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Jesses, was soll man dazu sagen!« Ringmar schüttelte den Kopf. Sie waren auf dem Weg zu Winters Mercedes. Der wirkte wie ein schwarzer Ofen in der Sonne, ein glühender schwarzer Ofen.

»Er wusste, dass wir dort waren«, sagte Winter.

»Wo? In der Pizzeria?«

Ringmar deutete mit dem Kopf zu dem Lokal, dessen Tür jetzt zum Lüften offen stand. Aber es gab keinen Windhauch, der hineinziehen konnte. Es war keine gesunde Luft. In dieser Luft konnten Leute sterben.

»Er hat eine Show abgezogen«, sagte Winter. »Das Ganze war eine Show.«

»Du meinst, er hat uns gesehen, als er mit dem Taxi zurückkam?«

Winter antwortete nicht. Er drückte auf die Fernbedienung und die Autoschlösser öffneten sich wie mit einem gedämpften Schuss aus einer Pistole. Eine schwarze Katze überquerte den Parkplatz, buckelte, streckte sich wieder und lief weiter an der Häuserfront entlang, vorbei an der Pizzeria und in Richtung Jimmys Laden.

»Er wusste schon, dass wir dort saßen«, sagte Winter.

»Als er im Taxi auf dem Weg nach Hause war?«

Winter nickte und schaute zum Eingang der Pizzeria. Es war nicht zu erkennen, ob sie von drinnen beobachtet wurden.

»Aber wir wussten es ja kaum selber«, sagte Ringmar. »Du hast es vorgeschlagen, und wir sind hergefahren.«

»Und jemand hat uns gesehen«, sagte Winter. Ringmar folgte seinem Blick zum Eingang.

»Jemand hat uns von drinnen gesehen?«

»Mhm.«

»Aber dort war doch nur …« Ringmar verstummte.

»Wir müssen den Telefonverkehr überprüfen, ausgehende und eingehende Telefonate.«

»Sollten wir nicht mit ihr reden?«

»Nicht jetzt.«

»Du meinst also, das war alles nur Show?«

»Nein, das glaub ich nicht. Aber Kerim war vorbereitet, als wir kamen, er wusste, was wir ihn fragen würden, und hatte seine Antworten parat.«

»Oder aber er hat einfach erzählt, wie es war und warum. Vielleicht hat er doch nichts zu verbergen.«

»Glaubst du das?«

»Was sollte er zu verbergen haben, Erik?«

»Woran er Schuld hat, meinst du?«

»Woran sollte er schuld sein?«

»Das ist genau das, was wir ihn fragen müssen«, sagte Winter.

»Vielleicht hätte er auch darauf eine Antwort parat. Eine vorbereitete Antwort.«

»Dann müssen wir ihn noch einmal fragen.«

»Wann?«

»Wenn wir bereit sind.«

»Wann sind wir das?«

Winter blinzelte in die Sonne. Sie schickte sich an, unterzugehen, ohne wirklich unterzugehen, sie würde noch mehrere Stunden am Himmel entlangwandern. Der Tag würde in die Nacht übergehen und weitergehen und weitergehen. Ich krieg keinen Schlaf, bevor das hier nicht vorbei ist. Hoffentlich hält mein Schädel das durch. Im Augenblick hämmert es nicht so sehr über dem Auge. Bald ist es vorbei. Da ist etwas in Bewegung gekommen, ein neues Bewegungsmuster. Menschen werden nervös, nervöser. Wir nähern uns.

»Wenn die Sonne untergeht, sind wir bereit«, sagte Winter.

»Die geht doch gar nicht unter.«

Jerker Reinholz stieg aus seinem Taxi und streckte die Arme in den Himmel. Ein ganzer Tag im Auto, oder eine Nacht, das zog die Muskeln zusammen, und es tat gut, sie zu strecken. Er wollte nicht krumm, kein Krüppel werden. Ein armer Teufel. Es gab zu viele arme Teufel. Man brauchte nur die zu beobachten, die hier Taxi fuhren. Arme Teufel. Sie kamen nicht weiter, saßen fest. Sie trauten sich nichts. Sie nahmen kein Risiko auf sich. Herr im Himmel, er hatte was riskiert, aber es war gut gegangen. Man musste zum Risiko bereit sein. Wer das nicht war, der war ein Krüppel. Die Fragen von diesem Bullen waren nicht gerade von Pappe gewesen, aber der war nicht smart, das sah doch ein Blinder im Dunkeln. Ihn zu fragen, wie viele Minuten er im Laden gewesen war. Vielleicht bildeten sie sich ein, smart zu sein, aber das waren sie nicht. Sie hatten abgewartet, aber was brachte ihnen das? Wie hätte er darauf reinfallen sollen? Niemand hatte ihn gesehen, oder? Er hatte behauptet, er habe Schritte gehört, aber das war doch erfunden! Das hab ich doch! Das hab ich doch? Ich hatte doch gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Schritte? Meine eigenen Schritte reichten mir. Scheiße. Aber das hatte nicht dabei herauskommen sollen. Das ging doch nicht? Davon haben sie mir nichts erzählt. Dass es so werden würde. Scheiße, Scheiße. Und hinterher auspacken war unmöglich, das versteht jeder. Der Bulle versteht es auch, aber das ist auch das Einzige, was der kapiert. Da fährt Peter. Hallo, hallo. Schon vorbei, nur ein Winken auf dem Gråbovägen. Ich hab Silhouetten auf dem Rücksitz gesehen, als wir uns begegnet sind. Ein Zeichen nur und es war klar und jeder wusste Bescheid. Wenn man nur alles unter Kontrolle behielt, gab es keine Probleme. Das ist das Schöne am Taxifahren. Niemand sieht ein Taxi, die Karren sind gewissermaßen unsichtbar.

Alan, oh, Alan, wohin bist du unterwegs? Du hast dir dein Hemd an einem dornigen Busch zerrissen. Auch in den kleinen Wäldern dieser Gegend gibt es Dornbüsche.

Du hast sie abgehängt. Die waren wirklich nicht schnell, oder sie waren nicht daran interessiert, dich einzuholen, aber vielleicht hatten sie auch keine Kraft. Der eine ist alt und der andere jünger, aber er ist auch nicht weit gelaufen.

Warum rennst du, Alan? Du weißt es nicht. Plötzlich hattest du keine Worte mehr. Dann war keine Umkehr mehr möglich. Wer erst einmal läuft, der läuft weiter. Du wünschst, du wüsstest nichts. Dass dir niemand etwas erzählt hätte. Dass du taub gewesen wärst. Dass du nicht hier wärst, in diesem Land. Niemand wünscht hier zu sein. Jetzt sind sie lebende Tote, die, die keine toten Toten sind. Das hat sie gesagt. Jetzt hast du einen nassen Fuß gekriegt, klatschnass. Ein Moor. Ein Wald fast mitten in einer Großstadt, eigentlich verrückt. Was jetzt?

Du landest in der Zelle, Alan, wenn du weiterläufst. Und stumm bleibst. Und nach Hause laufen kannst du auch nicht, also richtig nach Hause. Bis dort sind es tausend Meilen.

Der Junge warf den Ball unablässig gegen eine Wand. Es war eine glatte Wand, und der Ball kehrte auf dem gleichen Weg zurück, wie er ihn geworfen hatte. Manchmal warf er den Ball gegen unebene Wände, dann landete der Ball mal hier, mal da.

Manchmal wünschte er, dass die Sommerferien zu Ende wären. Sie hatten gerade erst angefangen, er hatte nichts zu tun, und er wollte nicht herumlaufen oder mit dem Rad durch die Gegend fahren und nichts tun. Und denken. Und spionieren. Er wollte es ja eigentlich gar nicht. Zu Hause wollte er auch nichts erzählen, er hatte verstanden, dass es unmöglich war. Dann müssten sie wegziehen. Sie waren schon so oft umgezogen, das wollte er nicht und er glaubte auch nicht, dass es nötig wurde. Alle würden es vergessen. Niemand würde suchen.

Der Ball kehrte nicht in seine Hand zurück.

»Ist das dein Ball?«

Er drehte sich um. Aber er konnte nicht erkennen, wer hinter ihm stand. Es war nur ein Schatten.

»Du scheinst den Ball zu mögen.«

»Ja …«

»Darf ich mal?«

Ein Wurf gegen die Wand, der Ball prallte zurück und der Schatten nahm ihn an. Er nannte ihn jetzt den Schatten. Der Schatten ging nicht weg.

»Ich seh dich schon seit einigen Tagen.«

Der Junge schwieg.

»Aber hier gibt es ja viele Kinder.«

»Kann ich meinen Ball wiederhaben?«

»Gleich.«

»Ich muss gehen.«

»Ich auch. Wir können zusammen gehen.«

»Ich muss nach Hause.«

»Wo ist dein Fahrrad? Du hast ja gar nicht dein Fahrrad dabei.«

»Zu Hause.«

»Ich weiß, wo du wohnst.«

Der Junge antwortete nicht.

»Möchtest du einen Fußball haben?«

Der Junge antwortete nicht. Er wollte weg hier, wie man aus einem Schatten tritt, und er wollte seinen Ball wiederhaben. Den hatte er schon lange. Der war genauso gut wie ein Fußball.

»Nein.«

»Möchtest du einen neuen Fußball haben?«

»Nein.«

»Ich hab einen, den kann ich dir schenken.«

»Ich will meinen Tennisball haben.«

»Möchtest du nicht tauschen?«

»Ich will meinen Ball haben.«

Der Junge hoffte, jemand würde vorbeikommen, aber er hatte sich für eine Hauswand zum Feld hin entschieden, hier kam niemand vorbei.

»Da hast du deinen Ball«, sagte der Schatten.

Winters Handy klingelte, als er in Richtung Süden fuhr.

»Wann kommst du nach Hause?«

»Ich bin schon unterwegs.«

»Die Mädchen sind quengelig. Sie haben Hunger.«

Er merkte, dass er auch etwas essen musste. Plötzlich hatte er großen Hunger.

»In zwanzig Minuten bin ich da.«

»Dann fang ich schon mal an«, sagte Angela.

In der Höhe von Kortedala klingelte das Handy erneut. Zur Verstärkung angeforderte Polizisten durchkämmten die Wälder um Bergsjön auf der Suche nach Alan. Es war ihr Distrikt. Winter und Ringmar erwarteten jeden Moment Nachricht. Der Junge konnte nicht weit kommen. Vermutlich wollte er das auch gar nicht. Er könnte in Gefahr sein. Alle waren in Gefahr.

»Fredrik hier.«

»Ja??«

»Reinholz konnte nicht erklären, warum es so lange gedauert hat, aber für ihn war das vielleicht gar nicht so lange. In der Situation.«

»Nein.«

»Irgendwas ist mit dem Kerl, womöglich ist er auch nur ganz allgemein ein undurchsichtiger Typ.«

»Ja.«

»Mensch, bist du mundfaul.«

»Ja.«

»Okay, dann fahr ich fort mit meinem Monolog. Das Auto war gestohlen. Heden. Wo sonst?«

»Mhm.«

»Was ist los, Erik?«

»Ich hab bloß Kopfschmerzen. Mach weiter.«

»Der nächtliche Orientierungsläufer hatte auch nichts Neues zu sagen. Er ist durch die Gegend geflitzt und in eine Leiche gerannt.«

»Gar nichts?«

»Sieh mal einer an, ein Lebenszeichen.«

»Irgendwelche Geräusche?«

»Nein.«

»Okay.«

»Aber Torsten hat eine Neuigkeit. Das Beste hab ich mir bis zum Schluss aufgehoben.«

»Ja.«

»Da draußen war Blut von noch einer anderen Person.«

»Draußen? Meinst du im Wald?«

»Ich meine den Wald. Hama Alis letzter Aufenthaltsort in seinem Leben. Es war sein Blut, aber da war auch noch Blut von jemand anderem.«

»Wo?«

»An der Stelle, wo er lag.«

»Gut. Torsten hat die Antwort so schnell gefunden, wie wir gehofft haben. Aber wenn sie etwas in der Verbrecherkartei gefunden hätten, dann hättest du es schon gesagt.«

»Nein, es gab kein Vergleichsprofil.«

»Hat sich der Mörder vielleicht geschnitten?«

»Ein weiteres Opfer«, sagte Halders. »Ein weiteres geplantes Opfer.«

»Wir brauchen nicht noch mehr Opfer.«

»Nun tu was gegen dein Schädelbrummen.«

Angela hatte Pilze zur Pasta gebraten. Er erkannte einige Trichtergelblinge des vergangenen Herbstes. Elsa schob sie an den Tellerrand.

»Können wir nicht baden fahren, Papa?«

»Wenn wir mit dem Essen fertig sind.«

Wasser und Luft waren gleich warm. Elsa und Lilly bauten eine Burg und Höhlen am Strand. Dieser Strand gehörte Familie Hoffmann-Winter, aber es gab noch kein Haus. Vielleicht im nächsten Jahr oder im übernächsten und so weiter. Winter schloss die Augen. Er sah rot und schwarz. Über dem Auge zuckte ein Stechen, aber nur für einen Moment. Wenn es bis übermorgen nicht verschwunden war, würde er die Ärztin konsultieren.

»Und wie sieht der Rest des Tages aus?«, fragte Angela.

»Ich weiß es nicht.«

»Bald wird wohl wieder das Handy klingeln.«

»Und das wird vielleicht das letzte Mal sein für diesmal«, sagte Winter mit geschlossenen Augen.

»Du siehst müde aus, Erik. Ich sag es nicht gern, ich möchte so was nicht sagen, das weißt du, aber du siehst richtig fertig aus.«

In dem Augenblick klingelte das Handy. Das war die moderne Welt.