Neun
Jeder Mensch, der seine Sinne beieinander hat und zumindest oberflächlich über die sizilianischen Straßenverhältnisse Bescheid weiß, würde, um von Vigàta nach Calapiano zu kommen, zuerst die Schnellstraße nach Catania nehmen, anschließend in die Straße abbiegen, die landeinwärts zu dem elfhundertzwanzig Meter hoch gelegenen Troina führt, dann nach Gagliano wieder auf sechshunderteinundfünfzig Meter hinunterfahren, und zwar auf einer Art Feldweg, der seinen ersten und letzten Asphaltbelag fünfzig Jahre vorher, in den Anfangszeiten der regionalen Autonomie, gesehen hat, und Calapiano schließlich über eine Provinciale erreichen, die sich eindeutig weigerte, für eine solche gehalten zu werden, denn ihr ureigenstes Bestreben bestand darin, wieder zu ihrem früheren Zustand zurückzufinden und wie nach einem Erdbeben auszusehen. Doch damit nicht genug. Der Bauernhof von Mimi Augellos Schwester und ihrem Mann lag vier Kilometer außerhalb des Dorfes, und um dorthin zu gelangen, musste man sich in Serpentinen auf einem Schotterstreifen vorwärts bewegen, wo es sich sogar die Ziegen zweimal überlegten, ob sie auch nur einen ihrer vier Hufe daraufsetzen sollten. Das war sozusagen die beste Strecke, es war die Strecke, die Mimi Augello immer fuhr und die erst im letzten Abschnitt wirklich heikel und beschwerlich war.
Montalbano wählte diese Route natürlich nicht, sondern beschloss, die Abkürzung quer über die Insel zu nehmen, sodass er schon von den ersten Kilometern an auf winzigen Sträßchen fuhr, neben denen die wenigen übrig gebliebenen Bauern ihre Arbeit unterbrachen, um verwundert diesem verwegenen Auto hinterherzuschauen. Das würden sie zu Hause aber ihren Kindern erzählen:
»U sapìti stamatina? Un' automobili passò! Wisst ihr was? Heute Morgen ist ein Automobil vorbeigekommen!«
Aber das war das Sizilien, das der Commissario liebte, das rauhe, mit spärlichem Grün, das Sizilien, in dem es unmöglich schien (und war) zu überleben und wo man noch immer, wenn auch immer seltener, jemanden mit Gamaschen, Schirmmütze und Gewehr über der Schulter antraf, der, zwei Finger am Schild, vom Muli aus grüßte.
Der Himmel war wolkenlos und klar und machte kein Hehl aus seiner Absicht, selbiges bis zum Abend auch zu bleiben; es war fast heiß. Trotz geöffneter Seitenfenster staute sich im Inneren des Autos ein köstlicher Duft, der den Paketen und Päckchen entströmte, unter denen die Rückbank buchstäblich verschwand. Vor der Abreise war Montalbano noch zum Café Albanese gefahren, wo das beste Gebäck von ganz Vigàta hergestellt wurde, und hatte zwanzig frische cannola, zehn Kilo tetù, taralli, viscotti regina, mostazzoli aus Palermo, dolci di riposto und frutti di martorana und als Krönung eine knallbunte, fünf Kilo schwere cassata gekauft.
Als er ankam, war Mittag schon vorbei, er schätzte, dass er über vier Stunden gebraucht hatte. Das große Bauernhaus schien leer zu sein, nur der rauchende Schornstein verriet, dass jemand da war. Er hupte, und kurz darauf erschien Mimis Schwester Franca in der Tür. Sie war eine blonde Sizilianerin, hatte die vierzig schon überschritten und war kräftig und hochgewachsen: Sie sah das Auto an, das sie nicht kannte, und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Ich bin's, Montalbano«, sagte der Commissario, als er die Wagentür öffnete und ausstieg.
Mit einem breiten Lächeln im Gesicht lief Franca ihm entgegen und umarmte ihn.
»Und Mimi?«
»Er konnte im letzten Augenblick nicht kommen. Es tut ihm wirklich Leid.«
Franca sah ihn an. Montalbano konnte Menschen, die er schätzte, nicht anschwindeln, er verhaspelte sich, wurde rot, wandte den Blick ab.
»Ich rufe Mimi an«, sagte Franca entschieden und ging ins Haus. Irgendwie schaffte Montalbano es, sich die Pakete und die Päckchen aufzuladen, und nach einer Weile folgte er ihr.
Franca legte gerade den Hörer auf.
»Er hat noch Kopfschmerzen.«
»Bist du jetzt beruhigt? Glaub mir, es war nicht der Rede wert«, sagte der Commissario und lud Pakete und Päckchen auf dem Tisch ab.
»Was ist denn das?«, fragte Franca. »Willst du hier eine Pasticceria einrichten?«
Sie stellte die süßen Sachen in den Kühlschrank.
»Wie geht's dir, Salvo?«
»Gut. Und euch?«
»Allen gut, ringraziando u Signuri. Und Francois erst! Er ist in die Höhe geschossen, ganz schön groß ist er geworden.«
»Wo sind sie?«
»Draußen, auf dem Feld. Aber wenn die Glocke läutet, kommen sie alle zum Essen heim. Bleibst du über Nacht? Ich hab dir ein Zimmer zurechtgemacht.«
»Vielen Dank, Franca, aber du weißt doch, dass ich nicht kann. Ich fahre spätestens um fünf wieder ab. Ich bin ja nicht dein Bruder, der wie ein Irrer über diese Straßen rast.«
»Los, geh dich schnell waschen.«
Eine Viertelstunde später kam er erfrischt zurück, Franca deckte gerade für etwa zehn Personen den Tisch. Der Commissario dachte, das sei vielleicht der richtige Moment.
»Mimi hat gesagt, dass du mit mir reden willst.«
»Später, später«, sagte Franca schnell. »Hast du Hunger?«
» Beh, sì.«
»Magst du ein bisschen Weizenbrot? Ich habe es erst vor einer Stunde aus dem Ofen geholt. Soll ich es dir zurechtmachen?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, schnitt sie zwei Scheiben von einem Brotlaib ab, tat Olivenöl, Salz, schwarzen Pfeffer und pecorino darauf, legte die beiden Scheiben aufeinander und reichte sie ihm.
Montalbano ging hinaus, setzte sich auf eine Bank neben der Tür und fühlte, wie er beim ersten Bissen vierzig Jahre jünger wurde, er war wieder ein kleiner Junge, so hatte ihm auch seine Großmutter das Brot immer zurechtgemacht.
Man musste es unter dieser Sonne essen, durfte dabei an nichts denken und nur genießen, dass man eins war mit dem Körper, mit der Erde, mit dem Duft des Grases. Kurz darauf hörte er Geschrei und sah drei Kinder kommen, die Fangen spielten und sich dabei schubsten und gegenseitig ein Bein stellten. Es waren der neunjährige Giuseppe, sein Bruder Domenico, der nach seinem Onkel Mimi hieß und genauso alt war wie Francois, und Francois selbst.
Der Commissario staunte, als er ihn sah: Er war der größte von allen geworden, der lebhafteste und frechste. Wie, zum Teufel, konnte er sich in den knapp zwei Monaten, die er ihn nicht gesehen hatte, dermaßen verändert haben? Er lief ihm mit offenen Armen entgegen. Francois erkannte ihn und blieb wie angewurzelt stehen, während seine Spielkameraden zum Haus gingen. Montalbano kniete sich hin, die Arme immer noch ausgebreitet.
»Ciao, Francois.«
Der Junge ging hastig weiter und wich ihm aus, indem er einen Bogen um ihn machte.
»Ciao«, sagte er.
Der Commissario sah ihn im Haus verschwinden. Was war denn los? Warum hatte er in den Augen des Kindes keine Freude gesehen? Er tröstete sich damit, dass es sich vielleicht um einen kindlichen Groll handelte, wahrscheinlich hatte Francois sich von ihm vernachlässigt gefühlt.
Die Plätze an den beiden Tischenden waren für den Commissario und Francas Mann Aldo Gagliardo bestimmt, der sehr wortkarg war und seinem Namen alle Ehre machte, weil er wirklich von kräftiger Statur war. Rechts saß Franca, dann kamen die drei Kinder, Francois war am weitesten entfernt, er saß neben Aldo. Links hatten drei Jungen um die zwanzig Platz genommen, Mario, Giacomo und Ernst. Die beiden Ersteren waren Studenten, die sich mit Feldarbeit ihr Brot verdienten, der dritte, ein Deutscher auf Reisen, erzählte Montalbano, er hoffe, noch ein Vierteljahr bleiben zu können. Das Mittagessen, pasta col sugo di sasizza und als zweiten Gang sasizza alla brace, ging ziemlich schnell vonstatten, Aldo und seine drei Gehilfen wollten bald wieder an ihre Arbeit. Alle stürzten sich auf die süßen Sachen, die der Commissario mitgebracht hatte. Dann standen sie auf ein Zeichen Aldos hin auf und verließen das Haus.
»Ich mach dir noch einen Kaffee«, sagte Franca. Montalbano war nervös, er hatte gesehen, wie Aldo, bevor er hinausging, mit seiner Frau einen flüchtigen Blick des Einverständnisses gewechselt hatte. Franca servierte dem Commissario den Kaffee und setzte sich vor ihn hin.
»Es ist eine ernste Sache«, schickte sie voraus.
In diesem Augenblick kam Francois herein, entschlossen, die Hände an der Hosennaht und zu Fäusten geballt. Er blieb vor Montalbano stehen, sah ihn streng und fest an und sagte mit zitternder Stimme:
»Du bringst mich nicht von meinen Brüdern weg.«
Er wandte sich um und stürzte hinaus. Das war ein schwerer Schlag für Montalbano, sein Mund war wie ausgetrocknet. Er sagte das Erste, was ihm durch den Kopf ging, und das war leider Schwachsinn:
»Wie gut er Italienisch gelernt hat!«
»Was ich dir sagen wollte, hat der Kleine schon gesagt«, sagte Franca. »Und wir beide, ich und Aldo, haben wirklich nichts anderes getan, als von Livia und dir zu reden, wie gut es ihm bei euch gehen wird und wie sehr ihr ihn lieb habt und immer lieb haben werdet. Es war nichts zu machen. Vor einem Monat ist ihm das plötzlich in den Sinn gekommen, mitten in der Nacht. Ich habe geschlafen, und dann habe ich gemerkt, wie mich jemand am Arm berührt. Es war Francois. >Bist du krank?< >Nein.< >Was ist denn dann?< >Ich hab Angst.< >Wovor denn?< >Dass Salvo kommt und mich holt.<
Manchmal fällt ihm das mitten im Spiel oder beim Essen ein, und dann wird er ganz düster, sogar richtig böse.«
Franca redete weiter, aber Montalbano hörte sie nicht mehr.
Er hing in Gedanken einer Erinnerung nach, als er genauso alt wie Francois gewesen war, sogar ein Jahr jünger. Seine Großmutter lag im Sterben, seine Mutter war schwer krank geworden (aber das alles verstand er erst später), und um sich besser um sie kümmern zu können, hatte ihn der Vater zu einer seiner Schwestern gebracht, Carmela, die mit dem Besitzer eines billigen, schlampigen Ladens, einem sanften und freundlichen Mann namens Pippo Sciortino, verheiratet war. Sie hatten keine Kinder. Nach einiger Zeit kam sein Vater, um ihn wieder abzuholen, mit schwarzer Krawatte und einem ebenfalls schwarzen breiten Band am linken Arm, das wusste er noch ganz genau. Aber er hatte sich geweigert.
»Ich geh nicht mit! Ich bleibe bei Carmela und Pippo. Ich heiße Sciortino.«
Er sah noch das traurige Gesicht des Vaters, die verlegenen Gesichter von Pippo und Carmela vor sich.
»… weil Kinder keine Pakete sind, die man heute hier und morgen da abstellt«, sagte Franca abschließend.
Auf dem Rückweg fuhr er die bequemere Straße und war schon um neun Uhr abends in Vigàta. Er wollte zu Mimi Augello.
»Du siehst schon besser aus.«
»Heute Nachmittag konnte ich wenigstens schlafen. Franca kann man nichts vormachen, stimmt's? Sie hat mich ganz besorgt angerufen.«
»Sie ist eine sehr, sehr kluge Frau.«
»Worüber wollte sie mit dir sprechen?«
»Über Francois. Es gibt ein Problem.«
»Hat der Kleine sie alle lieb gewonnen?«
»Woher weißt du das? Hat deine Schwester dir das gesagt?«
»Mit mir hat sie nicht geredet. Aber ist das so schwer zu verstehen? Ich hab mir schon gedacht, dass es so enden würde.«
Montalbano setzte ein finsteres Gesicht auf.
»Ich verstehe ja, dass dir das wehtut«, sagte Mimi, »aber wer sagt denn, dass es nicht vielleicht ein Glück ist?«
»Für Francois?«
»Auch. Aber vor allem für dich. Du bist nicht für das Vatersein geschaffen, auch nicht als Vater eines Adoptivkindes.«
Gleich hinter der Brücke sah er, dass die Lichter in Annas Haus noch an waren. Er hielt am Straßenrand und stieg aus.
»Chi è?«
»Salvo.«
Anna öffnete ihm die Tür und führte ihn ins Esszimmer.
Sie hatte gerade einen Film gesehen, machte den Fernseher aber sofort aus.
»Magst du einen Schluck Whisky?«
»Ja. Pur.«
»Bist du traurig?«
»Ein bisschen.«
»Das ist nicht leicht zu verdauen.«
» Eh, no.«
Er dachte einen Augenblick über Annas Worte nach: Es ist nicht leicht zu verdauen. Aber woher wusste sie von Francois?
»Entschuldige, Anna, aber woher weißt du das?«
»Es kam um acht in den Nachrichten.«
Wovon redete sie eigentlich?
»In welchem Sender?«
»>Televigàta<. Sie haben gesagt, dass der Questore die Ermittlungen im Mordfall Licalzi dem Chef der Mordkommission übertragen hat.«
Montalbano musste lachen.
»Das ist mir doch egal! Ich meinte etwas ganz anderes!«
»Dann sag, was dich bedrückt.«
»Lieber ein andermal.«
»Hast du Michelas Mann getroffen?«
»Ja, gestern Nachmittag.«
»Hat er dir von seiner platonischen Ehe erzählt?«
»Wusstest du das?«
»Ja, sie hat es mir gesagt. Weißt du, Michela hing sehr an ihm. Wenn sie sich unter diesen Bedingungen einen Geliebten genommen hat, war sie ihm nicht wirklich untreu.
Der Dottore wusste Bescheid.«
In einem anderen Zimmer klingelte das Telefon, Anna ging dran und kam aufgeregt zurück.
»Eine Freundin hat angerufen. Anscheinend ist dieser Chef der Mordkommission vor einer halben Stunde bei Ingegnere Di Blasi erschienen und hat ihn nach Montelusa in die Questura mitgenommen. Was wollen sie von ihm?«
»Ganz einfach - wissen, wo Maurizio steckt.«
»Aber dann verdächtigen sie ihn ja schon!«
»Das liegt doch nahe, Anna. Und Dottor Ernesto Panzacchi, der Chef der Mordkommission, ist ein Mann nahe liegender Schlussfolgerungen. Also, danke für den Whisky und gute Nacht.«
»Was, gehst du schon?«
»Entschuldige, aber ich bin müde. Wir sehen uns morgen.« Plötzlich hatte ihn schlechte Laune gepackt, zäh und schwer.
Mit einem Fußtritt stieß er die Haustür auf und rannte gleich ans Telefon.
»Salvo, ma che minchia! Was soll denn dieser Scheiß?! Bist ja ein netter Freund!«
Er erkannte die Stimme von Nicolò Zito, dem Journalisten von »Retelibera«, mit dem ihn eine aufrichtige Freundschaft verband.
»Ist es wahr, dass du den Fall nicht mehr hast? Ich habe es nicht berichtet, weil ich erst eine Bestätigung von dir wollte. Aber wenn es stimmt, warum hast du mir dann nichts gesagt?«
»Tut mir Leid, Nicolò, das ist gestern spät abends passiert.
Und heute Morgen bin ich schon früh weg, ich habe Francois besucht.«
»Soll ich im Fernsehen was bringen?«
»Nein, danke. Ah ja, als Entschädigung erzähl ich dir was, was du bestimmt noch nicht weißt. Dottor Panzacchi hat den Bauingenieur Aurelio Di Blasi aus Vigàta zur Vernehmung in die Questura mitgenommen.«
»Hat er sie umgebracht?«
»Nein, sie verdächtigen seinen Sohn Maurizio, er ist in derselben Nacht verschwunden, in der die Licalzi ermordet wurde. Er, der Junge, war total in sie verknallt. Ach ja, noch was. Der Ehemann des Opfers ist in Montelusa, im Hotel Jolly.«
»Salvo, wenn sie dich bei der Polizei rausschmeißen, stell ich dich ein. Schau dir die Spätnachrichten an. Und danke, ja? Tausend Dank.«
Montalbanos schlechte Laune verschwand, noch während er den Hörer auflegte.
Das hatte Dottor Ernesto Panzacchi jetzt davon: Um Mitternacht würde alle Welt über sein Tun und Lassen Bescheid wissen.
Er hatte überhaupt keine Lust zu essen. Er zog sich aus und duschte ausgiebig. Er zog frische Unterwäsche an. Jetzt kam ein schwieriges Kapitel.
»Livia.«
»Ach, Salvo, ich warte schon so lange auf deinen Anruf!
Wie geht es Francois?«
»Sehr gut, er ist groß geworden.«
»Hast du gesehen, was er für Fortschritte gemacht hat? Er spricht jede Woche, wenn ich ihn anrufe, besser Italienisch. Er kann sich gut verständlich machen, nicht wahr?«
»Zu gut.«
Livia achtete nicht darauf, eine andere Frage lag ihr schon auf den Lippen.
»Was wollte Franca?«
»Sie wollte mit mir über Francois sprechen.«
»Ist er zu lebhaft? Gehorcht er nicht?«
»Livia, es geht um etwas anderes. Vielleicht war es ein Fehler, dass wir ihn so lange bei Franca und ihrem Mann gelassen haben. Der Kleine hat sie lieb gewonnen, er hat gesagt, dass er nicht mehr von ihnen weg will.«
»Hat er dir das gesagt?«
»Ja, spontan.«
»Spontan! Bist du blöd!«
»Warum?«
»Weil die ihm gesagt haben, dass er so mit dir reden soll! Sie wollen ihn uns wegnehmen! Sie brauchen eine kostenlose Arbeitskraft für ihren Hof, diese Schufte!«
»Livia, das ist doch absurd.«
»Nein, es ist so, wie ich es sage! Sie wollen ihn behalten! Und du bist froh, dass du ihn dort lassen kannst!«
»Livia, jetzt sei doch mal vernünftig.«
»Ich bin vernünftig, mein Lieber, sehr vernünftig! Und ich werde es euch schon noch zeigen, dir und diesen beiden Kinderdieben!«
Sie legte auf. Ohne sich etwas überzuziehen, setzte sich der Commissario in die Veranda, steckte sich eine Zigarette an und ließ der Melancholie, die er schon seit Stunden spürte, endlich freien Lauf. Francois war längst verloren da konnte Franca die Entscheidung noch so sehr Livia und ihm überlassen. Was Mimis Schwester gesagt hatte, war die nackte und grausame Wahrheit: Kinder sind keine Pakete, die man heute hier und morgen da abstellt. Man kann ihre Gefühle nicht einfach außer Acht lassen. Avvocato Rapisarda, der Anwalt, der sich in seinem Namen um das Adoptionsverfahren kümmerte, hatte gesagt, es werde sich mindestens noch sechs weitere Monate hinziehen.
Und Francois hätte reichlich Zeit, um in der Familie Gagliardo tiefe Wurzeln zu schlagen. Livia hatte Hirngespinste, wenn sie meinte, Franca habe ihm die Worte, die er sagen sollte, in den Mund gelegt. Er, Montalbano, hatte Francis' Blick gesehen, als er ihm entgegenging und ihn umarmen wollte. Jetzt erinnerte er sich genau an diese Augen: Angst und kindlicher Hass waren darin. Er konnte die Gefühle des Jungen ja auch verstehen: Er hatte schon seine Mutter verloren und fürchtete, nun auch seine neue Familie zu verlieren. Im Grunde genommen waren Livia und er ja nur ganz kurz mit dem Kind zusammen gewesen, ihr Bild war bald verblasst. Montalbano fühlte, dass er es nie und nimmer übers Herz bringen würde, Francois ein weiteres Trauma zuzufügen. Er hatte kein Recht dazu. Und Livia auch nicht. Der Junge war für immer verloren. Er selbst, Montalbano, wäre einverstanden, wenn er bei Aldo und Franca bliebe, die ihn gern adoptieren würden. Jetzt war ihm kalt, er stand auf und ging hinein.
»Dottore, haben Sie geschlafen? Ich bin's, Fazio. Ich wollte Ihnen sagen, dass wir heute Nachmittag eine Sitzung hatten. Wir haben dem Questore einen Protestbrief geschrieben. Alle haben ihn unterschrieben, Dottor Augello als Erster. Ich lese ihn vor: >Die Unterzeichneten, Mitarbeiter des Commissariato di Pubblica Sicurezza in Vigàta, missbilligen …<«
»Warte mal, habt ihr ihn schon abgeschickt?«
»Ja, Dottore.«
»Was seid ihr doch für Hornochsen! Ihr hättet mir ja was sagen können, bevor ihr ihn abschickt!«
»Warum? Vorher oder nachher ist doch egal, oder?«
»Weil ich euch überredet hätte, einen solchen Scheiß nicht zu machen!«
Er unterbrach die Verbindung und war wirklich stocksauer.
Es dauerte lange, bis er einschlafen konnte. Und eine Stunde nachdem er eingeschlafen war, wachte er wieder auf, schaltete das Licht ein und setzte sich halb im Bett auf. Eine Art Blitz hatte ihn dazu gebracht, die Augen zu öffnen. Bei dem Lokaltermin in der Villa mit Dottor Licalzi war etwas gewesen, ein Wort oder ein Ton - irgendein Missklang. Was war es? Er raunzte sich selbst an: »Das kann dir doch scheißegal sein! Der Fall gehört dir nicht mehr!«
Er löschte das Licht und legte sich wieder hin.
»Wie Francois«, fügte er bitter hinzu.