Vierzehn

Er kam so offensichtlich gereizt ins Büro, dass ihm seine Leute aus dem Weg gingen, damit auch ja nichts passierte.

»Il letto è una gran cosa, se non si dorme s'arriposa - das Bett ist zum Erholen da, ob ich nun schlafe oder wache«, lautete das Sprichwort, aber das Sprichwort stimmte nicht, der Commissario hatte nämlich im Bett erstens nur portionsweise geschlafen und sich zweitens beim Aufstehen wie nach einem Marathonlauf gefühlt.

Nur Fazio, der von allen das freundschaftlichste Verhältnis zu ihm hatte, wagte, eine Frage zu stellen:

»Gibt's was Neues?«

»Das kann ich dir erst heute Nachmittag sagen.« Galluzzo tauchte auf.

»Commissario, ich hab Sie gestern Abend wie eine Stecknadel gesucht.«

»Hast du im Heuhaufen auch nachgeschaut?«

Galluzzo begriff, dass lange Vorreden fehl am Platz waren.

»Commissario, nach den Nachrichten um acht hat einer ange­rufen. Er sagt, dass Signora Licalzi am Mittwoch gegen acht, höchstens Viertel nach acht, an seiner Tankstelle gehalten und voll­getankt hat. Er hat seinen Namen und seine Adresse hinterlassen.«

»Va bene, wir fahren nachher schnell vorbei.«

Er war angespannt, er konnte sich nicht auf seine Unterlagen konzentrieren und sah dauernd auf die Uhr. Und wenn Mittag vorbei war und sich von der Questura bis dahin niemand gemeldet hatte? Um halb zwölf klingelte das Telefon.

»Dottore«, sagte Grasso, »Zito ist dran.«

»Gib ihn mir.«

Im ersten Augenblick begriff er nicht, was los war. »Patazun, patazùn, patazùn, zun zun zuzù«, machte Zito. »Nicolo?«

»Fratelli d'Italia, l'Italia s'è desta …«

Zito hatte aus voller Kehle die Nationalhymne angestimmt.

»Hör auf, Nicolò, ich hab keine Lust zum Blödeln.«

»Wer blödelt denn? Ich lese dir ein Kommunique vor, das ich vor ein paar Minuten bekommen habe. Jetzt halt dich gut fest. Damit du es weißt, es wurde uns, >Televigàta< und fünf Zeitungskorrespondenten geschickt. Hör zu:

QUESTURA DI MONTELUSA. DOTTORE ERNESTO PANZACCHI HAT AUS REIN PRIVATEN GRÜNDEN DARUM GEBETEN, SEINES AMTES ALS LEITER DER MORDKOMMISSION ENTHOBEN UND ZUR DISPOSITION GESTELLT ZU WERDEN. SEINEM ANTRAG WURDE STATTGEGEBEN. DOTTOR ANSELMO IRRERA WIRD EINSTWEILEN DOTTOR PANZACCHIS FREI GEWORDENE STELLE ÜBERNEHMEN. NACHDEM IN DEN ERMITTLUNGEN IM MORDFALL LICALZI EINE UNERWARTETE WENDE EINGETRETEN IST, WIRD DOTTOR SALVO MONTALBANO VOM KOMMISSARIAT IN VIGÀTA DIESE WIEDER ÜBERNEHMEN. GEZEICH­NET: BONETTI-ALDERIGHI, QUESTORE DI MONTELUSA.

Wir haben gewonnen, Salvo!«

Montalbano dankte dem Freund und legte auf. Er empfand keine Befriedigung, die Spannung war zwar weg, die Antwort, die er wollte, hatte er bekommen, aber ihm war gar nicht wohl, er fühlte sich ziemlich elend. Er verfluchte Panzacchi von Herzen, nicht so sehr für das, was er getan hatte, sondern weil er ihn gezwungen hatte, auf eine Art und Weise zu handeln, die ihn jetzt belastete.

Die Tür wurde aufgerissen, alle drängten herein. »Dottore!«, rief Galluzzo, »gerade hat mein Schwager von >Televigàta< angerufen. Es ist ein Kommunique gekommen …«

»Ich weiß, ich kenne es schon.«

»Jetzt kaufen wir eine Flasche Sekt und …«

Giallombardo brachte seinen Satz nicht zu Ende, sondern erstarrte unter Montalbanos Blick. Alle schlichen, leise vor sich hin grummelnd, hinaus. Was für einen gemeinen Charakter dieser Commissario hatte!

Giudice Tommaseo traute sich nicht, Montalbano ins Gesicht zu sehen, er saß vornübergebeugt am Schreibtisch und tat, als studiere er wichtige Unterlagen. Der Commissario dachte, dass sich der Giudice jetzt bestimmt wünschte, ihm möge ein Bart wachsen, der sein Gesicht ganz und gar bedeckte, bis er wie ein Schneemensch aussah, nur hatte er nicht die Statur des Yeti.

»Sie müssen verstehen, Commissario. Die Anklage wegen Besitzes von Kriegswaffen kann ich zurückziehen, das ist kein Problem, ich habe den Anwalt von Ingegnere Di Blasi schon vorgeladen. Aber die Anklage wegen Beihilfe kann ich nicht so leicht fallen lassen. Bis zum Beweis des Gegenteils ist Maurizio Di Blasi der geständige Mörder von Michela Licalzi. Meine Vorrechte erlauben es mir in keinster Weise -«

»Buongiorno«, sagte Montalbano, stand auf und verließ das Zimmer.

Giudice Tommaseo rannte ihm in den Flur nach. »Commissario, warten Sie! Ich möchte klarstellen -«

»Es gibt wirklich nichts klarzustellen, Signor Giudice.

Haben Sie mit dem Questore gesprochen?«

»Ja, lange, wir haben uns heute Morgen um acht zusammengesetzt.«

»Dann sind Ihnen sicher einige Details bekannt, die für Sie ganz belanglos sind. Zum Beispiel, dass die Art und Weise, wie die Ermittlungen im Mordfall Licalzi geführt wurden, unter aller Sau war, dass der junge Di Blasi zu neunundneunzig Prozent unschul­dig ist, dass er wegen eines Missverständnisses wie ein Schwein abgeknallt wurde, dass Panzacchi alles gedeckt hat. Es gibt keinen Ausweg: Sie können den Ingegnere nicht von der Anklage wegen Waffenbesitzes freisprechen und gleichzeitig nicht gegen Panzacchi vorgehen, der ihm diese Waffen ins Haus gelegt hat.«

»Ich prüfe gerade die Position von Dottor Panzacchi.«

»Gut, prüfen Sie. Aber nehmen Sie dazu die richtige Waage, von den vielen, die Sie in Ihrem Büro haben.«

Tommaseo wollte schon etwas erwidern, überlegte es sich aber anders und schwieg.

»Eine Frage noch«, sagte Montalbano. »Warum wurde Signora Licalzis Leichnam noch nicht ihrem Mann übergeben?«

Der Giudice wurde immer verlegener, er schloss die linke Hand zur Faust und bohrte seinen rechten Zeigefinger hinein.

»Ach, das war - ja, das war Dottor Panzacchis Idee. Er wies mich darauf hin, dass die Öffentlichkeit … naja, erst die Entdeckung der Leiche, dann der Tod von Di Blasi, dann die Trauerfeier für Signora Licalzi, dann die Beerdigung des jungen Maurizio - Verstehen Sie?«

»Nein.«

»Es war besser, das alles zeitlich ein bisschen zu staffeln - die Leute nicht unter Druck zu setzen, Sie wissen schon, die Menschenansammlungen -«

Er redete immer noch, als der Commissario schon am Ende des Flurs angekommen war.

Als er den Justizpalast von Montelusa verließ, war es schon zwei Uhr. Anstatt nach Vigàta zurückzufahren, bog er in die Straße ein, die von Enna nach Palermo führt; Galluzzo hatte ihm genau erklärt, wo sowohl die Tankstelle als auch das Restaurant mit Bar waren, die beiden Orte, an denen Michela Licalzi gesehen worden war. Die Tankstelle, etwa drei Kilometer außerhalb von Montelusa gelegen, war geschlossen. Der Commissario fluchte, fuhr weiter und sah nach zwei Kilometern linkerhand ein Schild, auf dem BARTRATTORIA DEL CAMIONISTA stand. Es herrschte starker Verkehr, der Commissario wartete geduldig darauf, dass ihn endlich jemand durchließ, aber da war nichts zu machen, also fuhr er, unter grässlichem Reifengequietsche, Hupen, Fluchen und Schimpfen, einfach rüber und hielt auf dem Parkplatz der Bar.

Sie war sehr voll. Er ging an die Kasse.

»Ich möchte mit Signor Gerlando Agrò sprechen.«

»Das bin ich. Und wer sind Sie?«

»Ich bin Commissario Montalbano. Sie haben doch bei >Televigàta< angerufen und gesagt -«

»E mannaggia la buttana! Müssen Sie ausgerechnet jetzt kommen? Sie sehen doch, wie viel ich gerade zu tun habe!« Montalbano hatte eine Idee, die er sofort genial fand. »Wie isst man hier denn?«

»Da sitzen lauter Fernfahrer. Haben Sie schon mal einen Fernfahrer gesehen, der sich beim Essen geirrt hätte?«

Als er fertig gegessen hatte (die Idee war nicht genial, sondern nur gut gewesen, die Küche hielt sich in einer sturen Durchschnittlichkeit und war ohne fantasievolle Höhepunkte), nach dem caffè und dem anicione, kam der Kassierer, der sich von einem Jungen vertreten ließ, an Montalbanos Tisch.

»Jetzt geht es. Kann ich mich setzen?«

»Natürlich.«

Gerlando Agrò überlegte es sich sofort anders. »Vielleicht kommen Sie besser mit.« Sie traten vor das Lokal.

»Ecco. Am Mittwochabend, gegen halb zwölf, stand ich hier draußen und habe eine Zigarette geraucht. Da habe ich diesen Twingo gesehen, der von der Straße Enna-Palermo kam.«

»Sind Sie sicher?«

»Dafür leg ich meine Hand ins Feuer. Der Wagen hielt direkt vor mir, und die Frau, die am Steuer gesessen hatte, stieg aus.«

»Würden Sie Ihre andere Hand dafür ins Feuer legen, dass es die Frau war, die Sie im Fernsehen gesehen haben?«

»Commissario, bei so einer Frau - die Ärmste - täuscht man sich doch nicht.«

»Und weiter?«

»Der Mann ist im Auto geblieben.«

»Wie konnten Sie denn sehen, dass es sich um einen Mann handelte?«

»Da waren die Scheinwerfer eines Lastwagens. Ich habe mich gewundert, weil normalerweise der Mann aussteigt und die Frau sitzen bleibt. Jedenfalls ließ sich die Frau zwei panini mit Salami machen, eine Flasche Mineralwasser hat sie auch noch genommen. An der Kasse saß mein Sohn Tanino, der jetzt auch dort ist. Die Signora hat gezahlt und ist die drei Stufen hier runtergegangen. Aber auf der letzten ist sie gestolpert und hingefallen. Die panini sind ihr aus der Hand geflogen. Ich bin die Treppe runter, um ihr aufzuhelfen, und stand direkt dem Signore gegenüber, der aus dem Auto gekommen war. >Nichts passiert<, sagte die Signora. Er hat sich wieder ins Auto gesetzt, sie hat sich noch mal zwei panini machen lassen und gezahlt, und dann sind sie Richtung Montelusa weitergefahren.«

»Sie waren sehr präzise, Signor Agrò. Sie können also versichern, dass der Mann im Fernsehen nicht der war, der mit der Signora in dem Wagen saß.«

»Hundertprozentig. Zwei völlig verschiedene Personen!«

»Wo hatte die Signora ihr Geld, in einem Beutel?«

»Nonsi, Commissario. Kein Beutel. Sie hatte ein Portemonnaie in der Hand.«

Nach der Anspannung vom Vormittag und dem üppigen Essen wurde er schlagartig müde. Er beschloss, nach Marinella zu fahren und ein Stündchen zu schlafen. Doch als er über die Brücke gefahren war, konnte er nicht widerstehen. Er hielt an, stieg aus und klingelte neben der Sprechanlage. Niemand antwortete. Wahrscheinlich war Anna bei Signora Di Blasi. Und vielleicht war das auch besser so.

Von zu Hause aus rief er im Kommissariat an.

»Um fünf brauche ich den Streifenwagen mit Galluzzo.«

Er wählte Livias Nummer, niemand hob ab. Er rief bei ihrer Freundin in Genua an.

»Hier ist Montalbano. Hör zu, ich mache mir allmählich ernsthaft Sorgen, Livia ist schon seit Tagen …«

»Du brauchst dich nicht zu sorgen. Sie hat mich gerade angerufen und gesagt, dass es ihr gut geht.«

»Aber wo steckt sie denn?«

»Ich weiß nur, dass sie in der Personalabteilung angerufen und sich noch einen Tag Urlaub genommen hat.«

Er legte auf, und schon klingelte das Telefon.

»Commissario Montalbano?«

»Ja, wer spricht da?«

»Guttadauro. Hut ab, Commissario.«

Montalbano legte wieder auf, zog sich aus, stellte sich unter die Dusche und warf sich, nackt wie er war, aufs Bett. Er schlief auf der Stelle ein.

»Triiin, triiin«, ertönte es aus weiter Ferne in seinem Kopf.

Er begriff, dass es an der Haustür geklingelt hatte. Er stand mühsam auf und öffnete die Tür. Als Galluzzo ihn nackt sah, machte er einen Satz nach hinten.

»Was ist denn, Gallù? Hast du Angst, ich nehm dich mit rein und mach unanständige Sachen mit dir?«

»Commissario, ich klingel schon seit einer halben Stunde.

Ich war kurz davor, die Tür einzutreten.«

»Dann hättest du mir eine neue gezahlt. Ich komm sofort.«

Der Tankwart war um die dreißig, kräftig und flink und hatte krauses Haar und glänzende schwarze Augen. Er trug einen Overall, aber der Commissario konnte ihn sich gut vorstellen, wie er als Bademeister am Strand von Rimini deutsche Mädchenherzen brach.

»Sie sagen also, dass die Signora von Montelusa kam und es acht Uhr abends war.«

»Todsicher. Schauen Sie, ich wollte gerade schließen, weil ich Feierabend hatte. Sie kurbelte das Fenster runter und fragte, ob ich noch volltanken könnte. >Für Sie lasse ich die ganze Nacht offen, wenn Sie mich darum bitten<, sagte ich.

Sie stieg aus. Madonnuzza santa, war die schön!«

»Wissen Sie noch, wie sie gekleidet war?«

»Ganz in Jeans.«

»Hatte sie Gepäck dabei?«

»Ich hab nur so eine Art Beutel gesehen, der auf dem Rücksitz lag.«

»Und dann?«

»Ich habe vollgetankt, gesagt, was es kostet, und sie hat mit einem Hunderttausenderschein gezahlt, den sie aus einem Portemonnaie genommen hatte. Als ich ihr rausgab, hab ich gefragt, weil ich mit Frauen gern ein Späßchen mache: >Kann ich sonst noch was Spezielles für Sie tun?< Ich hatte eine grobe Antwort erwartet, aber sie lächelte und sagte: >Fürs Spezielle habe ich schon einen.< Dann ist sie weitergefahren.«

»Sind Sie sicher, dass sie nicht nach Montelusa zurückgefahren ist?«

»Ganz sicher. Die arme Frau, wenn ich denke, was für ein Ende sie genommen hat!«

»Va bene, ich danke Ihnen.«

»Ah, noch was, Commissario. Sie hatte es eilig, nach dem Tanken ist sie ganz schnell weggefahren. Sehen Sie die gerade Strecke da? Ich hab ihr nachgeschaut, bis sie dort hinten um die Kurve war. Sie ist sehr schnell gefahren.«

»Ich hätte erst morgen zurück sein müssen«, sagte Gillo Jàcono, »aber da ich schon früher wieder hier war, hielt ich es für meine Pflicht, sofort zu Ihnen zu kommen.«

Er war um die dreißig, gut gekleidet und sah sympathisch aus.

»Ich danke Ihnen.«

»Ich wollte Ihnen sagen, dass man bei so einem Ereignis doch dauernd hin und her überlegen muss.«

»Wollen Sie berichtigen, was Sie am Telefon gesagt haben?«

»Keinesfalls. Aber ich denke immer wieder darüber nach, was ich gesehen habe, und könnte ein Detail hinzufügen.

Doch Sie sollten vorsichtshalber ein dickes Vielleicht vor das setzen, was ich Ihnen sagen möchte.«

»Sprechen Sie nur.«

»Ecco, der Mann trug den Koffer mühelos in der linken Hand, weshalb ich den Eindruck hatte, dass nicht viel drin war. Und auf seinen rechten Arm stützte sich die Signora.«

»Hatte sie sich bei ihm eingehängt?«

»Nicht richtig, ihre Hand lag auf seinem Arm. Es sah so aus, ich wiederhole: Es sah so aus, als hinkte die Signora leicht.«

»Dottor Pasquano? Hier ist Montalbano. Störe ich?«

»Ich war gerade dabei, bei einer Leiche einen Y-Schnitt vorzunehmen, aber ich denke, sie wird es mir nicht übelnehmen, wenn ich für ein paar Minuten unterbreche.«

»Haben Sie am Leichnam von Signora Licalzi irgendwelche Anzeichen dafür gefunden, dass sie gestürzt ist, als sie noch lebte?«

»Das weiß ich jetzt nicht mehr. Ich schaue schnell in den Bericht.«

Er war zurück, noch bevor Montalbano sich eine Zigarette angesteckt hatte.

»Ja. Sie ist auf die Knie gefallen. Aber da war sie angezogen. Auf der Hautabschürfung des linken Knies waren mikroskopisch kleine Fasern von den Jeans, die sie trug.«

Sonst musste nichts weiter überprüft werden. Um acht Uhr abends tankt Michela Licalzi voll und fährt landeinwärts. Dreieinhalb Stunden später befindet sie sich mit einem Mann auf dem Rückweg. Nach Mitternacht wird sie - immer noch in Begleitung eines Mannes, und zwar mit Sicherheit desselben - gesehen, als sie zu ihrer Villa in Vigàta geht.

»Ciao, Anna, hier ist Salvo. Heute Nachmittag war ich bei dir, aber du warst nicht da.«

»Ingegnere Di Blasi hatte mich angerufen, seiner Frau ging es schlecht.«

»Ich hoffe, dass ich bald gute Nachrichten für sie habe.«

Anna antwortete nicht, und Montalbano begriff, dass er was Blödes gesagt hatte. Die einzige Nachricht, die das Ehepaar Di Blasi gut finden konnte, war Maurizios Auferstehung.

»Anna, ich wollte dir was sagen, was ich über Michela rausgekriegt habe.«

»Komm zu mir.«

Nein, das durfte er nicht. Er wusste, wenn Anna noch mal ihren Mund auf seine Lippen legte, würde die Sache böse enden.

»Ich kann nicht, Anna. Ich habe einen Termin.«

Gott sei Dank saß er am Telefon, denn säße er bei ihr, hätte sie sofort gemerkt, dass er log.

»Was wolltest du mir denn sagen?«

»Ich habe festgestellt, dass Michela aller Wahrscheinlichkeit nach am Mittwochabend um acht auf der Straße unterwegs war, die von Enna nach Palermo führt. Vielleicht ist sie in einen Ort in der Provinz Montelusa gefahren. Denk gut nach, bevor du antwortest: Hatte sie deines Wissens außer in Montelusa und Vigàta noch weitere Bekanntschaften?«

Die Antwort kam nicht sofort, Anna dachte nach, was der Commissario ja wollte.

»Freunde nicht, das schließe ich aus. Sie hätte es mir gesagt. Bekanntschaften schon, ein paar.«

»Wo?«

»Zum Beispiel in Aragona und Comitini, die beide an der Straße liegen.«

»Welcher Art waren diese Bekanntschaften?«

»Fliesen hat sie in Aragona gekauft. In Comitini hat sie auch was besorgt, ich weiß aber nicht mehr, was.«

»Also bloße Geschäftsbeziehungen?«

»Ich würde sagen, ja. Aber weißt du, Salvo, von dieser Straße kann man überallhin fahren. Es gibt auch eine Abzweigung nach Raffadali: Der Chef der Mordkommission hätte alle möglichen Vermutungen anstellen können.«

»Noch was: Nach Mitternacht wurde sie auf dem Weg zu ihrem Haus gesehen, nachdem sie aus dem Auto gestiegen war. Sie stützte sich auf einen Mann.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher.«

Diesmal schwieg sie so lange, dass der Commissario schon glaubte, die Verbindung sei unterbrochen.

»Anna, bist du noch dran?«

»Ja. Salvo, ich wiederhole klar und ein für alle Mal, was ich dir schon gesagt habe. Michela war keine Frau von flüchtigen Affären, sie hatte mir anvertraut, dass sie körperlich nicht dazu imstande war, verstehst du? Sie hatte ihren Mann lieb. Sie hing sehr an Serravalle. Es kann nicht mit ihrer Einwilligung geschehen sein, was auch immer der Gerichtsmediziner darüber denkt. Sie wurde grauenvoll vergewaltigt.«

»Wie erklärst du dir, dass sie den Vassallos nicht gesagt hat, sie würde nicht zum Abendessen kommen? Sie hatte doch ihr Handy dabei, oder?«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

»Also hör zu. Als Michela sich abends um halb acht von dir verabschiedet und erklärt, sie gehe ins Hotel, sagt sie dir in diesem Augenblick ganz bestimmt die Wahrheit. Dann kommt etwas dazwischen, und sie überlegt es sich anders.

Das kann nur ein Anruf auf ihrem Handy sein, denn als sie in die Straße Enna-Palermo einbiegt, ist sie noch allein.«

»Du glaubst also, dass sie zu einer Verabredung gefahren ist?«

»Es gibt keine andere Erklärung. Es ist etwas Unvorherge­sehenes, aber sie will unbedingt zu diesem Treffen. Deshalb ruft sie die Vassallos nicht an. Sie hat keine plausible Entschuldigung, um ihr Nichtkommen zu rechtfertigen, deswegen findet sie es am besten, einfach zu verschwinden. Von mir aus schließen wir die Bettgeschichte aus, vielleicht ist es eine Besprechung wegen des Hausbaus, die dann einen tragischen Verlauf nimmt. Das gestehe ich dir vorläufig zu. Aber dann frage ich dich: Was konnte so wichtig gewesen sein, dass sie sich den Vassallos gegenüber so unmöglich verhält?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Anna bekümmert.