19

Das Auto hatte schon bessere Tage gesehen. Und Nächte. Es würde nie mehr fahren. Es würde nicht einmal mehr rollen. Es hatte keine Reifen mehr, das Chassis war verbrannt, alles war verbrannt. Das Auto war zurückgekehrt in eine prähistorische Zeit oder mitten im Untergang der Erde gelandet, Mad Max, offene Wüsten, Sand, Hitze. Heiß war es auf dem Parkplatz, aber Sand gab es nicht. Die Sonne war untergegangen, die Wärme blieb. Die Dunkelheit stieg. Allgemein sagt man, die Dunkelheit senke sich, aber für Winter war sie immer gestiegen. Sie kroch aus der Erde und verdunkelte alles Stück für Stück, erreichte im Sommer jedoch nie richtig den Himmel. Im Westen hing immer ein Lichtschein, der auch den Wald im zentralen Bergsjön erhellte. Der Weg war ein Pfad geworden, der schließlich endete, und dort, neben zwei Tannen, die aussahen wie Zwillinge, stand das ausgebrannte Auto. Es war so weit gefahren worden, bis der Pfad endete.

Winter war zweimal um das Auto herumgegangen. Ringmar hatte absperren lassen. Es sah absurd aus, als wollte man Elche oder Rehe aussperren. Aber einige Leute waren hier gewesen, sie waren gekommen und wieder gegangen. Zum Zentrum von Bergsjön war es vielleicht ein Kilometer, nicht mehr. Aber es hätte auch eine Meile sein können. Die Stille reichte meilenweit, wenn man sich eine derartige Stille vorstellen konnte. Die Vögel waren für einen Moment eingeschlummert, bevor sie ihr Morgenkonzert anstimmen würden. Ihr Mittsommerlied.

Winter beobachtete die Leute von der Spurensicherung bei der Arbeit. Torsten Öberg war selbst gekommen. Manchmal hing alles von ihrer Arbeit ab, und manchmal hatte sie weniger Bedeutung, als man glauben sollte. Manchmal hing es von ihm ab, Winter. Ein lustiger Ausdruck: abhängen. Als wäre ihnen die Verantwortung umgehängt worden, wie ein schwerer Mantel, den man von sich werfen könnte.

Einen Meter innerhalb der Absperrung und einige Meter vom Auto entfernt lagen die Einmalüberziehschuhe. Das blaue Plastik reflektierte ein Licht, das nicht hierher gehörte. Es gehörte nicht in den Wald. Es sah bösartig aus.

»Jemand hat etwas verloren«, sagte Ringmar.

»Das hätte er aber merken müssen.« Winter schaute auf. »Wie ist es mit Abdrücken?«

»Einige weiche, feine, sagt Torsten.«

»Gut.«

»Aber leider etwas zu viele.«

»Du hast gesagt einige.«

Ringmar zeigte auf den Pfad und den Wald, der sie umgab. Zwischen den Stämmen konnte man hindurchsehen wie durch die Lamellen einer Jalousie.

»In den letzten vierundzwanzig Stunden sind hier Leute entlanggewandert. Es ist ein Spazierweg.«

»Wer hat Alarm gegeben?«

»Anonym. Von einer Telefonzelle aus.«

»Wo?«

»Angereds Zentrum.«

»Das ist ein Stück entfernt. Mann oder Frau?«

»Ein Junge, hatte eine junge Stimme, sagen sie in Angered.«

»Dort hat er angerufen? Im Revier von Angered?«

»Offenbar hat er die Zentrale gebeten, zum Revier in Angered durchgestellt zu werden. Mit diesen Worten.«

»Mhm. Die wollte er haben. Bei denen fühlt er sich sicher. Er wollte die Anzeige bei einem Bekannten erstatten.«

»Warum?«, fragte Ringmar.

»Warum überhaupt melden?« Winter wies mit dem Kopf auf die Einmalüberziehschuhe. Er musste noch außerhalb der Absperrung bleiben. Noch konnte er zu viel zerstören.

»Mir scheint, als wäre Blut an dem da«, sagte er.

Es war Blut, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie erfuhren, woher es kam. Winter wollte einen schnellen Bescheid vom Kriminaltechnischen Labor in Linköping.

»Morgen ist Mittsommer«, sagte Torsten Öberg. Er sah auf seine Armbanduhr. »Eigentlich schon bald heute.«

»Mach noch einen Versuch«, sagte Winter. »Hast du was im Auto gefunden?«

»Nein, nichts.«

»Sie waren es. Sie müssen es gewesen sein.«

Öberg antwortete nicht.

»Was meinst du?«

»Scheint so.«

»Warum lassen sie den Scheiß zurück?«

»Warum sollten sie den mitnehmen?«, sagte Öberg. »Der sollte verbrennen, das gehörte zu ihrem Plan.«

Winter betrachtete wieder das ausgebrannte Wrack. Ein Japaner. Das Auto sah aus wie ein kleiner Panzer, der in das falsche Feuergefecht geraten war. Wenn das meiste verbrannt war, sahen alle Fahrzeuge auf vier Rädern ungefähr gleich aus. So war es mit allem, auch mit Menschen.

»Warum haben die den entsorgt?«, fragte er.

»Herr Hussein Hussein hat ja in dieser Gegend gewohnt.«

»Würdest du ein Fluchtauto auf deinem eigenen Hinterhof entsorgen?«

»Vermutlich nicht.«

»Ich glaube auch nicht, dass Hussein das gewollt hat.«

»Wenn er sowieso abhauen wollte, spielte das vielleicht keine Rolle mehr«, sagte Ringmar, der während des Gesprächs neben Winter gestanden hatte. »Vielleicht war das nicht mehr sein Hinterhof.«

»Aber warum sich die Umstände machen und hierher fahren?«, sagte Winter. »In den Wald? Die Karre verbrennen und zurückwandern.«

»Gute Frage.«

»Er war es nicht«, sagte Winter.

»Er ist direkt nach den Morden aus dem Laden abgehauen?«

»Vielleicht war er nicht mal dort«, sagte Winter.

Winter und Ringmar saßen in Winters Mercedes auf dem Parkplatz vor dem Bezirksamt von Bergsjön. Mitternacht war vorüber. Mittsommer war angebrochen. Winter vermutete, dass sich die meisten Menschen in diesem Stadtteil über die Mittsommerfeierei der Schweden wunderten. Es war ein heidnisches Fest, das nichts mit einem Gott zu tun hatte, allenfalls mit Bacchus und Dionysos, aber das war nicht der Kern gewesen, nicht am Anfang. Da war es um das Licht gegangen. Es ging immer noch um das Licht. Noch war es in der Erde, unter dem Asphalt, doch nun stieg es wieder empor, wie Dunst. Die Nacht war warm und der Tag würde heiß werden. Lang und heiß, dachte er, und jetzt fängt er an.

»Zusammenfassung«, sagte Ringmar. »Etwas, das wir überschlafen müssen.«

»Willst du etwa schlafen?«

»Wenn wir Fredriks Mittsommerfest durchstehen wollen, sollten wir ein bisschen schlafen.«

»Mensch, das ist ja morgen.«

»Heute, Erik, heute.«

Winter beobachtete einen Mann, der draußen vorbeiging. Er blieb vor der Glasfassade der Verwaltung stehen und spähte hinein, als wollte er feststellen, ob die Feier schon angefangen hatte. Aber heute Abend würde die Kneipe von Bergsjön geschlossen bleiben wie die meisten Kneipen. Mittsommer wurde privat gefeiert, es war ein Familienfest, das man am liebsten in der Natur feierte. Winter empfand keine Festtagslaune. Er hatte wieder Kopfschmerzen, einen deutlichen Schmerz über dem Auge. Angela hatte er nichts erzählt. Er wusste, was sie sagen würde.

Der Mann ging weiter in Richtung Rymdtorget. Auf einmal drehte er sich zu Winters Auto um und entdeckte Winters und Ringmars Silhouetten. Wie vor Schreck beschleunigte er den Schritt, fing fast an zu laufen und verschwand. Winter fiel der Junge in Hjällbo ein. Morgen würde er sich mit den Putzfrauen der Wohnungsverwaltung unterhalten. Nein, heute. Morgen war immer noch heute.

»Okay, fassen wir zusammen.«

Winter erwog, das Fenster herunterzulassen, sich einen Corps anzuzünden und den Rauch in die Nacht zu blasen, aber das würde im Auto riechen, und er musste an seine Kinder denken. Morgen würde er mit ihnen um die Mittsommerstange tanzen und die Mädchen würden Blumenkränze auf dem Kopf tragen, Angela und er vielleicht sogar auch. Hoffentlich hat Fredrik für eine Mittsommerstange gesorgt. Ich will tanzen, coole Jungs tanzen, wenigstens mit ihren Kindern.

»Wir wissen nicht, worum es hier geht«, sagte Ringmar. »Oder so: Wir wissen, dass es sich um Mord handelt, aber wir wissen nicht, warum gemordet wurde.«

»Ungewöhnlich oft diesmal«, sagte Winter.

»Ungewöhnlich viele Morde.«

Winter ließ das Autofenster herunter und zündete sich keinen Corps an. Sie waren allein. Manchmal fühlte man sich ungewöhnlich einsam zwischen den stillen Häusern.

»Hörst du?« Er wandte sich zu Ringmar.

»Was soll ich hören?«

Winter antwortete nicht. Er lauschte auf etwas, das nicht da war.

»Was soll ich hören?«, wiederholte Ringmar.

»Die Stille«, sagte Winter. »Es ist vollkommen still, und genau darum geht es.«

»Die Stille?«

»Ja, die Stille. Hast du jemals eine Ermittlung durchgeführt, bei der es so still war?«

Ringmar antwortete nicht. Das Schweigen war auch eine Antwort.

»Da sitzen wir mitten in den nördlichen Stadtteilen mit ihrer aufregenden ethnischen Mischung, ihren achtundsechzig Nationalitäten, ihren kunterbunten kriminellen Organisationen und gut etablierten Gangs mit gut funktionierenden Informationsnetzen, wir mit unseren genauen Planspielen und besten Kontakten zu allen, die möglicherweise etwas wissen – und mittendrin geschehen die spektakulärsten Morde in der Kriminalgeschichte der Stadt. Morde, die die größte Aufmerksamkeit erregt haben, jedenfalls in den Medien. Vermutlich wird darüber in jeder Familie von Gårdsten über Bergsjön bis nach Rannebergen geredet.« Winter machte eine Pause. Vielleicht hatte er einen Windhauch über einem Dach, ein sanftes Säuseln gehört. »Und wozu hat das bisher geführt, Bertil?«

»Schweigen.«

Winter nickte. Er öffnete die Tür, stieg aus, zündete sich einen Corps an, nahm einen Zug, blies den Rauch aus und sah zu, wie er in den Himmel stieg. Der erste Zug des Tages, lieblich, sauber und unschuldig. Wie der Morgenfurz, lieblich wie die Morgenbrise.

»Und das Schweigen hängt mit dem zusammen, womit diese Männer sich befasst haben«, sagte Winter. »Das war eine private Schweinerei, und deswegen ist auch das Schweigen privat. Verstehst du, was ich meine, Bertil?«

»Ich glaube ja.«

Ringmar war ebenfalls ausgestiegen. Er stand neben dem Auto und streckte die Arme über den Kopf.

»In diesen Fall ist keine etablierte Organisation verwickelt, jedenfalls nicht direkt, jedenfalls nicht von Anfang an.«

»Vielleicht gar nicht.«

»Ich weiß es nicht, Bertil. Ich verstehe nicht, wie das mit Brors Informant zusammenhängen könnte. Warum ist er verschwunden?«

»Wenn er verschwunden ist. Und wenn es in die Zusammenhänge gehört.«

»Ich glaube, dass jemand Bescheid weiß, außer den Mördern und außer diesem Jungen, falls er ein Zeuge ist. Ich glaube, er ist einer.«

»Ich weiß, dass du das glaubst, Erik.«

»Vielleicht verschwindet er auch bald, wenn er nicht schon verschwunden ist.«

»Nennt man das etwa positives Denken?«

Winter antwortete nicht. Er hörte nicht zu. Er dachte an das Schweigen.

»Ich hab mich selten so von der Sicherung von Spuren abhängig gefühlt«, sagte er. »Und trotzdem kann es uns wieder auf Null zurückwerfen.«

»Komm schon, Erik. Hast du nicht gesagt, man muss immer bereit sein, zurück auf Los zu gehen? Dass das der Normalzustand eines Fahnders ist?«

Winter nahm noch einen Zug. Er schmeckte mild, es war ein lieblicher Zigarillo. Der Rauch löste sich rasch auf, als ob die Luft wärmer geworden wäre. Es waren bestimmt über zwanzig Grad.

»Ich hab schon lange nicht mehr Monopoly gespielt«, sagte er.

»Jetzt tust du es«, sagte Ringmar.

»Dann hoffe ich, dass ich mir ein Hotel am Strandvägen und eins am Norrmalmstorg in Stockholm bauen kann und keinen Mitspieler an mir vorbeilassen muss.«

»Warum nicht am Rymdtorget?«, fragte Ringmar.

»Hier kommt ja sowieso niemand vorbei«, antwortete Winter. Aber in derselben Sekunde, als er das sagte, wusste er, dass er sich täuschte.

Winter bog statt nach rechts nach links auf den Bergsjövägen ein.

»Ich dachte, wir wollten nach Hause«, sagte Ringmar.

»Wir nehmen einen anderen Weg«, sagte Winter.

»Den nördlichen, wie ich sehe.«

Winter antwortete nicht. Jetzt waren sie auf dem Gråbovägen. Er fuhr durch das stille Nachtlicht. Sie begegneten keinen anderen Autos. Als würden wir ganz allein auf der Welt herumfahren, dachte er. Um diese Zeit ist es passiert, vor gerade mal drei Tagen, gegen eins in der Nacht, bevor die Dämmerung kam. Überall still. Dann kamen die Wölfe. Vielleicht haben sie den Weg genommen, den ich jetzt fahre, sahen, was ich jetzt sehe, hörten das gleiche Nichts, das ich höre. Bogen dort ein, wo ich jetzt einbiege, hielten an, wo ich jetzt anhalte, betrachteten das kleine auffallende Gebäude, wie ich es jetzt betrachte. Stiegen aus, wie wir jetzt aussteigen. Setzten sich in Bewegung, wie wir es jetzt tun.

Er sah sie über den Asphalt gehen. Er hatte schon viele Abstecher hierher gemacht, aber diesmal war es anders. Er wollte nicht mehr herkommen, nur dies eine Mal noch, um zu sehen … ob alles war wie vorher. Aber das war es nicht. Nichts war mehr wie früher. Er hatte sich in der Nacht hinausgeschlichen, wie er es immer getan hatte, aber es war nicht wie früher gewesen. Wie früher wachten Mama und Papa nicht auf, aber das bedeutete nicht mehr so viel. Er wünschte, sie wären aufgewacht. Ich wünschte, ich hätte es nie getan. Dass ich überhaupt nicht dort gewesen wäre. Und dass ich nicht zurückgekommen wäre. Aber ich wollte wieder hierher. Weil ich nicht glaubte, was ich gesehen hatte. Und dann bin ich gelaufen. Ich vergaß, dass ich das Fahrrad hatte! Und dann bin ich mit dem Fahrrad gefahren. Niemand hat mich gesehen, das glaube ich jedenfalls nicht, nicht all die Male, die ich von hier weggelaufen oder weggefahren bin. Ich sollte nicht hier sein, ich weiß nicht, warum ich wieder hier bin. Früher war es still, vielleicht möchte ich, dass alles wieder still und ruhig ist wie früher, wie es auch war, als der Laden offen war, als sie dort waren, als alle dort waren, als es hell war. Und jetzt kommen die anderen. Ich kann sie nicht erkennen. Es sind zwei. Ich muss hier weg.

»Was war das?«

»Was?«

»Hinter dem Haus war ein Geräusch«, sagte Winter.

»Ich hab ni …«

»Still!«

Jetzt hörte Ringmar es auch. Etwas bewegte sich.

Winter war schon losgelaufen.

Ringmar folgte ihm, in sechs Sekunden von null auf hundert. Sie waren hinter dem Gebäude. Ringmar sah immer noch Winters Rücken, aber auch etwas anderes, etwas wie einen fliehenden hellen Fleck gegen den dunklen Streifen Asphalt und das dunkle Gras zu beiden Seiten.

»Das ist er!«, sagte Winter. Ringmar hörte ihn atmen. Er sah den Fleck hinter einer Hecke verschwinden. Bis dorthin waren es fünfzig Meter, siebzig vielleicht.

Sie blieben gleichzeitig stehen. Winter schlug mit der Hand in die Luft, als wollte er einen unsichtbaren Gegner treffen. Heftig wandte er sich zu Ringmar um.

»Glaubst du mir jetzt, Bertil?«

»Warum schleicht er hier herum?«

Sie waren wieder auf dem offenen Platz vor dem Laden.

»Ich weiß es nicht. Etwas zieht ihn immer wieder hierher zurück.«

»Was kann das sein?«

»Angst vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich werde ihn fragen, wenn ich ihn treffe.«

»Mhm.«

»Er ist noch hier, oder? Das muss der Junge sein. Die Familie ist nicht Hals über Kopf abgehauen. Ich werde ihn finden. Möglichst heute.«

»Das wird ein langer Tag, Erik.«

»Was für ein Glück, dass ich hergefahren bin, um bestätigt zu kriegen, dass der Junge noch hier ist, oder?«

Ringmar antwortete nicht.

»Und sag jetzt nicht, es war ein anderer.«

»Das würde ich nie wagen, Erik.«

»Ich kann den Morgen kaum erwarten«, sagte Winter.

»Wollen wir nicht versuchen, ein bisschen zu schlafen?«, sagte Ringmar.

Er träumte natürlich von Fahrrädern, von einem ganzen Tourde-France-Feld. Alle Radfahrer hatten dasselbe Gesicht und keiner war älter als elf Jahre. Sie verschwanden alle um eine Hausecke und keiner kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. In diesem Traum passierte noch mehr, was er jedoch beim Aufwachen vergessen hatte.

Als er die Wohnung verließ, schliefen die anderen noch. Ihm mussten vier Stunden Schlaf reichen. Er war nicht müde. Vielleicht heute Nachmittag, aber das machte nichts. Er würde die Müdigkeit wegtanzen.

Die Kopfschmerzen hatten ihn nach Hause begleitet, sie verschwanden, als die Schmerztablette zu wirken begann. Angela hatte etwas gemurmelt und war gar nicht richtig wach geworden. Eine Mutter mittleren Alters mit kleinen Kindern brauchte den Schlaf. Winter war nicht mehr ganz so jung. Aber er würde immer noch im arbeitsfähigen Alter sein, wenn Elsa das Abitur machte, vielleicht immer noch, wenn sie ihr Doktorexamen machte. Falls sie studieren wollte. Vielleicht wollte sie lieber singen. Oder tanzen. Lilly konnte gut Twist tanzen. Angela legte Chubby Checker für die Mädchen auf, Let’s twist again, wieder und wieder.

Die Straßen waren sauber und still. Alle Spuren der Dunkelheit waren verschwunden. Der Himmel war wie blank geschrubbt, genau wie die Erde. Bereit für den Tag. Er öffnete das Fenster und ließ die Sommerdüfte sanft und diskret hereingleiten, nur nicht übertreiben. Sie waren hier im Norden.

Er stellte das Radio an. Nirgends wurden Verkehrsstaus gemeldet, weil nirgends Verkehr war. Wer die Stadt verlassen konnte, hatte es bereits getan. Mittsommer war ein heiliger Tag. Das Wetter würde schön werden, teilte eine fröhliche Frauenstimme im Radio mit. Ihre Stimme klang verdammt fröhlich, halb so fröhlich hätte auch genügt. Fröhliche Stimmen sind mir schon immer auf den Geist gegangen, nicht zuletzt im Radio und im Fernsehen, dachte er. Wer neutral ist, schmeichelt sich nicht ein, ganz zu schweigen von dem, der sauer ist. Es ist ein besseres Gefühl, einem sauren Typen zuzuhören, sicherer. Heute müssen alle fröhlich sein. Er legte eine CD ein und fuhr mit Bobo Stensons Musik an Gamlestaden vorbei. Das war Morgenmusik, wie ein indischer Morgenraga. Oleo de mujer con sombrero, das war Spanisch. Er verstand die Worte, aber der beste Jazz war seine eigene Sprache. Das schwarzweiße Cover lag auf dem Beifahrersitz: eine Ebene, ein Strand, eine Wüste, eine große, leere Landschaft. War Orphans, die Scheibe hatte er vor etwa zehn Jahren gekauft. Waisen des Krieges. Er war auf dem Weg zu ihnen, und er hatte das Gefühl, dass es ein langer Vormittag werden würde, vielleicht der längste.

Lars Palm, Chef der Wohnungsverwaltung, wartete vor dem Büro. Er wirkte munter, als hätte er genügend Zeit gehabt, sich auf den Tag vorzubereiten. Auf dem Marktplatz von Hjällbo, der hinter der Kirche lag, sah Winter keine anderen Menschen. Es war immer noch sehr früh.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie aus dem Bett geholt habe«, sagte Winter.

»Das haben schon andere vor Ihnen geschafft.« Palm lächelte.

»Wohnen Sie hier?«

»Fast. Oben am Hjällbovallen. Und Sie?«

»Fast in Heden«, sagte Winter.

»Aha. Ich hab ein bisschen Probleme mit dem Verkehr im Zentrum.«

»Wer hat das nicht«, sagte Winter.

»Wir leben hier fast wie auf dem Lande«, sagte Palm.

»Jedenfalls an einigen Stellen.«

»Ich habe Riita erwischt«, sagte Palm. »Sie arbeitet im Augenblick.«

»Sie arbeitet Mittsommer?«

»Nur einige Stunden. Unten auf der Sandspåret. Wir können gleich hingehen.«

Auf dem Weg dorthin kamen sie am Limonell Café vorbei. Es würde in einer Stunde öffnen.

»Oben in Gårdsten haben sie dichtgemacht«, sagte Winter.

»Das wusste ich nicht.«

»Falls es derselbe Besitzer ist.«

»Ich glaube schon. Die Gäste sind jetzt überwiegend Somalier.«

»Ach?«

»Die haben die meiste Zeit.«

»Aha.«

»Sie stehen ganz unten in der Rangordnung, früher waren es die Zigeuner. Jetzt sind es die Somalier.«

Winter nickte.

Sie gingen in Richtung Süden, einige Treppenstufen hinunter. Die Häuser verteilten sich in geraden Kolonnen über die Wiesen.

»Jetzt kenne ich mich aus«, sagte Winter.

»Inzwischen waren Sie ja auch einige Male hier oben.«

»So habe ich das nicht gemeint. Genau hier kenne ich mich aus.«