Zehn
Am nächsten Morgen war das Personal im Kommissariat fast komplett: Augello, Fazio, Germana, Gallo, Galluzzo, Giallombardo, Tortorella und Grasso. Nur Catarella fehlte, allerdings entschuldigt, weil er zur ersten Lektion des Computerkurses in Montelusa war. Alle zogen lange Gesichter, wie drei Tage Regenwetter, mieden Montalbano, als wäre er ansteckend, und sahen ihm möglichst nicht in die Augen.
Ihnen war doppelte Schmach zugefügt worden, erstens durch den Questore, der ihrem Chef den Fall nur entzogen hatte, weil er ihm eins auswischen wollte, zweitens durch ihren Chef selbst, der so böse auf ihren Protestbrief an den Questore reagiert hatte. Er hatte es ihnen nicht nur nicht gedankt - so war er halt, der Commissario -, sondern hatte sie auch noch als Hornochsen betitelt, wie Fazio erzählt hatte.
Es waren also alle da, aber alle langweilten sich tödlich, denn, abgesehen vom Mordfall Licalzi, war seit zwei Monaten nichts Anständiges mehr passiert. Zum Beispiel hatten die Familien Cuffaro und Sinagra, die beiden Mafiasippen, die sich gegenseitig das Terrain streitig machten und in schöner Regelmäßigkeit eine Leiche pro Monat lieferten (das eine Mal einen Cuffaro und das nächste Mal einen Sinagra), seit einiger Zeit offenbar die Begeisterung verloren.
Und zwar seit Giosuè Cuffaro verhaftet worden war, seine Verbrechen blitzschnell bereute und Peppuccio Sinagra in den Knast brachte, der verhaftet wurde, seine Verbrechen blitzschnell bereute und dafür sorgte, dass Antonio Smecca, ein Cousin der Cuffaros, hinter Schloss und Riegel kam, der seine Verbrechen blitzschnell bereute und Cicco Lo Carmine von den Sinagras Scherereien machte, der - Die einzige Knallerei, die in Vigàta zu hören gewesen war, lag einen Monat zurück und fand statt, als beim Fest für San Gerlando ein Feuerwerk veranstaltet wurde.
»Die Bosse sind alle im Gefängnis!«, hatte Questore Bonetti-Alderighi während einer überfüllten Pressekonferenz triumphierend verkündet.
Und die Fünf-Sterne-Bosse vertreten sie hervorragend, dachte der Commissario.
An jenem Vormittag löste Grasso, der Catarellas Posten übernommen hatte, Kreuzworträtsel, Gallo und Galluzzo spielten scopa, Giallombardo und Tortorella eine Partie Dame, die anderen lasen oder starrten die Wand an. Kurzum - alle arbeiteten wie die Irren.
Auf seinem Tisch fand Montalbano einen Berg zu unterschreibender Schriftstücke und zu erledigender Akten vor.
Eine subtile Rache seiner Leute?
Die unerwartete Bombe explodierte um eins, als der Commissario, dem der rechte Arm schon lahmte, überlegte, ob er zum Essen gehen sollte.
»Dottore, da ist eine Signora, Anna Tropeano, die Sie sprechen will. Sie macht einen ziemlich aufgeregten Eindruck«, sagte Grasso, der an diesem Vormittag Telefondienst hatte.
»Salvo! Dio mio! In den Schlagzeilen der Nachrichten haben sie gemeldet, dass Maurizio umgebracht wurde!«
Im Kommissariat gab es keinen Fernseher, Montalbano schoss aus seinem Zimmer, um in die Bar Italia hinüberzulaufen.
Fazio fing ihn ab.
»Dottore, was ist denn los?«
»Maurizio Di Blasi ist umgebracht worden!«
Gelsomino, der Barbesitzer, und zwei Kunden starrten mit offenem Mund auf den Fernseher, in dem ein Reporter von »Televigata« über den Vorfall sprach.
»… und während dieser langen nächtlichen Vernehmung von Ingegnere Aurelio Di Blasi gelangte Dottor Ernesto Panzacchi, der Chef der Mordkommission, zu der Annahme, dass sich dessen Sohn, der dringend des Mordes an Michela Licalzi verdächtigt wurde, in Raffadali im Landhaus der Familie Di Blasi versteckt haben könnte. Der Ingegnere behauptete jedoch, sein Sohn habe sich nicht dorthin geflüchtet, denn er selbst habe ihn tags zuvor dort gesucht. Gegen zehn Uhr heute Vormittag fuhr Dottor Panzacchi mit sechs Beamten nach Raffadali und begann das ziemlich große Haus gründlich zu durchsuchen. Plötzlich sah einer der Beamten, wie ein Mann über den Abhang eines kahlen Hügels dicht hinter dem Haus rannte.
Dottor Panzacchi und seine Leute machten sich an die Verfolgung und entdeckten eine Höhle, in der Di Blasi sich versteckt hatte. Dottor Panzacchi brachte seine Beamten in Stellung und forderte den Mann auf, mit erhobenen Händen herauszukommen. Plötzlich trat Di Blasi vor, wobei er: >Bestraft mich! Bestraft mich!< schrie und drohend eine Waffe schwang. Einer der Beamten feuerte auf der Stelle, und der junge Maurizio Di Blasi stürzte, von einer Garbe in die Brust getroffen, zu Boden. Der geradezu dostojewskische beschwörende Ruf >Bestraft mich!< ist mehr als ein Geständnis. Ingegnere Aurelio Di Blasi wurde aufgefordert, sich einen Anwalt zu nehmen. Auf ihm lastet der Verdacht der Beihilfe zur Flucht des Sohnes, die ein so tragisches Ende genommen hat.«
Als ein Foto von dem Pferdegesicht des armen Jungen erschien, verließ Montalbano die Bar und ging ins Kommissariat zurück.
»Wenn dir der Questore nicht den Fall entzogen hätte, wäre der arme Kerl bestimmt noch am Leben!«, sagte Mimi wütend.
Montalbano gab keine Antwort, ging in sein Büro und schloss die Tür. Im Bericht des Journalisten steckte ein ganz gewaltiger Widerspruch. Wenn Maurizio Di Blasi bestraft werden wollte, wenn er diese Strafe so sehnlich wünschte, wozu hatte er dann eine Waffe in der Hand, mit der er die Polizisten bedrohte? Ein bewaffneter Mann, der die Pistole auf diejenigen richtet, die ihn verhaften wollen, wünscht keine Bestrafung, sondern versucht, sich der Verhaftung zu entziehen und zu fliehen.
»Ich bin's, Fazio. Kann ich reinkommen, Dottore?«
Erstaunt sah der Commissario, dass mit Fazio auch Augello, Germana, Gallo, Galluzzo, Giallombardo, Tortorella und sogar Grasso eintraten.
»Fazio hat mit einem Freund geredet, der bei der Mordkommission von Montelusa arbeitet«, sagte Mimi Augello und machte Fazio ein Zeichen, er solle selbst erzählen.
»Wissen Sie, was das für eine Waffe war, mit der der Junge Dottor Panzacchi und seine Leute bedroht hat?«
»Nein.«
»Ein Schuh. Sein rechter Schuh. Bevor er gestürzt ist, hat er ihn noch auf Panzacchi werfen können.«
»Anna? Hier ist Montalbano. Ich hab's gehört.«
»Er kann es nicht gewesen sein, Salvo! Ich weiß es! Das ist alles ein tragischer Irrtum! Du musst was tun!«
»Ich rufe nicht deshalb an. Kennst du Signora Di Blasi?«
»Ja. Wir haben uns ab und zu unterhalten.«
»Fahr gleich zu ihr. Ich mache mir Sorgen. Ich möchte nicht, dass sie jetzt allein ist, wo ihr Mann im Gefängnis sitzt und ihr Sohn gerade umgebracht wurde.«
»Ich fahre sofort hin.«
»Dottore, darf ich Ihnen was sagen? Mein Freund von der Mordkommission in Montelusa hat noch mal angerufen.«
»Und gesagt, dass die Geschichte mit dem Schuh nur ein Scherz war.«
»Genau. Es stimmt also.«
»Hör zu, ich geh jetzt nach Haus. Ich glaube, ich bleibe heute Nachmittag in Marinella. Wenn ihr was braucht, könnt ihr mich dort erreichen.«
»Dottore, Sie müssen etwas tun!«
»Jetzt reicht's mir aber, verdammt noch mal!«
Als er die Brücke hinter sich gelassen hatte, fuhr er möglichst schnell geradeaus weiter, denn er hatte keine Lust, auch von Anna noch zu hören, dass er unbedingt etwas unternehmen müsste.
Mit welchem Recht? Hier bin ich, der Ritter ohne Furcht und Tadel! Hier bin ich, Robin Hood, Zorro und der Rächer der Nacht, alle in einer Person: Salvo Montalbano! Der Appetit von vorhin war ihm vergangen, er füllte ein Tellerchen mit grünen und schwarzen Oliven, schnitt sich eine Scheibe Brot ab und wählte, während er knabberte, Zitos Nummer.
»Nicolo? Hier ist Montalbano. Weißt du, ob der Questore eine Pressekonferenz veranstalten will?«
»Sie ist für morgen Nachmittag um fünf angesetzt.«
»Gehst du hin?«
»Natürlich.«
»Du musst mir einen Gefallen tun. Frag Panzacchi, was das für eine Waffe war, mit der Maurizio Di Blasi sie bedroht hat. Und wenn er es dir gesagt hat, fragst du ihn, ob er sie dir zeigen kann.«
»Was steckt denn dahinter?«
»Das sage ich dir zu gegebener Zeit.«
»Salvo, darf ich was sagen? Wir alle hier sind überzeugt, dass Maurizio Di Blasi noch am Leben wäre, wenn du die Ermittlungen weiter geleitet hättest.« Erst Mimi, jetzt auch noch Nicolò. »Verpisst euch doch alle!«
»Danke, ich wollte gerade aufs Klo gehen. Denk dran, dass wir die Pressekonferenz live übertragen.«
Er setzte sich in die kleine Veranda, das Buch von Danevi in der Hand. Aber er konnte sich nicht konzentrieren. Ein Gedanke flirrte ihm durch den Kopf, derselbe, den er schon in der letzten Nacht gehabt hatte: Was war das Seltsame, Unstimmige nur gewesen, das er beim Lokaltermin in der Villa mit dem Dottore gesehen oder gehört hatte?
Die Pressekonferenz begann Schlag fünf, Bonetti-Alderighi war ein Pünktlichkeitsfanatiker (»sie ist die Höflichkeit der Könige«, sagte er immer wieder, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu bot, sein Quäntchen Adel war ihm anscheinend zu Kopf gestiegen, und er sah sich mit gekröntem Haupt).
Zu dritt saßen sie hinter einem kleinen Tisch mit grünem Tischtuch, der Questore in der Mitte, zu seiner Rechten Panzacchi, zu seiner Linken Dottor Lattes. Hinter ihnen, stehend, die sechs Beamten, die an der Aktion teilgenommen hatten. Während die Beamten ernst und abgespannt aussahen, drückten die Gesichter der drei Chefs maßvolle Zufriedenheit aus, maßvoll deshalb, weil ein Töter im Spiel war.
Der Questore ergriff als Erster das Wort; er beschränkte sich darauf, Ernesto Panzacchi zu loben (»ein Mann, dem eine glänzende Zukunft bestimmt ist«), sich selbst bedachte er mit ein paar anerkennenden Worten für seine Entscheidung, die Ermittlungen dem Chef der Mordkommission übergeben zu haben, der »den Fall in vierundzwanzig Stunden lösen konnte, während andere Leute mit ihren antiquierten Methoden wer weiß wie lange dazu gebraucht hätten«.
Montalbano saß vor dem Fernseher und sah zu, ohne zu reagieren, nicht einmal im Geiste.
Dann ging das Wort an Ernesto Panzacchi, der exakt wiederholte, was der Commissario schon in dem Bericht von »Televigata« gehört hatte. Über Details ließ er sich nicht aus, anscheinend wollte er schnell weg.
»Hat noch jemand Fragen?«, fragte Dottor Lattes.
Einer hob den Finger.
»Ist es sicher, dass der Junge >bestraft mich< geschrien hat?«
»Absolut sicher. Zwei Mal. Alle haben es gehört.«
Er wandte sich um und sah die sechs Polizisten an, die zum Zeichen der Bestätigung den Kopf senkten: Sie wirkten wie Marionetten, die an Fäden bewegt wurden.
»Und in welchem Ton!«, setzte Panzacchi noch eins drauf.
»Ganz verzweifelt.«
»Was wird dem Vater vorgeworfen?«, fragte ein zweiter Journalist.
»Begünstigung«, sagte der Questore.
»Und vielleicht auch noch etwas anderes«, fügte Panzacchi mit geheimnisvoller Miene hinzu.
»Beihilfe zum Mord?«, wagte ein dritter zu fragen.
»Das habe ich nicht gesagt«, sagte Panzacchi barsch.
Schließlich meldete sich Nicolò Zito.
»Mit welcher Waffe hat Maurizio Di Blasi Sie bedroht?«
Die Journalisten, die nicht wussten, was geschehen war, merkten natürlich nichts, aber der Commissario sah deutlich, wie die sechs Beamten erstarrten und dem Chef der Mordkommission das schmale Lächeln aus dem Gesicht verschwand. Nur der Questore und der Chef des Stabes zeigten keine besondere Reaktion.
»Mit einer Handgranate«, sagte Panzacchi.
»Und wo soll er die hergehabt haben?«, hakte Zito nach.
»Nun, sie ist ein Überbleibsel aus dem Krieg, allerdings funktionstüchtig. Wir können uns vorstellen, wo er sie möglicherweise gefunden hat, das muss jedoch noch geprüft werden.«
»Können Sie sie uns zeigen?«
»Sie ist bei der Spurensicherung.«
Damit war die Pressekonferenz zu Ende.
Um halb sieben rief Montalbano Livia an. Das Telefon läutete lange, ohne dass abgenommen wurde. Er machte sich allmählich Sorgen. War sie vielleicht krank? Er rief Giovanna an, Livias Freundin und Arbeitskollegin, deren Nummer er hatte. Giovanna erzählte ihm, Livia sei wie immer zur Arbeit gekommen, aber sie, Giovanna, fand, sie sei sehr blass und nervös gewesen. Livia hatte ihr auch gesagt, sie habe den Telefonstecker herausgezogen, weil sie nicht gestört werden wolle.
»Wie geht's denn mit euch beiden?«, fragte Giovanna.
»Ich würde sagen, nicht allzu gut«, antwortete Montalbano diplomatisch.
Was der Commissario auch tat, ob er ein Buch las oder, eine Zigarette rauchend, aufs Meer hinausschaute, unversehens tauchte, deutlich und hartnäckig, immer wieder die Frage auf: Was hatte er in der Villa gesehen oder gehört, das nicht stimmte?
»Pronto, Salvo? Hier ist Anna. Ich komme gerade von Signora Di Blasi. Gut, dass du mich hingeschickt hast. Du verstehst, Verwandte und Freunde machen natürlich einen großen Bogen um eine Familie, in der der Vater verhaftet und der Sohn ein Mörder ist. Diese Mistkerle!«
»Wie geht's der Signora?«
»Wie soll's ihr schon gehen? Sie hatte einen Nervenzusammenbruch, ich musste den Arzt rufen. Jetzt fühlt sie sich besser, auch weil der Anwalt, den ihr Mann sich genommen hat, sie angerufen und gesagt hat, der Ingegnere würde bald entlassen.«
»Werfen sie ihm keine Beihilfe vor?«
»Das weiß ich nicht. Anklagen werden sie ihn wohl schon, aber sie lassen ihn erst mal raus. Kommst du vorbei?«
»Ich weiß nicht, ich muss mal sehen.«
»Salvo, du musst was tun. Maurizio war unschuldig, da bin ich ganz sicher, sie haben ihn ermordet.«
»Anna, das ist doch völlig aus der Luft gegriffen.«
»Pronti, Dottori? Sind Sie es wirklich selber? Hier ist Catarella. Der Mann von der toten Frau hat angerufen. Er hat gesagt, dass Sie ihn persönlich im Tscholli anrufen sollen, heute Abend gegen zehn.«
»Danke. Wie war dein erster Kurstag?«
»Beni, dottori, beni. Ich hab alles verstanden. Der Lehrer hat mir ein Kompliment gemacht. Er hat gesagt, es gibt nicht viele Leute so wie mich.«
Der geniale Einfall kam Montalbano kurz vor acht, und er verlor keine Sekunde, ihn in die Tat umzusetzen. Er stieg ins Auto und fuhr nach Montelusa.
»Nicolò ist auf Sendung«, sagte eine Sekretärin, »aber er ist gleich fertig.«
Keine fünf Minuten später kam Zito herein; er war ganz außer Atem.
»Na, bist du zufrieden? Hast du die Pressekonferenz gesehen?«
»Ja Nicolò, und ich glaube, wir haben ins Schwarze getroffen.«
»Sag mal, warum ist diese Handgranate eigentlich so wichtig?«
»Sollte man eine Handgranate unterschätzen?«
»Los, sag schon, worum es geht.«
»Ich kann noch nicht. Vielleicht kommst du bald von selbst drauf, aber das ist dann deine Sache, und ich hab dir nichts gesagt.«
»Also, was soll ich in den Nachrichten tun oder sagen? Deshalb bist du doch hier, oder? Du bist eh schon längst mein heimlicher Regisseur.«
»Wenn du es machst, schenk ich dir was.«
Er zog eines von Michelas Fotos, die ihm Dottor Licalzi gegeben hatte, aus dem Jackett und reichte es ihm.
»Du bist der einzige Journalist, der weiß, wie die Signora lebend ausgesehen hat. In der Questura von Montelusa haben sie keine Fotos: Ausweise, Führerschein, Pass, falls einer da war, waren in dem Beutel, und der Mörder hat sie mitgenommen. Du kannst es deinen Zuschauern zeigen, wenn du willst.«
Nicolò Zito verzog den Mund.
»Dann muss der Gefallen, den ich dir tun soll, ziemlich groß sein. Schieß los.«
Montalbano stand auf und ging an die Tür, um das Büro des Journalisten abzuschließen.
»Nein«, sagte Nicolò.
»Was nein?«
»Nein zu allem, worum du mich bitten willst. Wenn du die Tür abschließt, lasse ich mich auf gar nichts ein.«
»Wenn du mir hilfst, werde ich dir sämtliche Anhaltspunkte liefern, um eine Bombe auf nationaler Ebene platzen zu lassen.«
Zito antwortete nicht, er war hin und her gerissen, ein Hasenfuß mit Löwenherz.
»Was soll ich tun?«, fragte er schließlich leise.
»Du sollst sagen, dass dich zwei Zeugen angerufen haben.«
»Existieren sie?«
»Der eine ja, der andere nein.«
»Sag mir nur, was der echte Zeuge gesagt hat.«
»Beide. Entweder - oder.«
»Ist dir eigentlich klar, dass ich aus dem Journalistenverband fliege, wenn rauskommt, dass ich einen Zeugen erfunden habe?«
»Natürlich. Und in diesem Fall darfst du sagen, dass ich derjenige war, der dich dazu überredet hat. Dann schicken sie mich auch nach Hause, und wir bauen Saubohnen an.«
»Also, wir machen es so: Erst sagst du, was mit dem falschen Zeugen ist. Wenn die Sache machbar ist, erzählst du mir auch von dem echten.«
»Einverstanden. Heute Nachmittag hat dich nach der Pressekonferenz einer angerufen, der ganz nah bei der Stelle, wo sie Maurizio Di Blasi erschossen haben, auf der Jagd war. Er hat gesagt, es sei nicht so gewesen, wie von Panzacchi dargestellt. Dann hat er wieder aufgelegt, ohne seinen Namen zu nennen. Er hatte eindeutig Angst. Du erwähnst diesen Vorfall nur flüchtig und erklärst souverän, dass du ihm nicht zu viel Bedeutung beimessen willst, weil es sich ja um einen anonymen Anruf handelt, und dass es dir deine journalistische Pflicht verbietet, anonyme Unterstellungen zu verbreiten.«
»Aber gesagt habe ich es bereits.«
»Entschuldige, Nicolò, aber ist das bei euch Journalisten nicht gang und gäbe - den Stein zu werfen und die Hand zu verstecken?«
»Zu diesem Thema sage ich dir nachher noch etwas. Also, was ist jetzt mit dem echten Zeugen?«
»Er heißt Gillo Jàcono, aber du gibst nur seine Initialen an, G. J. und basta. Dieser Signore hat letzten Mittwoch kurz nach Mitternacht gesehen, wie der Twingo bei der Villa vorfuhr und Michela und ein Unbekannter ausstiegen und in aller Ruhe Richtung Haus gingen. Der Mann hatte einen Koffer dabei. Einen Koffer, kein Köfferchen.
Und jetzt ist die Frage folgende: Warum hatte Maurizio Di Blasi einen Koffer dabei, als er Signora Licalzi vergewaltigen wollte? Hatte er für den Fall, dass er das Bett schmutzig machte, Bettzeug zum Wechseln dabei? Und weiter: Haben die Leute von der Mordkommission den Koffer irgendwo gefunden? In der Villa war er jedenfalls nicht, das ist sicher.«
»Ist das alles?«
»Das ist alles.«
Nicolò klang kühl, Montalbanos Vorwurf hinsichtlich der Gepflogenheiten der Journalisten hatte anscheinend gesessen.
»Apropos journalistische Pflicht. Heute Nachmittag hat mich nach der Pressekonferenz ein Jäger angerufen, um mir zu sagen, es sei nicht so gewesen, wie man es dargestellt habe. Aber da er seinen Namen nicht nennen wollte, habe ich die Nachricht nicht gebracht.«
»Du verarschst mich.«
»Ich rufe die Sekretärin und spiele dir die Aufnahme des Gesprächs vor«, sagte der Journalist und erhob sich.
»Entschuldige, Nicolò. Ist nicht nötig.«