Siebzehn

Gugginos Antwort erreichte ihn ein paar Minuten vor drei.

Sie war lang und ausführlich. Montalbano machte sich gewissenhaft Notizen. Fünf Minuten später tauchte Giallombardo auf und teilte ihm mit, Serravalle sei ins Hotel zurückgekehrt.

»Rühr dich dort nicht von der Stelle«, befahl ihm der Commissario. »Wenn du ihn wieder rausgehen siehst, bevor ich da bin, dann halte ihn unter irgendeinem Vorwand fest, mach einen Striptease oder einen Bauchtanz, aber lass ihn nicht weg.«

Rasch blätterte er Michelas Unterlagen durch, er erinnerte sich, eine Bordkarte gesehen zu haben. Sie war da, es war die letzte Reise der Signora von Bologna nach Palermo gewesen. Er steckte die Karte ein und rief Gallo.

»Bring mich mit dem Streifenwagen zum Albergo della Valle.«

Das Hotel stand auf halbem Weg zwischen Vigàta und Montelusa, man hatte es direkt neben einen der schönsten Tempel der Welt gebaut, Denkmalamt, Landschaftsschutzverordnungen und Bebauungsplänen zum Trotz.

»Du wartest hier«, sagte der Commissario zu Gallo. Er ging zu seinem Auto, in dem Giallombardo saß und ein Nickerchen hielt.

»Ich hab nur mit einem Auge geschlafen!«, beteuerte der Polizist.

Der Commissario öffnete den Kofferraum und nahm den Kasten mit der billigen Geige heraus.

»Du fährst ins Kommissariat zurück«, befahl er Giallombardo.

Als er die Hotelhalle durchquerte, hätte man ihn glatt für das Mitglied eines Orchesters halten können.

»Ist Dottor Serravalle da?«

»Ja, er ist in seinem Zimmer. Wen soll ich melden?«

»Du sollst gar nichts melden, sondern nur den Mund halten. Ich bin Commissario Montalbano. Und wenn du es wagst, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen, bring ich dich hinter Gitter, und dann kannst du schauen, wie du wieder rauskommst.«

»Vierter Stock, Zimmer vierhundertsechzehn«, sagte der Portier mit zitternden Lippen.

»Hat jemand für ihn angerufen?«

»Als er zurückkam, habe ich ihm die Mitteilungen der eingegangenen Anrufe gegeben, drei oder vier.«

»Ich will mit der Telefonistin sprechen.«

Die Telefonistin, die sich der Commissario, weiß der Himmel warum, als hübsches junges Mädchen vorgestellt hatte, war ein bebrillter alter Glatzkopf um die sechzig.

»Der Portier hat mir schon alles erklärt. Ab zwölf Uhr hat immer wieder ein gewisser Eolo aus Bologna angerufen.

Seinen Nachnamen hat er nie hinterlassen. Er hat gerade vor zehn Minuten wieder angerufen, und ich habe das Gespräch ins Zimmer durchgestellt.«

Im Fahrstuhl zog Montalbano einen Zettel mit den Namen aller Personen hervor, die vergangenen Mittwochabend am Flughafen Punta Ràisi ein Auto gemietet hatten. Einverstanden: Guido Serravalle stand nicht darauf. Aber Eolo Portinari schon. Und von Guggino hatte er erfahren, dass dieser ein enger Freund des Antiquitätenhändlers war.

Er klopfte ganz leise, und dabei fiel ihm ein, dass seine Pistole im Auto im Handschuhfach lag.

»Herein, es ist offen.«

Der Antiquar lag auf dem Bett, die Hände im Nacken verschränkt. Er hatte nur Schuhe und Jackett ausgezogen, die Krawatte hatte er noch umgebunden. Als er den Commissario sah, sprang er auf die Füße wie ein Schachtelteufel, der beim Öffnen des Kästchens herausschnellt.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Montalbano.

»Schon in Ordnung!«, rief Serravalle und schlüpfte hastig in seine Schuhe. Sogar das Jackett zog er an. Montalbano hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, den Geigenkasten auf dem Schoß.

»So, jetzt bin ich bereit. Was verschafft mir die Ehre?«

Den Geigenkasten übersah er geflissentlich.

»Sie sagten neulich am Telefon, sie stünden mir zur Verfügung, wenn ich Sie brauchte.«

»Natürlich, das kann ich nur wiederholen«, sagte Serravalle und setzte sich ebenfalls.

»Ich hätte Sie nicht belästigt, aber da Sie wegen der Trauerfeier schon mal hier sind, will ich das ausnutzen.«

»Das freut mich. Was soll ich tun?«

»Zuhören.«

»Ich verstehe nicht, entschuldigen Sie.«

»Mir zuhören. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen.

Wenn Sie finden, dass ich übertreibe oder mich irre, dann unterbrechen Sie mich nur, korrigieren Sie mich.«

»Ich wüsste nicht wie, Commissario. Ich kenne die Geschichte ja nicht, die Sie mir erzählen wollen.«

»Sie haben Recht. Dann sagen Sie mir, was Sie davon halten, wenn ich fertig bin. Der Held meiner Geschichte ist ein Signore, der in recht guten Verhältnissen lebt, er ist ein Mann von erlesenem Geschmack, besitzt ein bekanntes Antiquitätengeschäft und hat eine gute Klientel. Dieses Geschäft hat unser Held von seinem Vater geerbt.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Serravalle, »wo spielt Ihre Geschichte denn?«

»In Bologna«, antwortete Montalbano und fuhr fort:

»Etwa vor einem Jahr begegnet dieser Signore einer jungen Frau aus besseren Kreisen. Die beiden werden ein Liebespaar. Ihr Verhältnis ist ohne Risiko, der Gatte der Signora drückt aus Gründen, die zu erläutern hier zu weit führen würde, nicht nur ein Auge, wie es so schön heißt, sondern gleich alle beide zu. Die Signora liebt ihren Mann weiterhin, aber die sexuelle Beziehung zu ihrem Geliebten ist ihr sehr wichtig.«

Er unterbrach sich.

»Darf ich rauchen?«, fragte er.

»Aber natürlich«, sagte Serravalle und schob ihm einen Aschenbecher hin.

Montalbano holte langsam das Päckchen aus der Tasche, nahm drei Zigaretten heraus, rollte eine nach der anderen zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, entschied sich für die, die ihm am weichsten schien, steckte die beiden anderen in das Päckchen zurück und tastete sich auf der Suche nach dem Feuerzeug ab.

»Ich kann Ihnen leider nicht behilflich sein, ich rauche nicht«, sagte der Antiquar.

Schließlich fand der Commissario das Feuerzeug in der Brusttasche des Jacketts, betrachtete es, als hätte er es noch nie gesehen, zündete die Zigarette an und steckte das Feuerzeug wieder ein.

Bevor er weitersprach, sah er Serravalle gedankenverloren an. Die Oberlippe der Antiquars war feucht, er begann zu schwitzen.

»Wo war ich stehen geblieben?«

»Bei der Frau, die sehr an ihrem Geliebten hing.«

»Ach ja. Leider hat unser Held ein schlimmes Laster. Er ist Glücksspieler, er setzt hohe Summen. In den letzten drei Monaten wurde er dreimal in illegalen Spielhöllen erwischt.

Stellen Sie sich vor, eines Tages landet er sogar im Krankenhaus, nachdem er brutal zusammengeschlagen worden ist. Er behauptet, das Opfer eines Raubüberfalls gewesen zu sein, doch die Polizei vermutet - ich wiederhole: vermutet -, dass es sich um eine Warnung wegen nicht gezahlter Spielschulden handelt. Wie auch immer, für unseren Helden, der weiter spielt und weiter verliert, wird die Lage immer prekärer. Er vertraut sich seiner Geliebten an, und diese versucht für ihn zu tun, was in ihrer Macht steht. Sie hatte die Idee gehabt, sich hier eine kleine Villa bauen zu lassen, weil ihr die Gegend gut gefiel. Diese Villa erweist sich jetzt als ausgesprochen zweckmäßig: Die Signora bläht die Baukosten auf und kann ihrem Freund auf diese Weise etwa hundert Millionen zukommen lassen. Sie plant einen Garten, möglicherweise auch den Bau eines Schwimmbads: alles neue Quellen für Schwarzgeld. Aber sie sind ein Tropfen auf den heißen Stein, bei weitem keine zwei- oder dreihundert Millionen. Eines Tages begegnet die Signora, die ich der Einfachheit halber Michela nennen will …«

»Augenblick«, unterbrach Serravalle ihn mit einem Grinsen, das sardonisch wirken sollte. »Und Ihr Held, wie heißt der?«

»Sagen wir mal Guido«, antwortete Montalbano, als wäre das ganz nebensächlich.

Serravalle zog eine Grimasse, inzwischen klebte ihm sein Hemd schweißnass auf der Brust.

»Gefallen Ihnen die Namen nicht? Wir können sie auch Paolo und Francesca nennen, wenn Sie wollen. Das ändert nichts am Kern der Sache.«

Er wartete, ob Serravalle etwas sagte, aber der Antiquar machte den Mund nicht auf, und so fuhr Montalbano fort:

»Eines Tages lernt Michela in Vigàta einen berühmten Solisten kennen, einen Geiger, der hier zurückgezogen lebt.

Die beiden sind sich sympathisch, und die Signora erzählt dem Maestro, sie besitze eine alte Geige, ein Erbstück ihres Urgroßvaters. Zum Spaß - wie ich glaube - zeigt Michela sie dem Maestro, und diesem ist auf den ersten Blick klar, dass er ein Instrument von ungeheurem Wert, und zwar in musikalischer wie finanzieller Hinsicht, vor sich hat. Irgendwas über zwei Milliarden. Als Michela nach Bologna zurückkehrt, erzählt sie die ganze Geschichte ihrem Geliebten. Wenn die Dinge tatsächlich so liegen, wie der Maestro sagt, dann ist die Geige sehr gut verkäuflich, Michelas Mann hat sie vielleicht ein- oder zweimal gesehen, und alle verkennen ihren wirklichen Wert. Man müsste sie also nur austauschen, irgendeine miese Geige in den Kasten legen, und Guido wäre für alle Zeiten aus dem Schneider.«

Montalbano verstummte, trommelte mit den Fingern auf dem Geigenkasten und seufzte.

»Jetzt kommt das schwierigste Kapitel«, sagte er.

»Beh«, sagte Serravalle, »Sie können mir die Geschichte ja ein anderes Mal zu Ende erzählen.«

»Ich könnte, aber dann müsste ich Sie noch mal aus Bologna herbemühen oder selbst zu Ihnen kommen, das wäre zu umständlich. Wenn Sie schon so höflich sind und mir geduldig zuhören, obwohl Sie vor Hitze fast vergehen, will ich Ihnen erklären, warum ich das, was jetzt kommt, für das schwierigste Kapitel halte.«

»Weil Sie über einen Mord sprechen müssen?«

Montalbano starrte den Antiquitätenhändler mit offenem Mund an.

»Deshalb, meinen Sie? Nein, Mord und Totschlag bin ich gewohnt. Ich finde es das schwierigste Kapitel, weil ich die konkreten Fakten beiseite lassen und mich in den Kopf eines Mannes, in das, was er denkt, hineinversetzen muss.

Ein Romanautor hätte da leichte Hand, aber ich bin ja nur ein Leser von Büchern, die ich für gut halte. Verzeihen Sie die Abschweifung. Nun sammelt unser Held ein paar Informationen über den Maestro, von dem Michela ihm erzählt hat. Er findet heraus, dass dieser nicht nur ein Musiker von Weltruf ist, sondern auch ein Kenner der Geschichte des Instruments, das er spielt. Jedenfalls liegt er zu neunundneunzig Prozent richtig. Doch es gibt keinen Zweifel, dass sich die Angelegenheit, wenn sie Michela überlassen bliebe, in die Länge ziehen würde. Nicht nur das, die Frau würde sie zwar heimlich, aber legal verkaufen wollen, und die zwei Milliarden würden - nach Abzug verschiedener Kosten und Prozente und wegen unseres Staates, der sich wie ein Wegelagerer darauf stürzen und sein Teil verlangen würde - am Ende auf weniger als eine Milliarde zusammenschrumpfen. Doch es gibt einen Ausweg. Unser Held denkt Tag und Nacht darüber nach und spricht dann mit einem Freund.

Der Freund, den wir Eolo nennen könnten -«

Glück gehabt, die Vermutung war zur Gewissheit geworden. Wie vom Schuss eines großkalibrigen Revolvers getroffen, war Serravalle aus seinem Stuhl hochgefahren und dann plump wieder zurückgesunken. Er löste den Krawattenknoten.

»Ja, nennen wir ihn Eolo. Eolo ist sich mit unserem Helden einig, dass es nur einen Weg gibt: die Signora umzubringen, die Geige zu nehmen und durch eine minderwertige zu ersetzen. Serravalle überredet ihn, ihm dabei zu helfen.

Außerdem ist ihre Freundschaft heimlich, vielleicht verbindet sie das Glücksspiel, Michela hat ihn nie gesehen.

Am vereinbarten Tag nehmen beide in Bologna die letzte Maschine, die in Rom einen Anschluss nach Palermo hat.

Eolo Portinari -«

Serravalle zuckte zusammen, wie ein Sterbender, der ein zweites Mal getroffen wird.

»… wie dumm, jetzt habe ich ihm einen Nachnamen gegeben! Eolo Portinari reist ohne oder fast ohne Gepäck, aber Guido hat einen großen Koffer dabei. Im Flugzeug tun die beiden, als würden sie sich nicht kennen. Kurz vor dem Abflug aus Rom ruft Guido Michela an und sagt ihr, er sei auf dem Weg zu ihr, er brauche sie, und sie solle ihn am Flughafen Punta Ràisi abholen, vielleicht lässt er auch durchblicken, dass er vor seinen Gläubigern flieht, die ihn umbringen wollen. Als die beiden in Palermo landen, fährt Guido mit Michela nach Vigàta, während Eolo sich einen Mietwagen nimmt und ebenfalls Richtung Vigàta fährt, dabei jedoch einen gewissen Abstand hält. Ich glaube, unser Held erzählt seiner Geliebten während der Fahrt, dass er es mit seinem Leben bezahlt hätte, wenn er nicht aus Bologna verschwunden wäre. Er habe sich überlegt, sich ein paar Tage in Michelas Villa zu verstecken. Wer würde schon auf die Idee kommen, ihn da unten zu suchen? Die Frau ist glücklich, ihren Geliebten bei sich zu haben, und willigt ein.

Bevor sie nach Montelusa kommen, hält sie an einer Bar und kauft zwei panini und eine Flasche Mineralwasser.

Aber sie stolpert auf der Treppe und fällt hin, und der Besitzer der Bar schaut Serravalle direkt ins Gesicht.

Sie kommen nach Mitternacht in der Villa an. Michela duscht sofort und wirft sich ihrem Freund in die Arme. Sie lieben sich ein erstes Mal, dann bittet Serravalle Michela, es auf eine spezielle Weise zu tun. Und am Ende dieses zweiten Beischlafs drückt er ihr Gesicht in die Matratze, bis sie erstickt. Wissen Sie, warum er Michela gebeten hat, auf diese Weise Geschlechtsverkehr zu haben? Sie haben es bestimmt auch früher schon so gemacht, aber in dem Augenblick wollte er nicht, dass das Opfer ihn ansah, während er es umbrachte. Kaum hat er den Mord begangen, hört er draußen eine Art Klagen, einen erstickten Schrei. Er schaut raus und sieht im Lichtschein, der durch das Fenster nach außen dringt, in einem Baum direkt neben dem Haus einen Spanner sitzen - zumindest hält er ihn für einen solchen -, der den Mord beobachtet hat. Nackt, wie er ist, rennt unser Held hinaus, bewaffnet sich mit irgendwas und schlägt dem Unbekannten ins Gesicht, der aber kann fliehen. Es ist keine Minute zu verlieren. Er zieht sich an, öffnet die kleine Vitrine, nimmt die Geige heraus und legt sie in den Koffer, holt aus demselben Koffer die billige Geige heraus und legt sie in den Geigenkasten. Ein paar Minuten später kommt Eolo mit dem Auto, unser Held steigt ein. Was sie dann tun, ist unwichtig, am nächsten Morgen sind sie in Punta Ràisi und nehmen die erste Maschine nach Rom.

Bis hierher ist für unseren Helden alles gut gelaufen, und bestimmt kauft er sizilianische Zeitungen, um sich zu informieren. Doch es läuft nicht nur gut, sondern sogar bestens, als er erfährt, dass der Mörder gefunden wurde und sich noch rechtzeitig für schuldig erklären konnte, bevor er bei einer Schießerei getötet wurde. Jetzt weiß der Held, dass er mit dem illegalen Verkauf der Geige nicht länger zu warten braucht, und gibt sie Eolo Portinari, der sich um das Geschäft kümmern soll. Doch es kommt etwas dazwischen: Der Held erfährt, dass der Fall neu aufgerollt wurde. Da kommt die Trauerfeier wie gerufen, und er reist schnellstens nach Vigàta, um mit Michelas Freundin zu sprechen, der einzigen Person, die er kennt und die ihm möglicherweise sagen kann, wie die Lage ist. Dann fährt er ins Hotel zurück. Und hier erreicht ihn ein Anruf von Eolo: Die Geige ist nur ein paar hunderttausend Lire wert.

Unser Held begreift, dass er betrogen wurde, dass er ganz umsonst einen Menschen getötet hat.«

»Ihr Held«, sagte Serravalle, der aussah, als hätte er sich das Gesicht gewaschen und nicht abgetrocknet, so schweißgebadet war er, »Ihr Held ist also in diese minimale Fehlerspanne von einem Prozent geraten, die er dem Maestro zugestanden hatte.«

»Wenn einer Pech im Spiel hat -«, lautete der Kommentar des Commissario.

»Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein, danke.«

Serravalle öffnete die Minibar, nahm drei Fläschchen Whisky heraus und goss sie ohne Eis in ein Glas, das er in zwei Zügen leerte.

»Das ist eine interessante Geschichte, Commissario. Sie haben mir vorgeschlagen, meine Bemerkungen am Ende zu machen, und wenn Sie erlauben, werde ich das jetzt tun. Fangen wir also an. Ihr Held wird doch wohl nicht so dumm gewesen sein, unter seinem eigenen Namen zu fliegen, oder?«

Montalbano zog die Bordkarte ein Stückchen aus der Jackentasche, gerade so weit, dass der andere sie sehen konnte.

»Nein, Commissario, die nützt Ihnen gar nichts. Vielleicht existiert eine Bordkarte, aber das heißt nichts, auch wenn der Name des Helden darauf steht, jeder kann ihn benutzen, und man muss keinen Ausweis vorlegen. Und was die Begegnung vor der Bar anbelangt - Sie sagen, sie hätte abends stattgefunden und nur ein paar Sekunden gedauert. Kommen Sie, eine solche Identifizierung wäre doch nicht haltbar.«

»Ihre Argumentation ist schlüssig«, sagte der Commissario.

»Also weiter. Ich schlage eine Variante Ihrer Erzählung vor.

Der Held vertraut die Entdeckung, die seine Freundin gemacht hat, einem Typen namens Eolo Portinari an, einem dilettantischen Kriminellen. Und Portinari, der aus eigener Initiative nach Vigàta kommt, tut all das, was Sie Ihrem Helden zuschreiben. Portinari hat das Auto gemietet und dafür einen ordentlichen Führerschein vorgelegt, Portinari hat versucht, die Geige zu verkaufen, in der sich der Maestro getäuscht hatte, und Portinari hat die Frau vergewaltigt, damit es wie ein Verbrechen aus Leidenschaft aussieht.«

»Ohne zu ejakulieren?«

»Natürlich! Anhand des Spermas hätte man leicht die DNS analysieren können.«

Montalbano hob zwei Finger, als wollte er um Erlaubnis bitten, aufs Klo gehen zu dürfen.

»Ich möchte zu Ihren Bemerkungen zweierlei sagen. Sie haben völlig Recht: Die Schuld des Helden zu beweisen wird langwierig und schwer, aber nicht unmöglich sein.

Ab sofort wird unser Held also von zwei bissigen Hunden verfolgt: von seinen Gläubigern und von der Polizei. Das Zweite ist, dass sich der Maestro nicht im Wert der Geige getäuscht hat, sie ist tatsächlich zwei Milliarden wert.«

»Aber Sie haben doch gerade -«

Serravalle begriff, dass er dabei war, sich zu verraten, und verstummte augenblicklich. Montalbano fuhr fort, als hätte er nichts gehört.

»Mein Held ist ziemlich schlau. Denken Sie nur, er ruft auch noch, nachdem er die Signora umgebracht hat, im Hotel an und verlangt sie zu sprechen. Aber über ein Detail ist er nicht im Bilde.«

»Nämlich?«

»Ach, wissen Sie, die Geschichte ist so unglaublich, dass ich sie Ihnen vielleicht lieber doch nicht erzähle.«

»Geben Sie sich einen Ruck.«

»Ich mag nicht. Na gut, aber nur um Ihnen einen Gefallen zu tun. Mein Held hat von seiner Geliebten erfahren, dass der Maestro Cataldo Barbera heißt, und viele Informationen über ihn gesammelt. Jetzt rufen Sie in der Telefonvermittlung an und lassen sich mit dem Maestro verbinden, seine Nummer steht im Telefonbuch. Sprechen Sie in meinem Namen mit ihm, und lassen Sie sich die Geschichte von ihm selbst erzählen.«

Serravalle erhob sich, nahm den Hörer ab und sagte dem Telefonisten, mit wem er sprechen wollte. Er blieb am Apparat.

»Pronto? Sind Sie Maestro Barbera?«

Sobald dieser geantwortet hatte, legte Serravalle auf.

»Ich möchte sie lieber von Ihnen hören.«

»Na gut. Signora Michela fährt spät abends mit dem Maestro in ihr Haus. Als Cataldo Barbera die Geige sieht, fällt er fast in Ohnmacht. Er spielt sie und hat keinen Zweifel mehr, es handelt sich um eine Guarnieri. Er spricht mit Michela darüber und sagt ihr, er würde sie gern von einem anerkannten Fachmann untersuchen lassen. Und er rät der Signora, das Instrument nicht in der nur selten bewohnten Villa zu lassen. Die Signora vertraut es dem Maestro an, der es mit nach Hause nimmt und ihr dafür eine seiner Geigen gibt, die sie in den Kasten legen soll. Jene Geige, die mein ahnungsloser Held sich zu stehlen beeilt. Ach ja, das habe ich ganz vergessen, mein Held entwendet auch den Beutel mit dem Schmuck und die Piaget, nachdem er die Frau getötet hat. Wie heißt es so schön? Kleinvieh macht auch Mist. Er lässt Kleider und Schuhe verschwinden, aber das tut er, um die Spuren möglichst weitgehend zu verwischen und die DNS­Analyse zu vermeiden.«

Alles hatte er erwartet, nur nicht Serravalles Reaktion. Zuerst glaubte Montalbano, der Antiquar, der in diesem Augenblick mit dem Rücken zu ihm stand und aus dem Fenster sah, würde weinen. Dann wandte Serravalle sich um, und Montalbano sah, dass er sich mühsam das Lachen verbiss. Doch es genügte ein winziger Moment, in dem sein Blick dem des Commissario begegnete, und das Gelächter brach mit voller Wucht aus ihm heraus. Serravalle lachte und weinte. Dann nahm er sich merklich zusammen und beruhigte sich.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich mit Ihnen komme.«

»Das würde ich Ihnen raten«, sagte Montalbano. »Die Leute, die Sie in Bologna erwarten, haben etwas anderes mit Ihnen vor.«

»Ich packe ein paar Sachen zusammen, dann können wir gehen.«

Montalbano sah, wie er sich über seinen Koffer beugte, der auf einer Truhe lag. Etwas in einer Bewegung Serravalles beunruhigte ihn, und er sprang auf.

»Nein!«, schrie der Commissario und war mit einem Satz bei ihm.

Zu spät. Guido Serravalle hatte sich schon den Lauf eines Revolvers in den Mund gesteckt und abgedrückt. Mühsam bezwang der Commissario seinen Brechreiz und wischte sich mit den Händen das Gesicht ab, von dem eine schleimige warme Masse troff.