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WÄHREND IHRER KURZEN BESUCHE in Brass Monkey hatten weder Ethan noch September Grund gehabt, den Forschungskomplex zu betreten. Er bestand aus der ältesten Gebäudegruppe Brass Monkeys und war der eigentliche, ursprüngliche Grund für den Aufbau des Außenpostens. Zuerst Scouts, danach Wissenschaftler und schließlich Bürokraten. Genau wie der übrige Außenposten, war er größtenteils unter Eis und Dauerfrost begraben.
Der große Versammlungsraum, zu dem Williams sie führte, lag mehrere Stockwerke unter der Oberfläche Asurduns. Als sie eintrafen, wandte sich ihnen ein halbes Dutzend neugieriger Gesichter zu und musterte sie. Aus dieser Meute geballter Intellektualität löste sich eine Frau, die noch kleinwüchsiger war als der Lehrer.
Sie trug einen hellblauen Overall mit grün-weißen Insignien und Aufnähern. Ethan hatte einen weißen Laborkittel erwartet. Ihr Haar war glatt, glänzend schwarz und in gerader Linie direkt über den Schultern geschnitten. Sie hätte dreißig oder sechzig Jahre alt sein können. Ihr Händedruck war fest.
»Ich bin Cheela Hwang. Das dort sind meine Kollegen Krisenbeschwörer.« Sie stellte alle der Reihe nach vor. »Falls Milliken es Ihnen noch nicht gesagt hat, ich bin verantwortlich für die meteorologische Abteilung von Brass Monkey. Wie Sie sich als Kenner Tran-ky-kys vielleicht vorstellen können, stellen wir hier ein ziemlich großes Kontingent.«
»Das Wetter dürfte das einzige sein, was auf dieser Welt wert ist, studiert zu werden«, kommentierte September, »bis auf die Einheimischen natürlich.«
Sie hob den Kopf und versuchte seinen Blick zu erhaschen. »Milliken hat mich vorgewarnt, was Ihr Gebaren, Ihre Haltung und Ihren Humor angeht, Mr. September.«
Der Hüne grinste schwach. »Ich werde versuchen, mich zivilisiert zu benehmen und keinen von Ihren Untergebenen zu fressen.«
»Was ist denn nun dieses Problem, über das Sie sich alle so aufregen?« fragte Ethan.
»Hier hinüber, bitte.« Sie führte sie zur gegenüberliegenden Wand und fummelte an einer kleinen Fernbedienung herum, die sie aus einer der Tasche des Overalls gefischt hatte. Die Wand leuchtete auf. Sie war ein integrierter 3-D-Schirm, was erklärte, warum sie frei von Bildern, Fotografien und so weiter war.
»Vielleicht erkennen Sie das hier, Mr. Fortune.«
»Einfach Ethan, bitte.« Er betrachtete die von Wirbeln und Strudeln übersäte Wand. Die Farben waren kräftig, die Umrisse gleichmäßig. »Infrarotaufnahmen, aber wovon?«
»Der Boden, auf dem wir stehen, Jungchen.« September wies auf die Bildwand. »Der Klecks da oben, das ist Asurdun. Die kleineren Flecken stellen die Stadt des Landgrafen, Brass Monkey und so weiter dar.«
»Sie haben ein gutes Auge für geographische Informationen«, erklärte Hwang anerkennend.
September hob die Schultern. »Ich habe einige Erfahrungen, was das Identifizieren topografischer Merkmale aus dem Orbit angeht. Warum infrarot? Warum nicht einfach ein normales Satellitenfoto?«
Einer von Hwangs Kollegen meldete sich, er klang bitter: »Dies ist ein unbedeutender Außenposten. Wir haben keinen Anspruch auf einen voll ausgerüsteten Beobachtungssatelliten. Keine hochauflösenden Kameras. Nur einfache Instrumente.«
Ethan wollte seinen Freund fragen, woher er seine Erfahrungen, was das >Identifizieren topografischer Merkmale aus dem Orbit angeht< hatte, aber Hwang machte schon weiter und wies mit dem in ihre Fernbedienung eingebauten Lichtzeiger auf weitere Landschaftsmerkmale, als das Bild wechselte.
»Erkennen Sie das?« In der Mitte des Bildes leuchtete es intensiv orangefarben.
»Sieht aus wie Sofold«, riet Ethan. »Die Heimatinsel unserer Tranfreunde. Der Zentralvulkan ist unverwechselbar.«
»Das ist richtig. Und das hier?« Die beiden Männer starrten das Bild an, ohne etwas damit anfangen zu können. »Das ist nicht überraschend«, erklärte Hwang ihnen. »Sie können es gar nicht wiedererkennen, da Sie nie dort waren. Kein Mensch war je dort. Es liegt weit im Südosten von Asurdun.« Sie ließ eine rasche Folge ähnlicher Bilder über die Bildwand laufen.
»Dies ist ein Infrarotmosaik des großen Südkontinents.« Ihr Zeiger wanderte über die Bilder wie ein zweidimensionales Insekt. »Achten Sie auf diese Charakteristika. Diese großen Wolken und…« – ihr Zeiger wies tiefer – »diesen Hitzeschatten auf dem Eisozean.«
»Was ist damit?« fragte Ethan.
»Sie sollten nicht da seih.« Das kam von Gerald Fräser, einem der Assistenten. »Das ist alles verkehrt. Wir studieren Tran-ky-kys Klima nun schon eine ganze Weile. Seit Jahren kartographieren wir, und das Klima ist seit Gründung des Außenpostens intensiv beobachtet worden. Es hat keine großen Überraschungen gegeben. Alles, was mit dem Wetter zusammenhängt, war ziemlich genau vorhersehbar und gleichbleibend. Und dann das.« Er wies zur Wand. »Das ist so, als würden sie ein Stück glühender Kohle in ihrer Eiskrem finden.«
»Gerry hat recht.« Hwangs Zeiger wanderte hin und her. »Diese Wolken und dieser Schatten auf dem Eis sind völlig verkehrt. Richtig für Kansastan vielleicht, aber nicht für Tran-ky-ky.«
»Es ist also verkehrt.« Ethan begann die Sache interessant zu finden. »Welche Bedeutung hat das? Worauf weist es hin?«
»Auf eine Veränderung im Klima.«
Ethan und Skua sahen sich an. »Ich verstehe nicht«, sagte Ethan. »Frostig oder nicht so frostig, was macht das schon?«
»Dort ist es nicht frostig.«
Ethan kniff die Augen zusammen. »Wie bitte?« Er starrte erneut auf das Infrarotbild und versuchte Dinge zu erkennen, die nicht da waren. Hwangs Lichtzeiger huschte währenddessen weiter über die Wand.
»Dieser kleine Bereich weist einen extremen Temperaturunterschied zu seiner unmittelbaren Umgebung auf. Außer dem unerklärlichen Temperaturanstieg zeigt die spektroskopische Untersuchung auch eine extreme Änderung der atmosphärischen Zusammensetzung direkt über diesem Abschnitt des kontinentalen Sockels.«
»Vulkanismus«, meldete sich September sofort. »Tran-ky-ky ist voll davon. Ich begreife nicht, wo das Problem liegt.«
Hwang lächelte. »Sie sind voll von Überraschungen, Mr. September. Ja, es gibt viele Vulkane auf dieser Welt, und ein ausreichend kräftiger Vulkanismus könnte möglicherweise für das verantwortlich sein, was wir sehen, aber wir glauben nicht, daß Vulkanismus die Ursache ist. Hochauflösende Optik oder nicht, unser Satellit ist imstande, ziemlich kleine Details der Oberfläche darzustellen – nirgendwo in der Umgebung dieser Anomalie gibt es Anzeichen für Krater.«
»Was ist mit Schlotventilation?« fragte September. Ethan warf ihm einen überraschten Blick zu, und September lächelte. »Habe mich in früheren Jahren ein wenig mit Geologie befaßt, Jungchen.«
»Wir haben auch das erwogen. Wir haben sogar rein spekulative und abstruse Gründe in Betracht gezogen. Nichts davon paßt zu dem Ausmaß dessen, was wir beobachten. Hätten wir einen wirklich ordentlichen Satelliten mit hochauflösenden Kameras…« Sie verstummte für einen Moment. »Aber den haben wir eben nicht. Unserer ist zur Unterstützung von Temperaturmessungen und Wettervorhersagen konstruiert. Wir haben bessere Ausrüstung angefordert, aber Sie können sich vorstellen, wie schwierig es ist, teure Instrumente zum Studium dieser entfernten, rückständigen Welten zu erhalten.«
»Lassen Sie Hunnar Rotbart nicht hören, daß Sie Tran-ky-ky rückständig nennen«, sagte Ethan. »Die Tran mögen nicht besonders kultiviert und intellektuell oder technisch hochentwickelt sein, aber sie sind auch nicht dumm oder lernunwillig, und sie sind höllisch stolz.«
»Gehen Sie doch nicht gleich in Verteidigungshaltung«, sagte einer der anderen Forscher. »Wir sind hier, weil wir versuchen wollen, diesen Leuten zu helfen, und nicht, um sie zu beleidigen.«
»Wir gehen von Vulkanismus aus«, fuhr Hwang fort, »weil wir keine bessere Hypothese haben. Wir wissen, daß die innere Hitze des Planeten sein Wetter steuert, da es keine offenen Wasserflächen gibt. Wir könnten die ganze Sache abschreiben, bis die neuen Instrumente eintreffen. Aber wir machen uns Sorgen.«
Ein hochgewachsener Geophysiker, der den ausgefallenen Namen Orvil Blanchard trug, wies mit schlaksiger Hand auf die Wand. »Bedenken Sie, daß wir nicht die geringsten natürlichen Ursachen für das finden können, was in dieser Region vor sich geht. Trotzdem nehmen die Veränderungen in der Atmosphäre beständig zu. Schlotventilation unterliegt heftigen Schwankungen. Sie nimmt nicht mit der stetigen, meßbaren Rate zu, wie diese Anomalie. Zumindest keine Schlotventilation, die mir je untergekommen ist. Es ist, als sei im Innern des Planeten ein Schalter umgelegt worden.«
Hwang schaltete den verborgenen 3-D-Projektor ab. »Wir könnten es trotzdem auf Vulkanismus zurückführen, aber wir möchten sichergehen. Da unser mittelmäßiger Beobachtungssatellit nicht in der Lage ist, dieses Problem zur allgemeinen Befriedigung zu lösen, bleibt uns nur eine direkte Ortsbesichtigung. Was uns vor ein Problem stellt. Aufgrund der gesetzlichen Einschränkungen über die fortschrittliche Technik auf einem Klasse IVB-Planeten wie Tran-ky-ky, können wir nicht auf Fluggeräte oder Skimmer zurückgreifen. Man war davon ausgegangen, daß wir alle Informationen, die wir für unsere Forschung benötigen, durch den Satelliten bekommen können. Normalerweise hätte das auch ausgereicht.
Die Hauptverwaltung hatte einen Skimmer für Notfälle, doch der wurde zerstört, als der vorige Kommissar mit einigen unfreundlichen Einheimischen zusammenstieß. Das besagt jedenfalls Ihr Bericht – den hier übrigens jeder gelesen hat.«
»Ich habe am Rand des Außenpostens Eisgleiter gesehen. Wie steht es damit?« fragte Ethan.
»Viel zu geringe Reichweite«, antwortete Blanchard. »Wir könnten zusätzliche Treibstoffzellen mitnehmen, vielleicht sogar genug, um die Reise hin und zurück zu bewerkstelligen, aber dann könnten wir praktisch nichts anderes mehr transportieren. Und aufgrund dessen, was wir über das Wetter auf dem Eisozean wissen, könnte etwas so kleines wie ein Gleiter für jeden Kilometer, den er vorankommt, gut und gerne zwei zurückgeblasen werden.«
»Dazu kommt«, fuhr Hwang ungeduldig fort, »daß sich niemand von uns je weiter von Brass Monkey entfernt hat als bis zum Rand dieser Insel. Sie wurde bei Gründung der Basis von Geologen umrundet und kartographiert, und weiter reicht unsere Fernerkundung nicht. Wir sind alle immer noch neu in einer neuen Welt. Das ist der Grund, warum wir Ihren offiziellen Bericht verschlungen haben. Er war für jede einzelne Abteilung von unschätzbarem Wert. Aber wir haben weder Erfahrungen noch Wissen darüber, wie es draußen auf den Ozeanen ist. Niemand von uns hier hat zum Beispiel je eines dieser außergewöhnlichen Geschöpfe gesehen, die die Einheimischen Stavanzer nennen.
Wir würden blind und unwissend reisen und ohne Unterstützung durch Skimmer oder Flugzeuge. Ich denke, Sie stimmen mir darin zu, daß es außerordentlich riskant, mehr noch, tollkühn wäre, würden Leute wie wir, die nicht über Ihre Erfahrungen verfügen, so eine Reise zum Südkontinent unternehmen.«
»Da kann ich Ihnen nicht widersprechen«, erklärte September, die versteckte Bitte munter ignorierend.
Nachdem Subtilität nichts bewirkt hatte, äußerte Hwang den Wunsch unverblümt: »Dann können Sie sicherlich verstehen, daß wir Ihre Hilfe benötigen.«
Ethan dämmerte es langsamer. »O nein! Ich meine, wir helfen Ihnen gerne bei den Vorbereitungen und stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite, nicht wahr, Skua?«
September blickte auf seine Uhr. »Das werden wir, Jungchen, solange es nicht mehr als ein paar Stunden dauert. Eine Nova könnte mich vielleicht von diesem Shuttle fernhalten, aber nichts anderes.«
Hwang wandte sich zu Ethan um und sah ihn ernst an. »Was ist mit Ihnen, Mr. Fortune? Milliken hat uns berichtet, daß Sie sowieso hier bleiben.«
Ethan warf dem Lehrer einen bösen Blick zu. Williams hielt dem wütenden Starren ungerührt stand. Warum überhaupt wütend auf Milliken sein? fragte Ethan sich. Was wahr ist, ist wahr.
»Jawohl, ich werde hier eine Weile stationiert sein. Doch ich bin dem Haus Malaika verantwortlich. Ich muß eine komplette, regelrechte Handelsstation aufbauen. Gegenwärtig besteht sie aus mir selbst und ein paar Kisten mit Mustern, die möglicherweise im Lagerhaus eingefroren sind. Ich muß den Bau oder das Leasen eines Büros und von Speicherraum organisieren, bei der Verwaltung einen Assistenten mieten und die Suche nach geeigneten Angestellten von außerhalb beginnen. Außerdem müssen Formulare ausgefüllt, eingereicht und abgelegt werden, und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Wir können Ihnen dabei helfen«, sagte ein weiterer der Meteorologen. »Wir haben jahrelange Erfahrung im Umgang mit der hiesigen Verwaltung.«
»Ja, aus wissenschaftlicher Sicht, aber nicht aus kommerzieller«, wandte Ethan ein. »Außerdem muß ich noch eine Unterkunft für mich selbst besorgen.«
»Wir könnten hier ein Dauerappartement für Sie finden.« Blanchard grinste. »Keine absolute Spitzenklasse, aber vor einigen Monaten haben uns zwei Geologen verlassen. Sie könnten zwei Appartements haben, eins für Sie selbst und das andere als provisorisches Büro. Besser als das, was Ihnen die Verwaltung zuweisen würde.«
Ethan kam sich vor wie jemand, der auf einer Leiter von einer Raubtiermeute verfolgt wurde und dem die Sprossen ausgingen. »Sehen Sie, ich weiß Ihre Angebote zu schätzen, und ich habe volles Verständnis für Ihre Situation, aber ich habe nicht eine Minute für mich selbst übrig, ich habe eine Tonne Arbeit vor mir und kann nicht einfach wieder wochenlang verschwinden. Wenn Sie ein Eisschiff wollen, kann ich in Asurdun die Kontakte für Sie knüpfen. Sie können sich gegen entsprechende Bezahlung nach Poyolavomaar mitnehmen lassen. Und dort werden Sie bestimmt ein Schiff mit Besatzung heuern können, das Sie weiter nach Süden bringt.«
»Die Gegend, in die wir wollen, ist nicht kartographiert. Sie ist weit entfernt von diesem Poyolavomaar, das Sie in Ihrem Bericht beschreiben. Wir kennen die Eingeborenen dort nicht, wissen nicht, wie sie fühlen und denken.«
»Warum warten Sie nicht einfach auf die neuen Satelliteninstrumente? Dann bekommen Sie alle gewünschten Antworten in der Sicherheit und Bequemlichkeit Ihrer Büros.«
»Es ist nicht unsere Sicherheit und Bequemlichkeit, die uns im Moment beschäftigen«, erklärte Hwang. »Es ist die Sicherheit der Eingeborenen, der Tran. Sehen Sie, wenn wir auch nicht Ihre einzigartigen Erfahrungen teilen, so verkehren wir hier in Brass Monkey doch auch mit den Tran. Wir kennen viele von ihnen beim Namen und haben sie – genau wie Sie – kennen und schätzen gelernt. Wir möchten nicht, daß sie irgendwie zu Schaden kommen.«
»Nun mal langsam!« September schien verwirrt. »Wir haben über ein nicht geklärtes, örtlich begrenztes meteorologisches Phänomen gesprochen, das einen Teil des Südkontinents betrifft. Niemand hat irgend etwas über eine mögliche planetenweite Katastrophe gesagt.«
»Es fällt schwer, in solchen Begriffen zu sprechen, ohne eindeutige Beweise zu haben«, erklärte ein weiterer Wissenschaftler. »Deshalb liegt uns so viel daran, selbst nachzusehen, was da eigentlich vor sich geht. Wir hoffen, daß sich keine Katastrophe abzeichnet – planetarisch oder auch nur kontinental –, aber wir müssen dorthin und nachsehen. Und das so schnell wie möglich. Wir können nicht auf Ergebnisse besserer optischer Geräte warten, die vielleicht nie eintreffen. Vielleicht ist es eine Überreaktion, aber wir müssen wissen, was dort draußen passiert, Mr. September.«
»Wie dem auch sei.« Ethan kämpfte darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Solange Sie kein Eisschiff mieten, das Sie nach Poyolavomaar bringt und dann versuchen, von dort nach Süden zu kommen, werden Sie es nicht herausfinden. Es gibt nämlich keinen anderen Weg, die Region zu erreichen, von der Sie sprechen. Sie haben eben selbst alle Möglichkeiten aufgezählt. Für Eisgleiter ist es zu weit und Fluggeräte oder Skimmer stehen nicht zur Verfügung.«
»Was ist mit dem bemerkenswerten Eisschiff, das Sie gebaut haben?« fragte Hwang.
»Wir haben überhaupt nichts gebaut«, erklärte Ethan schärfer, als er eigentlich wollte. »Die Tran haben jeden Meter davon selbst gebaut.«
»Verzeihung. Das Eisschiff, das Sie entworfen haben. Es ist weit robuster und schneller, als alles andere, was wir hier beobachten konnten. Und es hat sich als Langstreckenfahrzeug bewährt. Wäre es nicht möglich, daß wir…«
»Indiskutabel, unmöglich.« Jetzt wurde ihm klar, daß der Hauptzweck des Zusammentreffens gewesen war, an die Slanderscree heranzukommen. Er und Skua waren nur Begleitumstände. »Die Slanderscree wird nur in eine Richtung fahren – und das ist Westen. Nicht Osten, Südosten oder irgend etwas anderes in der Art. Sie wird lange brauchen, bis sie zu Hause ist, da sie gegen den Wind kreuzen muß.
Die Besatzung ist seit über einem Jahr nicht mehr in der Heimat gewesen. Sie mögen Membranen zwischen Armen und Körper haben, sie mögen senkrechte Pupillen anstatt runder haben, aber sie sind denkende, empfindende Wesen. Sie waren viel zu lange von ihren Familien, ihren Freunden und ihrem normalen Leben getrennt – und das nur wegen uns. Sie möchten genauso sehnlich nach Hause wie Skua.«
»Wir sind uns dieser Sorgen und Sehnsüchte bewußt«, erwiderte Hwang mit beschwichtigender Gestik. »Wir fühlen genauso mit den Tran wie mit Ihnen und Mr. September. Wir haben alles gelesen, was Sie über Sir Hunnar Rotbart und sein Volk geschrieben haben. Doch diese Angelegenheit betrifft die Tran weit mehr als uns. Dies ist ihre Welt, und sie könnte in Gefahr sein. Sie müssen sie überzeugen, uns zu helfen.«
Ethan schüttelte den Kopf. »Es wäre vergeblich, selbst wenn wir splitterfasernackt zu ihnen gingen und Purzelbäume schlügen, bis wir mitten in der Luft steifgefroren sind. Hunnar ist jetzt Erbe des Throns von Wannome. Er hat politische wie persönliche Gründe, nach Hause zurückzukehren. Sie sind unsere Freunde, doch wir sind immer noch Fremde und sie sind immer noch Tran. Sie schulden uns überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil: Skua, Milliken und ich schulden ihnen etwas dafür, daß sie uns am Leben erhalten haben. Kein noch so großes Gerede von uns wird sie davon überzeugen, ihre Heimreise weitere sechs Monate oder mehr zu verschieben, damit wir einen Disput über irgendeine Hunderte von Kilometern entfernte Klimaabweichung beilegen können.«
Hwang senkte den Blick. »Ich verstehe. Sie müssen aber auch verstehen, daß wir fragen mußten. Milliken sagte, es würde schwierig sein.«
Das ist doch verrückt, dachte Ethan. Warum stehe ich hier und höre mir das an? Was macht es schon aus, welche Ursache ein lokaler Temperaturanstieg weit im Süden hat? Sie haben doch schon zugegeben, daß er vielleicht auf Vulkanismus zurückzuführen ist.
Aber wenn Vulkanismus nicht die Ursache war, was war dann verantwortlich?
Das war nicht sein Problem. Er war Händler, Geschäftsmann, kein Wissenschaftler. Es war nicht seine Sache, sich bei den Tran für Cheela Hwang und ihre Mitarbeiter zu verwenden. Er hatte selbst genug Probleme.
Sie war noch nicht fertig. »Wir haben weder das Recht noch die Macht, Sie zu zwingen. Wir wissen, daß Sie und Mr. September während der vergangenen Monate eine Menge durchgemacht haben. Wir werden nicht weiter in Sie dringen. Aber wir mußten fragen.« Sie breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus. »Wir mußten fragen, weil wir keine andere Wahl hatten.«
Was für eine schreckliche Art, seine Beziehungen zur Belegschaft des Außenpostens zu beginnen, überlegte Ethan. Nicht, daß er wohl je auf ihre Hilfe angewiesen sein würde. Wenn sie ihre Niederlage nur nicht so großzügig hinnehmen würden. Warum brüllten sie nicht ein bißchen herum und verfluchten ihn? Was, zum Teufel, hatten sie erwartet? Selbst wenn er sich selbst eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit zugestand und sich bereiterklärte, mit ihnen zu reisen, begriffen sie denn nicht, daß es einfach keine Möglichkeit gab, Hunnar, Kapitän Ta-hoding und die übrige Besatzung der Slanderscree davon zu überzeugen, auch so zu handeln?
Weil Hunnar und seine Freunde nach Hause mußten. Selbst wenn Hunnar es nicht eilig hatte, den Mantel des Landgrafen-Erben anzulegen, und selbst wenn er und seine Leute daran interessiert waren, noch eine weitere unerkundete Region ihrer Welt zu besuchen, war er genaugenommen in den Flitterwochen. Hatten Tran Flitterwochen? Vielleicht wurde von Frischvermählten erwartet, daß sie sich hinaus auf das Eis begaben und einen Droom schlachteten oder irgend etwas entsprechend Abenteuerliches.
Das war aber auch egal. Sie mußten zurück nach Sofold, schon allein, um ihre Freunde und Verwandten darüber zu informieren, daß es sie noch gab. Nach allem, was Elfa Kurdagh-Vlatas Vater wußte, war seine Tochter tot, ebenso wie die Besatzung des Eisseglers, das große Schiff selbst zerstört, und an den Knochen der Besatzung knabberten die Aasfresser. Ungeachtet, wie sie persönlich auf Cheela Hwangs Bitte reagieren mochten, waren sie verpflichtet, nach Hause zurückzukehren, um Nachricht von ihrem Überleben zu überbringen. Die Bürger Sofolds ahnten nichts davon, daß sie jetzt Mitglieder einer großen und wachsenden Union von Stadtstaaten waren. Hunnar und Balavere Langaxt waren verpflichtet, sie über ihre Zukunft zu informieren. Beziehungen mußten aufgefrischt, Lieder gesungen, Heldentaten berichtet werden. Dazu gab es keine Alternative.
Das erklärte er auch Cheela Hwang und ihren Kollegen in der Hoffnung, es würde sie zufrieden stellen und die Angelegenheit auf eine Weise beilegen, die jede künftige Selbstschutzbehauptung unnötig machte. Er vergaß, daß er es mit Leuten zu tun hatte, die daran gewöhnt waren, auch aus mageren Daten Antworten zu gewinnen. Blanchard fand eine, bevor Ethan sich verabschieden konnte.
»Sie sagen also folgendes: Falls Sie sie überzeugen könnten, uns mitzunehmen, wäre ihnen das trotzdem verboten, weil sie sich zu Hause melden müssen.«
Ethan nickte heftig. »Umstände, über die ich keine Kontrolle habe, und auch Skua nicht oder sonst irgend jemand.«
Blanchard blickte erfreut drein. »Nicht notwendigerweise. Was ist die Mindestbesatzung für ein Schiff wie Ihren Eisklipper?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Ethan verdutzt. »Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich war nur Passagier. Wenn es rein ums Segeln geht, braucht man nicht so viele, wie normalerweise auf der Slanderscree sind. Wenn es darum geht, einen unbekannten Teil des Planeten zu erkunden und sich währenddessen gegen unbekannte Gefahren zu verteidigen, ist das wieder etwas anderes.«
»Hier würde es sich um eine reine Forschungsreise handeln«, wandte Blanchard ein. »Wir rechnen nicht mit irgendwelchen Kämpfen.«
»Das tut man nie«, entgegnete Ethan, »aber Tran-ky-ky ist nicht gerade eine heimelige Welt. Es gibt eine Menge feindseliger Fauna, ganz abgesehen von Transtämmen, zu denen noch keinerlei Kontakt besteht.«
»Wir würden angemessen ausgerüstet reisen«, sagte ein anderer Wissenschaftler. »Keine hochentwickelten Waffen, da das streng verboten ist, aber wir könnten anderes Nützliches mitnehmen. Und falls Sie versuchen, uns Angst zu machen, verschwenden Sie Ihre Zeit. Wir haben das untereinander diskutiert und wissen, worauf wir uns einlassen. Wir kennen uns in Asurdun und der näheren Umgebung aus und sind nicht völlig naiv, was die Gefahren dieser Welt angeht.«
Ethan versuchte erst gar nicht zu erklären, daß ein Ausflug von ein paar Tagen, der um eine relativ stabile und zivilisierte Insel wie Asurdun führte, keine Ähnlichkeit mit einer mehrwöchigen Reise über den Eisozean in unerforschte Gegenden einer feindseligen Welt hatte. Warum Zeit verschwenden? Sie würden sowieso nirgendwohin reisen. Doch Blanchard war noch nicht fertig.
»Wir könnten beispielsweise ein Handelsschiff mieten, das die Älteren, die Verwundeten, die chronisch Heimwehkranken zurück nach Sofold bringt. Wir verfügen in unserem Budget über einen beträchtlichen, frei verfügbaren Posten und wir wissen, wie versessen die Tran auf Metall sind. Ich bin sicher, daß wir einen Kapitän finden, der bereit ist, die Reise zu unternehmen. Diejenigen Ihrer Freunde, die darauf bestehen, zurückzukehren, müßten auf dieser Reise dann nicht einmal arbeiten oder kämpfen. Sie könnten sich ausruhen. Sie haben es verdient. Und wir hätten immer noch Mittel, um Ihren Eisklipper zu heuern.«
»Diesem Balavere Langaxt, der alte Soldat, den Sie in Ihrem Bericht erwähnen, könnte die Verantwortung für die Rückkehrer übertragen werden«, ergänzte Hwang. »Als geachtetem Mitglied des Hofes von Wannome würde seinem Bericht geglaubt werden. Tatsächlich könnte man argumentieren, daß es seine Aufgabe ist, so einen Bericht abzuliefern und nicht die des jüngeren Ritters, den Sie Rotbart nennen. Die verbleibende Besatzung könnte uns zum Südkontinent segeln.«
»Lassen Sie diesen Langaxt«, fuhr Blanchard fort, »den Leuten daheim versichern, daß alles in Ordnung ist. Er kann ihnen von dieser Union berichten, die Sie angestiftet haben, über die Heldentaten seiner Freunde und Kameraden und von der königlichen Hochzeit, an der sie kürzlich teilgenommen haben. Er kann auch die Verzögerung bei der Rückkehr der Slanderscree erklären und die Wichtigkeit der Reise, die wir unternehmen müssen. Und was die Bezahlung angeht, möchten wir sichergehen, daß wir nicht die Würde dieses Rotbart verletzen.«
»Es gibt keinen lebenden Tran, dem es zuwider wäre, Geld zu verdienen«, erklärte September, »aber sie werden die Slanderscree und ihre Matrosen nicht für ein paar Klumpen Eisen bekommen.«
Hwang lächelte. »Der Außenposten hat seinen eigenen Kompaktschmelzer, Mr. September. Es gibt Erz tief im Innern Asurduns, von dem die Einheimischen keinen Gebrauch machen können, wir aber wohl. Der Schmelzer ist hier, damit wir die Anlagen und Einrichtungen des Außenpostens bauen beziehungsweise reparieren können. Was aber nicht bedeutet, daß wir ihn nicht dazu benutzen können, Barren herzustellen oder Stangen, Röhren, Nägel und Bolzen, Schwerter und Pfeilspitzen und was immer Ihren Tran gefallen würde. Wir können ihnen den Frachtraum ihres Schiffes für die Rückreise bis zum Rand füllen. Sie können uns eine detaillierte Wunschliste übergeben, und wir werden sie erfüllen.«
Hwang hatte gerade ein für einen Tran so gut wie unwiderstehliches Angebot gemacht. Der Handel mit hochentwickelten Waren wie beispielsweise Elektronik war auf Tran-ky-ky verboten, ausgenommen einige einfache Geräte, die mit Sicherheit nicht lange hielten. Nägel und Schwerter würden Bestand haben auf einer Welt, wo Stahl wertvoller war als Gold. Selbst jemand, der solches Heimweh hatte wie Hunnar, würde es schwer fallen, das Angebot abzulehnen.
»Sie können ihnen auch sagen«, fuhr Blanchard fort, »daß sie ihr Wissen über ihre Welt erweitern und neuen Völkern die Hand der Freundschaft und der Union entgegenstrecken würden.«
Das war genauso ein Appell an ihn wie an die Tran, erkannte Ethan. Schloß er sich an, würde er Geschäfte machen, neue Handelskontrakte abschließen, vielleicht neue interessante Waren finden. In einer Zivilisation wie dem Homanx-Commonwealth, wo Elektronik, Waren und Dienste billig und problemlos zu bekommen waren, gehörten Kunst und Kunsthandwerk zu den höchstbezahlten neuen Gütern.
Warum nicht, zum Teufel? Er saß hier ohnehin fest.
»Ich bin immer noch nicht sicher, ob das eine gute Idee ist oder ob nicht irgendein ferngesteuertes fliegendes Beobachtungsgerät besser wäre, aber ich werde Hunnar und seinen Leuten Ihren Vorschlag unterbreiten. Sie haben das Recht, Sie selbst abzuweisen.«
»Um mehr bitten wir nicht.« Sie sah September an. »Und was ist mit Ihnen?«
»Ich? – Ich wünsche Ihnen alles Glück, aber mein Schiff verläßt morgen früh um null-acht-einhundert den Orbit. Ich werde euch auf dem Weg aus dem System zuwinken. Mir war lange genug kalt.«
Hwang war beharrlich oder stur oder beides. »Die Gegend, wohin wir wollen, ist wärmer. Das ist das Problem.«
»Ihr Problem, nicht meins. Ich bin dahin unterwegs, wo es immer warm ist. Vielleicht werde ich es bereuen, daß ich Ihr Angebot nicht angenommen habe – in ein oder zwei Jahren.«
Sie wandte sich Ethan zu. Soweit es sie betraf, war September jetzt schon abgereist. »Ich bin überzeugt, Sie werden Ihren Tran-Freunden unser Angebot so offen und ehrlich unterbreiten, wie wir Ihnen. Ich wünschte nur, ich könnte vermitteln, wie immens wichtig es ist, die Ursache dieser klimatischen Störung so schnell wie möglich in Erfahrung zu bringen. Es gibt da kritische Widersprüche in den Daten und Berechnungen, die eine sofortige Lösung verlangen. Versuchen Sie, Ihren Freunden besonders das zu vermitteln und vergessen sie unser Angebot nicht, diejenigen mitsamt Fracht nach Hause schaffen zu lassen, die uns nicht begleiten wollen.«
»Ich werde dafür sorgen, daß sie alle Einzelheiten und Aspekte verstehen. Warum kommen Sie nicht mit, wenn Ihnen die Sache so am Herzen liegt? Sagen Sie es ihnen selbst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht gut mit anderen umgehen, und ich kann die Sprache nicht. Keiner von uns übrigens. In dieser Hinsicht sind unsere Translatoren elektronische Krücken. Etwas persönlich und direkt zu sagen, ist unendlich wirkungsvoller, als durch ein Gerät zu sprechen. Außerdem sind es Ihre Freunde. Es wird weit besser klingen, wenn es von Ihnen kommt. Wenn Sie sich bereiterklären, uns zu helfen, werde ich sie vielleicht auch als Freunde ansehen können.« Von den Wissenschaftlern kam zustimmendes Gemurmel.
»Wir werden sehen«, sagte Ethan, »aber ich kann nichts versprechen. Und sie von der Dringlichkeit überzeugen – das wird hart.«
»Das werde ich übernehmen«, erklärte Williams leise, aber selbstsicher. »Du klopfst sie weich, Ethan, und ich werde die Beweisführung zu Ende führen.«
Ethan sah zweifelnd drein. »Hunnar Rotbart und Kapitän Ta-hoding müssen mehr als nur weichgeklopft werden, wenn Sie davon überzeugt werden sollen, daß die Zeit der Heimkehr noch nicht gekommen ist.«
»Wir waren sehr lange nicht zu Hause.«
Als Hunnar seine kleine Rede beendet hatte, spiegelten sich seine Empfindungen bei den anderen anwesenden Tran wider. Dazu gehörten Balavere Langaxt, oberster Krieger der Slanderscree; Ta-hoding, ihr Kapitän; Elfa Kurdagh-Vlata, Tochter des Landgrafen von Sofold, und die zwei Junker Hunnars. Milliken Williams und Ethan sprachen für den Stab der meteorologischen Abteilung, während ein mürrischer Skua September im Hintergrund finster vor sich hinstarrte. Ethan hatte ihn gebeten, dabeizusein und da der Start des Shuttles auf den frühen Morgen verschoben worden war, konnte er nicht gut ablehnen. Aber es gefiel ihm nicht.
Die Menschen benötigten Überlebensanzüge für dieses ausgedehnte Gespräch, doch für die Tran war die einige Grad unter Null liegende Temperatur im Übergangsraum eindeutig tropisch.
Als Hunnar sich setzte, beugte Ta-hoding sich über den Plastiktisch. »Wohin wünschen diese Gelehrten gebracht zu werden, Freund Ethan?«
Williams rollte die Karte auf, die Cheela Hwang und ihre Kollegen vorbereitet hatten. Die Infrarotaufnahmen des Beobachtungssatelliten waren übertragen worden. Er fragte sich, wie die Tran darauf reagieren würden, hatten sie doch ihre Welt noch nie aus der Vogelperspektive gesehen. Sie navigierten nach Windrichtung und Sternen, Landschaftsmerkmalen und Tradition. Wenn jemand zu dem notwendigen geistigen Sprung imstande war, dann die in diesem Raum Anwesenden. Das Konzept von Karten war ihnen nicht unbekannt, aber Luftaufnahmen waren wieder etwas ganz anderes.
Tran maßen Entfernungen in Satch genannten Einheiten, und der Kartograph des Außenpostens hatte auf seine Anweisung hin alle Maßnahmen auf der einfachen Karte in diesen vertrauten Zahlen machen lassen. Es half.
Elfa musterte die Karte unsicher. »Niemand ist bisher so weit nach Südosten vorgedrungen. Diese Gegend ist uns unbekannt.«
Ethan fand, daß sie in ihrer Pelz- und Lederkleidung wundervoll aussah. Exotisch, sehr weiblich auf eine katzenhafte Weise, und völlig fremdartig. Du anthropomorphisierst schon wieder, mahnte er sich.
»Bis ihr die Reise mit der Slanderscree gemacht hattet, war auch noch niemand aus Sofold soweit östlich gewesen.« Er fuhr mit dem Finger auf der Karte eine Route ab. »Wir wenden uns südlich nach Poyolavomaar. Soweit ist es vertrautes Territorium, und wir können die Schiffsvorräte dort, falls nötig, ergänzen. Von dort schwenken wir südöstlich ab, bis wir irgendwo in diesem Bereich die äquatoriale Eisbarriere – den Gebogenen Ozean, wie ihr sie nennt – überquert haben. Dann geht es direkt bis zum Südkontinent. Der Kontinentalsockel verläuft an diesem Punkt fast genau von Osten nach Westen, und wir werden den Westwind genau hinter uns haben. Ich bezweifle, daß wir auf etwas stoßen, dem wir nicht schon begegnet sind.«
»Das ist ein Versprechen, das sich schon oft als falsch erwiesen hat«, witzelte Budjir.
Ethan rollte die Karte wieder ein. Die Druckerei der Forschungsabteilung würde bis zur Abreise des Eisseglers mehrere Kopien angefertigt und laminiert haben.
»Es ist ja nicht so, daß Hwang und ihre Leute euch bitten, sie zum Südpol zu segeln. Sie werden die Reise zu einer lohnenden Angelegenheit für euch machen. Jedes Mitglied der Besatzung wird Anteil an den Profiten haben, die bei eurer Rückkehr nach Sofold erzielt werden.«
»Was ist mit denen, die wir zurückgelassen haben, und die sehnsüchtig auf eine Nachricht über die Rückkehr der lange Vermißten warten?« wollte Balavere Langaxt wissen. Sein Pelz zeigte silbrige Tupfen, und sein Bart war grau anstatt rötlich.
»Die Wissenschaftler haben vor, das beste verfügbare Schiff zu heuern, das einen Teil der Slanderscree-Besatzung zurück nach Wannome bringen soll. Sie können im Namen aller berichten.«
»Kein anderes Händlerschiff hat je so eine Reise unternommen. Bis wir hierher kamen, wußten die Bürger Sofolds nichts von Asurdun und dessen Bewohner nichts von uns«, wandte Ta-hoding ein.
»Genau. Jetzt, da die Route bekannt ist und die Reise einmal durchgeführt wurde, sollten andere Tran bereitwilliger sein, es auch zu versuchen. Die Besitzer des Schiffes, das wir heuern, werden gut bezahlt werden.«
»Wir hatten auch den Wind immer hinter uns.«
»Die Rückreise wird länger dauern und ungefährlicher sein, da die Hindernisse nun bekannt sind. Diejenigen, die heimfahren, werden das in aller Bequemlichkeit tun. Andere werden die Segel reffen und das Essen kochen. Wenn sie gemeinsam in die große Halle Wannomes schreiten, um von ihren Abenteuern zu berichten wird man sie ehren. Und noch größere Ehre wird denjenigen zuteil werden, die schließlich mit einer Slanderscree zurückkehren, deren Laderaum bis zum Rand voll Metall ist.
Ich habe mit der Metallurgin gesprochen, die für den Schmelzer verantwortlich ist. Sie wird euch gern alle Wünsche nach Speerspitzen, Nägeln, kleinen Werkzeugen und Röhren erfüllen. Was immer ihr wünscht. Die Menschen, die eure Dienste in Anspruch nehmen möchten, werden für alles aufkommen. Mit dieser einen Ladung wird Wannome gegenüber den benachbarten Stadtstaaten einen gewaltigen Vorsprung an Reichtum und Prestige haben. Das wird es leichter machen, die neue Union zu fördern. Wenn die Bewohner von Ayhas und Meckleven die Vorteile sehen, die aus einer Mitgliedschaft gewonnen werden können, werden sie es eilig haben, mitzumachen.«
»Du führst uns in Versuchung, Freund Ethan«, sagte Balavere. »Wahrhaftig, das tust du. Wäre da nicht die Notwendigkeit, die Unseren und den Landgrafen darüber zu informieren, daß wir immer noch über die Meere unserer Welt chivanieren, wäre ich geneigt, selbst bei euch zu bleiben. Eine solche Ladung, wie du sie beschreibst, hat sich nie jemand auch nur vorstellen können. Ich wäre gerne derjenige, der sie vorführt.«
»Wie Freund Ethan sagt, ist es nicht so, als würde man uns bitten, den Globus zu umsegeln.« Suaxus-dal-Jagger hatte offenkundig keine Zweifel, wie sie sich entscheiden sollten. »Was seine Freunde vorschlagen, ist eine Reise, die nicht länger dauert als diejenige, die wir von hier nach Moulokin unternommen haben. Diese Länder waren uns auch unbekannt, bis wir sie besucht haben. Indem wir die Reise unternahmen, haben wir Wissen und Verbündete gewonnen. Warum sollte sich diese nicht als ähnlich vorteilhaft erweisen?« Das Grinsen des Junkers enthüllte rasiermesserscharfe Fangzähne.
»Und wenn sich auf dem Weg ein, zwei Kämpfe ergeben, nun, das würde uns vor Langeweile bewahren. Das ist der einzige Ort, den zu besuchen ich mich fürchte.«
»Ich würde meinen, daß du genug Abenteuer erlebt hast, um dich für den Rest deines Lebens vor Langeweile zu bewahren.«
Elfas Blick wanderte von dem übermütig enthusiastischen Junker zu Ethan. »Wie dem auch sei, unsere gelehrten Freunde bieten eine ungeheure Summe für eine kleine Beförderung. Solange es auch her sein mag, daß ich meinen Vater gesehen habe, weiß ich doch, was er uns raten würde.«
Hunnar hatte eingehend seine rechte Tatze betrachtet, die Krallen ein- und ausgefahren. Jetzt blickte er zu Skua hoch, der an der Tür lehnte, die zum Außenposten führte.
»Was meinst du, Freund Skua? Sollten wir diesen Vorschlag annehmen?«
»Ja, was meinst du?« fragte Balavere.
September ließ seinen Blick über Tran und Menschen wandern. »Ich meine, daß ihr alle miteinander Narren seid. Einige sind pelzige Narren und andere weichhäutige, aber ihr habt warmes Blut und Idiotie gemein. Ich meine, daß Ethan ein Narr ist, weil er sich auf einer weiteren Reise in unbekannte Regionen den Gefahren eurer Welt aussetzt. Ich meine, daß ihr andere Narren seid, weil ihr nicht sofort und jetzt nach Hause zurückkehrt.«
»Wir wissen, was wir zu erwarten haben, Skua«, sagte Williams und rückte seine Brille zurecht. »Es wäre entmutigend, würden wir auf einer solchen Expedition nicht ein oder zwei neuen Dingen begegnen.«
»Neue Dinge machen mir keine Sorgen. Überraschungen machen mir keine Sorgen. Was mir Sorgen macht, Milliken, ist, daß man nicht dauernd auf sein Glück vertrauen kann; früher oder später holt einen die Statistik ein. Die Chancen stehen bereits gegen uns. Ich selbst habe mich den Großteil meines Lebens auf Zehenspitzen am Rand der Katastrophe entlanggeschlichen. Daß ich bis jetzt nicht hinuntergefallen bin, heißt nicht, daß ich anfange zu tanzen. Ich glaube, ihr solltet nicht gehen.«
Williams drehte sich zu den aufmerksamen Tran um. »Es wird zweifellos Gefahren geben, denen man sich stellen muß. Dies ist eure Welt. Ich glaube Cheela Hwang und ihren Kollegen, wenn sie sagen, daß sie in Gefahr sein könnten. Eine Gefahr, die über Ozeane und Kontinente greifen kann. Wir suchen nach einer Erklärung, weil Ereignisse, die nicht erklärt werden können, dazu neigen, sich unerwartet und auf unangenehme Weise zurückzumelden. Wir müssen herausfinden, was mit dem Wetter am Rand des Südkontinents los ist.«
»Welche Bedrohung könnte das für uns im fernen Sofold darstellen?« wollte Budjir wissen.
Williams kämpfte um die richtigen Worte, um sie zu überzeugen: »Mir ist bewußt, daß ihr immer noch versucht, das Konzept einer Welt als geschlossener Einheit, als einer einzigen, zusammengehörigen Heimat zu begreifen. Wir Menschen haben – zu unserem Nachteil – viel länger dazu gebraucht. Eine Welt ist wie ein lebender Organismus. Was auf der einen Seite des Globus passiert, kann Auswirkungen auf uns hier in Asurdun haben. Denkt sie euch als ein lebendiges Wesen. Wenn irgendein Teil infiziert und nicht rechtzeitig behandelt wird, kann sich die Infektion ausbreiten und den ganzen Körper töten. Wir müssen herausfinden, ob es sich um so eine Infektion handelt.«
»Der Gelehrte spricht wahr. Ich stimme mit ihm überein«, erklärte Balavere.
Hunnar und Elfa tauschten einen Blick. Sie nickte unmerklich. Doch das letzte Wort lag nicht bei ihnen. Nicht hier, in dieser Sache. Dies war keine Staatsangelegenheit. Hunnar sah den Kapitän der Slanderscree an.
»Was ist mit dem Schiff? Welche Reparaturen wären nötig, bevor es eine solche Reise unternehmen könnte?«
»Keine, Sir Hunnar. Das Schiff ist völlig intakt. Wenn ich auch persönlich gern nach Hause möchte, macht müder Gedanke an eine weitere lange Reise doch keine Angst. Unser Segler ist stabil. Er könnte eine Reinigung vertragen, aber welches Schiff könnte das nicht?
Der Gedanke, ohne volle Besatzung so weit nach Süden zu reisen, begeistert mich nicht gerade, aber es ist durchführbar. Kein Grund, warum dreißig nicht gut mit ihr zurecht kommen sollten, besonders, wenn wir uns Zeit lassen und früh vor Anker gehen.«
»Wir selbst würden gern so schnell wie möglich zu diesem Ort gelangen«, merkte Williams dazu an, »aber unsere tatsächliche Geschwindigkeit hängt natürlich von euch ab. Was immer das Klima beeinflußt, wird sich nicht innerhalb von ein, zwei Tagen radikal in die eine oder andere Richtung ändern.«
Ta-hoding sah zufrieden aus. »Solange wir nicht getrieben werden, sehe ich keinen Grund, warum wir nicht die Hälfte der Vollbesatzung oder mehr nach Hause schicken können, um die zu erfreuen, die wir zurückgelassen haben. Wir kennen ihn inzwischen gut, unseren Eisklipper, und diejenigen, die zustimmen, ihn auf dieser Reise zu bemannen, werden Freiwillige sein. Wenn diesen ein größerer Anteil an der versprochenen Fracht zugesagt wird, sehe ich keine Schwierigkeiten, bereitwillige Matrosen zu bekommen.«
»Der Kapitänsanteil wäre natürlich entsprechend größer«, kommentierte September aus seiner Ecke.
Ta-hoding hüstelte und schien leicht verlegen. »Das wäre nicht unnatürlich. Das ist Tradition bei derartigen Vergütungen.«
»Es wird bestimmt genug für alle geben.« Hunnar drohte Williams scherzhaft mit seiner massigen Pranke. »Dies wird der letzte Ort sein, wo die Slanderscree Halt macht, bevor wir im heimatlichen Hafen Wannomes andocken. Absolut der letzte! Die Klagen meiner Familie klingen mir laut in den Ohren.«
Williams nickte zustimmend. »Das verspreche ich. Nach diesem Unternehmen könnt ihr alle nach Hause – reicher sowohl als auch klüger.«
»Dann ist es abgemacht«, sagte Elfa. Sie blickte zu Ethan hoch. »Doch dies muß ich euch beiden sagen: Wir tun das weder für das Vermögen, das eure Metallhexerin uns versprochen hat, noch aus Freundschaft, die ihre Grenzen hat. Wir tun es, weil Milliken Williams uns darum bittet. Weil wir bei ihm in einer Schuld stehen, die noch nicht abgetragen ist.«
»Fürwahr!« deklamierte Balavere Langaxt laut.
Ethan wußte, was sie meinten. Hätte der Lehrer nicht sein Wissen über bestimmte altertümliche Praktiken und Methoden eingesetzt, wäre sowohl die Schlacht um Wannome als auch die um Moulokin verloren gewesen. Elfa, Hunnar und die anderen Tran schuldeten Williams nicht nur ihre Unabhängigkeit sondern auch ihr Leben.
»Ja, nun.« Der Lehrer senkte Blick und Stimme und versuchte im Boden zu versinken. »Jeder andere in meiner Lage hätte dasselbe getan. Ich war nur zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort.«
»Jeden anderen kenne ich nicht«, sagte Hunnar. »Milliken Williams kenne ich. Du übertreibst deine Bescheidenheit. Jedenfalls zahlen wir hiermit unsere Schuld an dich zurück. Wir Tran mögen es nicht, wenn irgendwo alte Verpflichtungen herumliegen, wo in der Nacht das Gewissen über sie stolpern kann.«
»Dann sind wir uns alle einig.« Ethan schob seinen Sessel zurück. »Milliken, warum überbringst du nicht Hwang, Blanchard und den anderen die gute Nachricht? Sie haben sich inzwischen bestimmt die Nägel bis auf die Knochen abgekaut.«
»Mit dem größten Vergnügen. Sie werden sich etwa eine Minute lang freuen. Dann werden sie sich an die Arbeit machen und Vorbereitungen für die Abreise treffen.«
»Ja, Vorbereitungen«, sagte Ta-hoding. Er rieb sich zwar nicht richtig die Tatzen, aber es kam dem nahe. »Und während die Verproviantierung läuft, kann ich mich mit eurer Metallhexerin treffen, um zu besprechen, was wir als Ladung für den Rückweg nach Sofold haben möchten. Auf diese Weise kann alles fertig sein und darauf warten, daß wir zurückkehren.«
Elfa lächelte. »Es wird gut sein, mit mehr heimzukehren als bloßen Geschichten.«
Laserhell schnitt die im Osten aufsteigende Sonne die Silhouetten der Felsen und Klippen Asurduns aus dem Himmel. Eispartikel bombardierten die dicke Glasversiegelung des Beobachtungsdecks, das auf die Startbahn des Shuttles hinausging.
Ethan sah das Shuttle aus seinem unterirdischen Hangar aufsteigen, wie ein Untoter aus dem Grab. Es ruhte auf breiten, blauen Eiskufen, die Auslaßöffnungen der Raketen und Düsenturbinen verunzierten das Heck der ansonsten eleganten, von Deltaflügeln beherrschten Form. Es würde auf der glatten Startbahn rasch beschleunigen, sich auf Düsen in die oberen Atmosphäreschichten erheben, wo Staustrahltriebwerke den Antrieb übernehmen und es weiter beschleunigen würden. Jenseits der Hülle frostiger Luft, die Tran-ky-ky umgab, würden dann die Raketen einsetzen und es in den Orbit tragen, wo das Mutterschiff darauf wartete, das Shuttle aufzunehmen. Nachdem Passagiere und Ladung untergebracht waren, würde der KK-Antrieb aktiviert werden und das interstellare Fahrzeug aus dem System Tran-ky-kys ziehen und in jene seltsame, als Plus-Raum bekannte Region befördern, in der überlichtschnelles Reisen möglich war.
Das Heck des Shuttles erwachte leuchtend zum Leben. Das donnernde Röhren der Triebwerke wurde von dem dicken Glas gedämpft. Das Schiff begann sich zu bewegen. Langsam zuerst, dann immer schneller werdend, grub sein hohes Gewicht die Kufen durch das Eis auf das darunterliegende massive Felsgestein. Hinter ihm wandten sich die Angehörigen der Außenpostenbesatzung ab. Der sich monatlich wiederholende Start des Shuttles war nicht aufregend genug, um ihre Aufmerksamkeit länger zu fesseln. Sie plauderten unbeschwert und entspannt, die Gedanken schon wieder bei den tagtäglichen Aufgaben. Ethans Gedanken galten dem außergewöhnlichen Gentleman an Bord des Shuttles, der über ein Jahr lang sein Begleiter und Freund gewesen war, während sie gemeinsam auf dieser gefrorenen Welt ums Überleben gekämpft hatten.
Auf einer Säule überhitzter Luft nach oben getragen, hob das Shuttle vom Ende der Startbahn ab. Ethan folgte ihm mit dem Blick, bis es wie ein verlorenes Blatt im eisig blauen Himmel verschwand. Er starrte in die Weite, bis sich das ferne Donnern des Antriebs verloren hatte. Dann wandte er sich ab.
Es gab eine Menge zu tun. Die Einrichtung einer kompletten Handelsstation würde eine enorme Menge an Papierkrieg erfordern, ganz gleich, wie freundlich die neue Planetarische Kommissarin war. Wenn er sofort damit begann, konnte er vielleicht die Oberfläche ankratzen, bevor die Slanderscree zum Südkontinent aufbrach. Dann mußten spezielle Computerprogramme bestellt, Akten angelegt und Personal angefordert werden. Falls er Glück hatte und alles, was er brauchte, verfügbar war, würde er sich vielleicht in drei oder vier Monaten entspannen können. Und falls er zumindest einige Programme zum Laufen bringen konnte, würde es für Malaikas Untergebene aussehen, als machte er seine Arbeit.
Es würde eine einsame Arbeit werden. Verwaltung und Beaufsichtigung verlangten, daß er vor allem las und keine Hände oder andere Greifwerkzeuge schüttelte. Auch das unterhaltendste Computerprogramm war ein schlechter Ersatz für ein wenig Kameradschaft.
So in Gedanken und Pläne versunken war er, daß er fast in die große Gestalt hineingelaufen wäre, die sich am anderen Ende des Gangs postiert hatte. Sie lehnte am Türrahmen, hatte die Arme gekreuzt und machte ein wütendes Gesicht. Ethan fiel die Kinnlade hinunter.
Er fuhr herum und blickte durchs Beobachtungsfenster. Nein, das Shuttle war nicht zurückgekehrt, noch hatte er sich dessen Abflug eingebildet. Genauso wenig wie er sich die massige, vertraute Gestalt einbildete, die den Durchgang versperrte.
Es war nur gut, daß September als erster sprach, denn Ethan fehlten die Worte.
»Das ist alles deine Schuld, Jungchen.«
Diese Anschuldigung verlangte eine Antwort. »Meine Schuld? Was meinst du damit, meine Schuld? Was ist meine Schuld?« Ethan wies hilflos zurück zum Fenster. Draußen war die Bodenmannschaft in kleinen Fahrzeugen bereits dabei, die Start- und Landebahn für die Ankunft des Shuttles vorzubereiten, das in einem Monat landen würde.
»Warum bist du nicht im Shuttle?«
»Ich bin nicht im Shuttle, weil ich hier bin. Kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, oder?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Skua.«
»Wirklich? Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Wir sprechen darüber, daß meine Anwesenheit hier deine Schuld ist. Das ist doch nicht allzu schwer zu verstehen, oder?« Er entfaltete seine übergroßen Gliedmaßen und stellte sich aufrecht hin. »Das kommt von deinem verwünschten archaischen Verantwortungsbewußtsein. Deiner unschuldsvollen Naivität und deiner ekelhaft einschmeichlerischen Persönlichkeit. Gottverdammt, wenn ich jetzt ‘ne Kanone ziehen und dir deinen dämlichen, grinsenden Schädel wegpusten würde – deine letzten Worte wären eine Entschuldigung für die Kosten des Stromstoßes. Wie kommst du dazu, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, du und dieser gelehrsame Miniatursteinbruch obskurer Trivialitäten und diese tigerzähnigen Pelzbälle, die sich anmaßen, zivilisiert zu sein?«
»Niemand kann einem anderen ein derartig schlechtes Gewissen einreden, Skua. Das hast du ganz allein geschafft.«
»Ach, das ist aber ein markiger Kommentar, ja wirklich. Hier war ich, fix und fertig zur Abreise, und dann muß dieser Zwergknilch Williams kommen und uns zu diesem dämlichen Treffen schleifen. Gefährliche meteorologische Anomalie, am Arsch! Und nun sitz’ ich immer noch auf diesem lausigen Klumpen Schnee fest, weil irgend jemand in einer Tausende von Kilometern entfernten Nebelbank eine Anomalie sieht!«
Ethan wußte, daß es im Augenblick unangebracht war zu lächeln, aber er kam nicht dagegen an. Es war klar, daß Skua nicht gegen seinen Freund wütete, sondern gegen sich selbst.
»Skua, es ist nicht die schlimmste Sache der Welt, jemand anderem gegenüber einzugestehen, daß man ein anständiger Mensch ist.«
»Aber genau das ist es doch, Jungchen. Ich bin kein anständiger Mensch. Ich bin nie ein anständiger Mensch gewesen. Ich könnte dir Beweise liefern.«
Ethan versuchte, den Hünen zu beruhigen. »Du bist nur durcheinander, das ist alles.«
»Durcheinander, ha! Ich bin wütend, und ich bin frustriert, weil ich nicht weiß, was ich hier eigentlich mache.« Er wies heftig mit dem Daumen zur Decke. »Während ich doch dort oben sein sollte, warm, entspannt und auf der Reise.«
»Was immer du hier tust, du wirst es mindestens noch einen Monat lang tun, bis das nächste Shuttle eintrifft. Was ist mit deiner Archäologen-Freundin?«
»Was? Ach so, Isili. Isili Hasboga.« Er hob die Schultern. »Ich bin seit zwei Jahren überfällig. Ich schätze, sie wird nicht gerade einen Wutanfall bekommen, wenn ich nächste Woche nicht auftauche. Tatsächlich habe ich sogar das Gefühl, daß sie überhaupt keinen Gedanken daran verschwendet. Je nun, das gehört nicht hierher.« Er drehte sich um und marschierte mit Riesenschritten los.
»Und vor einem warne ich dich jetzt schon, Ethan, und du kannst es ruhig weitergeben. Wenn wir draußen auf dem Eis sind, soll mir keiner von diesen scheinheiligen triefnasigen Wissenschaftlern dafür danken, daß ich mitgekommen bin, wenn er nicht auf seinem Hintern bis nach Asurdun zurückschlittern will.«
»Dann kommst du also mit uns?«
»Nein«, blaffte September. »Ich habe das Shuttle nämlich absichtlich verpaßt, damit ich mich hier herhocken und die Roboter anstarren kann. Natürlich komme ich mit!«
Ethan unterdrückte mannhaft ein breites Grinsen. »Das wird nett. Bei der Hochachtung, die Hunnar, Elfa und die anderen Tran für dich empfinden, wird schon allein deine Anwesenheit ihre Stimmung ganz gewaltig heben.«
»Ein weiterer Beweis dafür, wie primitiv sie sind, und wie weit sie sich noch entwickeln müssen«, brummelte September. »Einen Narren, wie mich zu achten. Ich bin ein Narr, weißt du. Ich habe es gerade wieder mal bewiesen.«
»Hör schon auf zu meckern! Und du hast mich auch immer noch nicht davon überzeugt, daß ich in irgendeiner Weise für deine weitere Anwesenheit hier verantwortlich bin.«
»Ist das nicht offensichtlich, Jungchen? Wie konnte ich mit einem reinen Gewissen abreisen, wissend, daß du fest entschlossen warst loszumarschieren und dich umbringen zu lassen? Das würdest du nämlich fertig bringen, wenn ich nicht in der Nähe bin, um auf dich aufzupassen. Ohne den alten Skua hättest du im letzten Jahr ein Dutzend Mal den Löffel abgegeben.«
Das war nur zu wahr, wie Ethan wußte. Es war aber auch wahr, daß er den Gefallen erwidert hatte, indem er September mindestens genauso oft gerettet hatte, wie dieser ihn. Doch er unterließ es, darauf hinzuweisen. Er war viel zu froh, seinen Freund bei der bevorstehenden Reise nun doch dabei zu haben, um ihn mit Logik zu belästigen.
»Was bringt dich zu der Meinung, ich würde mich in eine Lage begeben, in der ich getötet werde? Du hast Hwang und die anderen gehört. Eine kleine, umstandslose Exkursion, um ein bißchen das Wetter zu überprüfen, das ist alles. Keine Barbarenhorden, die bekämpft werden müssen. Keine exotischen Städte mit unbekannten Absichten und Anschauungen, die für die Sache der Union gewonnen werden müssen. Warum sollten wir irgendwelchen Ärger haben?«
»Weil da immer noch diese Welt selbst ist: Tran-ky-ky. Wir wissen immer noch verdammt wenig über sie, nachdem wir ein Jahr lang über ihr Eis gesegelt sind. Nein, du würdest dich bestimmt umbringen lassen, wenn ich nicht da bin, um dich vom Rand des Abgrunds wegzureißen, Jungchen. Du bist viel zu nett, zu mitfühlend und viel zu verständnisvoll für dieses Geschäft. Ich weiß es, ich bin nicht so. Deshalb lebe ich immer noch, obwohl ich in jedem der vergangenen vierzig Jahre eigentlich zehnmal hätte sterben müssen.
Und wenn du darauf bestehst, Selbstmord zu begehen, trotz allem, was ich tun kann, werde ich wenigstens in der Nähe sein, um dafür zu sorgen, daß du ein ordentliches Begräbnis bekommst, oder eine Verbrennung, oder welcher Art von endgültiger Verabschiedung sonst deine Seele kitzelt.«
»Deine Sorge um mein Wohlergehen rührt mich, Skua.«
»Ja, schon gut.« Der Hüne sah sich im Korridor um. »Erwähne es nur niemand anderem gegenüber, ja? Würde mir in bestimmten Kreisen einen schlechten Ruf einbringen. Machen wir, daß wir hier rauskommen, besorgen wir uns was zu essen!« Er marschierte in den Gang, der zum Zentralabschnitt des Außenpostens führte. Ethan mußte sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten.
»Was soll ich sagen, wenn jemand fragt, warum du geblieben bist?«
»Sag ihnen, ich hätte verschlafen«, erwiderte September gereizt.
Erst später kam Ethan darauf, sich zu fragen, ob sein Freund einen anderen Grund gehabt haben mochte, die Spindizzy zu verpassen. Wie September bei mehr als einer Gelegenheit zugegeben hatte, war er ein Mann mit einer bewegten und nicht sonderlich angenehmen Vergangenheit. Irgend etwas mochte ihn überzeugt haben, daß es in seinem Interesse war, noch einen Monat oder mehr auf der isolierten Welt zu bleiben. Vielleicht war jemand auf dem KK-Schiff, dem oder der er nicht begegnen wollte. Vielleicht wollte er gerade nicht dorthin, wohin das Schiff flog. Vielleicht, vielleicht…
Zu viele Vielleichts für ein Hirn, das bereits übervoll war mit Plänen für die neue Handelsstation und die bevorstehende Expedition. Ethan wußte jedenfalls eins: War September durch seine eigene Unfähigkeit, Tran-ky-ky zu verlassen, tatsächlich frustriert – diese gefrorene Welt würde dem Hünen vielfältige Möglichkeiten bieten, sein Unbehagen abzureagieren.