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Natürlich hatte Kate noch das ganze Wochenende, bevor am Montag wieder ihre Vorlesungspflichten begannen. Aber eine gewisse Vorbereitung darauf war notwendig, ganz besonders deshalb, weil sie in den vergangenen Tagen den Kontakt zur akademischen Welt so sehr verloren hatte, als sei sie ein Jahr lang weg gewesen. Man hatte schließlich seine Verpflichtungen dem Beruf gegenüber, egal ob nun ein Mord passiert und entsprechende Untersuchungen notwendig waren oder nicht.
Und was sollte sie nun genaugenommen untersuchen? Einiges war sicherlich mit ein paar tiefgründigen Fragen in der Umgebung des Wohnheims zu erfahren, in dem Janet Harrison gelebt hatte; und beim Durchsehen der Unterlagen in der Universität würde ihr vielleicht auch etwas Interessantes auffallen. All das konnte sie in Angriff nehmen, ohne dabei mit ihren beruflichen Pflichten zu kollidieren. Aber die Polizei hatte das Feld bereits mehr oder weniger abgegrast, und deswegen versprach sie sich mehr von Nachforschungen über die anderen Verdächtigen, denen die Polizei nicht mehr als ein oberflächliches Interesse entgegenbringen würde: die Patienten vor und nach Janet Harrison, beide männlichen Geschlechts; der Fahrstuhlführer und jeder andere in der Gegend herumlaufende Mann, der sich hoffentlich ein- und von dem sich herausstellen würde, daß er Janet Harrison gekannt hatte, wie oberflächlich auch immer.
Es schien Kate, abgesehen von der Frage der Zeit, die ihr zur Verfügung stand, unumgänglich, daß ein Mann gefunden wurde, möglichst ungebunden und frei, der für sie einen Teil der Nachforschungen erledigte. Der Kandidat mußte entweder wie der weltläufige Student höheren Semesters wirken und jene Patina besitzen, die nur auf einem etwas feineren College zu haben ist, oder der junge Arbeiter sein, der den Tag über geschuftet hat und, entsprechend angezogen, in den typischen Clubs und Kneipen herumsitzen und mit den anderen bereden kann, was man unter arbeitenden Menschen so beredet, ohne gleich anbiedernd zu wirken. Die Beschreibung paßte auf Jerry wie angegossen, und das zeigte wieder einmal, welche Vorzüge hin und wieder eine große Familie haben kann.
Nicht, daß Jerry irgendwie mit Kate verwandt war; jedenfalls bis jetzt noch nicht. Aber eines Tages, in näherer Zukunft, würde er durch Heirat ihr Neffe werden. Kate erinnerte sich nicht genau, wie alt er war, aber er war alt genug, um wählen zu gehen, und jung genug, um zu glauben, daß das Leben voll unbegrenzter Möglichkeiten war. »Kein junger Mensch denkt je daran, daß er sterben wird.« Hazlitt hatte damit Jerry genau beschrieben.
Obwohl Kate aus einer großen Familie stammte, war sie als Einzelkind aufgewachsen – eine einzigartige Kombination von Vorzügen. Ihre Eltern hatten, dem normalen Ablauf des Lebens entsprechend – normal nach den Regeln des oberen Mittelstandes in New York City (mit Sommerferien in Nantucket) –, in den ersten acht Jahren ihrer Ehe drei Söhne in die Welt gesetzt. Sie hatten sich gerade so weit von den Konventionen – oder dem, was Kate für durchdachte Ökonomie hielt – entfernt, daß ihnen plötzlich, der jüngste Sohn war schon vierzehn Jahre alt, noch eine kleine Tochter nachgeboren wurde. Sie hatten für Kate eine Kinderschwester eingestellt, danach eine Gouvernante, liebten sie hingebungsvoll, ließen ihr alles durchgehen und mußten dann verzweifelt mitansehen, wie sie dem gesellschaftlichen Leben ihrer Art den Rücken kehrte und nicht nur eine »Intellektuelle« wurde, sondern auch noch eine Doktorin der Philosophie. Die Schuld daran gab man, was ziemlich unfair war, der Tatsache, daß sie den Namen Kate erhalten hatte, weil ihre Mutter aus dem Englisch-Unterricht am College nur behalten hatte, daß dies der Lieblingsname Shakespeares war. Ihre Brüder hatten alle eine ordentlichere und in ihren Kreisen übliche Karriere gemacht. Sally Fansler, die Tochter ihres ältesten Bruders, war mit Jerry verlobt.
Natürlich war Jerry nur mäßig passend. Wäre er absolut unpassend gewesen, z.B. ein Automechaniker, dann würde die Verlobung vermutlich mit allen Mitteln hintertrieben. Aber ihm ganz und gar den Fuß in den Nacken zu setzen – ihre Familie liebte solche auf den Körper bezogenen Metaphern, meistens mit anderen vermischt – , hätte bedeutet, dem amerikanischen Traum den Rücken zu kehren. Jerrys Vater war tot. Seine Mutter betrieb einen kleinen Geschenkeladen in New Jersey und hatte ihren Sohn mit Hingabe und harter Arbeit durchs College gebracht, und sie würde auch dabei helfen, Jerry ab nächsten Herbst auf die Law School zu schicken. Jerry hatte Stipendien gewonnen, hatte im Sommer und nach der Schule gearbeitet, im Laden der Mutter mitgeholfen, und er hatte eine Art, die Welt zu begreifen und zu bezaubern, so daß sie ihm gab, was sie zu geben hatte. Jerry hatte gerade seine sechs Monate in der Army hinter sich und fuhr jetzt bis zum Herbst einen Laster für ein Transportunternehmen für Gefriergut. Kate dachte sich, daß er vielleicht gerne etwas tun würde, das ein bißchen mehr nach Abenteuer aussah – für das gleiche Geld.
Als sie bei seiner Mutter in New Jersey anrief, war er gerade von der Arbeit zurück und sofort bereit (zu Kates Überraschung), sich noch am selben Abend auf den Weg zu machen und mit ihr zu sprechen; zufällig hatte er den Wagen eines Freundes zur Verfügung. Kate gelang es, ihm vorzuschlagen, daß er den Anruf und das Ziel seiner Fahrt geheimhielt, ohne, wie sie hoffte, so konspirativ zu klingen, wie sie sich fühlte. Es war schon seltsam, dachte sie, daß sie bereit war, einem jungen Mann zu vertrauen, dem sie nur einige Male bei den Familienfeierlichkeiten im Zusammenhang mit der Verlobung begegnet war, an denen sie teilzunehmen bereit gewesen war. Sie hatten sich voneinander angezogen gefühlt, weil beide amüsiert und mit Abstand das Ganze geschehen ließen. Was tun wir hier eigentlich?, schienen sie sich, ein Lächeln auf den Lippen, gegenseitig zu fragen. Kate war da, weil sie sich einigen – wenigen – Familienverpflichtungen nicht entziehen mochte, und Jerry war da, weil Sally sehr hübsch und etwas Besonderes war. Kate hatte sie immer für eher langweilig gehalten, aber Jerry war vielleicht nur schlau genug, dem Lauf der Welt zu folgen und eine etwas langweilige und konventionelle, dafür aber hübsche Frau zu nehmen.
Als er bei ihr ankam, bot Kate ihm ein Bier an und kam gleich zur Sache: »Ich möchte dir einen Job anbieten«, sagte sie. » Du bekommst das gleiche, wie du jetzt hast.
Kannst du dort eine Zeitlang pausieren und dann wieder anfangen, wenn du willst?«
»Wahrscheinlich. Aber ich kriege bei diesem Job einen Aufschlag für Überstunden.« Er wirkte entspannt und wartete darauf, nun aufgeklärt und, so vermutete Kate, unterhalten zu werden.
»Ich bezahle dir nur den regulären Lohn. Dieser Job hier ist viel interessanter, und er entspricht auch mehr deinen Begabungen. Aber wenn du Erfolg hast, kriegst du am Ende noch einen Bonus.«
»Was ist das für ein Job?«
»Bevor ich dir das sage, mußt du mir feierlich versprechen, daß du alles wie ein Geheimnis behandelst. Mit niemandem darfst du darüber reden – weder mit deiner Familie noch mit deinen Freunden; sie dürfen nicht die leiseste Ahnung haben, in welcher Sache du steckst. Nicht einmal Sally darf argwöhnisch werden.«
»Einverstanden. Wie Hamlets Freunde werde ich nicht einmal erkennen lassen, daß ich darüber reden könnte, wenn ich es denn wollte. Ich schwöre es auf mein Schwert. Sehr gutes Stück, finde ich«, fügte er hinzu, bevor Kate ihren erstaunten Blick wieder unter Kontrolle hatte. »Ich verspreche, auch Sally kein Wort zuzuflüstern.« Kate schien seine Bereitschaft, Dinge vor Sally zu verheimlichen, nichts Gutes für ihrer beider Ehe zu versprechen, aber sie kannte keine Skrupel mehr, sondern nahm die glücklichen Fügungen so, wie sie kamen.
»Also gut. Ich möchte, daß du mir einen Mord aufklären hilfst. Nein, ich habe nicht den Verstand verloren, und ich habe auch weder Paranoia noch Megalomanie. Hast du von dem Mädchen gelesen, das auf der Couch eines Psychoanalytikers ermordet worden ist? Das hast du kaum übersehen können, nicht wahr? Sie glauben, der Analytiker war der Täter. Er ist ein sehr guter Freund von mir, und ich möchte beweisen, daß er es nicht war und seine Frau, die sie als Verdächtige in Reserve halten, genauso wenig. Aber ich bin überzeugt, daß ich Emanuels Unschuld nur beweisen kann, wenn ich herausbekomme, wer es getan hat. Ein junger Mann wie du kann ganz normal mit einer Menge Leute reden und Fragen stellen, die ich nicht stellen kann. Außerdem nimmt die Arbeit am College zum Semesterende immer gewaltige Ausmaße an.«
»Was ist mit der Polizei?«
»Die Polizei ist sehr gewissenhaft, auf ihre phantasielose Weise. Vielleicht habe ich da auch meine Vorurteile, wahrscheinlich sogar. Aber sie haben einen solch passenden Verdacht, sie sind dermaßen sicher, daß niemand sonst es getan haben könnte, daß sie ihre Nachforschungen in andere Richtungen zu wenig energisch betreiben, jedenfalls erscheint mir das so. Wenn wir eine richtig schöne Spur finden, die zu jemand anderem führt, dann könnten sie dazu überredet werden, diese weiter zu verfolgen.«
»Hast du denn einen Hauptverdächtigen?«
»Leider, nein. Uns fehlt es nicht nur an Verdächtigen, uns fehlt es erfreulicherweise an jeder Art von Informationen.«
»Vielleicht stand das Mädchen unter Drogen. Dann könnte sie jeder auf die Couch gelegt und ermordet haben, nachdem er erst einmal den Analytiker weggelockt hat.«
»Du hörst dich vielversprechend an. Also, über den Mord selbst haben wir schon ein paar Informationen, wenn auch nicht über andere Verdächtige oder über das Mädchen. Sie stand nicht unter Drogen. Wenn du den Job möchtest, erzähle ich dir alles. Es dauert nicht lange.«
Es dauerte jedoch länger, als Kate angenommen hatte. Sie erzählte Jerry die Geschichte von Anfang an, und sie begann damit, daß sie dem Mädchen Emanuel empfohlen hatte. Er hörte aufmerksam zu und stellte eine ganze Reihe intelligenter Fragen. Kate wurde klar, daß sie ihm ein Abenteuer mit sicherer Bezahlung bot, und vielleicht würde dieser Fall seine Sichtweise des Lebens verändern. Die jüngere Generation, so war täglich in den Zeitungen zu lesen – und es stimmte im allgemeinen so sehr, daß es einem Angst machen konnte –, entschied sich immer für die Sicherheit, den sicheren Job, die sichere Pension, die sichere Art zu leben. Sie mochte das Abenteuer lieben, aber sie war nicht bereit, den Preis dafür zu zahlen. Besser, man saß in seinem klimatisierten Studio in Westchester und las ›Kon-Tiki‹. Jerry bekam ein Abenteuer und dazu Bezahlung nach Tarif. Das mochte nicht das beste Training für einen jungen Mann sein, aber wenn man es sich genau überlegte, dann war es für einen Psychoanalytiker auch nicht gerade das beste Training, Leichen auf seiner Couch zu finden.
So oder so gab es für Jerry aber vor Montag nichts zu tun. Er versprach, am späten Nachmittag zu kommen und sich einweisen zu lassen, und hoffte, sich bis dahin vom Gefriergut befreit zu haben und, falls nötig, eine plausible Geschichte zu erfinden. Jerrys Abgang wurde durch das Telefon beschleunigt. Der Anruf kam von Reed. Nein, er habe keine Neuigkeiten, dafür aber einen Abzug von dem Foto. Zwei Abzüge? Ja, sie könne auch zwei Abzüge haben. Er würde sie am Abend vorbeibringen, einverstanden? Wie wäre es mit einem Kinobesuch, um auf andere Gedanken zu kommen? Danny Kaye? Ohne Begeisterung stimmte Kate zu.
Nach dem Film gingen Reed und Kate essen. Kate holte das Bild von dem jungen Mann aus ihrer Handtasche. Sie hatte sich das Gesicht so lange und fest angesehen, als könnte sie das Bild zum Reden bringen. »Die Frage ist«, sagte sie, »ist das der junge Mann, mit dem sie ihre Liebesaffäre hatte?« Sie erzählte Reed von ihrem Gespräch mit Emanuel. »Wie alt würdest du diesen jungen Mann schätzen?« fragte Kate.
»Dreißig, vielleicht fünfundzwanzig. Er sieht sehr jung aus, und gleichzeitig sieht er wie jemand aus, der jung für sein Alter aussieht, wenn du mir folgen kannst.«
»Ich kann dir folgen. Er erinnert mich dauernd an jemanden.«
»Wahrscheinlich an ihn selbst, so, wie du das Foto anstarrst.«
»Da hast du zweifellos recht.« Kate steckte den jungen Mann entschlossen weg.
»Ein gewissenhafter junger Kriminalbeamter ist mit dem Bild durch das ganze Wohnheim marschiert«, sagte Reed. »Er ist ein sehr attraktiver junger Mann, und die Mädchen und Frauen waren entzückt, mit ihm über Gott und die Welt schwatzen zu können. Sie hätten ihm sicher nur allzu gern erzählt, daß sie diesen jungen Mann auf dem Bild jeden Tag gesehen haben, nur um den jungen Detektiv glücklich zu machen, aber die Wahrheit ist leider, daß niemand seiner dort jemals ansichtig geworden ist. Eine ältere Studentin glaubte, ihn zu erkennen, aber dann stellte sich heraus, daß sie an Cary Grant in seinen jüngeren Jahren dachte. Wenn dieser junge Mann – oder sein Bild – jemals die Runde durch das Wohnheim gemacht hat, dann ist es ihm gelungen, von niemandem gesehen zu werden, einschließlich des Hauspersonals, das übrigens auch befragt wurde. Verstehst du, Kate, er war wahrscheinlich ein ganz gewöhnlicher junger Mann, der ihr den Laufpaß gegeben hat, oder, um es weniger zynisch zu sehen, der in einem Krieg oder bei einem Unfall den Tod gefunden und sie auf ewig einsam zurückgelassen hat.«
»Er sieht nicht so gut aus wie Cary Grant. Er sieht gar nicht wie ein Filmschauspieler aus.«
»Kate, langsam fange ich an, mir Sorgen um dich zu machen. Bist du… bedeutet dir dieser Mann, dieser Emanuel Bauer, so viel?«
»Reed, wenn ich es nicht schaffe, daß du diese Geschichte verstehst, wie soll dann jemals die Polizei Emanuel verstehen? Er ist der letzte Ehemann auf der Welt, der sich mit einer anderen Frau einließe, schon gar nicht mit einer Patientin. Aber selbst wenn das alles möglich wäre, was ich nicht eine Minute lang annehme, begreifst du denn nicht, daß diese Praxis, diese Couch – daß die seinen Beruf bedeuten? Verstehst du nicht, daß kein wahrer Psychoanalytiker mit Emanuels Ausbildung während seiner Ordinationsstunden von irgendeiner verrückten Leidenschaft überwältigt werden könnte? Selbst wenn ich zugäbe (was ich nicht tue), daß er wie jeder Mensch ein Verbrechen begehen könnte, als Psychiater könnte er es nicht.«
»Sind Psychiater um so vieles rechtschaffener als andere Leute?«
»Nein, natürlich nicht. Von vielen Psychiatern weiß ich, daß sie der Abschaum der Menschheit sind. Sie reden auf Parties über ihre Patienten. Sie werden reich und prahlen mit den Honoraren, die sie kassieren; sie nehmen 150 Dollar für eine Unterschrift unter ein Stück Papier, das einen Patienten aus irgendeiner Klinik entläßt. Die Unterschrift bedeutet, daß der Patient sich nun unter ihrer Obhut befindet, aber sie unterschreiben nur und werden dafür bezahlt, und damit ist für sie der Fall erledigt. Schon eine Unterschrift pro Tag bringt ein schönes Jahreseinkommen. Es gibt Psychiater, die laden Ärzte ein und bewirten sie, damit diese Arzte ihnen Patienten überweisen. Natürlich alles auf Spesen. Aber Emanuel und andere, die ihm ähnlich sind, lieben ihre Arbeit, und wenn du mein Rezept für Rechtschaffenheit wissen willst, dann finde den Mann, der seine Arbeit liebt und die Sache, der er dabei dient. Klingt ziemlich pompös, wie?«
»Was ist denn das für eine Sache? Daß er Leuten hilft?«
»So seltsam es klingt, nein. Ich glaube nicht – jedenfalls bei Emanuel. Er möchte herausbekommen, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht. Würdest du ihn fragen, dann bekämst du wahrscheinlich die Auskunft, daß die Analyse für die Forschung von größter Bedeutung ist, die Therapie dagegen mehr oder weniger ein Nebenprodukt. Was würde man im Büro des Staatsanwalts mit einer solchen Auskunft anfangen?«
»Kate, verzeih mir, aber ihr wart einmal ein Liebespaar. Das ergab sich jedenfalls aus der Aussage der Frau, wenn sie es auch von sich aus nicht zur Sprache gebracht hat. Ich nehme an, die Kriminalbeamten haben einfach überall nach Motiven gesucht.«
»Dann müßte Nicola doch mich ermordet haben oder ich sie. Nur ist das lange, lange her und die Leidenschaften seitdem sehr abgekühlt.«
»Wo habt ihr euch getroffen, Emanuel und du, damals, als die Glut noch heißer war?«
»Ich hatte auch damals schon eine Wohnung. Versuchst du, aus mir ein Flittchen zu machen? Reed, warum vergesse ich immer wieder, daß du Polizist bist?«
»Weil ich keiner bin. Im Augenblick bin ich Vertreter der Anklage. Hatte Emanuel damals auch schon eine Praxis?«
»Er teilte sich eine kleine mit einem anderen Analytiker.«
»Hast du ihn dort jemals getroffen?«
»Ja, ich nehme an, ein- oder zweimal.«
»Wart ihr jemals – ich meine, zusammen – auf der Couch?«
»Reed, ich habe dich unterschätzt. Du gibst einen exzellenten und absolut diabolischen Staatsanwalt ab, der einem nicht nur Halbwahrheiten entlockt, sondern es auch noch fertigbringt, sie zu verdrehen und damit der Wahrheit aus dem Wege zu gehen. Im Zeugenstand könnte ich das natürlich nicht erklären. Die Wahrheit ist trotzdem, daß Emanuel damals gerade in seinem Beruf angefangen hatte. Er machte Therapie, benutzte also die Couch nicht, die zur Ausstattung gehörte als Mobiliar zum zukünftigen Gebrauch, wahrscheinlich. Und ich war nie während der Praxisstunden dort.«
»Meine liebe Kate, ich will dir nur zeigen, auf was du dich da einläßt. Du stürzt dich auf diesen Fall, ohne zu wissen, was da auf dich wartet. Ich weiß, der Naive begibt sich in Gefahren, die selbst Engel vorsichtig werden lassen. Aber ich habe nie herausbekommen, was ein Naiver je erreicht hat. Nein, ich bezeichne dich nicht als Dummkopf. Ich versuche dir nur zu erklären, daß du dir – weiß Gott tapfer – vorgenommen hast, Emanuel zu retten, und es könnte damit enden, daß du einigen Dreck aufwirbelst und dich dabei selber ruinierst. Und wenn zwischen euch nichts mehr ist, wie es in diesen schrecklichen Magazinen immer heißt, warum tust du es dann? Aus uneigennütziger Liebe zur Wahrheit?«
»Ich bin nicht bereit zuzugestehen, daß das ein schlechtes Motiv wäre. Ich bin zu alt, um schockiert zu sein von der Tatsache, daß jedermann käuflich und Korruption die einzige Lebensform ist. In jeder Rede bei jeder Schlußfeier, und ich habe viele gehört, wird über die Bestechlichkeit der Welt gejammert. Ich weiß nur, daß man ab und an jemanden findet, der an der Wahrheit interessiert ist, am Guten, wenn du es genau wissen willst, um der Sache willen. Wieviele Polizisten gibt es in New York, die niemals auch nur einen Dollar neben ihrem Gehalt kassiert haben? In Ordnung, vielleicht werde ich romantisch. Betrachte es auf die kaltblütige Art, wie du sie bevorzugst. Emanuel hat vier Jahre College hinter sich, vier Jahre Medical School, ein allgemeines Assistenzjahr in der Klinik, zwei Jahre in der Psychiatrie, drei Jahre Zusatzausbildung am Institut und viele, viele wertvolle Jahre an Erfahrung. Und das soll alles den Bach hinuntergehen, weil ein gerissener Mörder ein Mädchen in seiner Praxis umgebracht hat?«
»Ich hatte bisher immer den Eindruck, daß du der Psychiatrie relativ wenig Vertrauen entgegenbringst.«
»Als therapeutisches Werkzeug ist sie, glaube ich, reichlich plump, und das ist noch freundlich ausgedrückt. Ich habe noch eine Menge anderer Einwände gegen sie. Aber was hat das damit zu tun, daß ein fähiger Psychiater für etwas verurteilt wird, was er nicht getan hat? Es gibt viele Dinge, die ich an Emanuel nicht bewundere, aber ich empfinde bei ihm das, was Emerson über Carlyle gesagt hat: ›Wenn Genie billig zu haben wäre, könnten wir wohl ohne Carlyle auskommen, aber bei unserer gegenwärtigen Bevölkerung können wir nicht auf ihn verzichten‹.«
»Darf ich fragen, wo du anzufangen gedenkst?«
»Es wäre mir lieber, wenn du es nicht tätest. Hast du irgend etwas über die anderen Patienten herausbekommen?«
»Der Zehn-Uhr-Patient heißt Richard Horan. Achtundzwanzig, unverheiratet, arbeitet für eine Werbefirma. Hatte vor, seine Stunde so bald wie möglich zu verlegen, weil sie weder für ihn noch für Emanuel günstig lag, obwohl ich glaube, entre nous, Werbefirmen sind daran gewöhnt, daß ihre Angestellten Analyse machen. Wir leben in einer faszinierenden Zeit; nichts geht mehr ohne Analyse. Der Zwölf-Uhr-Patient unterrichtet Englisch, das hörst du sicher gerne, und zwar an einem der Colleges in der City. Ich kann mich nicht erinnern wo, aber er muß jedesmal eine lange U-Bahn-Fahrt auf sich nehmen. Auch unverheiratet, und es wirkt nicht so, als würde sich das bald ändern, wenn der Eindruck des Kriminalbeamten richtig ist; vielleicht auch nicht. Dein Emanuel schweigt, wie üblich, obwohl ich seinen Standpunkt schon respektieren kann. Offenbar kann er über die Patienten nicht reden, die noch nicht ermordet wurden. Der Name dieses Patienten ist Frederick Sparks, wie du weißt, aber ich schicke dir eine Kopie der Unterlagen; dann wirst du in der Lage sein, mich zu erpressen. Habe ich dir damit mein Vertrauen bewiesen?«
»Kannst du mir auch ihre Privatadressen besorgen?«
»Du kannst alles haben, was in meiner Macht steht. Laß mich nur immer in großen Zügen wissen, was du gerade unternimmst, ja? Und wenn du eine Nachricht erhältst, daß du dich mit einem mysteriösen Mann wegen einer interessanten Information in einer dunklen Straße treffen sollst, dann geh nicht hin.«
»Mit Frotzeleien«, sagte Kate frotzelnd, »kommst du bei mir nicht weiter. Kannst du mir noch einen Kaffee bestellen?«