Jennas Geschenk

 

„Das ist ja echt wie bei den Royals hier! Viel größer kann Schloss Windsor doch auch nicht sein, oder?“ Finn war mehr als beeindruckt von der schieren Größe und den Ausmaßen des Anwesens.

„Stimmt, nur sind bei uns die Bewohner nicht ganz so elegant,“ meinte Caya mit einem Blick auf Broc, der sich hingebungsvoll mit einem Hufnagel den Rücken kratzte.

„Wieviele Leute leben hier eigentlich?“ fragte Eonan.

„Ich weiß es nicht genau, aber so etwa hundertzwanzig Familienmitglieder und etwa fünfzig Leute an Personal. Nicht alle Angestellten leben hier. Einige legen tatsächlich Wert auf eine Privatsphäre und düsen wie der Teufel nach Hause, wenn ihre Schicht um ist“, grinste Caya.

 

„Und du wirst das Alles mal erben? Da hast du dir ne echt gute Partie ausgesucht, Eonan!“

„Sofern ich die nächsten Jahre überleben werde, ja.“ Cayas Leichtigkeit, die sie ansonsten an den Tag legte, hatte die letzte Zeit deutlich gelitten. Die anderen zogen schuldbewusst den Kopf ein und wechselten das Thema.

Sie gingen hinunter an den Teich und nahmen ein Sonnenbad. Maud, Eonans Augurey konnte seine normale Gestalt annehmen, hier auf dem großen Gelände und seine Kreise ziehen, ohne dass man sich vor neugierigen Blicken in Acht nehmen musste. Finns Zwerggreif tollte ausgelassen auf dem Rasen umher und versuchte mit seinen Tatzen die Forellen aus dem Teich zu fischen.

Caya vermisste Fussel. Sie hatte ihn über die Sommerferien auf Sheanthee zurückgelassen, weil er doch reichlich Aufmerksamkeit in der normalen Welt auf sich zog. Er war mittlerweile so selbstständig, dass er sich den Tag vertreiben und Abends durch das Giebelfenster in ihrer Baumhütte fliegen konnte, um in seiner Socke dem Morgen entgegen zu schlummern.

 

Ihre Freunde umsorgten sie rührend, aber dadurch, dass alle ständig Rücksicht auf sie nahmen, war die Atmosphäre weit entfernt von dem ansonsten üblichen Miteinander.

Niemand traute sich etwas Witziges zu sagen, aus Angst, als unsensibler Tropf dazustehen.

An die Chips in ihrem Arm hatten sich alle sehr schnell gewöhnt. Anfänglich fasste jeder automatisch an den Arm, wenn ihm ein anderer Chipsträger begegnete, aber nach kurzer Zeit war ihnen der lokale Wärmeanstieg am ihren Oberarm vertraut.

 

„Hey! Wie wärs wenn wir unsere Badesachen holen und ein bisschen im Wasser planschen? Oder gibt’s hier drinnen irgendwelche mordende Ungeheuer?“ fragte Finn.

DeeDee sah ihn vorwurfsvoll an und Eonan gab ihm einen Rippenstoß.

Caya seufzte.

„Ich finde, das ist eine gute Idee! Hört mal, ich bin euch wirklich dankbar für eure Unterstützung, aber wenn ihr ständig auf Zehenspitzen um mich herum tappt und Angst habt etwas Falsches zu sagen, wird es für mich auch nicht leichter. Lasst uns einfach so normal wie möglich verhalten.- Wir müssen ja keine Orgie veranstalten“, grinste sie.

„Nicht? Schade!“ grinste Eonan zurück.

 

Die Atmosphäre war danach wesentlich entspannter. Amy und zwei, drei ihrer jüngeren Cousins gesellten sich dazu und es wurden auch schon wieder Witze gemacht,- auch wenn keine Partystimmung herrschte.

Nach dem Schwimmen ging Caya mit Eonan eine Runde spazieren. Broc hatte, in einem Anflug von untypischer Sensibilität auf seine Begleitung verzichtet und sie schlenderten, Hand in Hand durch den weitläufigen Park.

 

„Gott, es ist völlig ungewohnt, kein Rülps- oder Furzkonzert im Ohr zu haben.“

„Vielleicht haben wir Glück und seine rücksichtsvolle Phase hält noch eine Weile an.“

„Überfordere ihn nicht! Wahrscheinlich will er sich nur vor Drusilla produzieren.“

„Hast du das wirklich ernst gemeint, als du gesagt hast, dass du den Mörder deines Vaters zur Strecke bringen willst?“

„Ja,- warum, habe ich mich spaßig angehört?“ Sie schaute ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

„Im Gegenteil, ich hab richtig Angst bekommen. Nicht vor dir, sondern davor, dass dir dabei etwas passiert. Willst du das nicht lieber den Profis überlassen?“

„Wem, den Wächtern?“ Sie lachte freudlos auf.

„Denen ist das doch scheißegal. Für die wär es doch am praktischsten wenn wir Cunninghams vom Erdboden verschwänden.“

„Sag so was nicht! Jenna ist auch eine Wächterin und ich wette, dass du ihr nicht egal bist.

„Hab ich dir erzählt, dass ich mich den Wächtern anschließen werde?“

Sie musste über sein verblüfftes Gesicht lachen und erzählte ihm die Hintergründe.

„Deine Grandma ist wirklich eine verdammt kluge Frau, das muss man ihr lassen. Jetzt geht es mir viel besser, wo ich weiß, dass du nicht auf eigene Faust versuchst Rache zu nehmen.“

Caya lächelte ihn an und erwiderte nichts darauf.

 

„Hast du mal ein paar Minuten, Caya?“

Jenna steckte den Kopf durch ihre Zimmertür.

Sie war gerade beim Packen und es herrschte ein entsprechendes Durcheinander.

 

„Daracha hat mich darüber informiert, dass du dich den Wächtern anschließen willst.

Ich kann mir vorstellen, dass du nicht Feuer und Flamme bist, für unsere Organisation, aber lass das bloß nicht heraushängen. Ich glaube an unsere Sache und werde alles dafür tun, um zu verhindern, dass das Portal geöffnet wird,- aber in allererster Linie gehört meine Loyalität der Familie.

Ich möchte, dass du das weißt.“

„Danke, Jenna. Ich bin froh, wenn ich wenigstens vor dir nicht tun muss, als wäre ich   ein begeistertes Mitglied. Ich nehme an, Grandma hat dir die Beweggründe erläutert?“

„Ja, ich denke, ich wäre auch selbst darauf gekommen,“ grinste sie.

„Unglücklicherweise werden auch andere von selbst drauf kommen, also wäre ein bisschen Elan bei deiner Einführung wohl angebracht.“

„Geht klar,“ seufzte Caya.

„Habt ihr vielleicht ein schönes Kampflied, das ich inbrünstig schmettern könnte?“

„Nein,“ lachte Jenna.

„Es reicht, wenn dir dicht das Gesicht zusammenfällt, bei Ainsleys Ansprachen. Sie hat eine Neigung zum theatralischen.

„Wie ist sie denn so?“

„Eine Fanatikerin, die nur schwarz und weiß kennt, aber sie geht durchs Feuer für einem,- sofern man sich ihrer würdig erweist.“

„Was heißt das?“

„Gib ihr möglichst keine Widerrede und bejubel alles, was sie von sich gibt.“

„Eine meiner leichtesten Übungen“, murmelte Caya in ihren Bart.

„Hier, ich habe noch etwas für dich, dass dir helfen wird, solltest du mit dem Hintern an der Wand stehen.“

Sie reichte ihr eine kleine Schachtel.

„Was ist das? Noch ein Fae Artefakt? Bald müssen wir alles gehortet haben!“

„Nein, was eher Praktisches.“

Sie öffnete die Schachtel und darin fand sich eine winzig kleine Pistole. Nicht größer als eine Streichholzschachtel.“

„Wie süß! Funktioniert die?“

„Ja, es ist ein Schweizer Präzisionsmodell. Umbringen kannst du normalerweise damit nur jemanden, wenn du ihm direkt in die Halsschlagader oder Schläfe schießt, aber das da ist ein modifiziertes Modell. Die Patronen sind mit einer Curare-ähnlichen Substanz gefüllt und sehr spitz geformt. Ein Kratzer damit genügt und dein Gegenüber ist in wenigen Sekunden mausetot. Pass also bloß auf, dass die Waffe immer gesichert ist. Da sie aussieht wie ein Spielzeug, kannst du sie dir einfach an dein Schlüsselamulett hängen.“

„Wow! Danke!“ Sie betrachtet beeindruckt, das, so harmlos aussehende Pistölchen und steckte es in ihre Tasche.

 

„Verrate dich ja nicht, wenn du bei dem ein- oder anderen der Wächter den Chips-Impuls spürst. Es hängt nicht nur deine Sicherheit davon ab, dass die Leute unerkannt bleiben.“ Jenna sah sie eindringlich an.

„Ich passe auf, versprochen!“

 

Die letzten Stunden vor ihrer Abreise nach Sheanthee verbrachte sie bei ihrer Mutter.

Ihr Zustand war unverändert, wenn nicht noch schlimmer. Sie hatte sich offensichtlich in eine innere Immigration verabschiedet. Caya war sich nicht einmal sicher, ob sie sie überhaupt erkannte. Es fiel ihr schwer sie so zurückzulassen. Sie wollte sich gerade verabschieden, als die Tür aufflog und Mrs. Haggerty hereinmarschiert kam. Mit ihrem kraftvollen Gang strafte sie ihr greises Alter Lügen.

Mit ihr im Schlepptau kam Daracha, die einen merkwürdig zerknirschten Eindruck machte und Broc.

„Wo ist sie?“

„Hier, Mrs. Haggerty.“ Daracha geleitete sie zu dem Sessel, in dem Catriona saß und teilnahmslos vor sich hin stierte.

„Also wirklich, Kind! Was ging nur in deinem Kopf vor, erst jetzt nach mir zu schicken?“ Daracha senkte beschämt den Kopf.

Caya musste, trotz des Ernstes der Situation, ein Grinsen unterdrücken. Ihre Großmutter mit Kind zu titulieren verlangte viel Courage und ein hohes Maß an Autorität. Mrs Haggerty hatte beides.

Sie kniete sich vor Catriona und hielt ihre Hände fest. Tröstende Worte murmelnd streichelte sie ihr durchs Haar und platzierte ihre rechte Hand an ihrer Schläfe. Nach einiger Zeit wurde ihre Hand sowie Catrionas Gesicht in ein helles Licht getaucht.

Sie blinzelte und sah Caya an. Sie sah sie wirklich an und wandte ihr nicht nur vage das Gesicht zu, wie seit Nialls Tod üblich.

 

„Caya? Es tut mir so leid“, dann schloss sie die Augen und ihr Kopf fiel zur Seite.

„MOM!“ Caya wollte zu ihr hineilen, aber Daracha hielt sie zurück.

„Sie schläft jetzt. Der Schlaf wird ihr Heilung bringen“, sagte Mrs Haggerty.

„Es wird noch eine längere Zeit brauchen, bis ihre Seele wieder ganz zurückfindet. Der Schmerz über den Verlust deines Vaters hat ihren Verstand mit einer Mauer umgeben. Diese Mauer werden wir einreißen.

Deine Mutter ist eine Kämpferin, das war sie schon immer. Sie wird es schaffen. Natürlich hätte ich weniger Arbeit, wenn man hier nicht gewartet hätte bis zur Wintersonnenwende, sondern mich gleich gerufen hätte. Ich fürchte, ich muss deine Mutter von deinem Versäumnis in Kenntnis setzen, Daracha!“

Mrs. Haggerty warf ihr einen missbilligenden Blick zu.

„Ich denke, ich werde ein Zimmer im Haus nehmen, um in Catrionas Nähe zu sein,- ich bin schließlich kein junges Ding von achtzig mehr,- wenn es keine Umstände macht?“ Sie warf Daracha einen fragenden Blick zu.

„Aber selbstverständlich, Mrs Haggerty! Es wird sich sofort jemand darum kümmern.“

Daracha rief einen Diener und beeilte sich, den Wünschen Folge zu leisten.

 

Caya umarmte ihre Mutter und gab ihr einen Kuss.

„Ich komme bei der ersten Gelegenheit zurück und schaue nach dir, Mom! Werde einfach wieder gesund und nach dir keine Sorgen!

 

Sie hatte Tränen in den Augen, als sie das Zimmer verließ.

Die anderen warteten schon mit ihrem Gepäck in der großen Halle.

Sie verabschiedete sich von Daracha mit einer langen Umarmung.

Ihre Großmutter hatte zwei Wagen, samt Personal bereitgestellt, die sie alle an die Anlegestelle nach Sheanthee bringen würden. Vom Bienenkorb aus dauerte die Fahrt nicht einmal eine Stunde.