39

Winter folgte den Spuren da draußen, der Sandspåret, Skolspåret. Es waren mehr Spuren geworden. Die Kurdenspur. Ha. Sie war in verschiedener Hinsicht eine traurige Erinnerung geworden. Die Geschichte hatte etwas Komisches, oder besser gesagt Tragikomisches, sie machte die gesamte Polizei lächerlich. Und Alan, auch eine tragikomische Figur.

Aber in diesem Augenblick war ihm nicht nach Lachen zumute. Auf den Spielplätzen rundum hörte er Kinder lachen, die Grasflächen fingen schon an zu verdorren. Es war ein Tag, der zum Lachen verlocken konnte. An solchen Tagen war es leichter zu leben. Ein blaugelber Tag, Himmel und Sonnenschein.

Der Junge war nach seinen ersten Worten wieder verstummt. Er hatte schockiert ausgesehen, als wäre er selbst überrascht gewesen, dass er sprechen konnte, als wären es die allerersten Worte gewesen, die er sprach. Danach hatte er kein einziges Wort mehr gesagt. Er hatte angefangen zu weinen, und die Mutter hatte Winter mit einem flehenden Blick angesehen.

Winter war gegangen.

Er ging zu Jimmys früherem Laden. Der wirkte nun fast antik, als ob viele Jahre zwischen jetzt und damals lägen, nicht nur eine knappe Woche.

Dort musste der Junge gestanden haben. Winter stellte sich an die Stelle, ging in die Hocke und spähte in den Laden. Ja, das könnte stimmen. Dort ist die Tür und dort die Bank, der Fußboden, das Meer, das rote Meer. Es war immer noch zu sehen, wie eine Ablagerung auf dem Meeresgrund.

Die mit Kreide gezeichneten Körperumrisse waren noch da, wie ertrunkene Schatten.

Zuerst hatte der Junge die Mörder hineingehen sehen. Dann hatte er sie herauskommen sehen. Dann war eine weitere Person erschienen. Jemand, der nur dagestanden hatte.

Im Präsidium war es endlich etwas abgekühlt. Vielleicht ging ein Wind durchs Haus, von dem niemand wusste, oder die Ventilation funktionierte zum ersten Mal, seit dieses Höllengebäude errichtet worden war. Einige Jahre zuvor war der Nachbar Gamla Ullevi umgebaut worden, aber das Bauunternehmen hatte das Präsidium übersehen. Wir hätten alle eine Chance zum Neuanfang gehabt. Vielleicht sogar die Chance, die Stadt zu verlassen und uns angenehmere Gegenden zu suchen.

Ringmar ging in Winters Büro auf und ab. Sechs Meter vor, sechs Meter zurück.

»Ich war schon auf dem Weg nach draußen«, sagte er.

»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte Winter.

»Es kann kein anderer gewesen sein«, sagte Ringmar.

»Aber da muss noch jemand sein.«

»Das verstehe ich wohl. Reinholz wird uns schon alles erzählen, was wir wissen müssen.«

»Daran glaub ich nicht so recht.«

»Woran glaubst du nicht, Erik?«

Winter antwortete nicht. Er stand am Fenster. Am anderen Flussufer sah er eine Straßenbahn. Auf den Straßen waren Leute unterwegs, nicht viele, aber das Zentrum war nicht mehr ganz so verlassen.

»Und wenn er abhaut? Wenn uns noch einer durch die Lappen geht?«

»Wenn er abhaut, dann ist die Sache klar«, sagte Winter. »Dann müssen wir die Gegend noch einmal ordentlich durchkämmen. Übrigens hab ich die Dolmetscherzentrale angerufen.«

»Ich denk, du warst allein bei dem Jungen?«

»Schon, ich hab sie hinterher auf dem Weg hierher vom Auto aus angerufen.«

»Weswegen?«

»Mozaffar Kerim.«

Ringmar hielt jäh in seiner Wanderung inne und blieb mitten im Raum stehen.

Winter sah ein junges Pärchen den Rasen überqueren. Das war ein Vergehen.

»Ich höre«, sagte Ringmar.

»Mozaffar Kerim hat gedolmetscht, als wir mit Familie Aziz gesprochen haben. Erinnerst du dich, dass er schon auf uns wartete, als wir kamen? Oben auf dem Hammarkulletorget?«

»Ja.«

»Er hat sich entschuldigt, dass er zu früh dran war, und dann sind wir zu den Aziz’ gegangen.«

»Auch daran erinnere ich mich.« Ringmar lächelte.

»Nun, ich hatte Möllerström gebeten, bei der Dolmetscherzentrale einen Dolmetscher für ein Verhör bei den Aziz’ zu Hause zu bestellen. Das hat er auch getan. Die haben nach ihrem System eine Person ausgewählt, und die bekam den Job in Hammarkullen.«

»Mozaffar Kerim«, sagte Ringmar.

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Ich hab darüber nachgegrübelt. Warum ausgerechnet Mozaffar Kerim? Er war zu eifrig, er ist der Familie nahe. Er ist gewissermaßen ständig dabei. Deswegen habe ich überprüft, wer den Auftrag bekommen hat, das halten die fest, und er war es nicht. Es war ein Name, an den ich mich im Augenblick nicht erinnern kann, jedenfalls war es nicht Mozaffar Kerim.«

»Wie war das denn möglich?«

»Das weiß ich noch nicht. Wir müssen … fragen, oder? Irgendwie hat er mit der beauftragten Person getauscht, und als wir in Hammarkullen ankamen, war Kerim schon da.«

»Aber warum?«

»Er wollte die Kontrolle behalten.«

»Die Kontrolle über was?«

Winter antwortete nicht. Das Pärchen hatte inzwischen den Park erreicht. Jetzt näherte sich aus westlicher Richtung eine elegant gekleidete Dame mittleren Alters mit ihrem Hund, den sie mitten auf den Rasen kacken ließ. Dann sah sich die Frau um und zog den Köter mit sich, ohne den Hundekot aufzunehmen. Definitiv ein Vergehen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er die Alte zurückgepfiffen.

»Die Kontrolle über was?«, wiederholte Ringmar.

»Über alles«, sagte Winter.

Bei Mozaffar Kerim zu Hause meldete sich niemand.

In der Dolmetscherzentrale war nicht bekannt, wo er war.

Er saß der Kellnerin zufolge auch nicht in der Pizzeria Souverän. Winter hatte sie schon einmal so verschreckt, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte danach gefragt, ob sie jemandem erzählt habe, dass Winter und Ringmar in der Pizzeria gewesen waren, als Kerim und Alan in einem Taxi vor der Tür gehalten hatten. Sie hatte es nicht getan, und auch jetzt sagte sie die Wahrheit.

Im kurdischen Kultur- und Bildungscenter in Angered kannte man Mozaffar Kerim, wusste aber nicht, wo er sich gerade aufhielt. Winter nahm sich vor, ein ausführlicheres Gespräch mit den Leuten zu führen, doch dafür hatte er heute keine Zeit.

»Wann willst du den Jungen wieder verhören?«, fragte Ringmar.

»Morgen.«

»Hast du vorhin nicht heute gesagt?«

»Es geht nicht. Vielleicht erkennen wir die Wahrheit durch die Zeugenaussage des Jungen.«

»Ich halte es nicht mehr aus hier drinnen«, sagte Ringmar.

»Ich muss unbedingt mit Nasrin Aziz sprechen«, sagte Winter.

Winter glaubte, dass der Täter noch lebte. Hussein Hussein lebte vielleicht nicht mehr, aber vielleicht war er auch nicht tot. Vielleicht hatte es ihn überhaupt nicht gegeben. Der Gedanke kam schleichend, wie ein Kopfschmerz, der sich nicht vertreiben lässt. Alan Darwish? Ein Täter? Kaum.

Nasrin wartete unter einem Baum. Es war ein Tag, an dem alle, die er getroffen hatte, Schatten gesucht hatten. Schweden ist ein ganz anderes Land geworden, dachte Winter, es ist so heiß, seit wir wieder hier sind.

»Ich möchte mich bewegen«, sagte Nasrin. »Ich will nicht hier herumstehen.«

»In welche Richtung?«

Sie zeigte unbestimmt nach Südwesten.

Sie gingen an der Bredfjällschule vorbei, an der Nytorpschule. Zwischen den Straßen und Wegen gab es unzählige Trampelpfade, als würden die offiziellen Wege nicht reichen für die Menschen, die hier wohnten.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie nach einer Weile. Winter hatte nichts gesagt, seit sie sich in Bewegung gesetzt hatten.

»Vielleicht kommen wir der Sache näher«, sagte er.

»Welcher Sache?«

»Wir nähern uns der Lösung des Rätsels.«

»Sie reden ja selbst in Rätseln«, sagte sie. »Das ist im Schwedischen eigentlich nicht üblich.«

»Ach, nein?«

»Nein. Ich bin ja nicht gerade eine Expertin, aber Schwedisch ist anscheinend nicht sehr vielschichtig.«

»Kann sein.«

»Alles ist eindeutig«, fügte sie hinzu.

»Das kann manchmal auch von Vorteil sein«, sagte Winter.

»Sodass man weiß, was richtig und was falsch ist?«

»Das ist allerdings häufig sehr schwer zu erkennen«, antwortete er.

»Stimmt.«

Sie kamen an Västerslänt vorbei. Es war immer noch ein Stück bis Hjällbo.

»Wissen Sie, dass Kurdisch an vierzigster Stelle auf der Rangliste der Weltsprachen steht?«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Ungefähr dreißig Millionen Menschen sprechen Kurdisch. Das sind ein paar Millionen mehr als Schweden Einwohner hat.«

»Tatsächlich«, sagte er.

»Wollen Sie mich veralbern?«

»Nein, warum sollte ich?«

»Sie ahmen mich nach.«

»Das tu ich doch gar nicht. Ich möchte, dass Sie mir ein bisschen mehr von Ihrer Sprache erzählen.«

»Darüber gibt’s nicht viel mehr zu erzählen. Soweit ich weiß jedenfalls. Es gibt verschiedene Dialekte, aber die gibt es ja in allen Sprachen.«

»Was sind das für Dialekte?«

»Ist das von Bedeutung?«

»Es interessiert mich.«

»Es hat also keine Bedeutung für Ihre … Ermittlung oder wie das heißt?«

»Nennen Sie mir einige der Dialekte«, bat Winter.

»Tja … Kalhur, Hwrami, Krimanji, Sorani. Einige Dialekte sind sehr alt, viele hundert Jahre. Aber … dann wurde die Sprache verboten. Das wissen Sie doch?«

»Ja.«

»Man durfte sie nicht schreiben, man durfte sie nicht sprechen.«

Winter schwieg. Sie kamen an der Kirche vorbei. Das Kreuz war kaum zu sehen in der Sonne.

»Man durfte nicht einmal in der Sprache denken«, sagte sie.

Schweigend gingen sie einige hundert Meter weiter.

»Ich möchte Sie etwas fragen, Nasrin. Dabei geht es auch um Sprache.«

Sie antwortete nicht.

»Wie gut kennen Sie Mozaffar Kerim?«

»Was soll die Frage?«

»Sprechen Sie denselben Dialekt?«

»Ja.«

»Stammen Sie aus derselben Stadt?«

»Nein.«

»Ist er ein Freund Ihrer Familie?«

Nasrin antwortete nicht. Sie kamen an einer weiteren Kirche vorbei, der Kirche von Hjällbo.

»Ist er Ihr Freund?«

»Nein«, antwortete sie.

»Warum nicht?«

»Ich könnte Sie dasselbe fragen«, sagte Nasrin. »Ich könnte einen Namen nennen und Sie fragen, ob derjenige Ihr Freund ist, und Sie könnten mit nein antworten, und es gäbe hunderttausend Gründe, warum er nicht Ihr Freund ist.«

»Aus welchem Grund ist Mozaffar Kerim nicht Ihr Freund, Nasrin?«

»Was?« Sie ging langsamer, blieb stehen. »Was meinen Sie damit?«

»Ist er einmal Ihr Freund gewesen?«

Sie antwortete nicht.

»Wenn ich behaupte, dass er einmal Ihr Freund war, es aber nicht mehr ist, was sagen Sie dann?«

»Ich sage, dass ich nicht verstehe, was Sie meinen.«

»War er Hiwas Freund?«

»Ja.«

»War er immer Hiwas Freund?«

Sie antwortete nicht.

»Bis zum Schluss?«

»Welchem Schluss?«

»War er Hiwas Freund bis zu seinem Tod?«

Sie setzte sich wieder in Bewegung. Winter konnte ihr Gesicht nicht sehen. Er holte sie ein. Nasrin blieb wieder stehen und sah zum Himmel hinauf.

»Ich glaube, es wird gleich gießen«, sagte sie. Sie hatten den Marktplatz erreicht, der jetzt belebter war. Winter folgte Nasrins Blick. Der Himmel hatte sich bedrohlich zugezogen.

»Mehr Fragen will ich nicht beantworten«, sagte sie. »Ich will hier weg.«

Sie gingen weiter in Richtung Süden. Winter konnte das Haus sehen, in dem der Junge wohnte. Er war wieder da, immer wieder kehrte er hierher zurück. Bald würde er das verfluchte Gebäude sehen, in dem Hiwa so elend gestorben war. Es hatte nicht den Anschein, als wenn Nasrin daran dachte, es wusste, sich darum kümmerte oder es verstand.

»Hat Mozaffar Kerim Hiwa umgebracht?«, fragte Winter.