19
Sonntagnacht, genauer Montagmorgen um zwei Uhr, gab es eine Versammlung in Kates Haus – ob es eine Feier oder eine Wache wurde, hing von dem Gast ab, der noch nicht eingetroffen war. Emanuel, Nicola, Jerry und Kate warteten auf Reed. Kate hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, auch Sparks und Horan einzuladen, aber Emanuels Abneigung, mit seinen Patienten auf gesellschaftlicher Ebene zusammenzutreffen, sprach gegen diese Idee, obwohl sie fraglos viel für sich hatte.
Reed hatte seit dem frühen Sonntagmorgen regelrechte Akkordarbeit geleistet. Emanuel hatte seinen Orthopäden offenbar aus dem Schlaf gerissen, und statt ihm Fragen zu stellen, hatte er ihn einfach überredet, selber bei Kate anzurufen. Kate hatte das Ergebnis dieses Gesprächs gleich an Reed weitergegeben. »Du weißt, wie Ärzte sind«, hatte sie gesagt. »Dieser hier war ein besonders nervöser Typ, aber ich nehme an, um Emanuels willen mochte er ein Gespräch mit mir nicht rundum ablehnen. Wahrscheinlich dachte er, ich schreibe an einem Roman und antwortete deshalb auf meine Fragen so umständlich und fachchinesisch wie nur möglich. Aber schließlich neigen die Herren Doktoren immer entweder zu sich widersprechenden Aussagen oder zu allzu großen Vereinfachungen – wenn du meine Meinung wissen willst: Ich glaube, sie verstehen sich noch nicht einmal untereinander. Aber wie dem auch sei, ein oder zwei Dinge habe ich am Ende doch kapiert.«
»Du wirst mir wohl kaum erzählen«, hatte Reed geantwortet, »was dich bewogen hat, zu so unchristlicher Zeit an einem Sonntag einen unschuldigen Orthopäden auszufragen?«
»Das werde ich dir rechtzeitig erzählen, und so etwas wie einen unschuldigen Orthopäden gibt es nicht. Die sind alle so reich wie Rockefeller und so hochnäsig wie Schwäne. Ich kenne mindestens zwei und kann mir deshalb erlauben, zu verallgemeinern. Seine Information ist stark verwässert, etwa diese: Wenn jemand einmal eine Spondylodese gemacht bekommen hat, dann trägt er dieses Zeichen sein Leben lang mit sich herum. Das hört sich selbstverständlicher an, als es ist, aber wichtig, das erst einmal festzustellen. Es ist eine lange Operation – was ich bereits wußte –, und bisweilen operieren zwei Chirurgen gleichzeitig, der eine an Rückgrad und Bandscheibe, der andere an den Nerven. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß jemand, der mit einem verstärkten Schuh seine Rückenschmerzen losgeworden ist, jemals darauf verzichten wird. Ich weiß, so etwas ist keine zwingende Schlußfolgerung, zumindest jetzt noch nicht, aber hör mir zu. Was ist eine Spondylodese? Tut mir leid, ich vergaß, daß Ihr Laien immer solche Schwierigkeiten habt, einem Mediziner zu folgen. Also, da erleidet jemand einen Bandscheibenvorfall – ich weiß, das passiert dauernd, sogar Dachshunde kriegen so was. Das heißt, ein Stück von der Knorpelmasse zwischen zwei Wirbeln rutscht heraus und drückt gegen den Nervenstrang in der Wirbelsäule. In ernsten Fällen wird das eine Bein taub. Die normale Methode, eine solche Bandscheibe zu behandeln, besteht darin, sie zu entfernen und die beiden Wirbel miteinander zu verschmelzen. Dafür nimmt man Knochenstückchen aus anderen Teilen des Körpers – es geht nur mit den eigenen Knochen, außer bei eineiigen Zwillingen –, zermahlt sie (ja, ja, ich bin fast zu Ende; nein, ich habe dich nicht allein deswegen an einem Sonntagmorgen angerufen, weil ich dir eine abstoßende medizinische Vorlesung halten will) und appliziert diese Masse zwischen die beiden zu verschmelzenden Wirbel. Die beiden Wirbel wachsen schließlich zu einem festen Stück zusammen, und der Patient behält eine Narbe zurück. Hast du mich verstanden?«
Am anderen Ende gab es keine Reaktion, und so fuhr Kate fort: »Das ist nun der Punkt, mein geplagter Reed. Mike Barrister – mein Mike jetzt, nicht der in der Praxis gegenüber Emanuel – hatte eine Spondylodese hinter sich. Außerdem trug er einen Schuh mit dickerem Absatz, um seine unterschiedlich langen Beine auszugleichen. Nein, natürlich war er damit kein Krüppel. Das kommt sehr häufig vor. Wenn der Unterschied in der Länge der Beine nicht extrem ist, kompensiert man das gewöhnlich mit einem eigentümlich rollenden Gang. Wenn aber noch eine Schädigung des Rückens hinzukommt, verursacht die andauernde Schaukelbewegung des Beckens, die die unterschiedliche Länge der Beine ausgleicht, akute Beschwerden.«
»Kate«, hatte Reed gesagt, »wenn ich dich richtig verstehe, willst du mir auf deine Weise mit vielen überflüssigen Worten umständlich erklären, daß Janet Harrisons Mike einmal operiert worden ist. Wann war das?«
»Das, mein Schatz, ist etwas, das du bitte herausfinden müßtest. Wahrscheinlich in Detroit. Das ist doch die größte Stadt in Michigan, nicht wahr? Aber das ist nur so eine Idee. Für den absatzverstärkten Schuh verbürgt sich Messenger. Wenn du natürlich noch immer auf stur geschaltet hast, kann ich die Krankenhäuser auch selber anrufen…«
»In Ordnung, ich telefoniere sie durch. Und dann?«
»Dann, mein Lieber, müssen wir diesen Michael Barrister dazu bringen, sich auszuziehen. Du glaubst gar nicht, was mir dazu schon alles durch mein heißes Hirn geschossen ist. Ich nehme an, du kannst keinen Durchsuchungsbefehl erwirken, oder?«
»Mit einem Durchsuchungsbefehl kann man sich in Räumen umschauen, er bezieht sich nicht auf Personen. Und jetzt verrate ich dir mal ein schreckliches Geheimnis. Du würdest überrascht sein, wie selten Durchsuchungsbefehle überhaupt ausgestellt werden. Der Leiter der Rauschgiftfahndung hat das neulich vor Gericht bestätigt, als er in einer Aussage ganz ungerührt zugab, daß seine Leute seit dreißig Jahren ohne Durchsuchungsbefehle auskommen. Die Bürger sind sich unglücklicherweise – für die Polizei muß ich sagen: glücklicherweise – erstaunlich wenig ihrer Rechte bewußt. Die Polizei wiederum hat eine ganze Reihe von Tricks, um zu erreichen, was sie will; bloßes Einschüchtern steht an erster Stelle.«
»Wenn ich nun zu ihm hineinkäme, während er gerade unter der Dusche steht.«
»Kate, ich höre dir keine Minute länger zu, wenn du nicht vorher versprichst, und zwar mit dem ganz großen Ehrenwort, daß du nicht versuchen wirst, Barrister zu entkleiden, ihn im entkleideten Zustand zu sehen oder ihn in eine Situation zu bringen, in der man normalerweise unbekleidet ist, oder daß du…«
»Hilfst du mir, wenn ich es verspreche?«
»Ich werde nicht einmal dieses Gespräch weiterführen, ehe du es nicht versprichst. Ich will dein Wort. Gut. Dann werde ich jetzt die Krankenhäuser anrufen. Die werden mir antworten, daß in ihren Büros sonntags nicht gearbeitet wird. Niemand arbeitet sonntags, außer dir und deinen Freunden. Ich werde ihnen drohen und schmeicheln. Aber wir müssen vielleicht trotzdem warten. Ich weiß nicht, wie sehr die New Yorker Polizei bereit ist, ihre Muskeln spielen zu lassen. Aber jetzt hör auf, Pläne zu machen, wie du an ihn herankommst. Ich rufe dich an, sobald ich Neues weiß. Und denk an dein Versprechen.«
Kate mußte bis zum Nachmittag warten, ehe Reed sich wieder bei ihr meldete. »Also«, hatte er dann gesagt, »ich will dir gar nicht erzählen, was ich alles durchgemacht habe. Die Einzelheiten merke ich mir für die Tage, wenn wir alt und grau sind und unsere Gehirne nur noch Platz für Erinnerungen haben. Die Operation ist bewiesen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, möchtest du jetzt herausbekommen, ob Emanuels Nachbar, Dr. Michael Barrister, eine Operation im Lendenwirbelbereich gehabt hat und einen Schuh mit verstärktem Absatz trägt.«
»Du hast mich perfekt verstanden.«
»Gut. Dann schlage ich dir jetzt einen Handel vor, nimm ihn an oder laß es. Ich habe Verständnis für deine Gefühle gegenüber Emanuel, für die Wichtigkeit dieses Falles im Hinblick auf die öffentliche Reputation der Psychiatrie und so weiter und so weiter, aber mir gefällt überhaupt nicht, was dieser Fall aus dir gemacht hat. Du unterbrichst deine Arbeit in der Bibliothek, sagst Vorlesungen ab, schmeißt dein Geld hinaus wie ein betrunkener Seemann, nimmst Schlaftabletten, fliegst in höchst verwerflicher Weise überall in den Vereinigten Staaten herum, wirst immer langatmiger in deinen Reden und führst junge Männer auf Abwege. All das muß aufhören. Daher der Handel, den ich dir vorschlage. Ich werde heute abend, vorausgesetzt, Dr. Michael Barrister verbringt die Nacht zu Hause, für dich herausfinden, ob er an all seinen rechten oder linken Schuhen einen höheren Absatz und ob er eine Operationsnarbe hat. Hat er keines von beiden, dann wird die Polizei sich sehr dafür interessieren. Schließlich steht fest, daß es die Operation gegeben hat. Mit anderen Worten, ich gebe zu, daß das dein Beweisstück ist, und wir werden uns Barrister näher anschauen als einen, der die Möglichkeit, die Mittel und ein Motiv hatte, es zu tun. Aber jetzt kommt dein Anteil an dem Handel. Wenn Dr. Michael Barrister tatsächlich solch eine Narbe über einem seiner Lendenwirbel hat, gleichgültig, ob er auch noch diese Absätze hat oder nicht – wir haben keinen einwandfreien Beweis dafür, daß dein Mike solche Absätze getragen hat (fang nicht an, mit mir zu streiten, ich bin noch nicht fertig) –, wenn also dieser Dr. Michael Barrister solch eine Narbe hat, dann wirst du diesen Fall aufgeben, Jerry nicht mehr weiter als Detektiv beschäftigen und selber wieder an deine Arbeit gehen. Kurzum, du versprichst, wieder voll und ganz zu deinem gewöhnlichen Leben zurückzukehren. Ist das ein Handel? Wie ich Barrister dazu bekomme, sich auszuziehen, geht dich nichts an. Darüber reden wir, wenn es vorbei ist. Ist das ein Geschäft?«
Und Kate ging darauf ein.
Jerry und die Bauers einzuladen und mit ihnen auf Reed zu warten, war ihre eigene Idee gewesen. Sie hatten den Fall aus jedem Blickwinkel diskutiert, einschließlich dessen, was Kate jetzt ihren Einsatz bei dem »Es-war-einmal-Spiel« nannte. Sie erzählte ihnen auch von ihrem Handel. Sie sagte, bei Reed könnte es spät werden. Und während es immer später wurde, servierte sie ihnen Kaffee, den sie tranken, und Sandwiches, die sie nicht aßen. Nach einiger Zeit fiel ihnen nichts mehr zur Sache ein, und sie schwiegen. Es war so still, daß sie den Aufzug und Reeds Schritte hörten. Kate war schon an der Tür, bevor Reed auf den Klingelknopf drücken konnte.
Zum ersten Mal begegnete Reed Emanuel, Nicola und Jerry. Er schüttelte allen die Hand und bat um eine Tasse Kaffee.
»Ich nehme an«, sagte er, »Sie alle wissen, was ich heute abend unternommen habe. Es gibt viele Methoden, wie Polizisten normalerweise in eine Wohnung einbrechen. Zum Beispiel drehen sie in einem Haus die Hauptsicherung heraus. Die Bewohner kommen in den Flur gerannt, um nachzusehen, was los ist, und die Polizei schlüpft durch die offene Tür. Ist die Polizei erst einmal drinnen, werden nur wenige Leute sie wieder mit Gewalt vertreiben. Ich habe auch an diese Methode gedacht, sie dann aber aus verschiedenen Gründen wieder fallen gelassen: Barrister wohnt in einem neuen und eleganten Haus an der First Avenue; dort an den Hauptschalter zu kommen, würde gar nicht so leicht sein; und noch wichtiger, wir wollten ihn ja nackt. Das hieß, daß wir warten mußten, bis er zu Bett gegangen war, doch dann würde er nur noch schwerlich bemerken, daß das Licht nicht funktionierte. Wir hätten ihn natürlich einfach aufwecken und behaupten können, wir seien auf der Suche nach einer Leckstelle in der Gasleitung, aber in dem Fall könnte es schwierig werden, ihn aus Bademantel und Schlafanzug zu bekommen. Also entschied ich mich dafür, zu warten, bis er zu Bett gegangen war, dann zu läuten, bis er an die Tür kam, und ihn aufzufordern, mit uns zu einem Verhör ins Polizeirevier zu kommen. Es war zweifellos eine ungewöhnliche Uhrzeit für ein Verhör, und wir waren auf Protest gefaßt, aber wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Also fuhren wir kurz nach Mitternacht los, um Dr. Michael Barrister herauszuklingeln.«
»Wer ist ›wir‹?« fragte Jerry.
»›Wir‹ sind Ihr ergebenster Diener, der hier vor Ihnen sitzt, und ein uniformierter Polizist. Uniformen sind sehr nützlich, wenn man Leute überzeugen will, daß man tatsächlich von der Polizei ist. Außerdem sorgen sie für eine gewisse Atmosphäre der Dringlichkeit, die ich unbedingt brauchte. Der Polizist, der mich begleitete, hat das mir zu Gefallen getan. Wenn ich Erfolg haben würde, käme das sicher seiner Karriere zugute, das hatte ich ihm versprochen: eine lobende Erwähnung, vielleicht sogar eine Beförderung. Ging es schief, versprach ich dafür zu sorgen, daß er nicht zur Verantwortung gezogen würde. Abgesehen von der ›Atmosphäre‹ wollte ich ihn auch als Zeugen dabei haben, der mit dem Fall nichts zu tun hatte. Ich fürchtete nämlich, daß die Verbindung, die ich zu gewissen Aspekten dieses Falles habe, für den Fall, daß ich selber aussagen müßte, bei gewissen Leuten zu Fehlinterpretationen führen könnte.«
Er warf Kate einen Blick zu. »Es gelang uns, Dr. Barrister aus dem Bett zu holen. Er war, wie ich gefürchtet hatte, im Schlafanzug. Darüber hatte er einen Bademantel geworfen. Hätte er nackt geschlafen und in dem Zustand die Tür geöffnet, dann hätten wir ihn einfach gleich dort in ein Gespräch verwickelt, einer vor ihm, der andere hinter ihm stehend. Doch so, wie es aussah, mußten wir ihn bitten, sich anzuziehen und mit uns in die ›Zentrale‹ zu kommen. So etwas wie eine Zentrale gibt es zwar gar nicht, aber ich wollte mich so bedrohlich und vage wie möglich ausdrücken. Nach einigem Schimpfen und Drohen und der Nennung diverser wichtiger Männer, die, nehme ich an, die Ehemänner seiner Patientinnen sind, gab er schließlich nach. Er sagte, er wolle einen Anwalt anrufen, und ich sagte ihm, das könne er laut Vorschrift von der ›Zentrale‹ aus machen. Mögen mir die Engel und die Heiligen dort droben vergeben! Schließlich war er bereit, sich anzuziehen, protestierte aber erneut, als der Polizist ihm ins Schlafzimmer folgte. Ich erklärte ihm, auch das sei Vorschrift, damit er nicht telefonieren oder sich etwas antun oder eine Waffe oder andere Dinge verstecken konnte. Er rauschte ins Schlafzimmer, rot vor Wut, und der Polizist folgte ihm auf dem Fuße, denn ich hatte ihn genau informiert. Ursprünglich hatte ich dran gedacht, den Polizisten auch Barristers Schuhe untersuchen zu lassen, aber die Idee verwarf ich dann wieder. Unser Erfolg oder Mißerfolg bei diesem ungewöhnlichen Unternehmen hing davon ab, ob es die Narbe gab, wir wollten uns lieber darauf konzentrieren.«
Reed schaute in die Runde. »Der Polizist befolgte seine Anordnungen sehr gut. Barrister riß sich Bademantel und Schlafanzug vom Leib, und als er sich bückte, um in die Unterhose zu schlüpfen, kam der Polizist näher, um genau hinsehen zu können. Blieben noch irgendwelche Zweifel, so lauteten seine Instruktionen, dann sollte er stolpern und praktisch von hinten auf Barristers Rücken fallen, um ihn genauer untersuchen zu können. Dann sollte er sich entschuldigen. Das hatte ja notwendig werden können, falls Barrister stark behaart wäre; wenn die Haut nämlich dicht behaart ist, ist eine Narbe schwer festzustellen. Aber Barrister war nicht behaart. Unnötig zu sagen, daß ich Barrister und den Polizisten erwartete, wie das wahrscheinlich werdende Väter vor der Entbindungsstation tun. Die beiden kamen zusammen aus dem Zimmer, und zu dritt fuhren wir Richtung Innenstadt. Schließlich holten wir den Bezirksstaatsanwalt aus dem Bett, der meinte, es sei auch an der Zeit, daß jemand mal mit einem verdammt eindeutigen Beweis in diesem unsäglichen Fall rüberkäme.«
Kate und Emanuel waren aufgestanden. Nicola starrte nur. Es war Jerry, der als erster sprach.
»Es gab nirgends eine Narbe«, sagte er.
»Das war es, was ich sagen wollte«, sagte Reed. »Keine Narbe. In der Stadt wurde er noch einmal untersucht. Kein Hinweis auf eine Spondylodese. Aber der Polizist hat es am passendsten ausgedrückt. ›Das sauberste Hinterteil, das ich je in meinem Leben gesehen habe‹, meinte er. ›Nirgends ein Fleck.‹«