-Status wurde nicht durchgeführt – kam disziplinblinden Wissenschaftlern nicht in den Sinn, und Mama wußte es nicht besser, also bestand sie nicht darauf.
Du warst ein Genie, sie war dessen sicher. Und deshalb unternahm sie es selbst, dafür zu sorgen, daß Du in der gleichen „bevorzugten“ Weise aufgezogen wurdest wie die anderen AAs – mit Ausnahme der Tatsache, daß der Doktor nicht wußte, was vor sich ging. Er fuhr fort, sich wie früher an „Daddys kleinem Mädchen“ zu freuen, über die Vorteile von „Liebe und Verständnis“ zu schwätzen usw. Und wir anderen, nachdem wir uns gegenseitig geschworen hatten, das Geheimnis über Deinen Test zu bewahren, vergaßen Dich. Du warst schließlich ein „beeinträchtigtes Objekt“.
War fast fünf, als ich das nächste Mal ihre Aufmerksamkeit erregte. Verdroß „Liebe und Verständnis“ etwas, indem ich aufblickte und die Wohnzimmerwand mit den Worten kommentierte: „… sieht schrecklich heiß aus.“ War sie auch – aufgrund eines Fehlers in der elektrischen Leitung. Hätte das Haus in kurzer Zeit niedergebrannt.
Kann mich an das Ereignis gut erinnern. Nicht, daß irgendein besonderes, sofortiges Getue begann, aber Daddy verbrachte den Rest des Abends damit, sich nicht anmerken zu lassen, daß er mich anstarrte.
Der Doktor hatte in den vorangegangenen Jahren viel Zeit damit verbracht, Kinder zu beobachten, deren visuelle Wahrnehmung bis in den Bereich des Infraroten und Ultravioletten reichte, und so bald wie möglich nach diesem Abend ließ er Dich – ohne es Mrs. Foster wissen zu lassen – untersuchen und testen.
Aha! Endlich eine Erklärung, was Daddys Reaktion an diesem Abend verursacht hatte und was es mit der unerklärlichen Nachtblindheit von Freunden auf sich hatte – selbst im Sommer. Konnte natürlich verstehen, daß es schwierig war, im Winter nachts zu sehen; es ist dunkel in einer kalten Nacht. Einzige wahrnehmbare Schimmer kommen von Gesichtern und Händen, und wenn diese kurze Zeit der Kälte ausgesetzt waren, werden Wangen und Nasen merklich dunkler.
Erinnere mich auch an die Testsitzung. Vorherrschender Eindruck waren die Mienen der anderen Mitarbeiter, als sie die Tests wiederholten, die sie bei früherer Gelegenheit (die verschwörerisch ungenannt blieb) bereits vorgenommen hatten – eine blöde Situation.
Es war kurz nach dem Test (diesmal ganz durchgeführt), der Dich als Homo post hominem identifizierte; anschließend hatte der Doktor diese Tatsache schüchtern Mrs. Foster beigebracht und sie, hilflos kichernd, beichtete ihm, und schließlich gestanden wir anderen die weiteren Tests, die ergeben hatten, daß Du in Deiner intellektuellen Entwicklung wesentlich weiter vorangeschritten warst, als Du es nach der Statistik, die wir aufgrund unserer Studie entwickelt hatten, für Dein Alter sein solltest.
Wie nett. Kann selbst als Superkind nicht normal sein, war trotzdem noch ein Genie. Wie ungerecht.
Genaue Analysen dieses Phänomens erbrachten zwei unabwägbare Faktoren: Erstens, Du hattest zehn Monate nicht überwachter BB-Erziehung hinter Dir, und zweitens, Deine darauffolgende Erziehung war AA von Deiner Mutter und BB von Deinem Vater gewesen. Da wir den ersten Faktor weder analysieren noch beeinflussen konnten, beschlossen wir, auch mit dem zweiten Faktor unverändert fortzufahren, Dich genau zu beobachten und zu hoffen, daß in irgendeiner noch unbekannten Weise die seltsame Mischung aus nachgiebigem Verwöhnen und beschleunigter, motivierender Erziehung, die Du bis dahin genossen hattest, weiterhin diese außergewöhnlichen Resultate bringen würde.
Mamas Tod beendete das Experiment, aber bevor sie starb, versprach Lehrer, daß er die Handhabung meiner Ausbildung übernehmen, mich so hart vorwärts treiben würde, wie ich es akzeptierte, während Daddy (scheinbar) seine klassische BB-Vaterrolle weiterspielte. Mama spürte, daß der Hunger nach Wissen bereits in mir keimte, unterstützt von Daddys vorsichtig-negativer Psychologie, die Umgebung mit ausgewählten Büchern zu versehen. (Ha! Hatte schon immer den Verdacht, daß es seltsam zuging, daß ich stets in meiner Umgebung das von mir gewünschte und benötigte Arbeitsmaterial fand, immer genau zum richtigen Zeitpunkt, wenn ich gerade den vorhergehenden Band ausgelesen hatte – will mich nicht beklagen, wünschte nur, das Lernen wäre schneller gegangen.) Wußte daß die Zwischenzeit ohne Zeitverluste überbrückt wurde. Hatte recht – aber weiß jetzt, wie sich eine Marionette fühlen muß, deren Schnüre so dünn sind, daß sie sie nicht erkennen kann.
Phase zwei des Planes hatte jedoch einen Haken; es war nicht vorauszusehen, daß es vier Jahre dauern würde, bis Lehrer sich von den Verpflichtungen befreien konnte, die seine Berufe mit sich brachten, sich „zur Ruhe setzen“ konnte.
Glücklicherweise schien die Verzögerung keine Folgen nach sich zu ziehen. Mrs. Fosters Meinung von Dir wurde bestätigt. Dr. Foster berichtete, daß Du jedes Buch fandest, das er für dich auslegte – und dazu etliche, bei denen er das nicht getan hatte. Er sagte, es sei kaum nötig, Dich zu „steuern“, daß Du von selbst sehr motiviert warst, daß Du hartnäckig und ausgesprochen einfallsreich sein konntest, wenn es darum ging, Dir Wissen anzueignen, trotz der „Barrieren“, die er Dir in den Weg gelegt hatte.
Als ich es geschafft hatte, alle meine übrigen Verpflichtungen meinen Nachfolgern zu übergeben und Dir meine ganze Aufmerksamkeit zu widmen, war Dein Vorsprung vor anderen AAs beeindruckend angestiegen. Es gab nur sehr wenige Individuen, die auch nur annähernd so vielversprechend waren. Und zu der Zeit, als die Ungeschicklichkeiten unserer Freunde hinter dem Eisernen Vorhang all dieser Forschung ein Ende setzten, warst Du – für Dein Alter – am weitesten fortgeschritten unter unseren Hominems.
Wenn ich mich an diesen Punkt so zu klammern scheine, dann, weil Du nicht vergessen darfst, daß diese Studie vor etwa zwanzig Jahren begonnen wurde. Du bist zehn Jahre jünger als der nächstjüngste unserer Gruppe, und so weit Du auch für Dein Alter bist, es bleibt Dir noch immer beachtlich viel zu lernen – sieh zu, daß Du am Ball bleibst.
Ja, ich weiß, die Erfordernisse des allein Überlebens werden viel von Deiner Zeit in Anspruch nehmen, aber vernachlässige Deine Studien nicht gänzlich. Stecke zurück, wenn Du mußt, aber höre nicht damit auf.
Wenn ich es jetzt unternehmen darf, einem einzigartig begabten Mitglied einer fortgeschrittenen Spezies einen Rat zu geben: Es liegt Sicherheit und Trost in Eurer Anzahl. Du wirst zweifellos finden, daß die Erhaltung und der Aufbau an Kenntnissen zweckmäßiger sind, wenn erst einmal eine Gruppe von Euch zusammengefunden hat. In der „Akte Tarzan“ wirst Du eine vollständige Liste der bekannten Homo post hominems finden. Ich kann keinen logischen Grund sehen, warum die meisten von ihnen nicht gesund und munter sein sollten.
Blätterte mit zitternden Fingern durch die Akte. Fand genannte Liste. Sammlung von Mini-Dossiers. An eins war eine kleine Notiz geheftet. Und zwar:
Liebe Candy,
es ist jetzt fast Zeit für mich zu gehen, und es bleiben noch immer einige Dinge unerledigt, also muß ich mich kurz fassen.
Der Gegenstand dieses Dossiers, Peter Bell, ist – in fast gerader Linie – ein direkter Nachkomme von Alexander Graham Bell (wünschte, ich hätte ihn testen können). Ein Maßstab für seinen Intellekt ist die Tatsache, daß er, als einziger von unseren Hominems, die Existenz und den Zweck unserer Studie erschlossen hat, die Implikationen in bezug auf sich selbst und die Charakteristiken seiner und Deiner Spezies.
Ihm vertraute ich vor nicht langer Zeit Deine Existenz an, ebenso wie meine Eindrücke von Deinen Möglichkeiten.
So wie er Dir wahrscheinlich ebenbürtig ist (wenn Du erwachsen bist, versteht sich), ist er Dir auch im Alter am nächsten, 21, und von all unseren Leuten ist er, wie ich annehmen möchte, derjenige, der Dir angemessen ist, wenn Du Deine unerschütterliche Suche nach Wissen in Zukunft fortsetzt. Vielleicht kann er Dir sogar helfen, denn er ist ein besonders motivierter junger Mann.
Ich konnte ihn jedoch nach dem Angriff nicht mehr erreichen, er weiß also nicht, daß Du gesund und munter im Schutzraum bist. Es liegt an Dir, den Kontakt herzustellen, wenn das überhaupt möglich ist – und ich bitte Dich dringend, den Versuch zu unternehmen, ich habe das Gefühl, daß sich einer Partnerschaft, die aus Euch beiden besteht, nichts in den Weg stellen kann, was immer die Zukunft auch bringen mag.
Alles Gute
Lehrer
Meine Hände zitterten, das Blut pochte in meinen Schläfen, als ich mich wieder dem ersten Brief zuwandte. Dessen Rest bestand aus dem Rat, zu anderen Hominems Kontakt aufzunehmen – den anderen AAs aus der Studie. Warnte, daß nach Schlußfolgerungen (sehr unsicheren) aus den bekannten Daten ungefähr 150.000 von uns auf dem nordamerikanischen Kontinent leben mußten – aber im Grunde mußten sie alle als ABs betrachtet werden, mit all den Folgen: hoher Anteil Milieugeschädigter, Unzufriedener, Rebellen, Psychotiker an der Grenze zum Wahnsinn (oder darüber hinaus, nach dem Schock der Entvölkerung), plus gelegentlich ein Genie. Plus vereinzelte Überlebende des Homo sapiens.
Lehrer schlug vor, sich sehr selbstbewußt zu bewegen, wenn ich auf Fremde traf, sie sorgfältig, rasch und sicher einzuschätzen. Fand ich, daß sie nicht von der Art sind, wie man sich seinen Nachbarn wünscht, sollte ich zuerst zuschlagen, ohne zu zögern töten, ohne Warnung. In Überlegungen sei kein Platz für rassischen Altruismus. Entfernung eines vereinzelten schlechten Apfels wird die Chance, die Spezies von der Liste der gefährdeten Arten streichen zu können, nicht verringern, es gibt genug von uns, um die Reihen zu schließen, nachdem eine Auslese getroffen wurde – aber nur einmal mich. Habe den Punkt gut erfaßt.
Nun, die Zeit wird knapp. Es ist noch so viel zu erledigen, bevor ich gehe, daß ich mich am besten beeile.
Ich gehe mit Zuversicht, ich weiß, daß die Zukunft der Rasse in Händen wie den Deinen und denen Peters liegt. Ihr werdet vorankommen und Entwicklungsniveaus erreichen, die ich mir nicht einmal vorstellen kann, dessen bin ich mir sicher. Ich hoffe, diese Niveaus werden auch viel Freude und Zufriedenheit mit einschließen.
Ich möchte zum Abschied noch dies hinzufügen: Wenn Eure Historiker späteren Generationen von uns erzählen, hoffe ich, daß sie nicht ungebührlich streng mit uns verfahren. Es stimmt zwar, daß wir die Zeit nicht überstanden haben, es stimmt auch, daß wir uns selbst ausrotteten, anscheinend in einem Anfall sinnloser, unkontrollierter Aggression, es stimmt gleichfalls, daß wir vieles andere getan haben, was absolut falsch war.
Aber wir haben eine mächtige Zivilisation geschaffen, wir haben einen Grundstock an Wissen angelegt, dessen Aufnahme und Kontrolle unsere Fähigkeiten weit überschreitet. Wir haben eine Moral ersonnen und nach ihr gestrebt, die einzigartig in der Geschichte ist, die das Wohl der anderen über unser eigenes Wohl stellt – auch wenn die meisten von uns nicht danach gelebt haben.
Und wir haben Euch hervorgebracht!
Es ist gut möglich, daß wir überhaupt nicht dazu bestimmt waren, länger als diese Zeitspanne zu überdauern. Es kann ebensogut sein, daß Euer Auftauchen die Saat der Selbstzerstörung hat aufgehen lassen, die wir zu diesem Zweck bereits in uns trugen, daß unser Verschwinden für Euer Erscheinen als Spezies ebenso notwendig war wie unsere Existenz für Eure Menschwerdung.
Aber welcher Mechanismus oder Zweck auch immer, ich glaube, wenn wir alle am Ende der Zeit beurteilt werden, wird der Homo sapiens anerkannt werden, wenn nicht als Triumph, so doch als Erfolg, gemessen an dem Standard, den die Umstände mit sich brachten, denen wir uns gegenüber sahen, und dem Zweck, für den wir geschaffen wurden; ebenso wie der Cro-Magnon, der Neanderthaler und der Pithecanthropus – selbst der Brontosaurus – in ihrer Zeit erfolgreich waren, wenn man sie im Licht der Herausforderung, die sie überwanden, und des Zwecks, dem sie dienten, beurteilt.
Ein einziges Blatt war noch übrig. Zögerte, war letztes Verbindungsglied mit der lebendigen Vergangenheit. Einmal gelesen und erfahren, würde es lediglich ein weiterer Teil der Erinnerung sein. Seufzte, zwang meinen Blick aufs Papier und las:
Candy, geliebte Tochter-im-Geiste, es ist sehr schwierig, dies zu Ende zu bringen. Irrational finde ich mich dabei zu trauern, daß ich Dich verliere. „Irrational“ sage ich, weil es offensichtlich ich bin, der zu gehen hat. Aber gehen muß ich, daran gibt es keinen Zweifel und nur wenig Aufschub.
Es wird gut werden mit Dir und Deinesgleichen. Dein Wachstum war unbeschädigt, Deine Richtung aufrecht und gesund, Du kannst nicht fehlen, ein Leben zu leben, welches uns, die wir Dich entdeckten und bemüht waren, Dich so weit zu führen, stolz macht auf unseren kleinen Anteil an Deinem Schicksal, auch wenn es uns nicht gestattet ist, seine Erfüllung mitzuerleben. Ich glaube, ich kann ein wenig verstehen, wie Moses sich gefühlt haben muß an jenem letzten Tag auf dem Berge Nebo.
Denke immer daran, daß ich, der Doktor und Mrs. Foster Dich nicht mehr hätten lieben können, wenn Du unser eigenes Fleisch und Blut gewesen wärst. Denke liebevoll an uns, aber vergeude Deine Zeit nicht damit, um uns zu trauern.
Die Zukunft gehört Dir, mein Kind, gehe hin und gestalte sie so, wie Du es für nötig hältst.
Auf Wiedersehen, meine beste und geliebteste Schülerin.
In Liebe für immer
Soo Kim McDivott
PS: Kraft meiner Autorität als ältester überlebender Meister der United States Karate Association verleihe ich Dir hiermit den Sechsten Rang. Du bist mehr als qualifiziert dafür, sieh zu, daß Du gewissenhaft übst und so bleibst.
Las die letzte Seite wieder und wieder, bis mir Tränen die Sicht nahmen und es unmöglich machten, einzelne Worte zu erkennen. Legte Brief ehrfürchtig auf den Schreibtisch, ging nach oben und hinaus auf die Veranda. War Lehrers Lieblingsmeditationsplatz.
Setzte mich in die Schaukel und ließ die Beine in den Lotus hinabbaumeln.
Terry verstand, wanderte von meiner Schulter zu meinem Schoß, drückte sich an mich und fing an, wahllos sein Vokabular aufzusagen, in einer kaum hörbaren Kleinkind-Stimme. Hielt Zwilling eng umschlungen, als der Schmerz sich ausbreitete, die Tränen zu lautlosen, schmerzlichen Schluchzern wurden. Die unkritische Kameradschaft meines Bruders, seine bedingungslose Liebe, all das stand zwischen mir und der alles verschlingenden Schwärze, dem frischen Bewußtsein des Ausmaßes der Verluste, die meine Seele zu überwältigen drohten.
Zusammen sahen wir zu, wie sich die frühnachmittäglichen Kumuluswolken formten, wie sich Gewitterwolken auftürmten, es rumpelte und krachte und schließlich zuckende Blitze durch die Dunkelheit jagten, wie dunkle Regenstreifen am westlichen Horizont niedergingen, wir sahen zu, bis das abnehmende Tageslicht mich daran erinnerte, wie lange wir hier schon saßen. Im Osten waren schon die helleren Sterne zu sehen.
Nahm meinen Zustand mit wachsender Überraschung wahr: Augen trocken, Schmerz aus Kehle und Herz verschwunden, Schwärze, die über meiner Seele lag, nur noch Erinnerung. Hatte anscheinend unbewußt meditiert, meinen Kummer überwunden. Alles, was zurückblieb, war eine süße Traurigkeit, wenn ich an Daddy, Mama, Lehrer dachte, sie waren mit allem anderen verschwunden, mit jedem anderen, und hatten nur Erinnerungen zurückgelassen. Merkte plötzlich, daß ich dankbar dafür war, diese behalten zu dürfen.
Bewegte vorsichtig einen Muskel zur Probe, den ersten seit Stunden. Terry zuckte, reckte sich, wachte auf und fing an zu protestieren – zu Recht –, weil er Hunger hatte. Erhob mich, schob Zwilling auf die Schulter, ging hinein und die Treppe hinunter.
Nahm „Akte Tarzan“ und Brief vom Lehrer und ging zurück in Daddys Haus. Fütterte Vogelhirn, mich selbst, setzte mich und überflog den Inhalt der Akte.
Kurz darauf entschied ich, daß Lehrer recht hatte (war ordentlicher Schock): Peter Bell war zweifellos bester zukünftiger Kamerad von allen. Sehr lebhaft, sehr interessiert, sehr bewußt: Ausbildungsberichte klingen fast wie Schwindel (niemand, der so jung ist, kann schon so viel gelernt haben, außer, äh … vielleicht mir – okay); sehr stark, schnell, sehr fortgeschritten in Selbstverteidigung (Achter Grad!), sowie (in Worten des Lehrers): „Erfreulich unbekümmert um seine eigenen Fähigkeiten, ist hauptsächlich daran interessiert, was er als nächstes tun wird.“ Und „… besitzt einen etwas seltsamen Sinn für Humor“. Klingt ganz angenehm. Hoffe, ich werde ihn leiden können.
Saß einige Minuten da und beruhigte meine Nerven. Dann nahm ich das Telefon, wählte sorgfältig Vorwahl, Anschlußnummer. Nach einigem Klicken und Zischen ertönte das Besetztzeichen, als irgendwo da draußen ein Relais ansprang. Versuchte es noch einmal. Hatte jetzt eine besetzte Leitung (anders als besetzter Anschluß – Unterschied hörbar, wird auch verursacht durch klemmendes Relais). Versuchte es wieder und brummte vor mich hin. Wieder besetzt. Versuchte es noch einmal. Wieder nichts.
„Das ist aber schlimm“, meinte Terry begeistert und wackelte fröhlich mit dem Kopf.
Holte tief Luft, sagte ein sehr schlimmes Wort, versuchte es noch mal.
Hörte es klingeln! Einmal, zweimal, dreimal, dann Klick. „Hallo, Candy, bist du das? Hat ja auch lang genug gedauert. Hier ist Peter Bell. Ich kann im Moment nicht ans Telefon kommen, ich bin draußen beim Vieh. Aber deswegen habe ich diesen Anrufbeantworter gebaut. Er gibt ein Signal, so daß ich weiß, daß du angerufen hast und ich das Band abhören kann.
Wenn du den Ton am Schluß meiner Nachricht hörst, gib mir deine Telefonnummer, falls du nicht zu Hause bist – vergiß nicht die Vorwahl, falls sie anders ist als deine frühere –, und ich rufe dich sofort an, wenn ich zurück bin und deine Nachricht finde. Junge, bin ich froh, daß es dir gutgeht.
Biep!“
Lauschte mit offenem Mund. Konnte mich kaum rechtzeitig zusammennehmen, um zu stottern, daß ich zu Hause sein würde, und wenn nicht, daß ich auf der Farm sei, nannte die Nummer, gerade bevor die Maschine einhängte und das Freizeichen ertönte.
Wiederholte das schlimme Wort. Fügte noch einiges besonders auf Anrufbeantworter Zugeschnittene hinzu.
Spülte Geschirr und stellte es weg, füllte Terrys Futterschälchen wieder auf, wechselte das Wasser, stellte sein Gestell ins Arbeitszimmer, direkt neben den Schreibtisch, in ausreichendem Kopf-Kraul-Abstand.
Machte es mir in Daddys großem Sessel bequem, öffnete das Tagebuch und brachte es auf den aktuellen Stand. Habe das jetzt getan. Ist auf neuestem Stand. Vollkommen. Nichts weiter einzutragen. Also habe ich auch nichts mehr eingetragen. Für eine ganze Weile.
Mitternacht. Könnte genausogut ein Buch lesen. Blödes Telefon.
Erwachte dadurch, daß der Möchtegern-Hahn das frühe Morgenlicht begrüßte. Fand mich etwas wackelig mitten im Arbeitszimmer stehend, mir den Schlaf aus den Augen reibend und auf die ersterbenden Echos lauschend. Sah Zwilling an, erhielt selbstgefälliges Kichern zurück.
Brauchte einige Momente, um zu erkennen, wo ich war, welche Umstände dazu geführt hatten, die Nacht angekleidet im Sessel zu verbringen. Als mir das gelungen war, öffnete ich den Mund, machte ihn wieder zu, als ich merkte, daß mir das schlimme Wort nicht mehr die Erleichterung verschaffen würde, die der Situation angemessen war.
Gelegentliche Versuche hatten mich gegen ein Uhr nachts erschöpft – als ich vielleicht gerade zehn Seiten gelesen hatte (von denen ich mich an kein Wort mehr erinnern konnte). Federwisch schnarchte auf seinem Gestell; da nichts in Reichweite war, was er auseinandernehmen konnte, hatte er das Interesse verloren.
Heftig gähnend, nachdem ich meinen Vorwand aufgegeben hatte, griff ich nach dem Telefon und wählte die Nummer.
Kam beim ersten Versuch durch. Aber war besetzt! Wiederholte den Versuch in fünfminütigen Abständen bzw. bis ich eingeschlafen war – was sehr bald geschah.
Habe gerade wieder versucht. Immer noch besetzt. Gehe lieber Frühstück machen.
Kontaktproblem ist nicht länger spaßig. In zwei Monaten seit dem letzten Eintrag durchschnittlich fünf Versuche pro Tag. Ergebnis: Entweder (normalerweise) Besetztzeichen, oder der Transistor-Idiot spuckt dieselbe Nachricht aus. Eine mögliche Erklärung (unter vielen): Aufgenommene Nachricht enthält kein Datum, könnte auch am Tag von Harmagedon aufgenommen worden sein, gestern – jederzeit.
Lungere jedoch nicht etwa herum, oder sitze händeringend neben dem Telefon, war sehr beschäftigt. Umzug zur Farm beendet, Vorratsreserven sind aufgefüllt, zusätzliches Vieh und Geflügel zusammengetrieben. Habe Zäune elektrisiert, verstärkt, wo sie noch nicht hundesicher erschienen, noch mehr Getreide eingefahren (habe gelernt, LKW mit übermäßig vielen Gängen – 16! – zu fahren – tut mir wirklich leid um den Torpfosten der Getreidefirma, war aber im Weg, hätte schon längst entfernt werden müssen), habe zwei automatische Dieselgeneratoren entdeckt und zur Farm gebracht, habe sie mit einem ausgeklügelten Relaissystem verbunden, so daß der erste von selbst anspringt, wenn der Strom ausfällt, und der zweite sich einschaltet, wenn der erste ausfällt. Hat bis jetzt bei jedem Test funktioniert, genau wie es im Buch beschrieben war.
Habe Sprit in entsprechenden Mengen für diese Operation angesammelt: Habe vier Tankwagen, randvoll mit Diesel (jeder mit etwa 25.000 l) hergebracht, baute Röhrensystem, das die Zufuhr für die Generatoren sichert – was sie brauchen, sollen sie auch haben. Bei etwa 50 l pro Stunde (bei voller Kraft) sollte ich über vier Monate auskommen, wenn erforderlich. (Farm nimmt allerdings immer mehr Charakter eines LKW-Hofs an. Muß bald überlegen, wohin ich die leeren bringe, anderenfalls kann ich bald kaum noch über den Hof gehen.)
Verteidigungsmaßnahmen nicht etwa Ergebnis von Verfolgungswahn. Versuche, den Platz während meiner Abwesenheit sicher zu machen, verbessere die Möglichkeiten, bei meiner Rückkehr eine bewohnbare und lebensfähige Farm vorzufinden, selbst wenn meine Abwesenheit länger dauert als erwartet. Was durchaus eintreten könnte, es sind über 1400 km (Luftlinie) bis zu Peters Adresse, laut Akte. Und er ist nur der erste AA auf der Liste, die anderen sind überall verstreut.
Habe versucht, an alles zu denken, sowohl für zu Hause als auch für mich selbst auf der Reise. Habe Fahrzeug sorgfältig ausgesucht: Chevrolet-Kombi mit Allradantrieb. Riesige Schneereifen hängen von Federn an allen vier Rädern, bieten jeweils zwanzig Zentimeter mehr festen Grund und starke Zugkraft. Vordere Stoßstange trägt elektrische Winde, die wahrscheinlich in der Lage ist, einen Wagen eine senkrechte Klippe hinaufzuziehen. Im Innern sind Bad, Toilette, Spülstein, Ofen, verschiedene Schränke – und außen an den Seitenwänden prangen einige ausgesprochen barocke Gemälde.
Obwohl es speziell für meine eigenen Bedürfnisse gebaut zu sein schien (abgesehen von den Gemälden und der Notwendigkeit, einen Aufbau für die Pedale zu konstruieren), war es das Lieblingsspielzeug eines Bankiers aus der Stadt. Wenn er nicht gerade Pfennige zählte, verbrachte er seine Zeit damit, in endloser Suche nach unzulänglichem, nicht passierbarem Gelände herumzuschleichen. Prahlte damit, keins gefunden zu haben. Hoffe es, wäre für meine eigene Unternehmung sehr gut.
Persönliche Gebrauchsgegenstände und ähnliches befinden sich an Bord. Inklusive genügend Nahrung für mich selbst und Terry, Bettzeug, Kleidung, Toilettenartikel, verschiedene Werkzeuge wie Axt, Seitenschneider etc., Ersatzteile für den Wohnwagen, Siphon, Pumpe, Röhren für Sicherheitsgas, kleine, sehr gefährliche Waffensammlung: unter anderem die abgesägte Schrotflinte des Polizeichefs, zwei Magnum-Revolver M-16 mit viel Munition und Zielfernrohr. Erwarte zwar keinen Ärger, aber halte mich an die Theorie, daß es wahrscheinlich nicht regnet, wenn man einen Schirm mitnimmt.
Lasse das Tagebuch hier im Schutzraum für die Archäologen zurück, führe auf der Reise ein anderes Tagebuch. Kann sie bei meiner Rückkehr zusammenschreiben, aber wenn meine Pläne danebengehen, bleibt wenigstens dies hier für die Nachwelt erhalten.
Nun, es ist Zeit zu gehen. Ziel unbekannt.
Aber ich habe mich noch nie so klein gefühlt. Draußen wartet schrecklich große Welt.
Auf mich.
EMERGENCE
by David R. Palmer
aus Analog January 5,1981
Übersetzung: Irmhild Hübner