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„Verdammt, Keepiru. Halt endlich an!“ Der Schlitten schnellte knapp unter der Meeresoberfläche voran. Der Nachmittag war vorangeschritten, und die Wolken hatten eine rötliche Färbung angenommen, aber Toshio konnte klar erkennen, wie Keepiru zwischen flachen Wellen in die Höhe sprang. Er schien gleichgültig gegenüber Toshios Rufen zu sein, als er sich der Insel näherte, auf der seine Kameraden im Fieberwahn gestrandet waren.
Toshio fühlte sich hilflos. In drei Minuten würde ein weiteres Nachbeben folgen. Wenn der Delphin nicht dadurch strandete, würden wahrscheinlich seine eigenen Bemühungen dafür sorgen. Keepiru stammte von Atlast, einer neuen und sehr ursprünglichen Welt. Es war zweifelhaft, daß er die Methoden der Selbstbeherrschung in einem Ausmaß wie Creideiki oder Hikahi oder wie, in ein einem geringeren Maße, der auf der Erde geborene, kultivierte Krookida studiert hatte.
„Halt an! Wenn wir uns richtig abstimmen, können wir als Team zusammenarbeiten! Ignoriere die Nachbeben! Läßt du mich aufholen?“ Er schrie, aber es hatte keinen Zweck. Der Flosser war zu weit voraus.
Seltsam, wie er sein ganzes Leben lang mit Delphinen zusammenleben und -arbeiten konnte und so wenig über sie wußte. Zu denken, daß der Terranische Rat ihn wegen seiner Erfahrung als Offiziersanwärter ausgesucht hatte … Ha!
Zum Beispiel Keepiru. Toshio war von den Flossern schon immer und oft verkohlt worden. Sie veräppelten alle menschlichen Kinder, während sie sie gleichzeitig beschützten. Allzu verschieden von der Art, wie menschliche Erwachsene sie behandelten, war das nicht. Aber als er die Stelle an Bord der Schnüffler antrat, hatte er erwartet, als Erwachsener und Offizier begrüßt zu werden. Sicher, ein kleiner verbaler Schlagabtausch, wie er ihn zu Hause zwischen erwachsenen Menschen und Flossern erlebt hatte, aber genauso ein wenig gegenseitige Rücksichtnahme.
Keepiru war der Schlimmste gewesen. Er hatte sogleich einen heftigen Sarkasmus offenbart und nie davon abgelassen. Von Beginn an war es eine einzige Demütigung gewesen, außer wenn Hikahi einschritt. Und das war noch schlimmer.
Warum versuche ich überhaupt, ihn zu retten?
Er erinnerte sich an die wilde Entschlossenheit, die Keepiru gezeigt hatte, als er ihn aus dem Tang befreite. Dabei war kein Rettungsfieber aufgetreten. Der Flosser hatte seine Rüstung vollständig unter Kontrolle gehabt. Das war Grund genug.
Er denkt also von mir wie von einem Kind, dachte Toshio verbittert. Kein Wunder, daß er mich jetzt nicht beachtet.
Aber es gab noch einen Weg. Toshio biß sich auf die Lippen und wünschte sich vergeblich eine Alternative. Um Keepirus Leben zu retten, mußte er selbst sich gänzlich erniedrigen. Die Entscheidung dafür war nicht einfach. Sein Stolz hatte solch einen Stoß erhalten, daß er es letztlich fast vorzog, nichts zu unternehmen.
Mit einem wilden Fluch drückte er das Drosselventil wieder zu und stellte die Bugflossen so, daß er absank. Er drehte die Unterwasserlautsprecher auf volle Leistung, schluckte noch einmal und schrie dann in einem trinarischen Kauderwelsch:
*Kind in Gefahr – Kind in Not*
* Menschenkind – erwartet den Retter*
* Menschenkind – komm, gib dein Bestes!*
Immer und immer wieder wiederholte er den Ruf, pfiff ihn mit Lippen, die trocken vor Scham waren. Dieser Kinderreim wurde allen Kindern von Calafia beigebracht. Jedes Kind, das älter als sieben Jahre war und ihn benutzt hatte, beantragte für gewöhnlich die Versetzung zu einer anderen Insel, um der folgenden Hänselei zu entgehen.
Für Erwachsene gab es würdigere Arten, um Hilfe zu rufen.
Aber keine, von der Keepiru gehört hatte.
Seine Ohren brannten, während er den Ruf wiederholte.
Natürlich kamen nicht alle Kinder gut mit den Flossern zurecht. Nur ein Viertel der Bevölkerung von Calafia arbeitete eng mit dem Meer zusammen. Aber diese Erwachsenen hatten gelernt, wie man am besten mit den Delphinen klarkam. Toshio hatte immer angenommen, daß er zu ihnen gehören würde, wenn er den Schritt in den Weltraum nicht schaffte.
Das war nun alles vorbei. Wenn er zurück zur Schnüffler gelangte, würde er sich in seinem Aufenthaltsraum verstecken müssen – zumindest für die paar Tage, die die Sieger der Schlacht über Kithrup brauchten, um herunterzukommen und sie in Gewahrsam zu nehmen.
Auf seinem Sonarschirm näherte sich von Westen eine weitere zerfaserte, statische Linie. Toshio zuckte die Achseln und ließ den Schlitten etwas tiefer gleiten. Nicht daß er sich sorgte. Er setzte das Pfeifen fort, aber er fühlte sich, als ob er schrie.
##wo – wo – wo ist das Kind? – wo ist Kind? wo##
Ur-Delphinisch! Ganz nahe! Fast vergaß er sein Schamgefühl. Er ahmte das grundlegende Notsignal so gut nach, wie menschliche Lippen es vermochten.
Er nahm einen Riemen in die rechte Hand, einen, der von Krookidas Befestigungen zurückgeblieben war, und pfiff weiterhin, auch wenn es ihn drängte, eine wilde Grimasse zu schneiden.
Ein Streifen aus grauem Zwielicht schoß wie ein Blitz an ihm vorbei in die Tiefe. Toshio preßte seine Knie zusammen und nahm den Strick in beide Hände. Er wußte, daß Keepiru unter ihm kreisen und dann von der anderen Seite hochkommen würde. Der Flosser mochte dieses Manöver. Als er die erste Andeutung grauer Haut aufwärts jagen sah, stieß Toshio sich vom Schlitten ab.
Der geschoßförmige Körper des Delphins wand sich in einem plötzlichen, panikartigen Versuch, dem Zusammenprall auszuweichen. Toshio schrie auf, als der Schwanz des Meeressäugers gegen seine Brust schlug. Aber er schrie mehr aus Freude als vor Schmerzen. Er hatte es richtig abgepaßt!
Als Keepiru sich wieder herumdrehte, warf Toshio sich zurück und ermöglichte es dem Flosser, zwischen ihm und dem Tau, das er in seinen Händen hielt, hindurchzuschwimmen. Er wand seine Füße um den schlüpfrigen Schwanz und zog mit aller Entschlossenheit eines Garrotteurs an dem Seil.
„Hab’ ich dich!“
In diesem Augenblick schlug das Nachbeben über ihm zusammen.
Der Zyklon griff wie der anschwellende Druck von tausend zerrenden Fingern nach ihm. Trümmersplitter prallten gegen ihn, als der Sog ihn durchschüttelte – ein scheinbares Bündnis mit dem tollwütigen, bockenden Delphin, auf dem er sich festhielt.
Aber diesmal hatte Toshio keine Furcht vor der Wellenfront, auch nicht vor der Insel, doch er hoffte, daß er den Schlitten weit genug draußen gestoppt hatte, damit das Nachbeben sie nicht an den Strand spülen konnte. Er steckte voller Kampfeswut. Das Adrenalin sengte wie ein Strom heißen Quecksilbers durch ihn. Seine Befriedigung fand kein Ende, daß er Keepirus Leben durch körperliche Züchtigung für die Wochen der Demütigung rettete.
Der Delphin krümmte sich in Panik. Das Seil tat weh, genauso wie die Rüstung, zu der Toshio bald seinen Griff verlagerte. Als die Woge über sie hinweggerollt war, quietschte er den Notruf nach Luft.
Verzweifelt krümmte sich der Flosser und schoß zur Oberfläche.
Sie tauchten auf, und Toshio konnte knapp verhindern, daß er vom Schaum aus Keepirus Blasloch in die Luft gepustet wurde. Dann begann Keepiru mit einer Reihe von Sprüngen, er kreiste, um seinen unwillkommenen Reiter abzuschütteln.
Jedesmal, wenn sie ins Wasser eintauchten, rief Toshio.
„Du bist ein empfindendes Wesen“, keuchte er. „Sei verflucht, Keepiru … du bist … Raumpilot!“
Er wußte, daß er seine Schmeicheleien in Trinar machen sollte, aber es war zwecklos, das überhaupt zu versuchen, wenn alles, was er tun konnte, war, sich an seinem teuren Leben festzuklammern.
„Du erbsenhirniges … phallisches Symbol!“ kreischte er, während das Wasser gegen ihn klatschte. „Du überkandidelter Fisch! Du wirst mich umbringen, du gottverdammter … Die E.T.s haben sich Calafia angeeignet, weil ihr Flosser nicht euren Mund halten könnt! … Wir hätten euch niemals mit in den Raum nehmen sollen!“
Die Worte waren voller Haß. Schlimmer. Verächtlich. Schließlich schien Keepiru sie gehört zu haben. Er bäumte sich im Wasser auf wie ein in Wut gebrachter Hengst. Toshio fühlte, daß sein Griff sich lockerte, dann wurde er weggeschleudert und schlug mit einem Platschen ins Meer.
In den vierzig Generationen, seitdem die Delphine geschult wurden, hatte es nur zehn Fälle gegeben, in denen ein Flosser einen Menschen mit der Absicht, ihn zu töten, angegriffen hatte. Jedesmal waren die Verwandten der Übeltäter sterilisiert worden. Dennoch erwartete Toshio, in jedem Moment zermalmt zu werden. Er sorgte sich nicht. Er hatte schließlich den Grund seiner Niedergeschlagenheit erkannt.
Es war nicht die Unmöglichkeit, nach Hause zurückzukehren, die ihm in den letzten paar Wochen zugesetzt hatte. Es war eine andere Tatsache, an die zu denken er sich nicht einmal seit der Schlacht über Morgran erlaubt hatte.
Die EeTees … die Extraterrestrier … die Galaktischen jeglicher Rasse und Weltanschauung, die die Schnüffler jagten … würden sich nicht damit aufhalten, das mit Delphinen bemannte Schiff am Boden zu jagen.
Mindestens eine der E.T.-Rassen würde erkannt haben, daß die Schnüffler sich möglicherweise erfolgreich zu verstecken vermochte. Oder sie könnten in der irrigen Annahme sein, daß die Mannschaft das Geheimnis ihrer Entdeckung erfolgreich zur Erde geleitet hatte. Wie auch immer, der nächste Schritt war für eine der unmoralischeren und bösartigeren Rassen zwingend.
Die Erde konnte sich vermutlich selbst verteidigen. Wahrscheinlich Omnivarium und Hermes genauso. Die freundlichen Timbrimi würden die Kolonien von Caana verteidigen.
Aber Planeten wie Calafia oder Atlast – sie mußten jetzt schon eingenommen sein. Seine Familie und jeder, den er kannte, waren Geiseln. Und Toshio erkannte, daß er die Flosser tadelte.
Eine weitere Wellenfront mußte jetzt jede Minute kommen. Toshio kümmerte sich nicht darum.
Trümmerstücke trieben überall in der Nähe. Nicht weiter als einen Kilometer entfernt, konnte Toshio den Metallwall erkennen. Zumindest sah er aus wie der richtige. Er konnte nicht unterscheiden, ob Delphine am Ufer gestrandet waren oder nicht.
Ein großer Trümmerbrocken trieb in seine Nähe. Er brauchte einen Augenblick, um zu bemerken, daß es Keepiru war.
Wassertretend öffnete er mit einer Hand den Helm.
„Na“, fragte er, „bist du stolz auf dich?“
Keepiru legte sich schwach auf eine Seite, während er mit einem dunklen Auge auf Toshio blickte. Die Schwellung auf dem Kopf des Meeressäugers, wo menschliche Einmischung aus dem früheren Blasloch eine Sprachapparatur gebildet hatte, gab einen langgezogenen, leisen und trillernden Ton von sich.
Toshio war nicht sicher, ob es nur ein Seufzen war. Es mochte eine Entschuldigung in Ur-Delphinisch sein. Allein die Möglichkeit reichte aus, um ihn wütend zu machen.
„Laß den Unsinn! Ich will nur eines wissen. Muß ich dich zurück zum Schiff schicken? Oder glaubst du, daß du lange genug bei Bewußtsein bist, um mir zu helfen? Antworte in Englisch, und zwar besser grammatisch korrekt!“
Keepiru stöhnte vor lauter Qual. Nach einem Augenblick heftigen Atmens sprach er endlich, sehr langsam.
„Schick mich nicht zurück“, brummte er unglücklich. „Sie schreien immer noch nicht nach H-H-Hilfe! Ich werde tun, um was du mich b-b-bittest!“
Toshio nickte schroff. Er versuchte, im Westen etwas zu erkennen, konnte aber nicht feststellen, ob die nächste Schockwelle nahe war. Das machte nicht viel aus.
„Also gut. Tauch nach unten und such den Schlitten. Wenn du ihn gefunden hast, nimmst du dir einen Atmer. Ich will nicht, daß du von Atemnot behindert wirst, und außerdem brauchst du eine ständige Erinnerung! Dann bring den Schlitten nach oben, zur Insel, aber nicht zu nah!“
Keepiru schwang seinen Kopf in einer weiten, nickenden Bewegung.
„J-J-Ja!“ schrie er. Dann flitzte und tauchte er durch das Wasser.
Toshio drehte sich, um nach Westen zu schauen, nachdem er den Helm geschlossen hatte. Es war, als ob Keepiru alles Denken ihm überließ. Der Flosser hätte sich womöglich gesträubt, wenn er aufgeschnappt hätte, was Toshio im Kopf herumging.
Einen Kilometer bis zur Insel. Es gab nur einen Weg, um dorthin zu gelangen und dabei zu vermeiden, über die abschüssige, rauhe Oberfläche aus Metallkorallen zu klettern. Er überprüfte noch einmal seine Orientierung, um sicher zu sein, daß er das Ziel nicht verfehlen würde – dann zeigte ihm das Fallen des Wasserspiegels an, daß die nächste Welle kam.
Die vierte Welle schien die bisher sanfteste zu sein. Obgleich er wußte, daß das Gefühl eine Täuschung sein konnte. Er war tief genug im Wasser, daß der Schwall wie ein sanfter Bausch über ihn schwappte und nicht als niederkrachender Brecher. Er tauchte in den Wasserhügel hinein und schwamm eine Weile gegen die Strömung, bevor er zur Oberfläche aufstieg.
Er mußte es genau richtig abschätzen. Wenn er zu weit schwamm, würde er die Insel nicht vor dem folgenden Wellental erreichen, das ihn dann wieder hinaus auf die See tragen würde. Am Beginn der Welle zu bleiben, würde ihn der Gefahr aussetzen, mit der Brandung in einem gewaltigen Brecher auf den Strand geklatscht und wieder heruntergespült zu werden, und das war dann alles.
Alles geschah zu schnell. Er schwamm kräftig, konnte aber nicht ausmachen, ob er den Wellenberg schon überschritten hatte oder nicht. Dann zeigte ihm ein Schimmer, daß es zu spät für Korrekturmaßnahmen war. Er drehte sich herum, um den großen, laubbedeckten Wall anzublicken.
Der Brecher war zu Beginn hundert Meter hoch, aber der Hang fraß die Welle schnell auf, als der Grund den Zyklon zu einem schäumenden Ungeheuer auseinanderzog. Die Spitze wanderte zurück auf Toshio zu, während die Welle den Strand hinaufschnellte.
Der Junge versteifte sich, als der Kamm ihn erreichte. Er war darauf vorbereitet, in einen Abgrund zu schauen und danach nichts mehr zu sehen.
Was er sah, war ein Wasserfall weißen Schaums, als die Welle abzusterben begann. Toshio schrie auf, um seine Gehörgänge freizumachen, und begann, wütend loszuschwimmen, um an der Spitze der kräuselnden, gleitenden Welle aus Schaum und Trümmern zu bleiben.
Plötzlich war überall um ihn herum Grünzeug. Bäume und Sträucher, die den ersten Angriffen widerstanden hatten, schwankten nun unter der Attacke der schwächeren Schwester. Einige verloren gerade ihren Halt, als er vorbeischwamm. Andere standen noch und wedelten ihm entgegen, während er zwischen ihnen hindurchschoß.
Er wurde von keinem spitzen Ast aufgespießt. Keine unzerbrechlichen Rebenranken würgten ihn im Vorbeischwimmen. In einem wirbelnden, schüttelnden Durcheinander kam er schließlich zur Ruhe, irgendwie konnte er den Stamm eines massigen Baumes umklammern.
Er war wunderbarerweise wieder auf den Füßen – der erste Mensch, der den Boden von Kithrup betrat. Toshio starrte betäubt auf seine Umgebung, und einige Augenblicke lang vermochte er seine Rettung nicht zu glauben.
Dann wurde er der erste Mensch, der sein Frühstück auf dem Boden von Kithrup verstreute.