15

Jimmy Foros Wohnung wirkte größer als beim letzten Mal. Das Gefühl war Winter nicht neu. Es hing mit der Zeit zusammen. Nur wenige Tage nach einem Verbrechen bekamen die Dinge gewissermaßen eine andere Form, die Proportionen veränderten sich. Alles legte sich zur Ruhe. Die Zimmer – wie das, in dem er gerade stand – weiteten sich.

Aus der Küche hörte Winter das kühle Brummen des Kühlschranks. Alles war wie immer, alles funktionierte.

Sein Handy klingelte. Auch dieses Geräusch klang hier drinnen irgendwie größer als anderswo.

»Erik Winter.«

»Ja, hallo. Hier ist Lars Palm, Chef der Wohnungsverwaltung Hjällbo. Sie haben nach mir gefragt.«

»Gut, dass Sie anrufen.«

Winter erklärte sein Anliegen. Während er redete, sah er den Jungen auf dem Fahrrad, seinen Rücken. So, wie er immer verschwand.

»Wir haben hier 2 200 Wohnungen«, sagte Palm.

»Mhm.«

»Wenn da jemand eine bestimmte Person finden kann, dann ist es unser Putzpersonal«, sagte Palm.

»Putzpersonal?«

»Unsere Putzfrauen wissen hier alles über alle«, fuhr Palm fort. »Viele sind schon von Anfang an dabei, seit es das Viertel gibt.«

»Hochinteressant.«

»Sie sind der Boden, auf dem wir hier oben stehen, könnte man sagen. Diese Frauen halten alles zusammen.« Winter meinte Palm lachen zu hören. »Sie dämpfen die Gefühle. Halten Ordnung. Und sie wissen, wie gesagt, alles über alle. Wer wo wohnt. Wie sie aussehen. Und warum jemand sein Auto plötzlich woanders abstellt. Falls der Betreffende ein Auto hat. Sie wissen, warum jemand plötzlich anfängt, einen anderen zu besuchen.«

»Gut.«

»Finnen, soweit sie noch da sind. Es gibt nicht mehr viele Finnen in diesen Stadtteilen.«

Finnen. Winter war gerade an einem Haus vorbeigegangen, in dem Finnen wohnten. Akaciagården 18. Nur finnische Namen auf den Schildern.

»Finnen und Schweden«, fuhr Palm fort. »Veteranen.«

»Gut«, wiederholte Winter.

»Ich kann mich umhören.«

»Dafür wäre ich Ihnen dankbar. Lassen Sie bitte so schnell wie möglich von sich hören. Das kleinste Detail kann wichtig sein.«

»Ein Junge also, der allein auf einem Fahrrad herumfährt?« Winter hatte das Aussehen und ungefähre Alter beschrieben.

»Er scheint mehr oder weniger mit diesem Fahrrad zusammengewachsen zu sein. Und er hatte einen Tennisball, jedenfalls das erste Mal, als ich ihn sah.«

»Könnte er in Gefahr sein?«

»Ich weiß nicht, möglich ist es.«

»Er könnte zu Hause erzählt haben … was er gesehen oder gehört hat.«

»Schon möglich«, sagte Winter.

»Wenn das so ist, ist die Familie längst weg.«

»So überstürzt?«, fragte Winter.

»Wenn der Junge in Gefahr ist, sind alle in Gefahr. Falls er zu Hause was erzählt hat, besteht das Risiko, dass sie sofort abgehauen sind.«

»Sie können es ja überprüfen.«

»Ob jemand in den letzten Tagen ausgezogen ist? Klar.«

»Damit sollten wir vielleicht anfangen«, sagte Winter, »und mit den Finnen weitermachen.«

»Ich melde mich«, sagte Palm.

Auf einem schweren Schrank stand in einem Meter Höhe ein gerahmtes Foto von Jimmy. Während er mit Palm telefonierte, hatte Winter sich davor gestellt. Der Rahmen war vergoldet. Auch in Jimmys Lächeln war Gold.

Dieses Lächeln wurde auf Bestellung allen Studiofotografen der Welt geliefert. Was bedeutete es? Warum war es da? Wer brauchte es?

Winter beugte sich vor. Jimmys Blick war auf etwas hinter Winter gerichtet. Er drehte sich um. Dort gab es nur ein Fenster in einer nackten Wand. Winter sah die Straße unten, einen Parkplatz, Gebäude. Er trat ans Fenster. Ein Mann überquerte den offenen Platz. Winter erkannte ihn.

Mozaffar Kerim schaute von seiner Tasse Kaffee auf.

»Darf ich mich setzen?«

Der Dolmetscher zeigte auf den leeren Stuhl gegenüber. Aber jetzt war er kein Dolmetscher, nur ein einsamer Mann vor einer leeren Tasse in einer leeren kleinen Spelunke auf dem Kaneltorget.

Winter setzte sich.

Eine Frau kam an den Tisch.

»Eine Tasse Kaffee bitte.«

»Nichts dazu?«, fragte sie.

Winter warf einen Blick auf den leeren Teller neben Kerims Tasse.

»Ich nehm das gleiche wie er.«

»Einen Zimtwecken«, sagte die Frau.

»Die Spezialität des Cafés«, sagte Mozaffar Kerim. »Die haben sie vom Limonell übernommen.« Er wies mit dem Kopf zur Tür. »Dem Lokal Limonell nebenan. Mein früheres Lieblingslokal.« Er lächelte andeutungsweise. »Sie haben sich zusammengetan.«

»In Hjällbo gibt es auch ein Limonell«, sagte Winter.

»Früher gab es zwei«, sagte Kerim. »Aber es rentierte sich offenbar nicht.«

»Zimtwecken und Pizza«, sagte Winter. »Warum nicht?«

Sie saßen in der Pizzeria Souverän.

Die Frau war weggegangen, auch sie lächelte andeutungsweise. Aus Kerims Gesicht war das Lächeln verschwunden.

»Sind Sie jeden Tag hier?«, fragte Winter.

»Wenn ich Zeit habe.«

Winter schaute sich um. »Nettes Lokal.«

Mozaffar Kerim hob langsam seinen Arm und sah lange auf seine Armbanduhr, wie um sich und Winter an das Vergehen der Zeit zu erinnern.

»Haben Sie einen Termin?«, fragte Winter.

Kerim schüttelte den Kopf.

»Heute kein Job?«

»Noch nicht.«

»Werden die kurzfristig angekündigt?«

Der Mann antwortete nicht.

»Im Allgemeinen meine ich.« Winter dachte an Kerims Job bei der Familie Aziz. Ihm war klar, dass der Dolmetscher denselben Gedanken hatte.

»Manchmal.«

»Denken Sie an Hiwa?«

Mozaffar Kerim zuckte wie unter Elektroschock zusammen.

»Was … meinen Sie?«

»Was ich gefragt habe, nach Hiwa.«

»Nein, ich habe nicht an ihn gedacht.«

»An was haben Sie dann gedacht?«

»Sie haben ja wohl kein Recht, mich zu fragen, woran ich gedacht habe. Oder hat die Polizei neuerdings auch dazu das Recht? So eine Art Gedankenspitzelei?«

»Das nicht«, sagte Winter.

Die Frau brachte Kaffee und Zimtwecken auf einem hölzernen Tablett, stellte Teller und Kaffee vor Winter auf den Tisch und ging wieder.

»Ungewöhnlich, dass es hier noch Tischbedienung gibt.« Winter sah der Frau nach. Die Sonne schien zur offenen Tür herein und verlieh der Pizzeria Souverän einen goldenen Glanz.

»Okay, ich hab an ihn gedacht«, sagte Kerim.

Winter nickte und biss in den Zimtwecken.

»Er war mein Freund«, sagte Mozaffar Kerim.

Aneta Djanali und Halders parkten vor dem Supermarkt. Als sie aus dem Auto stiegen, schlug ihnen die Hitze entgegen.

»Dreißig Grad«, sagte Aneta Djanali.

»Das hab ich gesehen.«

»So soll es übers Wochenende bleiben.«

»Dann können wir den Hering im Garten essen«, sagte Halders.

»Nein, besten Dank.«

»Du willst nicht draußen sitzen?«

»Du weißt, was ich meine, Fredrik.«

»Du musst lernen, Hering zu essen. Irgendwann musst du Schwedin werden, Aneta.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass die Hälfte der schwedischen Bevölkerung nein danke sagt.«

»Unmöglich.«

»Aber neue Kartoffeln mag ich.«

»Und flüssige Kartoffeln«, sagte Halders.

»Ein Schnaps reicht.«

»Das ist kein Schnaps. Ein Schnaps ist kein Schnaps.«

»Hast du übrigens was besorgt?«

»Den Schnaps? Was meinst du?«

»Kommt Bertil auch?«

»Ja, Bertil, Birgitta, Erik und Angela.«

»Gut.«

»Warum sollte der Kerntrupp des Fahndungsdezernats sich trennen, nur weil Mittsommer ist?«

»Ja, warum?«

Ein sehr kleiner Hund lief über den Parkplatz, ein Mischling mit schwerem Körper und kurzen Beinen. Er wirkte nicht besonders gefährlich. Der Hund sah sich in alle Richtungen um, als hielte er Ausschau nach einem Halsband, einem Herrchen oder einem Hundefänger. Dann verschwand er hinter der nächsten Hausecke.

»Nimm dich vor dem Wolf in acht«, sagte Halders.

»Das ist verboten«, sagte Djanali. »Hunde nicht angeleint rumlaufen zu lassen.«

»Sag das mal dem kleinen Köter.«

»Da kommt der Besitzer.«

Ein Mann kam über den Parkplatz gelaufen, ein Mann mit schwerem Körper und kurzen Beinen. Er rief ihnen zu:

»Haben Sie eben einen Hund gesehen?«

»Meinen Sie den Rottweiler?«

»Was? Nee, einen kleinen … ich weiß nicht, was für eine Rasse.« Er schien über seine eigenen Worte erstaunt zu sein und war langsamer geworden, blieb jedoch nicht stehen. Es sah aus, als würde er auf einem Laufband joggen.

»Der Köter ist in die Richtung verschwunden.« Halders zeigte auf die Hausecke.

»Danke«, sagte der Mann und verschwand ebenfalls hinter der Hausecke.

»Ein Alltagsdrama. Dauernd ereignen sich Alltagsdramen«, sagte Halders.

»Der Grund, aus dem wir hier sind, ist etwas gewichtiger«, sagte Aneta Djanali.

»Dann also los.«

Sie gingen auf das Haus zu. Es wirkte farblos im grellen Sonnenlicht, als hätte die Sonne einen Teil der ursprünglichen Farbe des Putzes weggeätzt. Es ist wie im Süden, dachte Halders. Wenn die Sonne lange genug scheint, verblasst alles.

»Hier bin ich zum ersten Mal«, sagte Aneta Djanali.

»In Rannebergen? Das soll wohl ein Witz sein?«

»Nein. Ich bin zwar schon mal dran vorbeigefahren, aber ich hatte noch nie einen Grund anzuhalten.«

»Den hast du jetzt, Aneta.«

Sie standen vor der Tür. Halders nahm die Schlüssel hervor.

Aneta Djanali holte tief Luft.

»In der Wohnung ist nicht viel zu sehen«, sagte Halders.

»Spielt keine Rolle für mich, das weißt du, Fredrik.«

»Du hättest nicht mitzukommen brauchen.«

»Hör auf.«

Sie stiegen die Treppen hinauf.

Ein Musikfetzen glitt durchs Treppenhaus. Etwas Orientalisches, dachte Halders. Der Orient ist groß. Die halbe Welt.

Er schloss die Wohnungstür auf. In der Wohnung war es kühl, aber in der Luft hing ein besonderer Geruch. Vielleicht war es nur Einbildung. Er schaute Aneta an. Sie nahm den Geruch auch wahr.

Am Küchenfenster lagen Fliegen. Sie waren fett und reglos und bewegten sich auch nicht, als Halders und Djanali näher kamen.

Draußen spielten Kinder. Aneta hatte sie gesehen, als sie das Haus betraten.

»Es ist in den frühen Morgenstunden passiert«, sagte Fredrik hinter ihr.

»Als niemand draußen war.« Aneta Djanali beobachtete die Kinder auf dem Spielplatz. Ein Junge schaukelte, ein Mädchen grub ein tiefes Loch in der Sandkiste, nach China. Gelangte man nach China, wenn man immer weiter grub? Vermutlich, China bedeckte einen großen Teil der nördlichen Erdhalbkugel. Von Rannebergen nach China. Oder in den Iran. Das war auch kein kleines Land. Viele Wüsten, viel Sand. Das Ehepaar Rezai stammte aus dem Iran. Vielleicht lag der Ort genau gegenüber der Stelle, wo das Kind einen Tunnel grub. Das Kind könnte auch von dort stammen oder seine Eltern; schwarze Haare, ein blasses Gesicht, große dunkle Augen, eine Nase, die sich abhob. Aneta sah alles sehr deutlich. Das Fenster war sehr sauber.

Winter hatte den Zimtwecken auf den Teller gelegt. Er schmeckte gut, war aber zu groß. Die Bedienung war an den Tisch gekommen und hatte ihm Kaffee nachgeschenkt, wie es in schwedischen Cafés üblich ist.

Sie saßen am Fenster. Der Platz lag verlassen in der Sonne. Es waren auch keine Kinder zu sehen.

»Haben Sie Kinder?«, fragte Mozaffar Kerim.

»Zwei kleine Mädchen.«

»Gratuliere.«

»Danke, und Sie?«

»Ob ich Kinder habe? Nein.«

Kerims Blick glitt über den Platz, als halte er Ausschau nach Kindern.

»Da draußen gibt es viele Kinder«, sagte er und sah Winter wieder an.

»Wie meinen Sie das?«

»Die sich nicht zeigen. Sie halten sich versteckt. Oder werden versteckt gehalten.«

Winter nickte.

»Wie lange soll das so weitergehen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Erst hat die Regierung diese Gesetze geschaffen, die dafür sorgten, dass alle, die sich versteckt hielten, hervorkommen und ihr Gesuch noch einmal überprüfen lassen konnten, und dann hat sie das Gesetz erneut verschärft, und die Leute mussten sich wieder verstecken.«

»Ich weiß.«

»Warum haben die Machthaber das getan?«

»Fragen Sie mich nicht, Kerim. Ehrlich gesagt bin ich genauso erstaunt wie Sie.«

»Haben Sie das auch ausgesprochen?«

»Ja. Ich hab sogar gesagt, dass ich wütend bin.«

»Zu wem haben Sie das gesagt?«

»Zu allen, die es hören wollten.«

»Hilft das?«

»Nein.«

»Wird es einmal ein Ende nehmen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wann werden diese Behörden endlich Verständnis haben für leidende Menschen?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Was wissen Sie eigentlich?«

Hoppla, wer stellt hier denn die Fragen?, dachte Winter. Wer hat die Oberhand? Wer von uns beiden?

»Ich hab also keine Kinder«, sagte Kerim, »nicht hier.«

»Ist Ihre Familie woanders?«

»Nein. Und so hab ich es auch nicht gemeint.«

Der Junge hatte sich nicht getraut, etwas zu erzählen. Er wusste, was dann passieren würde. Oder er meinte es zu wissen. Und das wollte er nicht.

Aber er wusste, dass er sich in Gefahr befand. Am besten war es zu vergessen, Rad zu fahren und zu vergessen. Er hatte Sommerferien und er hatte Zeit; wenn er nur müde genug wurde, würde er es vielleicht vergessen.

Der Mann, der ihn verfolgt hatte, war auch nicht wieder aufgetaucht.

Hama Ali Mohammad hatte sein Moped verloren. Ohne Moped fühlte er sich nackt.

Die Leute tratschten über den, der verschwunden war. Hussein, den sie wie eine Stecknadel im Heuhaufen suchten, wie die Schweden sagten. Es war wie einen Mohammed in Arabien zu suchen. Oder einen Mister Singh in Indien.

War das der, der bei dem Nigerianer gearbeitet hat?, hatte jemand gefragt. Die Gerüchte verbreiteten sich wie üblich.

Diesmal war es kein jidder. Hama Ali kannte zwar nicht alle Details, aber es war unheimlich. Dies war wirklich kein Blabla.

Hama Ali wartete. Ohne Moped zu warten, war schwerer. Nichts zu tun. Wenigstens war es kühl hier drinnen. Draußen war es heiß wie in einer Hölle. Das passte gut.

Jetzt entdeckte er ihn. Er hob die Hand. Ey.

»Sie haben gesagt, Hiwa war Ihr Freund.«

»Ja.«

»Auf welche Art war er Ihr Freund?«

»Gibt es mehrere Arten von Freundschaft?«

»Ich weiß es nicht.«

»Jetzt sind Sie also wieder am selben Punkt angelangt. Sie wissen es nicht.«

»Auf welche Art waren Sie Freunde?«, wiederholte Winter.

»Wir … haben uns zum Beispiel hier getroffen. Oder im Café, als es noch existierte. Aber das habe ich doch schon gesagt.«

»Warum haben Sie es nicht eher erzählt?«

»Sie haben mich nicht gefragt.«

»Nach dem Café hab ich nicht gefragt.«

»Ich fand, das ging niemanden etwas an.«

»Hiwa ist ermordet worden«, sagte Winter. »Erschossen.«

Kerim antwortete nicht.

»Sie hätten als einer der Ersten zu mir kommen und mir alles erzählen müssen, was Sie über ihn wissen.«

»Jetzt sitzen wir ja hier«, antwortete Kerim.

»Warum wollen Sie nichts sagen? Haben Sie Angst?«

»Jeder hat doch wohl Angst vor irgendwas?« Kerim sah Winter nicht in die Augen. »Hier haben alle Angst.«

»Ich glaube, Sie verstecken sich nur hinter der Angst.«

Kerim schwieg.

»Hatte Hiwa vor etwas Angst?«, fragte Winter. »Wusste er etwas?«

»Was hätte er wissen sollen?«

»Etwas, das er nicht hätte wissen dürfen.« Kerim schwieg.

»Was wusste er?«, fragte Winter.

Die Frau hinter dem Tresen beobachtete sie. Der Abstand war groß genug, dass sie nichts verstehen konnte, aber Winter hatte gesehen, wie Kerim mehrere Male zu ihr hingeschielt hatte.

»Möchten Sie, dass wir woanders hingehen?«

»Nein, nein.« Kerim schüttelte den Kopf und begann still zu weinen.

Winter konnte nicht erkennen, ob die Frau es bemerkt hatte, da sie ihnen den Rücken zukehrte.

Mozaffar Kerim nahm ein Taschentuch hervor und putzte sich diskret die Nase. Er schaute auf.

»Mehr Tränen«, sagte er.

»Es können noch viele Tränen fließen«, sagte Winter.

»Was wissen Sie denn davon?«

»Ich bin auch ein Mensch.«

»Sie wollen sich wohl bei mir einschleimen.«

»Das ist eine übliche Verhörmethode.«

»Und jetzt versuchen Sie einen Witz zu machen.«

»Meistens bleibt es beim Versuch. Sie lachen nicht, wie ich sehe.«

Mozaffar Kerim schaute aus dem Fenster. Ein Auto fuhr vorbei. Ein Auto wurde gestartet und fuhr davon. Winter hatte niemanden einsteigen sehen.

»Hiwa hatte Angst vor etwas«, sagte Kerim, ohne den Blick abzuwenden.

Winter schwieg, wartete, folgte Kerims Blick zu der weißen Leere dort draußen.

»Ich weiß nicht, wovor.«

»Was hat er Ihnen erzählt?«

»Er hat nicht darüber gesprochen.«

»Woher wissen Sie es dann?«

»Er hatte sich verändert.«

»Inwiefern?«

»Das kann ich nicht genau sagen.« Jetzt sah Kerim Winter in die Augen.

»Wann hat er sich verändert?«, fragte Winter.

»Vor … ungefähr einem Monat. Ich weiß nicht, vielleicht ein bisschen eher, vielleicht ein bisschen später.«

»Auf welche Art hat er sich verändert?«

»Er … wirkte nervös.«

»Wie äußerte sich das?«

»Ich … weiß es nicht. Da war etwas … das kannte ich nicht. Er war eben … anders.«

»Wie war er denn vorher?«

»Fröhlich. Er war immer fröhlich.«

»Und das war er nicht mehr?«

»Schon, aber irgendwie anders.«

»Worin bestand der Unterschied?«

»Er machte keine Witze mehr wie früher.« Winter meinte ein Lächeln in Kerims Gesicht zu entdecken, aber vielleicht war es auch nur ein schmaler Sonnenstrahl, der über seinen Mund huschte. »Er machte häufig Witze.«

»Worüber?«

»Über alles, Politik zum Beispiel. Über Flüchtlinge. Über Saddam. Über die Amerikaner, die Türken, die Schweden, die Somalier, über alles.«

»Und dann machte er plötzlich keine Witze mehr?«

»Genau.«

»Er hatte Angst.«

»Ja …«

»Hat er Ihnen erzählt, dass er Angst hatte?«

»Nein.«

»Vielleicht war es gar nicht so.«

Kerim sah Winter an. »Wie meinen Sie das?«

»Vielleicht haben Sie sich das nur eingebildet?«

»Nein … dann würde ich es jetzt nicht sagen.«

»Aber als er tot war, wollten Sie überhaupt nichts sagen.«

Kerim zuckte wieder zusammen.

»Sie haben auch Angst, Kerim.«

»Nein.«

»Sie haben vor derselben Sache Angst wie Hiwa.«

»Nein. Wovor denn? Ich weiß ja nicht, was es war.«

»Was ihn umgebracht hat.«

Kerim schwieg.

»Mir ist unbegreiflich, dass Sie uns nicht davon erzählt haben.« Winter beugte sich über den Tisch. »Mir.«

Kerim antwortete nicht.

»Vielleicht haben Sie es versucht«, sagte Winter.

Kerim hatte den Bodensatz seiner leeren Tasse studiert. Jetzt schaute er auf.

»Vielleicht haben Sie es versucht, aber wir haben es nicht begriffen.«

»Ich … weiß nicht, was ich sagen soll.«

Winter bemerkte, dass die Frau sie verstohlen beobachtete. Vielleicht waren sich ihre und Mozaffars Blicke begegnet.

Hier hatten Mozaffar Kerim und Hiwa gesessen. Einer von den beiden war jetzt tot. Aber hier hatten sie gesessen. Für dieses Café hatten sie sich entschieden, hier hatten sie sich nicht bedroht gefühlt. Kerim hatte nicht ängstlich ausgesehen, als Winter zur Tür hereingekommen war. Auch jetzt wirkte er nicht ängstlich, eher erleichtert. Oder doch ängstlich? Vielleicht hatte er Angst, konnte es aber nicht zeigen. Wem zeigen? Der Frau. Sie hatte ihnen wieder den Rücken zugekehrt und schien etwas auf dem Platz zu beobachten. Dort draußen rührte sich nichts. Nirgendwo rührte sich etwas. Es war still. Totenstill.

»Was hat Hiwa getan?«, fragte Winter.

»Ich verstehe nicht.«

»Hat er mit Rauschgift gehandelt? Lebensmittel verschoben? Diebstahl?«

Kerim schüttelte den Kopf.

»Er hat sich mit nichts von dem abgegeben, was Sie aufgezählt haben. Das glaub ich nicht. Das ist unmöglich.«

»Wirklich nichts von dem?«

»Wenn Sie etwas Strafbares meinen, dann weiß ich nichts davon.«

Das war eine Antwort, die mehrere Bedeutungen haben konnte.

»Hätte Hiwa sich mit irgendwas Strafbarem abgeben können?«, fragte Winter.

»Wie gesagt, ich glaube es nicht.«

»Warum nicht?«

»Er war … nicht so einer.«

»Vielleicht hatte er keine andere Wahl.«

Kerim antwortete nicht.

»Vielleicht hat ihn jemand gezwungen.«

»Ich weiß es nicht.«

»Und deswegen könnte er Angst gehabt haben.«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich möchte, dass Sie mir helfen, seine anderen Freunde zu finden.«

»Ich … ich kenne sie nicht.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Es stimmt aber.«

»Wie gut kannten Sie Jimmy und Said?«

Kerim zuckte wieder zusammen. »Wen?«

»Sie wissen, von wem ich rede.«

»Es … kam so plötzlich.« Er fingerte an seiner Tasse. »Deswegen bin ich zusammengezuckt. Aber ich habe die beiden nicht gekannt.«

»Genauso, wie Sie Hiwa zunächst auch nicht gekannt haben?«, fragte Winter.