17
Am Donnerstagmorgen hatte Kate mit Jerry gesprochen. Jetzt war es Freitagabend. Kate hatte an dem Tag noch einmal jemanden gebeten, ihre Vorlesungen zu übernehmen. Sie sah Reed an, der auf ihrer Couch saß, die Füße weit von sich gestreckt.
»Ich weiß nicht, ob ich dir der Reihe nach erzählen kann, was passiert ist«, sagte sie, »aber ich kann dir sagen, wo ich gestern morgen angefangen habe. Ich habe mit einem seichten Witz angefangen, einem Arztwitz, den ich vor Monaten mal gehört habe. Der fiel mir als erstes ein, als ich aufwachte. Dann dachte ich an ein Foto. Dann fiel mir eine Szene aus einem großartigen modernen Roman ein, die sich unauslöschlich im Gedächtnis eines Mannes festgesetzt hatte, weil sie ihn an einen entscheidenden Augenblick in seiner Kindheit erinnerte. Dann dachte ich an ein assoziatives Wortspiel in einem Traum, keines, das sich auf Liebe oder Verliebtsein bezog, sondern auf Haß und Angst. Dann kam mir eine alte Dame in den Sinn und die kanadische Wildnis.
Ich hatte mich entschlossen, Messenger zu glauben – du hast ja gerade Jerrys Bericht gelesen. Messenger hat gesagt, Barrister sei zu keinem Mord fähig, und obwohl man an dem Satz durchaus zweifeln kann, beschloß ich, im Augenblick nicht daran zu zweifeln. Es gingen mir noch ein paar andere Dinge durch den Kopf. Ein Verfahren wegen eines Kunstfehlers. Sparks, der niemals ein Gesicht vergißt, Nicola und ihre Bereitschaft, einem sympathischen Zuhörer oder auch einem weniger sympathischen fast alles über ihr Leben zu erzählen, was er wissen möchte. Ein Fensterputzer, den es gar nicht gegeben hat, der mich aber auf den Gedanken gebracht hat, wie leicht einer von außen, vom Hof aus, Emanuels Praxis und die Küche in seiner Wohnung inspizieren konnte. Meine Besuche bei Emanuel und Nicola in den schönen Zeiten vor dem Verbrechen. Eine an mich gerichtete Frage: ›Professor Fansler, kennen Sie einen guten Psychiater?‹
Das alles ging mir, wie gesagt, im Kopf herum, aber plötzlich, am Donnerstagmorgen, schienen die Dinge alle ihren richtigen Platz zu finden. Und dann unternahm beziehungsweise veranlaßte ich drei Dinge. Das erste betraf Nicola. Ich rief sie an und bat sie, Barrister so unauffällig wie möglich in ein Gespräch zu ziehen. Das fiel Nicola nicht schwer. Sie erschien einfach vor seiner Praxistür, nachdem seine letzte Patientin gegangen war, erinnerte ihn daran, daß er versprochen hatte, ihr zu helfen, wo immer er könne, und sagte zu ihm, sie brauchte jemanden, mit dem sie reden könne. Als ich ein Kind war, haben wir immer ein Spiel gespielt, das ich ziemlich albern fand. Einer der Mitspieler bekam einen Zettel, auf dem irgendein lächerlicher Satz stand, zum Beispiel: ›Mein Vater spielt Klavier mit seinen Zehen.‹ Die Aufgabe bestand nun darin, deinem Gegenüber, der den Zettel natürlich nicht gelesen hatte, eine Geschichte zu erzählen, in den du diesen lächerlichen Satz einzubauen hattest. Natürlich kam dabei eine Geschichte mit lauter unerhört blöden Sätzen heraus, weil dein Gegenüber dreimal die Möglichkeit hatte, den Satz zu erraten, der auf dem Blatt Papier stand. Klar, daß das Gegenüber ihn fast nie herausbekommen hat, weil alle Aussagen, die man machte, genauso verrückt waren wie ›Mein Vater spielt Klavier mit den Zehen‹. Genau auf diese Weise sollte Nicola Barristers Meinung über D. H. Lawrence erfragen, vor allem über seinen ›Regenbogen‹ und dort wieder über eine spezielle Episode. Nicola hatte die entsprechende Stelle in dem Roman noch einmal nachgelesen – sie stand glücklicherweise auf den ersten fünfundsiebzig Seiten. Trotzdem mußte Nicola erst einmal über eine ganze Menge anderer literarischer Dinge reden, um langsam darauf zu kommen. Es durfte ja nicht auffallen. Nicola hat das hervorragend gemacht.«
Kate holte tief Luft und sah Reed an. »Das zweite, was ich ›unternahm‹, wurde auch von Nicola ausgeführt. Sie flatterte auf ihre entzückende Art in Barristers Ordination herum und brachte es fertig, teils durch direkte Fragen, aber zum größeren Teil dadurch, daß sie ihm dies und das erzählte – du kennst Nicolas Art nicht, da entgeht dir viel –, ein paar von seinen Gewohnheiten herauszubekommen. Die dritte Sache kostet Geld. Ich habe Jerry in eine kleine Stadt namens Bangor in Michigan geschickt. Er ist jetzt schon auf dem Rückweg, aber ich habe gestern abend mit ihm telefoniert. Jerry hat dort einiges erlebt. Er hat nach einer alten Dame gesucht, aber die war schon tot. Glücklicherweise ist es eine kleine Stadt, und so hat er die Leute ausfindig gemacht, bei denen die alte Dame bis zu ihrem Tod gewohnt hatte. Sie waren nicht mit ihr verwandt und wurden von ihr für Wohnung, Essen und Pflege bezahlt.
Arrangiert hatte das alles Michael Barrister, der natürlich aus Bangor in Michigan stammt. Er war es auch, der die alte Dame unterstützte. Es war keine große Summe, die er dem Paar, in dessen Haus sie wohnte, bezahlt hat, aber als sie älter wurde und mehr Pflege brauchte, hat er die Summe erhöht. Nach ihrem Tod hat Barrister den Leuten, die sich die Jahre über um sie gekümmert und ihr wohl jene Zuwendung geschenkt hatten, die man nicht kaufen kann, eine ordentliche Geldsumme geschenkt.
Das alles war noch ganz einfach herauszubekommen, aber ich war auf etwas anderes aus, und Jerry hat das mit seinem jungenhaften Charme auch geschafft. Er hat sie nämlich gefragt, ob der monatliche Scheck jemals ausgeblieben sei. Nach dieser langen Einleitung wirst du nicht mehr erstaunt sein, wenn du erfährst, daß das tatsächlich passiert ist. Barrister hatte jeden Monat einen Scheck geschickt, die College-Zeit hindurch, während des Medizinstudiums und der Ausbildung und in der Zeit des Krankenhausdienstes. Dann blieb er aus. Trotzdem haben sie sich weiter um die alte Dame gekümmert, aber schließlich wurde ihnen die finanzielle Belastung zu groß, und so machte sich der Mann auf den Weg nach Chicago. Er bekam heraus, daß Barrister nach New York gegangen war, also ging er in die Bibliothek, ließ sich das New Yorker Telefonbuch geben und fand seine Adresse. Er schrieb an Barrister und bekam einen Antwortbrief, in dem sich Barrister entschuldigte, er habe finanzielle Schwierigkeiten gehabt, aber jetzt sei wieder alles in Ordnung. Dem Brief beigelegt war ein Scheck, der die vergangenen Monate abdeckte und auch den kommenden. Seitdem blieb der monatliche Scheck nie mehr aus, bis zum Tod der alten Dame. Doch in einem der schecklosen Monate hatte die alte Dame Geburtstag gehabt, zu dem ihr Barrister sonst jedesmal einen Brief und ein Geschenk geschickt hatte. Das Geschenk war immer das gleiche: ein kleiner Hund aus Porzellan für ihre Sammlung. Als die Schecks nicht kamen und ihr Geburtstag übergangen wurde, wollte die alte Dame Barristers Namen nicht mehr hören. Sie hatte ihn Mickey genannt, wie niemand sonst, aber nun lehnte sie es ab, ihn auch nur zu erwähnen oder gar noch einmal etwas von ihm anzunehmen. Das Paar, bei dem sie lebte, nahm zwar Barristers Geld an, weil es sonst nicht ausgekommen wäre, aber die alte Dame durfte davon nichts wissen. Sie haben nicht noch einmal Kontakt mit ihm aufgenommen, und die alte Dame erhielt auch nie mehr einen Porzellanhund.«
»Rührende Geschichte«, sagte Reed. »Wer war die alte Dame?«
»Tut mir leid. Das hätte ich nicht auslassen dürfen. Sie lebte bei Barristers Großeltern und hat sich um ihn gekümmert, als er noch ein Junge war. Die Großeltern hatten in ihrem Testament alles ihrem Enkel hinterlassen, zusammen mit dem Vermerk, er würde sich sicher immer um die alte Dame kümmern. Was er auch getan hat.
Aber jetzt zurück zu Nicolas Gespräch. Sie hat es mir Wort für Wort wiedergegeben – für den Fall, daß alle Gerichtsstenographen von einer Seuche dahingerafft werden und sämtliche Tonbandgeräte ausfallen, wäre Nicola ein prima Ersatz –, aber ich referiere mal nur das Wesentliche. Barrister hat ›Lady Chatterley‹ gelesen. Sonst kennt er nichts von D. H. Lawrence, den er übrigens öfter mit T. E. Lawrence zu verwechseln scheint, und außerdem hat er noch zum besten gegeben, die moderne Literatur gehe in die falsche Richtung. Für Professoren und Kritiker möge das alles ja ganz nett sein, aber wenn ein Mann wie er ein Buch lesen wolle, dann wünsche er sich eine gute Geschichte und nicht lauter Symbolismus und Leben scheibchenweise. Was Nicola über Barristers Praxis herausbekommen hat, dürfte auch die Polizei schon wissen. Er hat ein Wartezimmer, mehrere Untersuchungsräume und ein Büro. Die Frauen in den entsprechenden Stadien der Entkleidung werden in den Untersuchungsräumen behandelt, und im Büro finden die Konsultationen statt. Barrister geht von Raum zu Raum, desgleichen die Sprechstundenhilfe. Wenn er nicht in diesem Raum ist, kann man annehmen, er ist im nächsten. Die Damen müssen oft eine ganze Weile auf ihn warten und sind daran gewöhnt – ein Umstand, nebenbei bemerkt, den dir jede Frau bestätigen kann, die jemals einen erfolgreichen Gynäkologen konsultiert hat. Mit anderen Worten, wie du ja schon gesagt hast: Barrister hat kein Alibi, obwohl der gute Strafverteidiger, von dem du ja dauernd redest, gewiß viel daraus machen könnte, daß er Sprechstunde hatte zu der Zeit, als der Mord passierte. Wahrscheinlich wird man alle Frauen, die an dem Tag bei ihm waren, sehr genau befragen müssen, was, Gott sei Dank, nicht meine Aufgabe ist.«
Kate sah Reed mit einem Lächeln an. » Zu diesen Informationen füge ich noch etwas hinzu, was ich von Nicola am Tag nach dem Mord gehört hatte, und etwas, was Jerry bei seinem Intermezzo mit der Sprechstundenhilfe aufgefallen war, mir aber, abgesehen davon, nicht so bedeutsam vorkommt: daß Barrister nämlich spezialisiert ist auf Frauen, die keine Kinder bekommen können, auf Frauen, die unter verschiedenen ›weiblichen‹ Problemen leiden, und auf Frauen in den Wechseljahren. Übrigens habe ich meinen Frauenarzt angerufen, einen konservativen Vertreter seines Standes, der auch Ärzte an einem Krankenhaus ausbildet, und ihn konnte ich nun schließlich dazu überreden, mir zu gestehen – alle Ärzte, fällt mir auf, können sich nicht mit der Vorstellung anfreunden, daß Medizin auch schlecht praktiziert werden könnte –, daß viele Ärzte ihre Patientinnen in der Menopause mit wöchentlichen Hormonspritzen behandeln, er dagegen das Gefühl hat, es sei noch zu wenig über die Auswirkungen von Hormonen bekannt und der Meinung ist, man sollte sie nur in äußerst dringenden Fällen geben. Trotzdem gefallen den Frauen die Wirkungen der Injektionen, und so geben viele Ärzte Hormone. Möchtest du einen Drink?«
»Sprich weiter«, sagte Reed.
»Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, eine Geschichte, die sich für mich aus all diesen Tatsachen ergeben hat. Es war einmal ein junger Doktor namens Michael Barrister. Er hatte seine Prüfungen und sein Ausbildungsjahr am Krankenhaus hinter sich. Er liebte das Wandern und das Kampieren, vor allem in der Gegend, die wir die kanadische Wildnis nennen. Dort schläft man im Zelt, mietet sich in einem Forsthaus ein oder in einem Gasthaus, wenn man eines findet. Mike, so nennen wir ihn jetzt einmal, marschierte also los und begegnete in der kanadischen Wildnis einem Mädchen namens Janet Harrison. Sie verliebten sich ineinander…«
»Aber ihr Vater war der mächtigste Mann im ganzen Königreich, sein Vater jedoch nur ein armer Holzfäller.«
»Wenn du unterbrichst, erzählt Mami die Geschichte nicht zu Ende, und du mußt sofort schlafen gehen. Nach einiger Zeit mußte das Mädchen wieder heim, und so trennten sie sich, einander ewige Liebe schwörend. Michael Barrister aber begegnete einem anderen Mann, einem Mann, der ihm sehr ähnlich sah. Zusammen wanderten die beiden weiter. Mike sprach frei und offen mit dem Mann, so, wie man das gegenüber Fremden oft tut. Er erzählte ihm viel von sich selbst, aber nichts von dem Mädchen. Eines Nachts tötete der Fremde Mike und begrub seinen Leichnam in der kanadischen Wildnis.«
»Kate, um Himmelswillen…«
»Vielleicht war es ein Unfall. Vielleicht wurde dem Fremden erst nach Mikes tödlichem Unfall klar, in welch schwieriger Lage er sich befand, und er kam deswegen auf die Idee, Mikes Identität anzunehmen. Das war ein enormes Risiko, denn wieviel hätte dabei schiefgehen können… Aber es ging nichts schief. Jedenfalls sah es so aus. Die Sache mit der alten Dame war schon ein Problem, aber das schien sich von selbst zu lösen. Eine Schwierigkeit lag natürlich darin, daß Mikes Freunde auftauchen könnten, aber die würde er kurz abfertigen – sie müßten eben annehmen, er hätte sich verändert. Es sah so aus, als hätte er das Glück auf seiner Seite. Die Leiche wurde nie entdeckt. Wenn er Briefe bekam, beantwortete er sie. Der echte Mike hatte glänzende Zeugnisse, und so hatte der Fremde keine Schwierigkeiten, eine Praxis zu eröffnen. Das Verfahren wegen des Kunstfehlers war zwar ein Unwetter, das über ihn hereinbrach, aber er überstand es.
Und dann kam das erste gewaltige Problem: Janet Harrison. Ihre tatsächliche Ankunft in New York verzögerte sich um einige Jahre. Sie besuchte die Schwesternschule und hatte vor, später zu Mike nach New York zu gehen; in ihren Briefen war davon oft die Rede. In seinen Antwortschreiben versuchte er, ohne grob zu werden, die Liebesgeschichte langsam sterben zu lassen. Er brauchte immer länger, um auf ihre Briefe zu antworten. Als ihre Mutter starb, mußte sie heimfahren. Doch schließlich kam Janet Harrison, die Nemesis, trotz aller Verzögerungen nach New York. Sie hatte nie aufgehört, ihn zu lieben, und sie glaubte nicht oder konnte nicht glauben, daß seine Liebe zu ihr erloschen war.
Er konnte sich natürlich schlecht weigern, sie zu treffen. Er dachte zwar an diese Möglichkeit, aber vielleicht würde sie mit anderen darüber reden, und alles in allem schien es ihm klüger, zu wissen, was sie vorhatte. Selbstverständlich bemerkte sie schon bald, daß er nicht Mike war. Bei genügend großer Ähnlichkeit ist es gewiß leicht, Leute zu täuschen. Das stelle ich mir jedenfalls vor. Es fällt den Leuten nicht auf, daß du nicht der bist, für den du dich ausgibst – sie meinen einfach, du hättest dich verändert. Aber eine Frau an der Nase herumzuführen, die einen Mann geliebt und mit ihm geschlafen hat, ist eine andere Sache. Sie war ein verschlossener Mensch – was für ihn ein Vorteil war –, aber sie war entschlossen, diesen Michael Barrister als Betrüger zu entlarven und den Mord an dem Mann, den sie geliebt hatte, zu rächen. Sie wußte, daß sie in Gefahr war – und so machte sie ein Testament und hinterließ ihr Geld dem Mann, den ihr Mike bewundert hatte und der so zu sein schien wie er. Unglücklicherweise hinterlegte sie die Beweise gegen den falschen Mike, falls sie welche gesammelt hatte, nicht bei dem Anwalt, der ihr das Testament aufgesetzt hatte. Sie bewahrte sie in ihrem Zimmer auf oder in einem Notizbuch, das sie mit sich herumtrug. Deshalb mußte er, auch wenn das Risiko enorm war, ihr Zimmer durchsuchen und, nachdem er sie umgebracht hatte, auch ihre Handtasche.«
Kate lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Sie machte es sich zur Gewohnheit, auf der anderen Straßenseite Posten zu beziehen und seine Praxis zu beobachten. Sie wollte ihn nervös machen, und zweifellos hatte sie damit Erfolg. Aber schließlich brauchte sie einen Vorwand für ihr tägliches Auftauchen, und jetzt kommt Emanuel ins Spiel. Ein- oder zweimal sah sie mich nach einem Besuch bei Emanuel und Nicola aus dem Haus kommen. Wenn sie zu mir ginge, würde ich ihr dann Emanuel vorschlagen? Sie kam zu mir, und ich tat es. Hätte ich ihn nun nicht vorgeschlagen – aber was soll’s, wir müssen uns ja nicht den Kopf darüber zerbrechen, was hätte geschehen können.
Sie zog niemanden ins Vertrauen, teils, weil das nicht ihre Art war, teils, weil ihr klar war: Wer würde ihr glauben? Obwohl sie inzwischen selbst ermordet worden ist, hast du Schwierigkeiten, mir die Geschichte zu glauben. Man kann sich gut vorstellen, wie die Polizei mit solch einer Geschichte umgegangen wäre.
Dr. Michael Barrister wußte, daß er etwas unternehmen mußte, ganz gewiß seit sie angefangen hatte, zum Psychoanalytiker zu gehen. Auf der Couch könnte sie etwas erzählen und vielleicht sogar Glauben finden. Jedenfalls stellte sie, solange sie lebte, eine schreckliche Bedrohung dar. Aber er wollte sie nicht töten. Er würde sofort in die Sache hineingezogen werden, dazu lag die Praxis von Emanuel einfach zu nahe. Gleichgültig, an welchem Ort sie getötet würde, die Tatsache, daß sie sich in Analyse befand, würde herauskommen, und dann würde man auch ihn befragen. Vielleicht konnte er sie dazu bewegen, ihn zu lieben, ja sogar, ihn zu heiraten. Er ähnelte dem Mann, den sie geliebt hatte, auf wirklich bemerkenswerte Weise. Er war ein Frauenkenner. Er wußte, daß Frauen es mochten, wenn man sie überwältigte und an der Hand nahm. Er versuchte, ihre Liebe zu gewinnen. Eine Zeitlang muß er geglaubt haben, es würde ihm gelingen. Sie ließ zu, daß er mit ihr schlief. Irgend etwas sagte ihm, daß auch sie ein Spiel trieb. Sie versuchte, seine Verteidigung zu schwächen.
Er wußte, wie das Leben bei Emanuel ablief. Beobachtungen, Gespräche mit Nicola, Blicke durch die Fenster zum Hof erzählten ihm alles, was er brauchte. Er besaß die Gummihandschuhe eines Chirurgen. Die Telefonanrufe waren ein Kinderspiel. Er wußte, daß Emanuel, sowie er die Zeit dazu hatte, in den Park hinausgaloppieren würde. Wenn durch irgendeinen dummen Zufall Emanuel in seiner Praxis geblieben wäre, hätte das für Barrister keinerlei Bedeutung gehabt; er mußte einfach nur umkehren. Aber Emanuel verließ das Haus, und Janet Harrison kam pünktlich zu ihrer Sitzung in eine leere Praxis. Da erschien Barrister auf der Bildfläche. Wahrscheinlich erzählte er ihr, daß Emanuel gerade weggerufen worden sei, führte sie zur Couch und brachte sie dazu, sich hinzulegen – vielleicht, um mit ihr zu schlafen. Vielleicht hat er sie auch hinuntergedrückt, ehe er ihr das Messer in die Brust stieß. Er bekam dabei keine Blutspuren ab, und falls doch, dann brauchte er nur durch das Hoffenster in seine Praxis zurückzuklettern und sich zu waschen. Darauf ließ er es ankommen. Ihm blieb nichts anderes übrig. Aber wenn er sie in Emanuels Praxis tötete, ging er ein relativ geringes Risiko ein, selbst wenn er als Nachbar des Analytikers dem Tatort zu nahe war, als daß die Polizei ihn nicht befragt hätte. Ganz gewiß konnte er sie nicht in seiner eigenen Wohnung töten – dorthin hat er sie nie mitgenommen. Sie selbst wohnte in einem Wohnheim für Studentinnen, einem Ort, wo dauernd Leute ein- und ausgingen. Er tötete sie mit Emanuels Messer auf Emanuels Couch. Das ließ nicht nur den Verdacht auf Emanuel fallen, sondern auch alles verdächtig erscheinen, was Emanuel möglicherweise sagen würde über Enthüllungen des Mädchens in der Analyse. Das Mädchen hatte ihm von mir und von Emanuel und Nicola erzählt – er wußte, wir waren Freunde, und er hatte sicher auch von Nicola einiges über unsere gemeinsame Geschichte erfahren. Später hat er den anonymen Brief geschickt, der mich beschuldigt. Wieder hatte er einen tollkühnen Plan, ging ein enormes Risiko ein und er gewann, jedenfalls schien das so. Wenn er das Foto nicht übersehen und Janet Harrison kein Testament gemacht hätte, er wäre damit durchgekommen.«
»Und wenn du, liebe Kate, nicht offensichtlich Literaturprofessorin geworden wärst, weil in dir eine verkrachte Roman-Schriftstellerin steckt… Aber was gute Geschichten angeht: diese hier solltest du veröffentlichen.«
»Du glaubst sie mir nicht.«
»Es geht nicht darum, ob ich dir glaube oder nicht.
Nehmen wir mal an, ich glaube sie nicht nur, sondern sie ist auch wahr. Du hast gesagt, die Polizei hätte wohl über Janet Harrison gelacht, wenn sie mit so etwas angekommen wäre. Aber das ist noch gar nichts gegen das Gewieher, in das sie über deine Geschichte ausbrechen würde. Du hast nicht den Hauch eines Beweises in der Hand, Kate, nicht den geringsten. Die alte Dame? Mike steckte in finanziellen Schwierigkeiten, und seine Liebesaffäre hat ihn die alte Dame vergessen lassen. Ein Roman von D. H. Lawrence? Ich sehe mich schon, wie ich das den Leuten von der Mordkommission erkläre. Eine Traumassoziation, im Laufe einer Analyse wiedergegeben, die uns zum Hauptverdächtigen führt? Die Tatsache, daß der Mann, mit dem er ein Jahr lang das Zimmer geteilt hat, Mike keinen Mord zutraut? Morde werden allzu häufig von Menschen begangen, von denen man das nie für möglich gehalten hätte. Ist es im Kriminalroman nicht immer am Ende der, von dem man es am wenigsten geglaubt hätte?«
»Also gut, Reed, ich gebe zu, ich habe keine handfesten Beweise. Aber es ist eine wahre Geschichte, so oder so. Ich habe mich da nicht einfach in eine Idee verbissen. Ich habe gewußt, daß du lachen würdest. Aber verstehst du nicht, daß es irgendwo einen Beweis geben muß? Wenn die Polizei mit allen ihren Möglichkeiten suchen würde, sie würde etwas finden. Vielleicht gibt es noch irgendwo etwas mit den Fingerabdrücken des echten Mike – stimmt, das ist unwahrscheinlich. Vielleicht ließe sich Mikes Leiche finden. Wenn die Polizei sich wirklich bemühte, fände sie Beweise. Reed, du mußt sie dazu bringen. Jerry und mich würde es Jahre kosten…«
»Bis ihr halb Kanada umgegraben habt. Das glaube ich auch.«
»Aber wenn die Polizei nur gründlich sucht, findet sie bestimmt etwas. Vielleicht kommt sie dahinter, wer dieser Mann war, bevor er Michael Barrister wurde. Vielleicht war er irgendwo im Gefängnis. Du könntest dir seine Fingerabdrücke besorgen…«
»Kate. Alles, was du hast, ist ein Märchen, das mit ›Es war einmal‹ beginnt. Treib mir einen Beweis auf, ein unwiderlegbares Beweisstück, daß dieser Mann nicht Michael Barrister ist, und wir können vielleicht eine Untersuchung einleiten. Wir könnten sogar, wenn nötig, Privatdetektive beauftragen. Doch was du im Augenblick hast, ist nichts als eine Theorie.«
»Was für eine Art Beweise willst du denn? Der echte Mike hätte diese Szene aus dem ›Regenbogen‹ nicht vergessen. Soll ich herausbekommen, daß der echte Mike ein rotes Muttermal auf der Schulter hatte, wie die Verlorenen Söhne aus Übersee in spätviktorianischen Romanen? Was würdest du als Beweis akzeptieren? Sag mir das. Ja?«
»Kate, Liebes, es kann einfach keinen Beweis geben. Ist dir das nicht klar? Wir können uns Barristers Fingerabdrücke besorgen, aber ich kann dir versprechen, sie sind nicht in der Kartei – an so etwas Grundlegendes hätte er gedacht. Angenommen, wir stellen ihn Messenger gegenüber – alles, was der sagen kann, ist: Er ähnelt Mike, aber Mike hat sich verändert. Angenommen, du bekommst sogar heraus, daß Mike als Student einmal eine schöne Singstimme hatte und daß der Dr. Barrister von heute keinen einzigen Ton herauskriegt. Stimmen, da bin ich sicher, kann man verlieren. Trotzdem wäre das, wenn du es beweisen könntest, sicherlich mehr wert als alles, was du bisher in Händen hast.«
»Ich verstehe«, sagte Kate. »Ich habe dir das Motiv geliefert und die Methode, aber das reicht nicht.«
»Stimmt, es reicht nicht, meine Liebe. Und ich verehre dich zu sehr, als daß ich jetzt Respekt für eine Theorie vortäuschen würde, die nichts als ein Luftschloß ist. Du hast dir einfach zuviel Sorgen gemacht und du stehst unter Druck. Wenn ich meinem Oberstaatsanwalt so eine Geschichte erzählte, wäre ich wahrscheinlich meinen Job los.«
»Mit anderen Worten, Barrister hat das perfekte Verbrechen begangen. Zwei perfekte Verbrechen.«
»Kate, finde einen Weg, wie ich dir helfen kann. Ich will es ja. Aber das Leben ist kein Roman.«
»Du irrst dich, Reed. Das Leben besteht nicht aus Beweisen.«
»Du gibst zu, daß du dir die ganze Geschichte ausgedacht hast. Kate, als ich auf dem College war, im ersten Semester, gab uns unser Englisch-Professor einen kurzen Absatz einer Erzählung vor, und wir mußten sie dann weiterspinnen. Wir waren fünfundzwanzig Studenten, und keine zwei Geschichten hatten miteinander auch nur die entfernteste Ähnlichkeit. Ich bin sicher, daß du, wenn du dir ein bißchen Zeit nimmst, eine andere Geschichte erfinden kannst, in der Sparks oder Horan der Mörder ist. Versuch es doch einmal, nur zum Beweis, daß ich recht habe.«
»Reed, du vergißt, daß ich eine Menge Beweise habe, wenn auch nicht von der Art, die du akzeptierst. Die gleiche Art von Beweisen hat mich darauf gebracht, daß Barrister Janet Harrison gekannt hatte. Zufälligerweise hat Barrister Angst bekommen und es von sich aus zugegeben. Hätte er es nicht getan, dann säße ich jetzt hier und würde vergeblich versuchen, dich davon zu überzeugen, daß die beiden sich gekannt haben.«
»Vielleicht konfrontierst du ihn mit dieser Geschichte und bringst ihn dazu, alles zuzugeben.«
»Vielleicht tue ich das. Ich werde ihm sagen: Ein stellvertretender Bezirksanwalt kennt das Märchen und bitte bringen Sie mich jetzt um und beweisen Sie ihm, daß ich recht hatte.«
»Red nicht so einen Unsinn. Wo ist dieses Foto von dem ›echten‹ Mike, wie wir ihn jetzt nennen? Kannst du es mir mal holen?«
Kate gab es ihm. »Manchmal hat man das Gefühl, es könne sprechen. Aber so etwas sollte ich besser nicht sagen. Es bestärkt dich nur in deiner Überzeugung, daß ich verrückt bin. Weswegen wolltest du das Bild haben?«
»Wegen der Ohren. Nicht sehr gut zu erkennen, oder? Eine Menge Arbeit ist in die Methode gesteckt worden, Leute an den Ohren zu identifizieren. Zu schade, daß unser ›echter‹ Mike sich nicht im Profil hat ablichten lassen. Dann könnten wir uns zum Vergleich ein Bild von Barristers Ohr verschaffen.«
»Wirst du dich darum kümmern, Reed? Bitte, gib mich nicht auf als unheilbar schwachsinnig. Vielleicht webe ich ja nur an ein paar Wahngebilden…«
»Diesen konzilianten Tonfall kenne ich. Du hast also etwas vor, was ich nicht billigen kann. Hör zu, Kate: Wir sollten darüber nachdenken. Wenn wir ein Beweisstück vorlegen können, das weder literarischer noch psychologischer oder impressionistischer Natur ist, dann können wir die Polizei vielleicht interessieren. Ich bin sowieso lieber hinter einem Hormonspritzen-Verteiler her als hinter einem Psychiater. Gehen wir ins Kino?«
»Nein. Du kannst entweder nach Hause gehen oder mich zum Flughafen fahren.«
»Zum Flughafen! Fährst du jetzt nach Bangor, Michigan?«
»Nach Chicago. Nein, versuch nicht, mir reinzureden. Ich habe mir schon seit langem eine Reise nach Chicago versprochen. Dort hängt Picassos ›Mann mit blauer Gitarre‹, und plötzlich hat mich der nicht zu bändigende Wunsch überfallen, ihn mir anzusehen. Während ich weg bin, könntest du die Gedichte lesen, zu denen Wallace Stevens von dem Bild inspiriert wurde. Er behandelt sehr wirkungsvoll den Unterschied zwischen der Realität und den Dingen, ›wie sie sind‹. Entschuldige mich, ich muß packen.«